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Bd. 3: Die
grenz- und volkspolitischen Folgen
des Friedensschlusses
I. Gegnerische Gebietsforderungen
und ihre Vorgeschichte (Teil 2)
2) Die Belgier
Dr. Paul Oszwald
Oberarchivrat, Potsdam
Schon frühzeitig ist bei der Erörterung der Kriegsziele der Entente
auch von territorialen Erwerbungen Belgiens die Rede gewesen. Der
französische Botschafter in St. Petersburg erwähnte bereits in einer
Depesche vom 23. November 1914, worin er die vom Zaren auf Anraten Sasonows
aufgestellten Kriegsziele mitteilte, daß Belgien in der Richtung nach Aachen
hin einen bedeutenden Länderzuwachs erhalten müsse. Belgien wurde
also von vornherein in den französischen imperialistischen Vorstoß
nach dem Rheine hin einbezogen, wobei es allerdings noch offen blieb, in welcher
Weise der französische und der belgische Anteil an dem neuen Landerwerb
gegeneinander abgegrenzt werden sollte. Die imperialistischen Zirkel Belgiens
haben diese Frage sehr bald erörtert, wobei sich auch Kreise beteiligten, bei
denen man imperialistische Neigungen nicht vermutet hätte. Wie einer der
Hauptvorkämpfer für die Vergrößerung Belgiens, Pierre
Nothomb, in La Terre Wallone vom September 1920 erzählt hat, war bei
der Einleitung der Annexionsbewegung, welche schließlich zur
Losreißung von
Eupen-Malmedy führte, der wallonische Sozialdemokrat Louis Piérard in
besonderem Maße beteiligt. Er war der erste, der von dem "Elsaß der
Wallonen" sprach, worunter er vorerst nur zwei Kreise, die 1815 von dem
Fürstbistum Lüttich abgetrennt worden waren, und Malmedy
verstand. Bald griffen Le XXième
Siècle sowie andere belgische Blätter,
die als Flüchtlingspresse in Holland erschienen, diesen Gedanken auf, und
einige Zeit später wurden die Annexionswünsche in einem Manifest
vom 15. November 1915 auf 11 Bezirke ausgedehnt, die einstmals zu Luxemburg
und Limburg gehört hatten und die bei den Grenzregelungen von 1815 und
1839 von Preußen "gestohlen" worden sein sollten. Die weitgehenden
Ansprüche Belgiens wurden durch den wallonischen sozialdemokratischen
Führer Destrée, den späteren belgischen Staatsminister, in einer Rede
in Genf zuerst bekannt gegeben und dann von den beiden Sozialdemokraten
Vandervelde, dem späteren Friedensunterhändler und belgischen
Außenminister, und De [19] Brouckère in ihrem Memorandum aus
Petersburg aufgegriffen. Diese Beteiligung sozialistischer Führer an den
Plänen der belgischen Imperialisten hat zehn Jahre nach Versailles zu einer
heftigen Pressefehde zwischen Louis Piérard und Pierre Nothomb, dem Leiter des
Comité de Politique Nationale und der heutigen faschistischen Jeunesses
Nationales, geführt. Daraus erfahren wir, daß das Memorandum vom
15. November 1915 von 23 Personen unterschrieben und an den König
Albert, die belgische Regierung und die belgischen Gesandten verschickt worden
ist. In diesem Memorandum wurde die Annexion des Großherzogtums
Luxemburg, der holländischen Provinz Limburg mit Maastricht und die der
deutschen Kreise Eupen, Malmedy, Schleiden, Kronenburg, St. Vith,
Neuerburg, Bitburg und Dudeldorf, sowie die von
Neutral-Moresnet vorgeschlagen; unter Umständen auch noch die von 20
Dörfern auf dem rechten Ufer der Mosel, welche in früheren Zeiten
einmal zum Herzogtum Luxemburg gehört hatten. Außerdem wurde in
diesem Memorandum für ein autonomes Rheinland eingetreten, welches
durch politische und wirtschaftliche Bande mit Belgien vereinigt werden sollte,
sowie für die Annexion von
Holländisch-Seeflandern und der Westschelde. Louis Piérard, der seine
Unterschrift unter dieses Memorandum nicht ableugnet, verwahrt sich heute aber
dagegen, daß er sich zu einer imperialistischen Politik habe verleiten lassen.
Er habe vielmehr den ausdrücklichen Vorbehalt gemacht, daß beim
Friedensschluß eine territoriale Veränderung von einer Abstimmung
der betreffenden Bevölkerungen abhängig gemacht werden
müsse. Was Belgien unter einer solchen Volksabstimmung versteht, hat das
Beispiel von Eupen-Malmedy gezeigt.
Die Wünsche der Radikalen unter den belgischen Annexionisten wie
Nothomb und Des Ombiaux gingen noch weiter, indem sie Belgien bis zum Rhein
ausgedehnt wissen wollten. Auch von französischer Seite wurden diese
weitgehenden Annexionspläne unterstützt. Auf einer Karte,1 die von
Prof. Magda entworfen und 1915 in 30 000 Exemplaren verbreitet worden ist und
das Europa der Zukunft darstellte, wie es die Alliierten durchsetzen
müßten, um den ewigen Frieden in Europa zu sichern, wird die
belgische Grenze von der Südostecke Luxemburgs an der Mosel entlang bis
zum Rheine südlich von Koblenz und dann am Rheine entlang bis zur
holländischen Grenze gezogen. Von Holland gehört nach dieser Karte
der ganze [20] südliche Teil mit Maas und Waal und den
Provinzen Limburg und Brabant zu dem neuen Belgien. In dem begleitenden Text
heißt es u. a.: "Der von den Siegern erzwungene Frieden sieht sein
Hauptziel in der Schwächung der beiden
germanischen Mächte durch den Verlust der Provinzen, die sie sich in den
Raubzügen mehrerer Jahrhunderte angeeignet haben. Fünfzig
Millionen Menschen erwarten ihre Befreiung durch den gegenwärtigen
Völkerkrieg. Alle
unter- [21] drückten
Völker wie Elsässer, Lothringer, Dänen, Serben, Polen,
Tschechen, Italiener, Rumänen, Wallonen, sie alle erheben flehend die
Hände zu den edeln und freigebigen Mächten, die für Kultur
und Bildung kämpfen."
[20]
Belgien vor dem Krieg. Die eingetragenen
Gebietsansprüche Belgiens sind der Karte"La Belgique
Nouvelle" entnommen, welche Oudenne 1916 in seinem Buche "La
Belgique au tournant de son histoire" veröffentlichte und die
vorher bereits in der anonymen Schrift "L'Indépendence, la
Liberté, la Prosperité de la Belgique à jamais
assurées" erschienen war.
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In der Literatur dieser Zeit begegnet derselbe Gedanke. So will Sardou2 die
Städte Aachen, Köln, Düsseldorf und Krefeld, und Finot3
sogar die Rheinprovinzen mit der Pfalz an Belgien geben. Auch Delaire behandelt
in seinem 1916 erschienenen Buche4 in einem besonderen Kapitel "les Pays
rhenans français et belges". Dagegen stießen die Ansprüche der
belgischen Annexionisten auf das Großherzogtum Luxemburg in Frankreich
auf Widerstand, da man dieses für sich selbst haben wollte. Infolgedessen
hat auf der oben erwähnten Karte von Magda das Großherzogtum eine
eigene Farbe erhalten und liegt zwischen Belgien und Frankreich, von beiden
umschlossen. Gegen die französischen Ansprüche auf Luxemburg
wandte sich besonders leidenschaftlich Pierre Nothomb in seiner "Belgischen
Geschichte des Großherzogtums Luxemburgs", die er am 25. Juli 1915 in
Le Correspondant veröffentlichte und bald darauf als Broschüre
erscheinen ließ.5 Wie alle belgischen Annexionisten
stützt er sich auf
die tendenziöse Geschichtsbetrachtung von Pirenne und verteidigt
u. a. die These, daß es bis 1839 nur ein Luxemburg gegeben habe, und
daß dieses Land niemals aufgehört habe, "belgisch" zu sein. Das
deutsche Reichsfürstentum Lüttich nennt er "theoretisch
unabhängig unter dem Ancien Régime, aber in Wirklichkeit unbestreitbar
zu den Niederlanden gehörend", deren Haupterbe, wie ein anderer Annexionist
es ausgedrückt hat, das gegenwärtige Belgien sei.6
Von besonderer Bedeutung wurde die Schrift von Eugène Baie,7 der Belgien
ungefähr in der Ausdehnung des Memorandums vom November 1915
vergrößert wissen will. Man darf wohl annehmen, daß seine
Auffassung die der Mehrzahl der belgischen Annexionisten wiedergibt. Seine
Abhandlung ist, wie er selbst angibt, bereits im März 1915 geschrieben
worden. Er hat sie aber erst zur Zeit des [22] Memorandums im Herbst 1915
veröffentlicht. An dem Großherzogtum Luxemburg, das für ihn
ein belgisches
Elsaß-Lothringen ist, hält er fest. Dagegen wendet er sich gegen eine
Annexion bis zum Rhein. Wohl aber wünscht er eine rheinische Barriere im
Osten von Belgien, welche jedoch eng mit dem alten Belgien in der Form
verbunden sein müsse, daß Belgien Garnisonsrecht in dem unter
seinem Protektorat stehenden neuen Rheinstaat haben müsse. Die
Bevölkerung dieses Staates dürfe an der militärischen
Sicherung des Landes nicht teilnehmen und müsse für die Befreiung
vom Militärdienst eine bestimmte Steuer zahlen. Weiter müßten
die Provinzen schonend behandelt und moralisch von Preußen abgezogen
und zu einer verständigen Selbstverwaltung hingeführt werden. Nur
eine solche rheinische Barriere würde die belgischen Belange auf die Dauer
befriedigen. Diese Schrift von Baie ist viel besprochen worden, auch in dem von
den deutschen Truppen besetzten Belgien, wohin sie eingeschmuggelt wurde.
Zahlreiche Kritiker verurteilten die Schaffung eines besonderen, unter dem
Protektorate Belgiens stehenden Rheinstaates und verlangten vielmehr die
unmittelbare Angliederung. Ihre Ansichten sind am deutlichsten von Maurice des
Ombiaux8 ausgedrückt worden, welcher
geographische und wirtschaftliche
Gründe für die volle Annexion anführt. Das linke Rheinufer sei
unerläßlich für die Wohlfahrt von Antwerpen. Die
Einwände von Baie und anderen Kritikern, welche eine Annexion einer
reindeutschen Bevölkerung für bedenklich erachteten, suchte er damit
zu zerstreuen, daß er behauptete, die rheinische Landbevölkerung sei
trotz einer hundertjährigen preußischen Oberherrschaft immer noch
fähig, die gemeinschaftliche Lebensführung mit Belgien wieder
aufzunehmen. Höchstens könne man von den Städten dies nicht
sagen. Aber solche Schwierigkeiten dürften nicht abschrecken. Er
weiß auch schon ein Mittel, um die zu annektierenden Gebiete dauernd
für Belgien gewinnen zu können. In seiner Broschüre France
et Belgique9 schlägt er vor, daß die
Rheingebiete von allen
"Pommern, Brandenburgern und anderen Preußen, die sich dort
niedergelassen hätten, um das Land zu germanisieren, zu reinigen seien.
Allein die Eingeborenen sollten dableiben dürfen. Die Schadloshaltung
für die Expropriation sollte von Preußen, Bayern, Sachsen,
Württemberg und den anderen Staaten Deutschlands, die die Waffen gegen
Belgien erhoben hätten, bezahlt werden. Dieses System müsse
besonders in den Städten unerbittlich durchgeführt werden. Die
Rheinländer
soll- [23] ten die
bürgerlichen Rechte genießen, aber keine politischen Rechte, bis sie
ganz entpreußischt wären." Desombiaux glaubt, daß dieser
Prozeß in 15 Jahren durchzuführen sei.
Im besetzten Gebiet wurden solche annexionistischen Gedanken im geheimen sehr
eifrig erörtert. Oudenne veröffentlichte darüber im Jahre 1916
ein umfangreiches Buch mit sehr viel dokumentarischem Material, worin er
Belgien als den Rechtsnachfolger des mittelalterlichen burgundischen Reiches und
der späteren habsburgischen Niederlande betrachtet und die Mosel und den
Rhein als Grenzen des neuen Belgiens fordert (siehe
Textkarte).10 Auch er setzt
sich mit den vorsichtigen Politikern, welche an Stelle einer wirklichen Annexion
einem Protektorate den Vorzug geben, auseinander und betont mit besonderer
Schärfe die strategische Notwendigkeit einer Erweiterung der belgischen
Grenzen, um in Zukunft einen
deutsch-französischen Krieg unmöglich zu machen. Seinen ganzen
Ausführungen legt er einen zwar mit der historischen Wirklichkeit in
schroffstem Widerspruch stehenden, aber für belgische Patrioten
begeisterungsfähigen Gedanken zugrunde, nämlich "die
Überzeugung, daß Belgien in das Jahrhundert eingetreten ist, in
welchem es zur Wiederherstellung seiner territorialen Ausdehnung schreiten wird,
die es am Anfang der christlichen Zeitrechnung gehabt hat".
Auch die belgische Regierung beschäftigte sich mit den Annexionsfragen
und richtete darüber im Jahre 1917 auf geheimen Wegen eine Anfrage an die
im besetzten Gebiet zurückgebliebenen Politiker. Wie der Sozialdemokrat
Bertrand, der nach dem Kriege zum Staatsminister ernannt worden ist, in Le Soir
vom 15. Oktober 1921 erzählt hat, sollen die Meisten eine
Gebietserweiterung für unerwünscht gehalten haben; dagegen
hätten sich Verschiedene für eine föderative Vereinigung mit
Holland, Luxemburg, der Rheinprovinz und
Elsaß-Lothringen ausgesprochen. Also auch für diese Politiker galt es
als ausgemacht, daß die Rheinprovinz von Deutschland abgetrennt und in
irgendeinen Zusammenhang mit Belgien gebracht werden sollte.
Während der Friedensverhandlungen eiferte besonders das Comité de
Politique nationale für Angliederung von
Holländisch-Limburg und der deutschen Gebiete von Eupen und Malmedy
sowie für Ausbreitung des belgischen Einflusses auf das deutsche
Rheingebiet. Dieser Vereinigung gehörten außer den bekannten
Annexionisten Baie, Desombiaux, Nothomb und Davignon auch der Direktor des
Antwerpener Handelsinstituts Dupriez und die Löwener
Universitätsprofessoren Duprez und Nérinckx an.
[24] Die Annexionisten im besetzten Gebiet hatten
zum Teil ihre Wünsche auch auf diejenigen Gebiete des französischen
Staates erstreckt, welche einstmals zu dem burgundischen Reiche und den
österreichischen Niederlanden gehört
hatten (siehe Textkarte).
Naturgemäß hatten die in Frankreich lebenden belgischen
Annexionisten diese Wünsche nur schwer vertreten können. Aber
auch die übrigen Wünsche der Belgier sind 1919 nicht ganz in
Erfüllung gegangen, weil Frankreich das Großherzogtum Luxemburg
und die deutschen Rheingebiete unter seine eigene Botmäßigkeit
bringen wollte.
Dagegen hat Frankreich mit allen Mitteln die belgischen Wünsche
gegenüber Holland unterstützt, die dahin zielten,
Holländisch-Seeflandern und
Holländisch-Limburg sowie die volle Souveränität über
die Schelde zu erlangen. Lloyd George und Wilson haben sich in Versailles gegen
eine Abtretung holländischen Gebietes sowie gegen eine Übertragung
holländischer Souveränitätsrechte an Belgien ausgesprochen.
Die Folge war, daß es zu wirtschaftlichen Verhandlungen zwischen Belgien
und Holland kam, wobei Belgien seine territorialen Ansprüche auf
Umwegen zu erreichen suchte. In dem
belgisch-holländischen Vertrage des Jahres 1925, welcher dann allerdings
zwei Jahre später von der holländischen Ersten Kammer abgelehnt
wurde, hatte Belgien mit Hilfe der darin vorgesehenen beiden großen
Kanäle vom Rhein zur Schelde und von der Schelde zur Waal, die zugleich
eine großartige wirtschaftliche und strategische Anlage darstellten, sein Ziel
beinahe erreicht.11 Nur die flämischen
Nationalisten waren entschieden
gegen alle offenen und versteckten Annexionsgelüste aufgetreten. Die
Verhandlungen über die Kanalpläne, bei denen es sich auch um die
Aufhebung der rechtlich immer noch bestehenden Neutralitätsverpflichtung
Belgiens handelt, sind neuerdings wieder in Gang gekommen. Das Ziel des
belgischen Staates, der heute mehr denn je mit Frankreich auf das engste
verbunden, ist, ist die Gewinnung der Rheinmündungen, um dadurch das
wichtigste Ein- und Ausgangstor der deutschen Wirtschaft in die Hände zu
bekommen. Dieses Ziel liegt durchaus im Belang von Frankreich. So sind auch
heute noch die belgischen annexionistischen Bestrebungen, wenn auch in anderer
Form als während des Krieges, vollauf im Gange. Der Kampf um den Rhein
ist heute in ein neues Stadium getreten und wird von Frankreich mit Hilfe von
Belgien auf eine andere, aber nicht weniger gefährliche Weise
geführt.
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