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Bd. 3: Die
grenz- und volkspolitischen Folgen
des Friedensschlusses
I. Gegnerische Gebietsforderungen
und ihre Vorgeschichte (Teil 1)
1) Die Franzosen
Dr. Paul Wentzcke
Archivdirektor, Düsseldorf
Besser als andere Völker und Staaten hatte sich Frankreich beim
Abschluß des Weltkrieges zur Anmeldung ganz bestimmter Forderungen
gerüstet; aus einer Überlieferung von Jahrhunderten war der Drang
nach dem Rhein Sehnsucht und Wunsch der Nation geworden. In einem
umfangreichen Schrifttum, in dem während des kriegerischen Ringens noch
einmal älteste Erinnerungen in Dichtung und Wissenschaft auflebten, spielte
selbst das Kaisertum Karls des Großen eine bedeutsame Rolle. In Wahrheit
erwuchs erst im kapetingischen Staate, den um 1300 im Osten "die vier
Ströme" Schelde, Maas, Rhone und Saône begrenzten, nach
zunächst bescheidenen Anfangserfolgen ein neues Erbgut der
französischen Politik. Seit wechselvolle Kriegszüge Anfang des 15.
Jahrhunderts zum ersten Male den Rhein selbst berührt hatten, lockte jeder
Zwist und jede Unruhe in dem zersplitterten Römischen Reich deutscher
Nation zu weiterem Zugriff. Im Westfälischen
Frieden von 1648 gab ein
europäischer Kongreß den Ansprüchen nach. Der habsburgische
Besitz im Elsaß, der Besatzungsrecht und Einspruchsrecht gegen
Reichsgesetze auch in den "zehn Reichsstädten" sowie in anderen Gebieten
in sich schloß, wurde zum Mittelpunkt eines planvollen
Ausdehnungsstrebens. Nach und nach ward von hier aus das linke Ufer des Stroms
einschließlich seiner Brückenköpfe erfaßt. Neben dem
Oberrhein, wo Breisach, Freiburg und Philippsburg den Vormarsch deckten; wurde
das Moseltal im Zeitalter Ludwigs XIV. das eigentliche Aufmarschgebiet
französischer Heere, die bereits die wichtige Mainstraße zwischen
Ober- und Niederdeutschland bedrohten. Der Kampf gegen die Vereinigten
Niederlande schließlich und um die spanische Erbschaft, in der Flandern und
Brabant den Weg zum Niederrhein öffneten, vervollständigte das
Bild. Da dieser letzte Versuch auch England gefährdete, trieb eine
europäische Koalition die Angriffssäulen im Norden zurück, im
Süden dagegen blieb ein Teil des Elsaß mit Straßburg in
französischer Hand. Der Rest des Landes ging erst im folgenden Jahrhundert
in zurückhaltender Auswirkung von Brauch und Recht in die fremde
Verwaltung über; Lothringen gab das Reich nach neuem verlustreichen
Ringen 1735 (1766) preis.
[4] Den Abschluß bildete hier wie dort das
große Erlebnis der französischen Revolution, die ihrerseits dem
unverhüllten Streben nach der Rheingrenze und darüber hinaus nach
der Vorherrschaft über die Kernlande des alten deutschen Staates neuen
Antrieb brachte. Im Jahr 1812 konnte Frankreich auf dieser Grundlage die
höchste Machtentfaltung in Europa verzeichnen: Trotz aller inneren
Schwäche hatte das alte Königtum den Erfolg eingeleitet, die erste
Republik setzte ihn fort, das Kaisertum Napoleons I. hat ihn vollendet. Selbst im
Zusammenbruch seiner Herrschaft konnte Frankreich dank der Uneinigkeit der
übrigen Großmächte Elsaß und Lothringen behalten;
beide Landschaften schienen fortan den Anspruch auch auf ein
größeres Erbe zu decken. Das Endziel dieser Politik blieb den
zurückkehrenden Bourbonen, der zweiten Republik von 1848 und
insbesondere dem Kaiserreich Napoleons III. die Rheingrenze in vollem Umfang
und in ihrer weltweiten Bedeutung. 1823 schon flüsterte der
französische Philosoph und Staatsmann Chateaubriand dem Zaren lockend
zu, was der Bosporus für Rußland, sei der Rhein für
Frankreich. Wenige Jahre später erschütterte 1830 der belgische
Aufstand das erste Bollwerk der Wiener Verträge. Nur der einmütige
Widerstand Großbritanniens, Preußens und Österreichs hinderte
die dauernde Festsetzung Frankreichs in Brüssel. An die Stelle eines starken
Mittelstaates aber, den die Großmächte im Königreich der
Niederlande an der bedrohten Nordseeküste aufzurichten gedachten, deckte
fortan die neue belgische, für lange Jahrzehnte noch unfertige
Staatsschöpfung die Nordflanke des Rheintals. Ein Neutralitätsvertrag
mußte die gegen Frankreich gerichtete "Barrierepolitik" des letzten
Jahrhunderts ersetzen; papierne Zusicherungen traten an die Stelle der
militärischen Sicherung. Stärker als bisher konnte Frankreich die
Spitze seines diplomatischen und kriegerischen Vorstoßes dem Mittelrhein
zuwenden, dessen Zugänge die Festungen Metz und Straßburg
beherrschten. Als seine Stellung und sein Einfluß in Syrien bedroht war,
suchte die öffentliche Meinung in Paris wie in den Provinzen Ersatz an der
Westgrenze des deutschen Volkstums. Selbst die Worthalter der jungen
kommunistischen und sozialistischen Bewegung, die Volk und Völker von
überkommenen Fesseln befreien wollten, erblickten in dem Ruf nach dem
Rhein nur eine Frage der nationalen Verteidigung. "Nicht Eroberungsgeist kommt
hier in Frage," erklärte Louis Blanc, "sondern die Notwendigkeit unserer
Sicherheit". Pierre Joseph Proudhon, der große Theoretiker des
internationalen, völkerverbindenden Sozialismus, fügte hinzu,
daß in der Tat die Rheingrenze das Ziel jeder französischen
Außenpolitik sein müsse: "Sie ist im Volke eingewurzelt. Alle
Regierungen haben ihr mehr oder weniger dienen müssen. Sie war die
Mission Hugo Capets und seiner Nachfolger geworden." Nur von der
Erfüllung [5] dieser wahrhaft nationalen Wünsche, die
alle Parteien Frankreichs einmütig unterstützten, erwartete auch
Napoleon III. 1857 schon die Befestigung seiner Herrschaft.
[5]
Frankreichs Druck auf die deutschen Westlande.
Die vorstehende Skizze gibt einen Überblick über die Lagerung.
Frankreichs Ansprüche gegen Osten sind so alt und so vielfältig,
daß eine Kartenreihe dazu gehört, sie darzustellen. (Man vergleiche
die einschlägigen Veröffentlichungen von Stegemann,
Wentzcke.)
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[6] In einem wechselvollen diplomatischen Spiel,
dessen Einzelzüge die große Aktensammlung Hermann Onckens
festhält, übernahm der Neffe und Erbe des gewaltigen Kaisers "die
historische Rheinpolitik der Franzosen". Auf kunstvoll verschlungenen Wegen
verfolgten alle Entwürfe und Gedankengänge zunächst die
Neutralisierung des kleinen linksrheinischen Gebietes, das in Preußens,
Hessens und Bayerns Hand Bestandteil des Deutschen Bundes war. Das letzte
Bollwerk, das die europäischen Großmächte Frankreich
gegenüber aufgerichtet hatten, sollte zum Glacis der französischen
Festung werden. Als die öffentliche Meinung in Deutschland noch vor dem
Bruderkampf zwischen Preußen und Österreich
zurückschreckte, sahen im Mai 1866 leitende Staatsmänner
Frankreichs den einzigen Ausgleich für die künftige
Machtverschiebung jenseits des Stromes in der Errichtung eines autonomen
linksrheinischen Staates: Eine Entschädigung zugleich, die Frankreich die
Möglichkeit zur geistigen und wirtschaftlichen Durchdringung des
künftig neutralen Gebietes durch die katholische Kirche, durch Zölle
und Handelserleichterungen, durch wirtschaftliche Verbindungen und kulturellen
Gedankenaustausch gebe. Die überraschende Entscheidung von
Königgrätz erst, die im Juli 1866 Preußens Vormachtstellung
für immer befestigte, zwang Napoleon III. zur Milderung seiner
Ansprüche. Nebeneinander und in sich wieder eng verflochten standen jetzt
die Forderungen nach Belgien und Luxemburg, der Rheinpfalz, Rheinhessens und
seiner Festung Mainz auf: "Die Grenzen von 1792" vor allem, die einst die erste,
unteilbare Republik als heiligstes Vermächtnis von dem gestürzten
Königshaus übernahm, mit Landau, Saarlouis und Saarbrücken
galten als Sinnbild der nationalen Wünsche. Die vorsichtig hingeworfene
Anregung, "aus der preußischen Rheinprovinz einen unabhängigen
neutralen Staat nach dem Muster Belgiens zu bilden" und Preußen selbst
dafür bei der Einverleibung der norddeutschen Einzelstaaten zu
unterstützen, war der Auftakt. Hinter dieser Forderung des "Petit Rhin", der
kleinen Lösung, erschien sehr bald die Rheingrenze selbst, der "Grand
Rhin", als das eigentliche Ziel. Abwechselnd sollten Vorstöße gegen
das Mündungsgebiet der Schelde und des Rheins und Lockungen mit einem
rheinischen Bundesland, das zugleich als "Sicherheitspuffer" den
weltgeschichtlichen Streit der deutschen und der französischen Nation
abdämpfen könne, diesen "großen" Erfolg durchsetzen. Nur als
ein unwillkommener Verzicht blieb schließlich die Hoffnung auf den
Gewinn Luxemburgs zurück, das der König der Niederlande als
Landesherr abzutreten bereit war - bis Bismarcks
tatkräftige und zugleich weiche Hand auch
diesen Plan zerbrach.
Selbst die endgültige internationale Regelung der "Luxemburger Frage" auf
der Londoner Konferenz 1867 aber hatte Frankreichs [7] Angriff nur aufgehalten und abgelenkt; als zweiter
Sieger konnte Napoleon dem eigenen Volke erscheinen. Im großen Sinn
einer Überlieferung, die nach Jahrzehnten und Jahrhunderten, nicht nach
Jahren oder Monaten rechnet, war die neue Schwächung der deutschen
Westgrenze in der Tat ein gewaltiger, unverlierbarer Gewinn. Die kleine
Landschaft Limburg, die man 1839 im Austausch für den belgisch
gewordenen Teil Luxemburgs dem Deutschen Bund angeschlossen hatte, schied
beim Ausbruch des
preußisch-österreichischen Krieges bereits aus. Klaglos gab
Deutschland den wichtigsten Brückenkopf an der unteren Maas frei.
Schwerer ward der Verlust Luxemburgs empfunden, das ebenfalls
vollgültiges Glied des Deutschen Bundes, als Festung wie als
Eisenbahnknotenpunkt der festeste Riegel vor der Mitte der deutschen
Rheinlandschaft war. Wie für Belgien dreißig Jahre zuvor, so wurde
auch für Luxemburg Neutralität vereinbart. Der Wirtschaftsverband
des Zollvereins schien das Großherzogtum in genügender
Stärke auch weiterhin mit dem übrigen Deutschland zu
verknüpfen. In Wahrheit hatte Bismarck selbst, der Begründer des
neuerstehenden
preußisch-deutschen Großstaates, mit diesem Zugeständnis dem
europäischen Friedenswerk ein Opfer gebracht, dessen Bedeutung die
jüngste Zeit erst lehrte. Wiederum war eine Schranke niedergelegt, die die
Großmächte einst aus den Erfahrungen der Rheinpolitik Ludwigs XIV.
und Napoleons I. heraus aufgerichtet hatten. Ein "Niemandsland" zwischen
Frankreich und Deutschland war geschaffen, das dem Angriffsgeist Frankreichs
den Vormarsch zum Rhein erleichtern mußte. Wie auf dem belgischen
Bollwerk war auch hier der politische Leitgedanke der "Sicherheit" Mitteleuropas
in sein Gegenteil verkehrt!
Immerhin aber hatten die europäischen Großmächte dem
französischen Kaiser noch einmal den Weg verlegt.. Zwangsläufig
fast ging der neue Angriffsplan auf die alten Ausgangspunkte
Metz-Diedenhofen und Straßburg-Weißenburg zurück. Ein
Bündnis mit dem geschlagenen Österreich und mit dem italienischen
"Schwesterstaat" sollte die Einkreisung Deutschlands einleiten, den Vormarsch
erleichtern; von Süden her wurde die Rheingrenze aufgerollt. Unter den
Kanonen von Straßburg erschien das Großherzogtum Baden bis zu den
Höhen des Schwarzwaldes als Glacis, dessen Beherrschung sich Frankreich
auch den Bundesgenossen gegenüber ausdrücklich vorbehielt. Als
Einfallstor und Keil zwischen
Nord- und Süddeutschland erhielt Mainz in der Verlängerung der
Weißenburger Linien die größte, ausschlaggebende Bedeutung.
Ganz offen wurde als Zweck des kommenden Krieges die Auflösung der
neuen deutschen Einheit, die Zertrümmerung des preußischen
Großstaates genannt. Als ersten Preis des Sieges aber behielt sich Napoleon
III. die Wiederherstellung der "Grenzen von 1792 und 1814" mit kleinen
Erweiterungen [8] im Kohlengebiet der Saar vor. Von hier aus
ließ sich, so mochte der Kaiser glauben, der künftige Rheinstaat oder
die Rheinstaaten, die auf ehemals preußischem, oldenburgischem,
hessischem und bayerischem Gebiet die Ruhe Europas gewährleisten
sollten, leicht beherrschen. Neutralisation und friedliche Durchdringung konnten
das Werk vollenden, das Napoleon III. selbst in einem scharfen Kampf gegen die
deutsche Sprache und Gesittung im Elsaß und in
Deutsch-Lothringen in den gleichen Jahren begann. Ihre klassische Einkleidung
erhielten diese Gedankengänge in der Ankündigung der
französischen Kriegsziele, die der Außenminister des Kaisers am
2. August 1870 dem russischen Zaren übermittelte: "Reduktion Preußens
auf seine Grenzen von 1866, Abtretung des Saarkohlenbeckens an Frankreich,
Wiederherstellung der 1866 von Preußen einverleibten Gebiete,
Vergrößerung der Mittelstaaten auf Kosten preußischen Gebiets,
Einrichtung von Staatengruppen in Deutschland, um die preußische
Vorherrschaft dauernd zu brechen." Im Osten endlich war Frankreich bereit, wenn
seine Heere in Berlin ständen, Rußland als Preis der Neutralität
die deutsche Stadt Danzig zu bieten. Mit einer schallenden Fanfare endet dieser
erste Abschnitt der neuesten französischen Rheinpolitik, die an sich nur die
Ergebnisse und Forderungen unzähliger früherer Geschlechter
aufgenommen und wiederholt hatte. Nicht zufällig endet sie am gleichen
Tage, da die Nachricht vom angeblichen Sieg bei Saarbrücken Paris in einen
ungeheuren Taumel
stürzte - einen Monat gerade, bevor die dritte Republik die Kaiserzeit
ablöste, um den leichtfertig angezettelten Kampf mit der entfesselten Kraft
eines Volksstaats aufzunehmen und zu beschließen! Das Ziel der
französischen Außenpolitik blieb auch nach diesem Umsturz im
Innern das gleiche. Ganz offen verbanden öffentliche Meinung und amtliche
Kundgebungen den Verzicht auf Elsaß und
Deutsch-Lothringen mit der festen Absicht, das Verlorene wiederzugewinnen, den
Rhein aufs neue zu erreichen.
Alle die großen Erinnerungen, die eine überreiche Geschichte
aufzuweisen hat, bewährten ihre alte Kraft: Die Keltenlegende, die
Schilderung Galliens in Cäsars Werken, der Sagenkreis, der Karl den
Großen umwob - immer wieder war der Kehrreim der Drang nach dem Rhein. Das
hochragende Standbild der fälschlich zur Lothringerin gestempelten Jeanne
d'Arc, in deren Kultus sich der Kirchenglaube zur Führung der nationalen
Außenpolitik aufschwang, schaute vom Gipfel des Welschen Belchen bereits
in die weite Ebene des Oberrheins hinab. Aufs neue gewann der Leitgedanke der
Sicherheit Gestalt. Auf jeder Karte traten die unerlösten Provinzen als ein
Pfahl im Fleische Frankreichs hervor; von jeder Kanzel sollte der Kampf um dieses
Ziel als ein Gottesdienst und als ein moralischer Gewinn für die ganze Welt
gepredigt werden. Mit der
geschicht- [9] lichen Überlieferung
und mit dem politischen Eigennutz verband sich die Hoffnung auf wirtschaftlichen
Erfolg. Nur der Zuwachs der deutschen Landschaften am Oberrhein und an der
oberen Mosel konnte nach dem Gutachten der neuen Lehre den Rückgang
der Geburten aufhalten, der das künftige Frankreich zur Ohnmacht
verdamme. Nur der Zuwachs der Kohlenschätze des Saargebiets
ermögliche die Ausbeutung und Verwertung der ungeheuren
Erzschätze, die über Frankreichs Grenze hinweg die alten und die
neuen Departements an Maas und Mosel verbinden. Nur ein unmittelbarer Anteil
am Rhein führe den gewaltigen Güterverkehr auf der großen
Verkehrsstraße zwischen Nordsee und Italien der französischen
Volkswirtschaft zu. Elsaß und Lothringen, Luxemburg und Belgien, selbst
die welsche Schweiz wurden zu "Ostmarken" des französischen
Nationalstaats, in die nun ganz selbstverständlich, drohend und lockend, die
Arbeit der Patriotenliga und unzähliger anderer Vereine eindrang. Nur die
sehr gemäßigte Forderung des auch in Deutschland geschätzten
Pariser Historikers Ernst Driault sei angeführt, "daß jede Karte, in
unseren Schulen oder sonstwo, bis zur Rheinlinie ausgedehnt werde: nicht
für die kindische und alberne Revindikation unersättlicher
Eroberungen, sondern weil das in Wahrheit der Rahmen ist, in dem sich im Laufe
der Jahrhunderte mehr oder weniger glücklich die Geschichte Frankreichs
abgespielt hat. So würde man den Geist unserer Kinder nicht an eine Grenze
der Begnügsamkeit gewöhnen, man würde nach denselben
Lehren der Geschichte den Bereich ihrer Gedanken ausdehnen, man gäbe
ihren Träumen von zukünftiger Tätigkeit eine ganz bestimmte,
zielsichere Richtung."
In solch hochgespannte Stimmung, in der die Parteien fieberhaft auf den Ausbruch
des Unwetters warteten und doch nicht wagten, selbst die Hemmungen der
Außenpolitik zu lösen, traf wie ein Blitz der Ausbruch des
Weltkrieges. Wie fünfzig Jahre zuvor war das strategische und politische
Angriffsziel der Rhein, in dessen Besitz Frankreich nach Gefallen die
Auflösung der deutschen Einheit und die Vernichtung der
mitteleuropäischen Machtstellung des Reiches erzwingen konnte. Wie im
August 1870 aber kam Deutschland zuvor, hielt den Angriff vom engeren
Stromgebiet zurück und verlegte den fremden Truppen den Einmarsch. Je
stärker in Frankreich selbst dann die Gewißheit des Erfolges Boden
gewann, um so klarer und deutlicher zeichnete sich auch in der diplomatischen
Aussprache der Verbündeten Frankreichs wichtigstes Ziel ab. Wenige
Wochen vor Ausbruch der russischen Revolution schon, im Januar 1917,
entwickelte die französische Regierung bestimmte Ansprüche auf
deutsche Landschaften, die bis heute fortwirken.
Elsaß-Lothringen, so erklärte der Ministerpräsident Aristide
Briand feierlich, zählt bei der Aufstellung des Siegespreises nicht mit:
"Wir nehmen nur unser
Eigen- [10] tum zurück.
Ebenso selbstverständlich muß es sein, daß uns Elsaß und
Lothringen nicht so verstümmelt, wie sie durch den Vertrag von 1815
waren, sondern in den Grenzen, die sie vor 1790 hatten, zurückgegeben
werden müssen. Wir werden so das geographische und das
Bergwerksbecken der Saar haben, dessen Besitz für unsere Industrie
wesentlich ist. Die Erinnerung an die aufeinanderfolgenden
Verstümmelungen unserer alten Grenze müssen ausgelöscht
werden. Es gibt im übrigen eine Frage, die notwendigerweise bei dieser
Gelegenheit auftauchen wird: die des linken Rheinufers. Gute Köpfe in
Frankreich, die an den ältesten Überlieferungen unserer nationalen
Politik hängen, fordern es als das verlorene Erbe der Französischen
Revolution, als nötig, das zu bilden, was Richelieu unsern »gut
zugeschnittenen Kampfplatz« nannte. Es ist indes zu befürchten, daß
die Wiedergewinnung der Rheinprovinzen, die uns vor einem Jahrhundert geraubt
wurden, als eine Eroberung angesehen wird und uns möglicherweise
große Schwierigkeiten bereitet. Wichtiger als ein ruhmvoller, aber unsicherer
Vorteil ist es, einen Zustand zu schaffen, der eine Sicherheit für Europa
ebenso wie für uns bietet, und der eine Deckung vor unserem Gebiete
schafft. Unserer Auffassung nach darf Deutschland mit keinem Fuß mehr
über dem Rhein stehen."
Der Neuordnung dieser Gebiete, ihrer
Neutralität und ihrer vorläufigen Besetzung galt ein weiterer
Meinungsaustausch unter den Verbündeten, dessen Endziel ein geheimes
Abkommen zwischen Frankreich und Rußland allein bereits bestimmte. Die
Grenzen Elsaß-Lothringens sollten danach
"mindestens bis zum Umfang des
früheren Herzogtums Lothringen erweitert und nach den Wünschen
der französischen Regierung festgestellt werden, wobei die strategischen
Notwendigkeiten berücksichtigt werden müssen, damit auch das
ganze Eisenrevier Lothringens und das ganze Kohlenbecken des Saarreviers in das
französische Gebiet einverleibt wird. Die übrigen linksrheinischen
Gebiete, die jetzt zum Bestande des Deutschen Reiches gehören,
werden von jeder politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeit
gegenüber Deutschland befreit. Die linksrheinischen Gebiete, die nicht in den
Bestand des französischen Staates einverleibt werden, werden ein
autonomes und neutrales Staatswesen bilden und werden so lange von
französischen Truppen besetzt bleiben, bis die feindlichen Reiche
endgültig alle Bedingungen und Garantien erfüllt haben werden, die
im Friedensvertrag angeführt werden."
Bis ins einzelne war in diesen Sätzen die künftige Rheinpolitik der
dritten Republik in ihrer geschichtlichen, politischen und wirtschaftlichen
Begründung umschrieben. Bis ins einzelne malte sich die
schöpferische Phantasie der Franzosen in einer Fülle von
wissenschaftlichen Büchern und politischen Flugschriften, in Zeitungen und
Romanen, die amtlich aufgestellten "Kriegsziele" aus. Noch [11] immer ist nur ein Teil davon in Deutschland
bekannt, aber deutlich hört man aus diesen Stimmen der öffentlichen
Meinung die gleichen Forderungen und Wünsche heraus, denen dann die
militärischen und politischen Führer der Friedensverhandlungen
Ausdruck geben sollten. Daneben spielt die Forderung des Saarbeckens eine
große Rolle, um den natürlichen Kohlenmangel der
französischen Industrie auszugleichen. Der Rhein, sagt der bedeutende
Geograph Vidal de la Blache, muß ein internationaler Strom werden, damit
der englische Wettbewerb die Vorherrschaft der
rheinisch-westfälischen Kohle breche. Stärker noch nimmt der
elsässische Hochverräter Abbé Wetterlé, dessen Hetzreden den
ganzen Verlauf des kommenden Ringens begleiten sollten, das Ruhrkohlenrevier
selbst bereits für Frankreich oder Belgien in Anspruch. In einer anderen
Schrift erscheint das
rheinisch-westfälische Industriegebiet als Arbeiterrepublik in einem
vollkommen zersplitterten Reich, dessen dauernde Ohnmacht eine Unzahl
republikanischer und aristokratischer Stadtrepubliken, alter und neuer
Fürstentümer verbürgen: "Der Germanismus werde
aufhören," verkündete Louis Dimier, "es gäbe nur noch
Deutschlande (les Allemagnes), deren glückliche Schwäche die
Freude des Weltalls wäre." So verschieden diese Phantasien ausklingen, das
eine bleibt überall Kern und Sinn der Werbung. Frankreich allein hatte sich
in Europa ein festes Ziel gesetzt, während die britische Regierung Lord
Balfours ganz allgemein nur im Parlament vor der Losreißung deutscher
Gebiete von dem Mutterlande und vor der Bildung unabhängiger Staaten auf
dem linken Rheinufer warnte. Immerhin war der Einspruch für die damalige
britische Anschauung von der französischen Gefahr am Rhein bezeichnend.
Im Mai 1918 erklärte Balfour selbst nochmals, daß "von einem
größeren Elsaß als Kriegsziel der Verbündeten nie die
Rede" war. Präsident Wilson vor allem, dessen Eintritt in den Krieg erst dem
britischen Reich wie Frankreich, Italien und Japan sowie den zweiundzwanzig
anderen verbündeten Mächten den Endsieg, den Tschechen, Polen
und Südslawen eine selbständige Stellung im neuen
Völkerkreise Europas sicherte, hatte lediglich
Elsaß-Lothringen in seinen vierzehn Punkten vom
8. Januar 1918 genannt.
Ausdrücklich verwahrte er sich am 11. Februar 1918 dagegen, "daß
Völker und Provinzen von einer Staatsoberhoheit in eine andere
herumgeschoben würden, als ob es sich lediglich um Gegenstände
oder Steine in einem Spiel handele". Ausdrücklich verlangte er, daß
"jede Lösung einer Gebietsfrage, die durch diesen Krieg aufgeworfen wurde,
im Interesse und zugunsten der betroffenen Bevölkerungen und nicht als
Teil eines bloßen Ausgleichs oder Kompromisses der Ansprüche
rivalisierender Staaten getroffen werden muß." Ausdrücklich gab er
die Zusicherung, daß alle klar umschriebenen nationalen Ansprüche
die weitgehendste
Befrie- [12] digung finden sollen, "die
ihnen zuteil werden kann, ohne neue oder die Verewigung alter Elemente von
Zwist und Gegnerschaft, die den Frieden Europas und somit der ganzen Welt
wahrscheinlich bald wieder stören würden, aufzunehmen".
Diese Grundsätze allein zwangen Deutschland die Waffen aus der Hand. In
vollem Vertrauen auf Wilsons Worte und auf ihre Verteidigung durch die
Vereinigten Staaten schlossen die deutschen Unterhändler im Walde
von Compiegne den Waffenstillstand ab, der das deutsche Volk wehrlos dem
Willen der verbündeten und angeschlossenen Mächte ausliefern
sollte. Im Westen aber sprach diese Abmachung lediglich die sofortige
Räumung der besetzten Gebiete in Belgien, Frankreich, Luxemburg sowie von
Elsaß-Lothringen aus. Nur als eine Maßnahme der militärischen
Vorsicht wurde in Deutschland zumeist die weiter verlangte Räumung des
linksrheinischen Gebietes durch die deutschen Heere aufgefaßt und
angenommen. Frankreich, so schien es, hatte die erste Forderung seines nationalen
Willens mit der Rücknahme der deutschen Landschaften am Oberrhein und
an der oberen Mosel vollkommen erreicht. In Wahrheit schloß auch dieser
ungeheure Erfolg wieder die Anfänge einer neuen Bewegung in sich, die
über die angeblich verstümmelten Grenzen von Elsaß und
Lothringen auf den Rest des reichsdeutschen linken Rheinufers zielten. Die
Waffenstillstandsbedingungen bildeten den rechtlichen Grundstock des weiteren
Geschehens. Ausdrücklich verlangten sie lediglich die Übergabe
Elsaß-Lothringens und die Räumung der übrigen
linksrheinischen Gebiete durch die deutschen Heere. Nur von einer Verwaltung
durch die örtlichen Behörden unter der Aufsicht der
Besatzungstruppen der Verbündeten und der Vereinigten Staaten war hier
die Rede. Bedenklich zeigte sich bald, daß auch "die wichtigsten
Rheinübergänge (Mainz, Koblenz und Köln) inbegriffen je ein
Brückenkopf von 30 km Durchmesser auf dem rechten Ufer" besetzt werden
sollten, bedenklich die Schaffung einer neutralen Zone von weiteren 10 km Breite
auf dem rechten Rheinufer von der holländischen bis zur Schweizer Grenze.
Der Einmarsch der französischen, britischen, belgischen und amerikanischen
Truppen, der unmittelbar nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandes begann,
setzte die unvollendete Operation der verbündeten Heere fort. Mainz wurde
der Mittel- und Angelpunkt der Bewegung. Während sich der rechte
Flügel im Elsaß, in der Pfalz und in Rheinhessen festsetzte,
stießen die links gestaffelten Vortruppen hart an der holländischen
Grenze entlang durch das unbesetzte deutsche Land bis Kleve vor. Anfang
Dezember war die ganze Rheinlinie in fremder Hand.
Zugleich folgten dem französischen und belgischen Heere Sachkenner aller
Art, um eine wirtschaftliche "Umstellung" der besetzten Gebiete und die
Möglichkeiten ihrer geistigen und künstlerischen [13] Durchdringung mit der "überlegenen
Zivilisation der westlichen Demokratien" vorzubereiten. Über die Grenzen
des Saarbeckens hinaus, dem die Pläne der "Siegerstaaten" bereits die
Aufgabe einer "Reparationsprovinz" zuwiesen, stießen die Werber bis an den
Rhein vor. Insbesondere die sogenannte Kulturpropaganda breitete sich mit
überraschender Schnelligkeit aus, deren Leitung im Kriege noch der
französische Staat übernommen und großzügig zur
Ausbreitung der französischen "Zivilisation" eingesetzt hatte. Neben die
ältere Alliance française und neben die
Amitiés françaises (gegr. 1909) war
1914 bereits eine weitverzweigte Amtsstelle des Außenministeriums
getreten, mit deren Unterstützung ein eigener Sonderausschuß
für das linke Rheinufer auf dies wichtigste Ziel der französischen
Politik hinarbeitete. Ein Netz von Zweigstellen im Binnenlande sammelte die
Einzelkräfte und führte sie geschlossen der neuen Rheinarmee zu.
Von Straßburg und Metz aus, den alten Ausfalltoren der französischen
Politik, verbreitete sich die Bewegung über die Pfalz, Rheinhessen und
Nassau. In Köln und Aachen traf sie sich mit ähnlichen Bestrebungen
"großbelgischer" Schwärmer. Frankreich, so erklärte der Pariser
Temps am 21. Mai 1919, "stehe vor der Aufgabe, die germanische Kultur am
Rhein innerlich zu überwinden und durch die
französisch-romanische zu ersetzen. Von dem tatsächlichen Erweis
der Überlegenheit auf geistigem und wirtschaftlichem Gebiete hänge
letzten Endes Frankreichs zukünftige Machtstellung dem germanischen
Kulturgebiet gegenüber ab." Zahllose künstlerische Veranstaltungen,
deren Duldung und Besuch die Truppenführer in den besetzten Gebieten
erzwangen, sollten vor allem nach außen hin die Hinneigung der
Bevölkerung bezeugen, französische Sprachkurse die im Elsaß
und in Deutsch-Lothringen so glänzend bewährte "Doppelkultur"
einführen. Zahllose Flugschriften, die die
Haß- und Greuelpropaganda der Kriegsjahre hinterlassen hatte, priesen die
Überlegenheit der gallischen Zivilisation, weckten und mehrten die
Abneigung gegen das "slawische und protestantische" Preußen und
begeisterten sich für den rheinischen Pufferstaat, die künftige
Völkerbrücke zwischen Westen und Osten. In engster Verbindung
damit setzten die ersten Versuche ein, das linke Rheinufer "auch vom
wirtschaftlichen Standpunkte aus zu beherrschen". Ganz ernsthaft hofften die
geistigen und militärischen Führer dieser Ausdehnungspolitik auf den
freiwilligen Anschluß des linken Rheinufers, denn auch sie standen unter
dem Einfluß veralteter Anschauungen, die die ungeheure Bindekraft des
neuen deutschen Staatsgedankens und der seit einem Jahrhundert gemeinsam
errungenen wirtschaftlichen und geistigen Erfolge in der preußischen
Rheinprovinz, in Rheinhessen und in der bayerischen Rheinpfalz
mißachteten.
Im gleichen Sinn und in der gleichen Absicht hatte inzwischen
An- [14] fang Januar 1919 in Paris der diplomatische
Kampf um das eigentliche Kriegsziel begonnen. Zahlreiche Denkschriften
Marschall Fochs und André Tardieus suchten die politische und militärische
Bedeutung einer französischen Rheingrenze für die Sicherheit aller
verbündeten und angeschlossenen Mächte zu erweisen. Da die
Eifersucht und die Besorgnis der Angelsachsen den schmerzlichen Verzicht auf die
unmittelbare Angliederung des ganzen Landes heischten, stellte der Marschall von
Frankreich die Wichtigkeit der "Brückenköpfe" für die
Durchführung des Friedensvertrages voran: Nur die Besetzung dieser
Übergänge könne die dauernde Aufsicht über den
gesamten Haushalt des Deutschen Reiches, die geistige Umstellung der
Bevölkerung im Sinn friedlicher Betätigung und insbesondere die
wirtschaftliche Neuordnung Deutschlands gewährleisten. Der Weg auch ins
Herz Mitteleuropas müsse auf alle Fälle freibleiben, auf dem rechten
Ufer des Stromes ein "Sanitätskordon" dem Übergreifen des
Bolschewismus wehren. Im ersten französischen Entwurf schlossen
sich die Forderung der deutschen Grenze am Rhein, die Errichtung eines
unabhängigen Rheinstaates und die Beherrschung der Brücken wie
"drei Glieder eines einzigen Planes, die zusammen stehen oder fallen
müssen", aneinander. Insbesondere sollte Deutschland auf alle Hoheitsrechte
auf die linksrheinischen Gebiete sowie auf jede Zolleinheit mit ihnen verzichten.
Mit Ausnahme von
Elsaß-Lothringen könne das bisher reichsdeutsche Land in einen oder
mehrere selbständige Staaten unter dem Schutz des Völkerbundes
verwandelt werden. Die deutsche Regierung aber müsse diesen neuen
Staaten alljährlich die für ihre Industrien erforderliche Kohle auf
Gutschrift der allgemeinen Entschädigungsrechnung liefern.
Trotz dieser bestechenden Beweisführung lehnten sich Wilson wie Lloyd
George gegen die ständige und selbst gegen eine langfristige Besetzung des
linksrheinischen Landes und der Rheinübergänge auf. Mit einigen
Bedenken erkannten sie Frankreich schließlich das Recht zu, falls
Deutschland nach Ansicht eines bereits vorgeschlagenen Aufsichtsausschusses der
drei Mächte seinen Verpflichtungen aus dem Friedensvertrag nicht
nachkomme, die ganze Rheinlinie nebst fünf Brückenköpfen
im Umfang von zwanzig Kilometer aufs neue zu besetzen, und bereitwillig griff
man in Frankreich den willkommenen Vorschlag auf. Neben und vor die Frage der
"Sicherheit", die im Grunde bereits für Frankreich entschieden schien, trat in
immer stärkerem Ausmaß die Frage der "Entschädigung", die
die ernste Teilnahme aller Staaten weckte. Raymond Poincaré selbst, der
Präsident der dritten Republik, forderte daher Ende April 1919 die
Besetzung des linken Rheinufers auf mindestens dreißig Jahre, da sich die
Zahlung der deutschen Entschädigungen wahrscheinlich über die
gleiche Zeit hinziehen werde. Es ist von Belang, erklärte er, "die Schranke
[15] des Rheines nicht aufzugeben, bevor Deutschland
alle Bedingungen des Friedensvertrages erfüllt hat. Die Besetzung als
Bürgschaft für eine Forderung, die auf der Wiedergutmachung von
Kriegsschäden beruht, läuft in keiner Weise den von Präsident
Wilson verkündeten und von den Verbündeten anerkannten
Grundsätzen zuwider. Sie hat selbstverständlich nichts mit einem
Gebietswechsel zu tun; sie bildet lediglich ein Mittel für den
Gläubiger, sich ohne Anwendung von Gewalt bezahlt zu machen."
Darüber hinaus hatte Louis Loucheur, früher Munitionsminister, jetzt
Ernährungsminister im Kabinett Clémenceau, im Februar 1919 bereits zur
Ergänzung der militärischen Entwaffnung Deutschlands die
schärfste Aufsicht über die deutsche Industrie gefordert, um auch die
Erzeugung von neuen Kriegswaffen zu verhindern. Insbesondere sollten sich die
Verbündeten die unbedingte Überwachung des wichtigsten deutschen
Industriegebiets durch militärische Besetzung sichern, "um Essen und die
hauptsächlichsten Kruppschen Betriebe, den größeren Teil der
rheinisch-westfälischen Kohlenfelder und die von diesen abhängigen
Metallindustrien zu umfassen". Als weitere Strafmaßnahme sah der Bericht
Loucheurs die Aufrichtung einer Zollgrenze zwischen diesem um das Ruhrrevier
erweiterten besetzten Gebiet und dem übrigen Deutschland vor. Aufs
engste verband sich die Forderung der Entschädigung mit dem
Doppelbegriff der militärischen und der wirtschaftlichen "Sicherheit", ohne
doch zunächst im "Zehnerrat" der verbündeten Mächte
Anerkennung zu finden.
Mit besonderem Ernst bezeichnete Präsident Wilson die Vorschläge
des französischen Wirtschaftskenners als "ein Programm der Panik". Selbst
die Besetzung des linken Rheinufers als Bürgschaft für die
Durchführung der Deutschland auferlegten Entschädigung
bekämpften die amerikanischen und englischen Staatsmänner; nicht
mit Unrecht befürchteten sie in einer langfristigen Besetzung den
Übergang zu einer vollständigen staatsrechtlichen Umstellung. Nach
allen Nachrichten, die ihnen aus den Rheinlanden zugingen, drohte die "friedliche
Durchdringung" in diesen ersten Monaten schon die "umgängliche"
rheinische Bevölkerung zum freiwilligen Verzicht auf die bisherige
politische, geistige und wirtschaftliche Verbindung mit dem übrigen
Deutschland zu zwingen. Auch die deutschen Gegenvorschläge nahmen
diese Gefahr außerordentlich ernst. Fünfzehn Jahre, so stellten sie
Ende Mai 1919 fest, "soll rheinisches Land besetzt bleiben; in der Zwischenzeit
können die Verbündeten alles tun, um die wirtschaftlichen und
moralischen Verbindungen mit dem Mutterlande zu lösen und
schließlich den Willen der einheimischen Bevölkerung zu
fälschen." Um dies Schlimmste zu verhüten, erklärte sich
Deutschland freiwillig bereit, "die wirtschaftliche Versorgung Frankreichs mit
Kohlen, besonders aus dem Saargebiet, bis [16] zur Wiederherstellung der französischen
Bergwerke zu sichern". Darüber hinaus noch wollte das Reich "seine
gesamte wirtschaftliche Kraft dem Dienste der Wiederherstellung der
zerstörten Gebiete Frankreichs widmen". In einer Menge, die in Wahrheit
die Lieferungsmöglichkeit der nächsten Jahre weit überstieg
und daher unabsichtlich den brutalen Erwerbssinn der französischen und
belgischen Großindustrie und ihrer politischen Freunde bedenklich steigerte,
wurden deutsche Kohlen und die Überlassung von industriellen
Beteiligungen angeboten: Der Wille zur "Erfüllung" war da, aber
schmählich verweigerten die Gegner die dargebotene Hilfe.
Aufs schärfste wies Marschall Fochs Antwort vor der Friedenskonferenz
selbst darauf hin, daß eine Räumung der nördlichen Zone nach
fünf Jahren hinsichtlich der von allen Beteiligten geforderten
Entschädigung "die Aufgabe des industriereichsten Teils des besetzten
Gebietes bedeute, die Aufgabe des Brückenkopfes, der den Zugang zum
Ruhrgebiet bildet, zu den Hauptquellen des deutschen Reichtums, die wir zu
bedrohen aufhören und auf deren Verfassung wir verzichten". Vergebens
verkündete er nochmals, die Frage des Rheinlands werde durchaus durch
den Rhein bedingt: "Dieser Strom regelt alles. Wenn man Herr des Rheines ist, ist
man Herr des ganzen Landes. Wenn man nicht am Rhein steht, hat man alles
verloren." Vergebens gab er aus diesen Gedankengängen heraus selbst die
Besetzung des Hinterlandes preis, um nur die Rheinübergänge und
damit den Strom selbst um so stärker zu sichern. Vergebens verlangte er die
dauernde Besetzung des erst nachträglich einbezogenen
Brückenkopfes Kehl, da er einen untrennbaren Bestandteil der
französischen Festung Straßburg bilde. Nur das Angebot eines
"Sicherheitsvertrages", der Großbritannien und die Vereinigten Staaten bei
jeder Bedrohung Frankreichs durch Deutschland zur Hilfeleistung am Rhein
verpflichte, konnte den Streit schlichten. Am 16. Juni 1919 wurden die
endgültig festgelegten "Friedensbedingungen" den deutschen Vertretern
überreicht. Den gewaltigen Sturm der Entrüstung, den ihre
Bekanntgabe in ganz Deutschland und insbesondere in dem am schwersten
bedrohten Westen erregte, schlugen die verbündeten Mächte mit der
Drohung eines neuen Vormarsches ins Herz des Reiches nieder. Noch einmal
brachte Clémenceau in diesem letzten Augenblick, vier Tage vor Ablauf der
Deutschland gesetzten letzten Frist, die Besetzung von Essen vor. Am 28. Juni
1919 mußten die deutschen Vertreter im Spiegelsaal zu Versailles die
Unterschrift unter das einseitige Diktat der verbündeten und
angeschlossenen Mächte setzen. Nach den in Versailles festgelegten
Bedingungen trat der "Vertrag" ebenso wie das ebenfalls im Juni 1919 von den
Besatzungsmächten einseitig beschlossene "Rheinlandabkommen" am 10.
Januar 1920 in Kraft.
[17]
Schrifttum
Für die ältere Zeit Fritz Kern, Die Anfänge der
französischen Ausdehnungspolitik bis zum Jahr 1308. Tübingen
1910.
Bis in die Zeit des jüngsten Weltkrieges führt mit
besonderer Berücksichtigung Elsaß und Lothringens Aloys Schulte,
Frankreich und das linke Rheinufer. Stuttgart 1918.
Für die Vorgeschichte des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 und
für die Rheinpolitik Napoleons III. bringt die dreibändige
Aktensammlung von Hermann Oncken, Die Rheinpolitik Kaiser Napoleons III.
von 1863 bis 1870 und der Ursprung des Krieges von 1870/71, Stuttgart 1928,
bedeutsame Ergänzungen; der preußische Gegenspieler tritt in Bismarck,
Die gesammelten Werke, Politische Schriften 1867/70, herausgegeb. von
Friedrich Thimme, Berlin 1929, ebenfalls in neue Beleuchtung.
Eine geschlossene Übersicht schließlich bietet Paul Wentzcke, Die
Einheitlichkeit der französischen Außenpolitik vom 14. bis ins 20.
Jahrhundert (abgedruckt in Paul Wentzcke, Rheinkampf, Band 2, Berlin 1925); die
oben gebotenen Angaben sind im wesentlichen der Einleitung zu dem gleichzeitig
erscheinenden Werke Ruhrkampf, Einbruch und Abwehr im
rheinisch-westfälischen Industriegebiet, Band I, Berlin 1930, R. Hobbing,
entnommen.
Die eigentliche Kriegsliteratur sowie das während der
Friedensverhandlungen erwachsene selbständige Schrifttum von deutscher
wie von französischer Seite stellt mustergültig die
Westbibliographie: Zehn Jahre Rheinlandbesetzung, Beschreibendes
Verzeichnis des Schrifttums über die Streitfragen mit Einfluß des
Saargebietes und Eupen-Malmedy von G. Reismüller und
J. Hofmann, Band I, Breslau 1929, zusammen.
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