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III. Das Deutschtum in nichtdeutschen Staaten

10. Das Memelland

Das Memelland stellt nach Nordosten hin den äußersten Vorposten des geschlossenen deutschen Sprachgebiets in Mitteleuropa dar. Wie es der einzige deutsche Gebietsteil war, der auf schmaler Linie mit den durch den Schwertritterorden der deutschen Kultur gewonnenen baltischen Lande verknüpft war, so ist auch seine Geschichte mit der Geschichte der Ordenslande eng verbunden.

[138] Zum alten großlitauischen Staate hat das Memelland nie gehört, und ebensowenig waren seine ursprünglichen Bewohner litauischen Stammes. Im Süden, am Unterlaufe der Memel, wohnte ein altpreußischer Stamm, die Schalauer, im Norden lebten die ihnen verwandten Kuren. Um die Mitte des 13. Jahrhunderts wurde das Memelgebiet von Norden her von den Schwertbrüdern, von Süden her vom Deutschen Orden erobert und so die unmittelbare Verbindung zwischen beiden Ordensgebieten hergestellt; 1252 wurde die Burg Memel gegründet, die seither Mittelpunkt und Hochburg des Deutschtums im Memellande geblieben ist. Mit den übrigen Restgebieten des Ordenslandes kam auch das Memelland im Jahre 1525 zum aufstrebenden brandenburgischen Staate, mit dem es bis 1919 nicht nur politisch, sondern auch nach der Gesinnung seiner Bewohner, ob sie deutschen oder litauischen Stammes waren, fest verbunden geblieben ist.

Erst unter der Ordensherrschaft hat in diesen Gebieten litauische Einwanderung in nennenswertem Umfange eingesetzt; sie war damals für die Erschließung des Landes erwünscht, da im ausgehenden Mittelalter aus dem Mutterland selbst genügender deutscher Zuzug nicht zu erhalten war. Da aber, namentlich seit der Zeit Friedrich Wilhelms I., der im heutigen Memelgebiete eine sehr intensive und zielbewußte Kolonisations- und Bevölkerungspolitik betrieben hat, späterhin wieder durch Zuwanderung aus verschiedenen deutschen Stämmen neben das deutsche Bürgertum auch ein Bauerntum deutscher Volkszugehörigkeit trat und das kulturell überlegene Deutschtum auf die litauischsprechenden Landesbewohner eine starke Anziehungskraft ausübte, war in der Vorkriegszeit auch zahlenmäßig das deutsche Element das überlegene. In den heute zum Memelgebiet gehörigen Landesteilen wurden bei der Volkszählung vom 1. Dezember 1910 141 238 Bewohner ermittelt, von denen 71 781 als Muttersprache die deutsche, 67 138 die litauische angaben.

Noch während des Krieges gab es kaum jemand unter der litauischen Bevölkerung des Memellandes, der eine Abtrennung vom preußischen Staate angestrebt oder erhofft hätte. Wenn trotzdem der Versailler Machtspruch die Abtrennung erzwang, so entsprach das in keiner Weise den Wünschen der Bevölkerung, deren Wille entgegen dem Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Völker unberücksichtigt blieb.

Das Deutschtum in Ostpreußen, 
einschließlich Masuren und Memelland
[139]   Das Deutschtum in Ostpreußen
(einschließlich Masuren und Memelland).

Die Abstimmungszahlen 1920 bzw. die Sprachenverhältnisse (Memelland 1910)
sind auf die Gesamteinwohnerzahlen von 1919 umgerechnet.


Das Gebiet, das der preußische Staat verlor, umfaßte [139] seinen nordöstlichen Zipfel zwischen der alten Grenze gegen Rußland und dem Flußlauf der Memel mit ihrem Mündungsarm, dem Ruß, sowie dem nördlichen Teil der kurischen Nehrung; es setzte sich aus den Kreisen Memel-Stadt und -Land, [140] sowie aus Teilen der Kreise Heydekrug, Tilsit-Stadt und -Land, Ragnit und Niederung zusammen. Die endgültige staatliche Stellung des Gebietes blieb vorläufig ungeklärt; seine Souveränität übernahm zunächst die Entente, was sich nach außen hin in der Besetzung des Landes durch französische Truppen äußerte. Diese Regelung wurde deshalb getroffen, weil die Entente nicht wünschte, daß der mit Polen wegen der Wilnafrage schwer verfeindete litauische Staat durch die Angliederung des Memellandes gestärkt würde. Litauen jedoch hatte, unterstützt durch eine kleine Zahl großlitauisch gesinnter Memelländer, die Hoffnung auf den Erwerb dieses ihm besonders durch den Hafen Memel wichtigen Landes nicht aufgegeben. Es benutzte im Januar 1923 die durch den Ruhreinbruch der Franzosen entstandene politische Verwirrung, um sich durch einen Handstreich litauischer Freischärler (in Wirklichkeit von Soldaten und Offizieren der litauischen Armee) des Memellandes zu bemächtigen. Vor diesen litauischen Banden kapitulierte die Entente, indem sie bereits im Februar 1923 die Souveränität über das Memelland an Litauen übertrug, jedoch unter der Verpflichtung, diesem eine autonome Verwaltung zu belassen und beide Landessprachen, deutsch und litauisch, amtlich anzuerkennen. Die endgültige staatsrechtliche Stellung des Landes wurde durch das Memelabkommen von 1924 geregelt, das dem Memelgebiet eine weitgehende Verwaltungsautonomie sichert. Danach liegt die Verwaltung in den Händen eines von der litauischen Regierung eingesetzten Gouverneurs sowie des fünfköpfigen Landesdirektoriums, neben dem der aus allgemeinen Wahlen hervorgehende Landtag steht. Der Memeler Hafen wird von einem dreiköpfigen Hafendirektorium verwaltet, dessen Mitglieder vom Landesdirektorium, von der litauischen Regierung und dem Völkerbund ernannt werden.

In den seither vergangenen 6 Jahren hat sich Litauen nach Kräften bemüht, das Deutschtum Memels zu schwächen, viel- [141] fach unter Nichtberücksichtigung der Bestimmungen des Memelabkommens. Besonders durch Unterdrückung der deutschen Sprache, durch Entlassung oder Ausweisung deutscher Beamter, Lehrer, Ärzte und Journalisten, durch Beschneidung des deutschen Schulwesens, durch Verletzung der Bestimmungen über die Verwaltungsautonomie suchte man die Litauisierung des Landes zu fördern. Aber trotzdem hat es der litauische Staat nicht vermocht, auch nur die Sympathien der großen Mehrzahl der litauischen Bevölkerung zu gewinnen; das beweisen die völligen Mißerfolge der litauischen Parteien bei den Wahlen zum Landtage, der Widerstand auch der litauischen Eltern gegen den litauischen Unterricht. Die Litauer des Memellandes sind durch eine ganz andersartige historische Entwicklung und durch ihren viel höheren Kulturstand von den Bewohnern des ehemaligen Russisch-Litauen scharf geschieden; auch bekennen sie sich zum evangelischen Glauben, während Russisch-Litauen römisch-katholisch ist. Sie fühlen sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auch heute noch dem Deutschtum fest verbunden.

Wirtschaftlich trägt das Memelgebiet überwiegend agrarischen Charakter; etwa 70% der Bevölkerung leben von Landwirtschaft und Viehzucht; der Großgrundbesitz tritt hinter dem bäuerlichen Klein- und Mittelgrundbesitz stark zurück. Nicht unbeträchtlich sind die Werte, die durch die besonders von der Küstenbevölkerung betriebenen Fischerei in der Ostsee, dem Kurischen Haff und den Binnengewässern erzielt werden. Dagegen ist die industrielle Entwicklung des Landes unbeträchtlich. Der einzige nennenswerte Industriezweig ist die Holzindustrie, die 1921 24 Sägewerke sowie 6 sonstige Holzbearbeitungsbetriebe umfaßte; sie stützte sich ebenso wie eine bedeutende Zellulosefabrik auf die Waldgebiete am Oberlauf der Memel in Polen und Weißrußland. Für die Stadt Memel mit ihren rund 30 000 Einwohnern stehen Handel, besonders wiederum Holzhandel, und Hafenverkehr im Vorder- [142] grund ihres Wirtschaftslebens. Die große Gunst ihrer natürlichen Lage ist jedoch niemals voll ausgenutzt worden, da vor dem Kriege Rußland den Hafen Libau, das Deutschen Reich Königsberg stets auf Kosten Memels förderten.

Auch wirtschaftlich hat die Abtrennung vom Deutschen Reiche dem Memelland schwer geschadet. Durch den Kriegszustand zwischen Litauen und Polen wurden die bisherigen Holzzufuhren abgeschnitten, so daß die Holzindustrie fast völlig lahmgelegt wurde und die Holzausfuhr aus dem Memeler Hafen, ebenso wie die Ausfuhr polnischen Getreides, beträchtlich sank. Ebenso gestaltete sich für die wenigen sonst noch vorhandenen industriellen Betriebe die Absatzlage nach der Abtrennung vom Deutschen Reiche ungünstig. Für das Memelland zeigte sich also ebenso wie für fast alle abgetretenen deutschen Grenzgebiete, daß die Herausreißung aus dem großen deutschen Wirtschaftskörper zwangsläufig von ungünstigen wirtschaftlichen Folgeerscheinungen begleitet sein mußte.



Das Buch der deutschen Heimat, Kapitel "Ostpreußen".

Deutschtum in Not! Die Schicksale der Deutschen in Europa außerhalb des Reiches, besonders das Kapitel "Das Deutschtum im Memelland und in Litauen."

Zehn Jahre Versailles, besonders Bd. 3, die Kapitel "Gegnerische Gebietsforderungen und ihre Vorgeschichte: Die Litauer" und "Gebietsverlust durch erzwungene Abtretung oder Verselbständigung: Memel."

Das Versailler Diktat. Vorgeschichte, Vollständiger Vertragstext, Gegenvorschläge der deutschen Regierung


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Das Grenzlanddeutschtum
Mit besonderer Berücksichtigung seines Wirtschafts- und Soziallebens

Dr. Karl C. Thalheim