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Bd. 3: Die grenz- und volkspolitischen Folgen
des Friedensschlusses

I. Gegnerische Gebietsforderungen und ihre Vorgeschichte   (Teil 6)

6) Die Tschechen

Dr. Gustav Peters
Prag

Scriptorium merkt an:
Ein Buch zu den Gebiets- und Bevölkerungsverlusten des Deutschen Reiches und Deutsch-Österreichs nach dem Jahre 1918 finden Sie hier!
Die Erfolge der Tschechen bei der Friedenskonferenz von Paris und ihr bestimmender Einfluß auf die Friedensverträge sind in ihren Ursachen weit zurück bis in die Zeit des ersten Zusammenbruches des absolutistischen Regimes der Habsburger im Jahre 1848 zu suchen. Die Kämpfe der Nationalitäten in Österreich und der unlösbare Konflikt zwischen Staat und Völkern - jene zentrifugalen Kräfte - waren bereits die Vorbereitung für die grenzpolitische Lösung der "böhmischen Frage" in Versailles. Diese Lösung ist kein Zufall, auch nicht nackte Gewalt allein, sondern sie ist aus der siebzigjährigen psychologischen Bereitschaft zur Tat und dem eigenartigen Verhältnis zwischen Wunsch und Wollen, Sehnsucht und Erfüllung des tschechischen Volkes herangereift und mußte kommen, wenn dieses Volk im richtigen Augenblick die Männer fand, welche die Vernichtung des Gesamtstaates um der Freiheit ihres Volkes willen zu vollenden fähig waren.

Das tschechische Volk war 1848 nicht gegen Österreich revolutionär geworden, es ist im Gegenteil damals austrophil gewesen. Der einzige Weg zur erfolgreichen Revolution führte nach Rußland, das ihm aber der einflußreiche Publizist Karl Havliček als "Knutenrußland" wenig anziehend gezeigt hat. Schon damals fand es sein politisches Programm, die Ideologie seines Staatsrechts, dessen rechtliche und geschichtliche Unbestimmtheit ihm gerade die Stärke gab, trotz aller politischen Mißerfolge und Niederlagen bis Versailles in einem Zustand der ständigen Unzufriedenheit zu verharren und sich mit keinem Vorschlag abzufinden, der ein Kompromiß zwischen Staat und ihm selbst forderte. Vorschläge hierfür machten auch Krone wie Regierung unzählige Male. Der österreichische Zentralismus und das ungarische Staatsrecht ("Dualismus") haben verhindert, einen böhmischen Ausgleich zu schließen und damit eine neue, die Bruchstellen des böhmischen Staatsrechtes ausnützende Entwicklung zu beginnen. Der Kampf um die österreichische Verfassung endigte erst 1918, wenige Monate vor Kriegsende in der politischen Agonie des österreichisch-ungarischen Staates.

[67] Die außenpolitischen Auswirkungen dieses tschechischen Kampfes waren nicht einheitlich, waren reich an Widersprüchen, zufällig und zumeist nur ein Versuch, auf die innerpolitischen Verhältnisse der Monarchie einen Druck auszuüben. Als das deutsche Volk sich anschickte, Groß-Deutschland aufzurichten, hat Palackys Absagebrief von 1848 nach Frankfurt diesen Plan zerstört als erste tschechische Lossage von der geschichtlichen deutschen Reichs- und Bundesgemeinschaft Böhmens. Sie hatte aber das Angebot eines Wiener Ministeriums für Palacky zur Folge. Die Berliner Auslandstschechen dankten1 im August 1866 dem König von Preußen für die Anerkennung der historischen und nationalen Rechte der tschechischen Nation, die in der wohlwollenden Proklamation ("An das glorreiche Königreich Böhmen") enthalten war und ihre Landsleute beruhigt, ja hoffnungslos überrascht hat. Im April 1867 unternahmen die bedeutendsten Tschechenführer die sogenannte "Wallfahrt nach Moskau", wo Dr. F. L. Rieger2 u. a. sagte: "Prag bereitet die slawische Zukunftsidee vor und wir, seine hier versammelten Kinder, bringen diese Idee nach Moskau". Allerdings vermochte diese politische Reise nicht die Dezemberverfassung von 1867 aufzuhalten, aber sie schuf jene russophile Stimmung in Böhmen, die bis zum Zusammenbruch Rußlands 1917 anhielt und die letzte und feste Hoffnung des tschechischen Volkes auf seine Freiheit ohne Unterbrechung bildete.

In der tschechischen Deklaration vom Jahre 1868 im böhmischen Landtag3 wurde die grundsätzliche, für die weitere außenpolitische Propagandaarbeit bedeutsame These aufgestellt, "die Verbindung der Länder der böhmischen Krone mit den übrigen Ländern sei eine bloß dynastische, das ist eine bloß durch das gemeinschaftliche Band der in seiner Dynastie bedingten Erblichkeit". Die tschechische Politik gewann dadurch Einfluß auf den Kaiser, der allerdings nur bis zur Regierung Hohenwart (1871) die These einer lediglichen Personalunion anerkannte. Aber sie wurde dann während des Weltkrieges aufgefrischt und hat fraglos der Propaganda Nutzen gebracht.

Im Juli 1870 übergab Dr. L. F. Rieger dem französischen Gesandten in Wien, Herzog Gramment eine Denkschrift,4 welche in Erwartung des französischen Sieges im Kriege 1870/71 ausführte: "Solange Böhmen unabhängig bleibt, trennt es das nördliche Deutschland vom südlichen auf eine beträchtliche Ausdehnung... Ein fran- [68] zösisches Heer könnte rascher nach Böhmen geworfen werden als ein von Berlin anrückendes preußisches nach Frankfurt a. M. gelangen würde." Diese Denkschrift wurde bald in Wien bekannt, wie es scheint auf offiziellem Wege, hatte aber mehr eine Stärkung als eine Schwächung des tschechischen Einflusses zur Folge. Rieger konnte schon im September des zweiten Jahres den Eindruck der Denkschrift in Wien verwischen und bei den französischen Freunden gleichzeitig unterstreichen, als er ausführte:5 "Die Deutschen wollen unseren König zum Vasallen des Königs Wilhelm von Preußen machen, sie glauben an ein Blaublut, an ein Vorrecht der Deutschen vor den Slawen... Seien Sie nachgiebig, geben Sie uns unser Selbstbestimmungsrecht zur Ehre, Macht und Freiheit Österreichs."

Die Herausgabe des "Rotbuches", welches Kanzler Beust im Herbst 1870 zur Rechtfertigung der österreichisch-ungarischen Außenpolitik während des deutsch-französischen Krieges und der russischen Forderungen nach den Dardanellen (Pontus-Frage) veröffentlichte,6 gab der tschechischen Führung Gelegenheit, in einer Denkschrift, die freilich Beust zurückschickte, für ein Zusammengehen der Monarchie mit Rußland gegen Deutschland zu demonstrieren. Auch dieser Schritt der Tschechen blieb in Petersburg unvergessen, in Wien ohne Folgerungen. Wenige Monate später versprach Kaiser Franz Josef,7 sich in Prag zum böhmischen König krönen zu lassen. Der Einspruch des ungarischen Kabinetts und wohl auch der glückliche Ausgang des deutsch-französischen Krieges haben sein Versprechen rückgängig gemacht.

In ihrem Groll über die abgesagte Königskrönung unternahmen die Tschechen eine Demonstration gegenüber Frankreich: Am 8. Dezember 1870 erließen die tschechischen Politiker ihren Protest gegen die Wiedervereinigung von Elsaß-Lothringen mit Deutschland, eine Kundgebung, die freilich erst später ihre außenpolitische Bedeutung gewann. In dem Anerkennungsschreiben vom 29. Juni 1918, durch welches Stéphane Pichon im Namen Frankreichs "die Rechte der tschechoslowakischen Nation auf Selbständigkeit" verkündete und den Pariser Nationalrat als "höchstes Organ... und als ersten Grundstein der künftigen tschechoslowakischen Regierung" öffentlich und offiziell anerkannte, heißt es auch: "Frankreich kann die Prager Kundgebung vom 8. Dezember 1870 nicht vergessen...."8

[69] In der nachfolgenden Zeit haben die Tschechen die innerpolitische Durchsetzung ihres Staatsrechtes weiter zu erzwingen versucht. Allerdings erklärte eine zunehmende Opposition ("Jungtschechen") das Staatsrecht als eine "Utopie, die keine Pfeife Tabak wert sei",9 was sie nicht hinderte, sobald sie die Führung erlangt hatte, um so radikaler das staatsrechtliche Programm zu vertreten. Die Aufstandsbewegung der Balkanslawen gegen die Türkei (1875) und das Eingreifen Rußlands in die Verhältnisse der unmittelbaren Nachbarschaft zu österreichisch-ungarischen Provinzen veranlaßte die Slawen der Monarchie, Rußland als Befreier der Slawen zu begrüßen, während der Dreikaiserbund (1876) eine Lösung der türkischen Frage in Europa in einverständlicher Weise suchte. Wieder wurde von Prag mit einer Denkschrift, und zwar an Aksakoff (1877) in die offizielle Außenpolitik eingegriffen:10 "Das tschechische Volk wünscht dem russischen besten Erfolg, der Ruhm der Russen ist auch sein Ruhm. Es freut das tschechische Volk, wenn das mächtige Slawenreich den schwachen slawischen Stamm schützt." Nicht zu übersehen ist jedoch, daß aus Rußland ein religiöser Vorbehalt gemacht wurde, denn erst "wenn die Tschechen zur orthodoxen Kirche übertreten, werden die Russen sehen, was für jene zu tun sei". Trotzdem wurden während des Krimkrieges reichliche Gaben für die kämpfenden Russen und befreiten Südslawen gesammelt.

Auf dem Berliner Kongreß 1878 hatte die österreichisch-ungarische Monarchie die Ermächtigung zur Okkupation Bosniens und der Herzegowina erhalten.11 Sie wurde gegen den Willen der Deutschen Österreichs und unter stiller Duldung der Slawen unter großen finanziellen und bedeutenden Menschenopfern durchgeführt und wird mit Recht als eine geschichtliche Ursache des Weltkrieges angesehen, weil sie das Gebiet der Monarchie um ein großes slawisches Gebiet erweiterte, Ansprüche Serbiens abwies und mit der unüberlegten Annexion von 1908 die europäische Lage katastrophal verwirrte. Sie veranlaßte mittelbar den Eintritt der Tschechen in das Wiener Parlament, in welchem sie eine deutschfeindliche Mehrheit und damit eine ihnen genehme Außenpolitik erzwingen wollten.

Mit dem Eintritt der tschechischen Parlamentarier in den Reichsrat werden für sie das Volkshaus und die Delegationen die öffentliche Tribüne, von der aus sie auf die Gestaltung der Entwicklung Einfluß nehmen konnten. Sie vermochten nicht das Bündnis mit Deutschland (1879) aufzuhalten und den Dreibund (1883)12 zu hintertreiben, auf [70] welchem 32 Jahre lang die Außenpolitik der Monarchie beruhte. In der Innenpolitik haben die Tschechen den Kampf gegen die deutsche Staatssprache zu einer ständigen Schwächung der Monarchie benützt, während der Neoslawismus die Bedeutung des Dreibundes zermürbte. Da die Tschechen an vielen österreichischen Regierungen, teils durch Minister, teils durch Zugehörigkeit zur Parlamentsmehrheit beteiligt waren, mußten sie dieser neuen Form des Panslawismus eine staatspolitisch harmlose, ja austrophile Fassung geben. Dennoch bezweckte er eine solche innere Umgestaltung der Monarchie, daß sie "ohne Schmälerung der Macht der Dynastie" ein Staat unter slawischer Führung werden sollte, woraus sich logisch ihre Abkehr vom Dreibund und ihre Annäherung an Rußland ergeben hatte.

Der Neoslawismus ist die letzte Etappe der tschechischen Politik vor dem Kriegsausbruch. Er hatte gewiß mit großen inneren und ideellen Schwierigkeiten zu kämpfen; der Widerstand der österreichischen Polen gegen einen slawischen Block im Reichsrat zugunsten Rußlands, die Erweiterung des Wahlrechtes, die Bildung internationaler Parteien bei allen Völkern, der Dualismus u. a. m. standen ihm im Wege. Dr. Kramař, der bedeutsamste Repräsentant des Neoslawismus, leugnet (nach dem Kriege!) ein slawisches Österreich sei das Ziel des Neoslawismus gewesen. Allein die Veranstaltung der vielen Sokol- und Slawenkongresse u. ä. lassen nicht bezweifeln, daß es sich dabei um eine dem deutschen Einfluß im Osten feindliche Bewegung handelte. Deshalb konnte Dr. Kramař über sie schreiben:13 "Als der Krieg ausbrach, waren alle Slawen sofort ohne langes Überlegen für das Slawentum orientiert und benötigten dazu... kein Nachsinnen darüber, wie alles ausgehen werde. Sie wußten, daß sie ihren »nicht durchdachten« (polemisch gegen Dr. Beneš) Slawismus Folge leisten müssen." Und er verteidigt auch gegen Dr. Beneš das Zarenreich:14 "Jeder, der die Dinge kennt, weiß, daß Rußland seit der bosnischen Krise sich sehr entschieden hinter Serbien gegen Wien gestellt hat und, selbst wenn der Neoslawismus in bezug auf die Polen keinen Erfolg hatte, war doch die slawische Bewegung stärker denn je, was sich am sprechendsten in der elementarsten Begeisterung der letzten Julitage des Jahres 1914 gezeigt hat."

Zu Beginn des Weltkrieges war für das tschechische Volk ein Widerstand gegen die Mobilisierung in Ermangelung einer Möglichkeit, sich untereinander zu verständigen, ausgeschlossen. Das Parlament trat erst im Frühjahr 1917 zusammen. Die k. u. k. Armee war nicht politisiert und konnte ihre Autorität wahren. Die schwache Regierung [71] des Grafen Stürgkh verlor an das Armeeoberkommando die Beherrschung der inneren Verhältnisse, das natürlich mit militärischer Disziplin politische Vorbehalte der slawischen Soldaten zu zermürben suchte. In dem Maße, als ältere Reserven einrückten, wurde allmählich auch das Heer politisiert und es gelang der neoslawischen Ideologie, den Kampf von Slawen gegen Slawen als Verrat zu ächten. Sobald Gefahr und Entbehrung des Schützengrabens durch Verwirklichung panslawistischer Ideale ein Ende finden konnten, war die soldatische Disziplin nicht mehr aufrechtzuerhalten und das tschechische Volk konnte seine Abneigung gegen den Krieg und gegen die, welche von ihm persönlich Opfer forderten, durch Fahnenflucht vor aller Welt nachweisen. Freilich mußte dann diese Desertation durch die Bereitschaft zum Kampfe für die Interessen des früheren Feindes aufgewogen werden.

Im Auslande bewährten sich die früheren Beziehungen zu Rußland und Frankreich. Großfürst Nikolaj Nikolajewitsch erließ gleich nach Beginn des Krieges sein Manifest an die Slawen Österreichs, in dem es u. a. hieß:15 "Rußland bringt Euch die Freiheit und die Verwirklichung Eurer nationalen Wünsche." Die russischen Versprechungen waren sehr verlockend, dennoch schreibt Masaryk:16 "Ich glaube, einer meiner besten politischen Erkenntnisse und Entscheidungen war, daß ich unsere nationale Sache nicht auf die einzige russische Karte gesetzt, daß ich im Gegenteil auf die Gewinnung der Sympathien aller Alliierten hingewirkt und mich gegen die damalige unkritische und passive Russophilie entschieden habe." Das war sicher richtig, da ein anderer tschechischer Emigrant, Dürich, sehr bald ganz in Abhängigkeit von einer russisch-imperialistischen Tendenz am Zarenhofe geriet bis 1917 Rußland dem Bolschewismus verfiel. Masaryks persönlich gute Beziehungen zu englischen, französischen und amerikanischen Professoren, Politikern und Publizisten ließen ihn bald auch erkennen, daß der Schwerpunkt des Krieges im Westen und außerdem die stärkere Energie und politische Initiative in England, nicht in Frankreich lag. Die nüchterne politische Interessenahme der Engländer an der Sache der Tschechen schien ihm wichtiger als die gefühlsmäßige der Franzosen. Er ging deshalb 1915 nach England16a und blieb dort bis 1917,17 um dann in Rußland und Nordamerika zu wirken. Die Arbeit in Paris überließ er Dr. Beneš.

[72] Die positive Entscheidung über das Kriegsprogramm der tschechischen Auslandsrevolution fiel bei den Alliierten sehr spät.18 Erst deren Kriegsnot 1917/18, die Tatsache des russischen Zusammenbruches und das Auftreten einer gut ausgerüsteten, handlungsfähigen tschechoslowakischen Armee in Rußland machte Staatsmänner und Heerführer bereit, die Angebote der militärischen Hilfe um den Preis der Zerstörung des Habsburger Reiches anzunehmen und dabei das böhmische Staatsrecht in der extremsten Formulierung der Errichtung eines eigenen Staates mit einer bestimmten politischen Zweckbestimmung für die Zukunft zu einem Kriegsziel der Alliierten zu machen.

Die Linie, welche die tschechische Propaganda während des Weltkrieges mit der Zerstörung der Monarchie verfolgte, ist in zahllosen Denkschriften festgehalten, die natürlich je nach dem Empfänger abgestimmt waren. In einer Denkschrift Masaryks vom Juni 1918 an Lansing heißt es z. B. in guter Anpassung an Wilsons Ideologie:19 "Die Philosophie der Geschichte und dieses Krieges muß die richtige Bedeutung Österreichs, des Ostens und Rußlands - der pangermanische Plan Berlin-Bagdad setzt die Ausbeutung Österreich-Ungarns durch Berlin voraus - abschätzen. Solange Österreich bestehen wird, hat das preußische Deutschland eine Brücke zum Balkan und zu der Türkei, also zu Asien und Afrika. Deutschland kann nicht geschlagen werden, wenn es nicht gezwungen sein wird, sich auf seine eigene Kraft zu verlassen und seiner Vorherrschaft über seine nichtdeutschen Völker, die Völker Österreich-Ungarns, des Balkans und der Türkei zu entsagen. Deutschlands Völker haben auch ein Recht auf Selbstbestimmung: kein deutsches Gebiet darf von Deutschland weggerissen werden, es muß aber gezwungen werden, alle Völker freizugeben, die es mit Hilfe Österreich-Ungarns versklavt hat. Es ist ein großer Irrtum, zu glauben, die Habsburger wollten oder könnten gegen Deutschland sein." In Versailles geschah das Gegenteil, nicht ohne Mitwirken der tschechischen Auslandsrevolution! In einer späteren Note vom 31. August 1918 setzt Masaryk seinen Propagandafeldzug gegen Deutschland fort:20

      "Die Auflösung Österreich-Ungarns ist die logische Folge der amerikanischen politischen Grundsätze. Kaiser Wilhelm hat ganz richtig gesagt, daß dieser Krieg zwischen den amerikanischen und deutschen Idealen entscheiden soll... Die Auflösung Österreich-Ungarns wird auch Rußland helfen. Zwischen den Deutschen und Russen entsteht ein freies Polen, Böhmen und die Slowakei, Großrumänien und Süd- [73] slawien... Die Deutschen und Magyaren werden von slawischen und romanischen Völkern umringt sein. Rußland hört auf, der Nachbar Preußens zu sein, es wird vor dem direkten Einfluß Berlins gerettet sein und Rußland wie die Nationalitäten der russischen Föderation werden sich freier entwickeln können."

Die Folge dieser Einflußnahme in Washington war die Anerkennung des tschechoslowakischen Nationalrates durch die Vereinigten Staaten schon am 3. September 1918.21

Daß auch schon vor Kriegsende Pläne für die große Politik nach dem Kriege geschmiedet wurden, geht u. a. aus einer Denkschrift des Dr. Beneš an den italienischen Ministerpräsidenten Orlando vom 24. September 1918 hervor:22

      "Mit Rücksicht darauf, daß wir alle ein neues Wirtschafts- und Handelssystem, das Deutschland aus Mittel- und Südeuropa vertreiben soll, gegen dieses anwenden wollen, wird im deutschen Osten eine Wirtschafts- und Zollmauer entstehen, die Italien in eine eigenartige Stellung zu den neu errichteten Staaten (Böhmen, Südslawien und Rumänien) bringen wird. Wir bereiten Dossiers und Material vor, mit dem wir auf die Friedenskonferenz kommen wollen, um bei den Friedensverhandlungen eine klare und bestimmte Linie verfolgen zu können."

Abgesehen von dem volkswirtschaftlichen Dilettantismus, der aus dieser Denkschrift spricht, unterliegt es keinem Zweifel, wie die tschechische Auslandsrevolution eifrig am Werke war, Deutschland das Verhängnis von Versailles zu bereiten. Sie war darin einer Meinung mit der polnischen, die am 23. Oktober 1918 an Dr. Beneš schrieb:23 "Auch die Stellung Böhmens und Polens an der Grenze der germanischen und slawischen Welt, an der Grenze der Freiheit und des Friedens mit der Welt der Vorherrschaft und Angriffslust, ist unverändert geblieben usw... Wie ehedem werden wir die ganze slawische Welt gegen den deutschen Drang nach Osten verteidigen."

An fast allen Eingaben Masaryks, Benešs und Stefaniks an die im Kriege maßgebenden Staatsmänner und Heerführer der Entente fällt auf, daß von den Grenzen des künftigen Staates sehr ungenau und nicht einheitlich die Rede ist. Zumeist wird von Böhmen gesprochen, wenn es sich um den künftigen Staat handelt. Dagegen bürgert sich die Bezeichnung "Tschechoslowaken" für dessen künftige Bevölkerung ein. Der Nationalrat in Paris, die Armee nennt sich tschechoslowakisch. Daraus mußte sich die Konsequenz ergeben, daß die Zusicherungen für die Lösung der "böhmischen Frage" ebenfalls recht unbestimmt lauteten, soweit es sich um die Grenzen des künf- [74] tigen Staates handelt. Das realpolitische England hat als erster Staat zu dem staatsrechtlichen Problem des bis fast zum Schluß unbenannten Gebietes, das Masaryk und Beneš forderten, Stellung genommen. Die Note Balfours vom 9. August 1918 sagt recht vorsichtig:24

      "...Großbritannien betrachtet die Tschechoslowaken als alliierte Nation und erkennt die drei tschechoslowakischen Armeen als einheitliches alliiertes und kriegführendes Heer an, das im regelrechten Kriege mit Österreich-Ungarn und Deutschland steht. Es... sieht den Nationalrat als gegenwärtigen Treuhänder der künftigen tschechoslowakischen Regierung an, die höchste Autorität über dieses alliierte Heer auszuüben."

Trotz mehrfacher Entwürfe für die Erklärung Frankreichs erreicht Dr. Beneš nicht eine ganz prägnante Grenzbestimmung in der Anerkennungsnote vom 10. September 1918. In ihr wird nur ausgesprochen:25

      "...die Regierung verpflichtet sich, den Nationalrat als in Frankreich niedergelassene Regierung de facto auch weiter in der Erreichung der Freiheit und der Erneuerung des unabhängigen tschechoslowakischen Staates in den Grenzen seiner ehemaligen historischen Länder zu unterstützen."

Da Dr. Beneš die Aufzählung der einzelnen Gebietsteile gefordert hatte und nur die Formulierung "Grenzen seiner ehemaligen historischen Länder" erreicht hat, ist die Gebietsbestimmung auch von seiten Frankreichs durchaus unklar und ungewiß. Allerdings könnte das auch Absicht gewesen sein, denn zeitweilig haben z. B. auch die Lausitz, Meißen oder Schlesien zu Böhmen gehört.

Auf Grund solcher Erklärungen der Ententestaaten wurde in der Note vom 14. Oktober 191826 die vollzogene Konstituierung der provisorischen tschechoslowakischen Regierung in Paris bekanntgegeben. Über das Gebiet ist selbstverständlich nichts gesagt, aber Dr. Beneš verweist, gewiß nicht ohne Bezug auf die damalige ungeklärte Lage, darauf,27 daß er, "um weitere Diskussionen mit den alliierten Regierungen über die Berechtigung der Aktion zu vermeiden, sich auf diplomatische Akte (in der Note) berufen habe, durch die die Alliierten vorbehaltlos verpflichtet waren und die rechtlich nicht bezweifelt werden konnten". Wenn aber die Rechtslage infolge solcher diplomatischen Schritte noch vor Abschluß des Krieges so gesichert war, muß es wundernehmen, wenn Dr. Beneš in seinem Aufstand der Nationen doch von einem Kampf um die Grenzen der Tschechoslowakei berichtet, sobald die Vorbereitungen für die Friedenskonferenz begannen.28

[75] Die provisorische Regierung sah sich genötigt, ihre Absichten endlich doch aufzudecken. Das geschah freilich klug genug während einer Zeit, wo über den Sieg der Alliierten kein Zweifel mehr bestand und der Siegestaumel auch keine verstandesmäßigen Begrenzungen anerkannte. Am 4. November 1918 überreichte Dr. Beneš bereits eine Note,29 in der er die "Besetzung (Okkupation) strategischer Punkte, und zwar des Gebietes, das an Deutschland grenzt, Preßburg, Komorn, Gran, Kaschau, Marmaros-Sziget, Eperjes, Polnisch-Ostrau, Oderberg und Teschen forderte". Die Dokumente des Ministers Beneš aus dem November 1918 sind reich an strategischen Vorschlägen und Weisungen, in erster Linie wohl, um das von ihm geplante Staatsgebiet auch tatsächlich zu erlangen. (Korridor, französische Militärmission.)

Vor allem handelte es sich um die deutschen, rund 25 000 qkm umfassenden Gebiete der Sudetenländer und das ethnographisch schwer zu umschreibende Gebiet Nordungarns. Mit den unbestimmten, aber "ohne Vorbehalte" gegebenen Zusagen der Alliierten hoffte Dr. Beneš auch diese diplomatische Aktion zu gewinnen, ohne die Entwicklung der örtlichen Verhältnisse im neuen Staate voraus- und übersehen zu können. Seine Unsicherheit geht aus einer Weisung an die neue Prager Regierung vom 5. November 1918 hervor:30

      "Hütet Euch vor Unruhen und blutigen Stürmen in den deutschen (nicht wie es sonst heißt "verdeutschten") Gebieten. Es ist in unserem Interesse, daß aus diesem Gebiete hierher keine Nachrichten gelangen, dieses organisiere sich allzu selbständig und stehe absolut unversöhnlich uns gegenüber. Sobald Ihr eine tatsächliche Verbindung mit uns bekommt, sendet uns Nachrichten und Beweise darüber, wo Arbeiter-, Industrie- oder Bauernschichten den Wunsch, bei uns zu bleiben, geäußert haben oder äußern."

Der Prager Ministerpräsident Dr. Kramář berichtete Beneš am 15./16. November 1918,31 "die Frage Deutschböhmen sei ständig recht akut.... Unsere Deutschen sehen sich schon in der deutschen Republik.... Aber wir werden uns mit unseren Deutschen schon irgendwie verständigen. Ich werde versuchen, bald mit Lodgman zu sprechen, der von allen Deutschen der Vernünftigste ist."

Die in Paris in der Grenzfrage vorherrschende Stimmung spiegelt ein Schreiben des Dr. Beneš an Dr. Kramář vom 27. November wieder:32

      "Ich bitte, die Beziehungen mit den Magyaren und Deutschen so viel als möglich einzuschränken. Formell und offiziell soll- [76] ten Sie mit ihnen überhaupt nicht verhandeln.... Wir sind von der Welt anerkannt, sie nicht. Und was das Wichtigste ist: Sie werden nicht anerkannt. Ich mache aufmerksam, daß mit ihnen nicht über den Frieden verhandelt werden wird. Ihnen wird der Frieden einfach zur Kenntnis gebracht. Jedes Verhandeln mit Karolyi von unserer Seite stärkt seine Situation.... Ich arbeite mächtig in dieser Richtung und stütze mich gerade auf die Frage unserer Anerkennung und ihre Nichtanerkennung usw. Also: von ihnen mit Hilfe der Presse sprechen, ist gut, aber direkt mit ihnen nicht verhandeln, ist besser.... Von den Deutschen in Böhmen ist überhaupt nicht und wird nicht geredet werden. Darin seid ganz beruhigt. Aber auch das ist äußerst vertraulich."

In seinem Schreiben vom 28. November 1918 heißt es:33 "Es ist heute schon gewiß, daß die Magyaren und österreichisch-Deutschen auf der Konferenz nicht gegen uns losgelassen werden" und in seinem Schreiben vom 29. November 1918:34 "Heute sprach ich mit Pichon. Er rät uns, auch von unserer Seite den Standpunkt (des Nichtverhandelns) zu wahren. Deshalb ist es nötig, jedwede offizielle Verhandlung mit den Deutschen und Magyaren zu beenden, einerseits sich nicht zu ihnen herabzulassen, anderseits ihnen dadurch keine Bedeutung beizumessen." Am 10. Dezember 1918 bittet Beneš, noch einige Tage Geduld zu haben,35 er sei sicher, eine günstige Entscheidung auch in der Frage der Deutschen in Böhmen zu erlangen, übrigens werde Masaryk die Situation klären.

Der Vorschlag der deutschösterreichischen Regierung, den sie im Wege der Schweizer Gesandtschaft in Paris den Alliierten am 13. Dezember 1918 überreichte, verlangte ein Plebiszit in den deutschen Gebieten der Sudetenländer. Dr. Beneš publiziert nur einen Auszug seiner Äußerung vom 20. Dezember 1918 an Pichon zu diesem Vorschlag, aus dem hervorgeht,36 daß sich Minister Dr. Beneš doch nicht einer für seine Sache günstigen Entscheidung ganz sicher war. Er verlangt aus Vorsicht nur eine provisorische Bestimmung der Grenzen, deren politische Anerkennung der Friedenskonferenz vorbehalten sein soll, und betont die Notwendigkeit "kategorischer und präziser Verfügungen", durch welche "der einzige anerkannte mitteleuropäische Staat Ordnung auf seinem Territorium machen könne". Pichon lehnte natürlich den deutschösterreichischen Vorschlag ab,37 spricht aber von "vorläufigen Grenzen" des tschechoslowakischen Staates. Das gleiche tat England.38 Am 21. Dezember verlas Ma- [77] saryk in Prag seine erste Botschaft als Präsident und prägte das Wort von den "deutschen Einwanderern und Kolonisten", das die Zukunft ahnungsvoll umschrieb. Mit 13 Memoranden an die Friedenskonferenz versuchte Dr. Beneš das Mißtrauen besonders amerikanischer Kreise, das Bevölkerungsstatistiken des neuen Staates veranlaßt hatten, zu zerstreuen.39 Wilson, der in bezug auf Südtirol nachgegeben hatte, fand sich auch mit der Zuteilung von mehr als drei Millionen Deutschen an die Tschechoslowakei ab; die europäischen Staatsmänner hatten keine Veranlassung, einen willfährigen zukünftigen Bundesgenossen nicht äußerlich stark zu machen.

Da die Vereinbarungen bezüglich des Ostens noch ungenauer waren als bezüglich der Westgrenze des neuen Staates und Ungarn, um dessen Gebiet es dort ging, militärische (Besetzung des ganzen Gebietes) und diplomatische Erfolge (Abmachungen mit General Franchet d'Esperay) hatte, war der Kampf im Lande selbst um die Ostgrenzen viel dramatischer als um die Westgrenzen. Diplomaten und Generäle gingen schließlich gerne auf Vorschläge zu einer strategischen, ethnographisch nicht berechtigten Erweiterung der Tschechoslowakei auch gegen Osten ein, um so mehr, als ihnen Dr. Beneš auseinandersetzte,40 "es sei nicht möglich, daß der Waffenstillstand Franchets einem feindlichen Staate das Recht auf verbündetes Gebiet einräume". Dr. Beneš stellt befriedigt in seinem Buche41 fest, daß "es sich dokumentarisch gezeigt hatte, wie wichtig es war, die Anerkennung der Selbständigkeit und der Regierung vor dem Umsturze erreicht zu haben". Gewiß, die vorbehaltlose Anerkennung unbestimmter Grenzen hatte sich bewährt, denn sie konnte Schritt für Schritt praktisch ausgenützt werden. Die Friedenskonferenz hatte zwar das letzte Wort, aber zwischen Oktober 1918 und Juli 1919 waren in erster Linie Wilsons Pläne zu einer Illusion geworden.

Die Besetzung des deutschen Gebietes der Sudetenländer war eine Annexion gegen den Willen seiner Bewohner. Die Jubiläumsschrift des tschechoslowakischen Parlaments (1928) gibt diese Besetzung zu:42

      "Der Regierung blieb nichts anderes übrig, als gegen den Widerstand der tschechoslowakischen Bürger deutscher Nationalität entschiedene Schritte zu unternehmen, welche der Tschechoslowakei Grenzen, die zu ihrer Existenz unbedingt notwendig und geschichtlich gegeben waren, sichern und eine Anarchie verhindern würden, die daraus zu entstehen drohte, daß zwei Regierungen - die tsche- [78] choslowakische und die nationale deutsche - um die Organisation der Verwaltung in einigen Teilen der tschechoslowakischen Republik ringen würden. Die tschechoslowakische Regierung stützte sich auf Art. IV des Waffenstillstandes vom 3. November 1918... und begann anfangs Dezember 1918 ganz planmäßig die verdeutschten Gebiete der historischen Länder zu besetzen... Die deutschösterreichische Regierung protestierte dagegen,... ihr Einspruch fand aber kein Gehör, da er unbegründet war."

Die Slowaken in Ungarn waren während des Krieges apathisch und zeigten erst gegen dessen Ende auch im Budapester Parlament Unruhe und Auflehnung. Die amerikanischen Slowaken waren leicht und bald für die Aktion Masaryk gewonnen worden und stellten ihm zwei wertvolle Mitarbeiter, Stefanik und Osusky, zur Verfügung. Der Pittsburger Vertrag vom 30. Juni 1918 gab endlich Masaryk eine Legitimation,43 im Namen der Slowaken zu handeln. Vieles ist an der endgültigen Entscheidung der Slowaken und an der Einschätzung des genannten Vertrages unklar und unschön. Wenn sich die slowakische Frage allmählich im Sinne der staatlichen Gemeinschaft löst, darf dies nicht als Volks-, sondern nur als Führersache angesehen werden. Der Pittsburger Vertrag bleibt für die Slowaken ein Dokument, mit dem sie jederzeit die unitarischen Wünsche der Tschechen durchkreuzen können, sobald es ihnen im Interesse der Erhaltung ihrer kulturellen Selbständigkeit notwendig erscheint. Bei ihrem Temperament und bei dem wechselnden Einfluß ihrer Führer beim Volke haben und werden sich Schwankungen in der slowakischen Politik ergeben; die slowakische Frage bleibt aber dauernd eine empfindliche innerpolitische Angelegenheit des neuen Staates.

Anders liegen wieder die Verhältnisse bei der Erwerbung Karpathenrußlands, des östlichsten Teiles der Tschechoslowakei, für den überhaupt erst im Weltkriege ein Name gefunden wurden mußte. Nach ethnischen Grundsätzen müßte dieses Gebiet Karpathenruthenien heißen, denn die Mehrheit der Bevölkerung (62%) sind Ruthenen (Ukrainer); politische Erwägungen veranlaßten eine Bezeichnung, die gegenüber den Ukrainern nördlich der Karpathen differenzieren sollte. Selbst die Jubiläumsschrift des tschechoslowakischen Parlaments44 (1928) stellt fest, die Bezeichnung dieses Gebietes als Karpathenrußland "habe die Regierung in dessen Generalstatut vom 18. November 1919 (!) eingeführt". Sowohl die geographische Lage als auch die früheren politischen Schwierigkeiten, die durch die Ukrainer aus der Bukowina und Ostgalizien der pan- und neoslawischen Bewegung bereitet wurden, haben vor dem Kriege Beziehun- [79] gen zwischen den Tschechen und den südlich der Karpathen siedelnden "Russinen" Ungarns fast gänzlich verhindert. Dieses Volk war arm, sozial und kulturell auf einem Tiefstand, der es zu keiner politischen Bedeutung kommen ließ und es zu einer Auswanderung, insbesondere nach Amerika zwang. Während das Weltkrieges faßten amerikanische Emigranten aus diesem Teile Ungarns den Entschluß, ebenfalls die Selbstbestimmung für sich zu verlangen, natürlich zunächst im Rahmen Ungarns. Eine national und politisch geschultere Richtung unter ihnen wünschte den Anschluß ihrer europäischen Heimat an Rußland und damit an die Ukraine, "doch wünschten die Alliierten nicht, daß die Russen auf die Südseite der Karpathen kommen".45 Nach dem Ausbruch der Revolution in Rußland und dem Zerfall der Monarchie entschieden sich die etwa eine halbe Million Russinen vertretenden Führer in Saranton (Pennsylvanien) für den Anschluß an die Tschechoslowakei, freilich erst am 19. November 1918. Die einheimische Bevölkerung, kirchlich und politisch uneinig, nahm diese Entscheidung nicht widerspruchslos hin, aber eine andere Lösung blieb bei der geopolitischen Lage des Gebietes nicht übrig, wenn Ungarn geschwächt und von den Karpathen als natürliche Grenze wie von Polen als Nachbarstaat abgedrängt werden sollte. Bedingungslos erhielt die Tschechoslowakei dieses Gebiet nicht: sie mußte sich verpflichten, ihm eine Autonomie zu gewähren. Die karpathenruthenische Autonomie ist jedoch bis heute nicht verwirklicht. Gegenüber der Behandlung der anderen volksfremden Gebiete des neuen Staates ist dieser Zwang auf den erwerbenden Staat ein Ausnahmefall und rechnet nicht zuletzt damit, daß über das Gebiet später nochmals entschieden werden wird.

Die Friedenskonferenz teilte der Tschechoslowakei diese drei Hauptgebiete Sudetenländer, Slowakei und Karpathenruthenien zu. Allein die historischen Grenzen des sudetenländischen Gebietes wurden doch nicht beibehalten. Das hilflos gewordene Deutschösterreich verlor kleinere Gebiete in Südböhmen (Weitra) und Südmähren (Feldsberg). Die Freundschaft zwischen Tschechen und Polen im Kriege wurde zu einer Gegnerschaft vor der Friedenskonferenz. Polen forderte Ostschlesien, etwa das Herzogtum Teschen, und erzwang zunächst eine Volksabstimmung, zu der es nicht kam, weil Dr. Beneš lieber auf "historisches Gebiet" verzichtete (auch um die Freundschaft Polens zu gewinnen), als über solches abstimmen zu lassen, was ihn für kommende Entwicklungen präjudiziert hätte. Diese Freundschaft gewann er nicht, als er bei der Entscheidung über die oberschlesische Frage die tschechoslowakische Stimme zugunsten Polens abgeben ließ. Polen fühlte sich immer als der größte [80] und deshalb stärkste westslawische Staat und wünschte unter diesen die erste Rolle zu spielen. Es blieb eine Rivalität bestehen, die nicht zu überbrücken war. Wie ehedem scheitert auch heute noch eine Übereinstimmung in der Ostpolitik an dem verschiedenen Verhältnis der Tschechen und Polen zu Rußland und den Ukrainern. Versuche der Unwirksammachung der Verpflichtung des Minderheitsschutzvertrages ermöglichten wohl Interessengemeinschaften, aber die politischen und wirtschaftlichen Unstimmigkeiten überwiegen. Auch eine noch so slawisch-imperialistische Propaganda wird nicht vermögen, die polnisch-tschechische Rivalität aus der Welt zu schaffen.

Von Deutschland gewann die Tschechoslowakei das Hultschiner Ländchen in dem Länderdreieck bei Oderberg. Aus den tschechischen Dokumentensammlungen ist heute noch nicht ersichtlich, wie dieses Gebiet in Paris 1919 erworben wurde. Es mag wohl einer Zufallsentscheidung überlassen geblieben sein, vielleicht um größere Ansprüche von tschechischer Seite durch den Obersten Rat abzuweisen (Glatz, Lausitz). Gewiß haben auch strategische Gründe mitgesprochen. Erleichtert wurde die Zuteilung durch die Volkszählungsstatistiken des Deutschen Reiches. Allerdings hätte eine Volksabstimmung zweifellos die Heimattreue der Hultschiner erwiesen. Mit freudigen Gefühlen sind sie aus dem Reich nicht gegangen. Auch die Tschechen haben mit ihrer Zuteilung wenig Freude; je länger die Hultschiner unter Druck stehen, desto stärker lehnen sie sich an die Sudetendeutschen an, weil - zum Unterschiede von früher - ihre volkliche Eigenart nicht geachtet wird.

Bei der Bestimmung des Staatsraumes hatte somit mit Ausnahme Teschens die tschechische Auslandrevolution den von ihr angestrebten Erfolg. Schon im Jahre 1917 erschien eine Schrift des Tschechen Hanuš Kuffner,46 der diese Gebietsbestimmung als eine "Mißgeburt" bezeichnete. Er verlangte mehr - eine volle Zerstückelung Deutschlands mit einem deutschen Kerngebiet zwischen einer gegen Westen erweiterten Schweiz, dem Rhein, der Linie Köln-Dresden und längs der böhmischen Grenze bis Passau. Also ein winziges deutsches Reichsgebiet von "Pufferstaaten" umgeben! Zu diesen sollte natürlich auch die "Kuffnersche" Tschechoslowakei gehören, die bis Dresden, Frankfurt a. O., Breslau gereicht und im Süden Gran, den Semmering und Wien umfaßt hätte. Sein Vorschlag ist niemals in ernste Erwägung gekommen, spiegelt aber eine Gesinnung, die gar nicht so fremd im tschechischen Volke Deutschland gegenüber ist und erst durch diplomatische Beschwichtigungen und realpolitische Erwägungen zurückgedrängt werden muß.

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1Dr. Gustav Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich. Buchdruckerei und Verlagsbuchhandlung Carl Fromme. Wien und Leipzig, I, S. 229. ...zurück...

2Ebenda, I, S. 252. ...zurück...

3Ebenda, I, S. 347. ...zurück...

4Ebenda, I, S. 65. ...zurück...

5Ebenda, II, S. 73. ...zurück...

6Ebenda, II, S. 105 - 106.. ...zurück...

7Ebenda, II, S. 172 - 174. ...zurück...

8Dr. Eduard Beneš, Der Aufstand der Nationen. Der Weltkrieg und die tschechisch-slowakische Revolution. Bruno Cassirer, Verlag, Berlin 1928. S. 499. ...zurück...

9Dr. Gustav Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich usw., II, S. 369. ...zurück...

10Ebenda, II, S. 426. ...zurück...

11Ebenda, III, S. 331, 443 usw. ...zurück...

12Ebenda, III, S. 446, 459, 472. ...zurück...

13Dr. Karel Kramář, Na obranu slovanské politiky. Pražské akciové tiskarny v Praze 1926, S. 20. ...zurück...

14Ebenda, S. 44. ...zurück...

15Ebenda, S. 63. ...zurück...

16T. G. Masaryk, Die Weltrevolution, Erinnerungen und Betrachtungen 1914 - 1918. Erich Reichs-Verlag, Berlin 1925, S. 12. ...zurück...

16aEbenda, S. 73. ...zurück...

17Ebenda, S. 133 und ff. ...zurück...

18Ebenda und bei Dr. Eduard Beneš, Der Aufstand der Nationen. ...zurück...

19Dr. Eduard Beneš, Světová válka a naše revoluce. Vzpomínky a úvahy z boju za svobodu národa. III. Dokumenty (nur tschechisch). Dokument Nr. 124, S. 364. ...zurück...

20Ebenda, Dokument Nr. 152, S. 419. ...zurück...

21Dr. Eduard Beneš, Der Aufstand der Nationen usw. S. 558. ...zurück...

22Dr. Eduard Beneš, Světová válka usw. III. Dokument Nr. 167, S. 449. ...zurück...

23Ebenda, Dokument Nr. 187, S. 471. ...zurück...

24Dr. Eduard Beneš, Der Aufstand der Nationen usw. S. 538. ...zurück...

25Ebenda, S. 562. ...zurück...

26Ebenda, S. 592 - 593. ...zurück...

27Ebenda, S. 594. ...zurück...

28Ebenda, S. 658 - 674. ...zurück...

29Dr. Eduard Beneš, Světová válka usw. III. Dokument Nr. 204, S. 489. ...zurück...

30Ebenda, Dokument Nr. 208, S. 494. ...zurück...

31Ebenda, Dokument Nr. 210, S. 504. ...zurück...

32Ebenda, Dokument Nr. 219, S. 518 - 519. ...zurück...

33Ebenda, Dokument Nr. 220, S. 524. ...zurück...

34Ebenda, Dokument Nr. 221, S. 525. ...zurück...

35Ebenda, Dokument Nr. 232, S. 531-532. ...zurück...

36Ebenda, Dokument Nr. 236, S. 535-536. ...zurück...

37Dr. Eduard Beneš, Der Aufstand der Nationen usw. S. 686. ...zurück...

38Dr. Eduard Beneš, Světová válka usw. III. Nr. 239, S. 558. ...zurück...

39Dr. Eduard Beneš, Der Aufstand der Nationen usw. S. 686-687. ...zurück...

40Ebenda, S. 79. ...zurück...

41Ebenda, S. 684. ...zurück...

42Nàroduí shromáždění republiky ćeskoslovenskí v prvnim desitileti. Vydalo přesednictví poslanecké sněmovuy a přesednictá senáte. V Praze 1928, S. 39-40. ...zurück...

43T. G. Masaryk, Die Weltrevolution usw. S. 232 und ff. [und S. 269]. ...zurück...

44Nàrodní shromáždění usw. S. 48. ...zurück...

45T. G. Masaryk, Die Weltrevolution. S. 270. ...zurück...

46Hanuš Kuffner, Unser Staat und der Welt[frieden], mit fünf Landkarten. Übersetzung der tschechischen Broschüre Nás stát a světový mír von H. V., Wien. Verlegt bei Ed. Strache. Warnsdorf 1922. ...zurück...



Das Buch der deutschen Heimat, besonders das Kapitel "Oberschlesien".

Zur Vorgeschichte des deutsch-tschechischen Kulturkonflikts, weit ins 19. Jahrhundert und noch darüber hinaus zurück: Die Deutschen in Österreich und ihr Ausgleich mit den Tschechen

Deutschtum in Not! Die Schicksale der Deutschen in Europa außerhalb des Reiches,
besonders die Kapitel "Das Sudetendeutschtum und die Deutschen in der Slowakei" und "Das Hultschiner Ländchen."

Das Grenzlanddeutschtum, besonders das Kapitel "Das Sudetendeutschtum mit dem Deutschtum im Hultschiner Ländchen."

Gebiets- und Bevölkerungsverluste des Deutschen Reiches und Deutsch-Österreichs nach dem Jahre 1918

Das Versailler Diktat. Vorgeschichte, Vollständiger Vertragstext, Gegenvorschläge der deutschen Regierung

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Zehn Jahre Versailles
in 3 Bänden herausgegeben von
Dr. Dr. h. c. Heinrich Schnee und Dr. h. c. Hans Draeger