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III. Das Deutschtum in nichtdeutschen Staaten

3. Elsaß-Lothringen

In der Geschichte der ehemaligen Reichslande spiegelt sich das Ringen des deutschen und des französischen Lebenskreises. Dadurch wird die besondere und eigenartige Stellung bedingt, die im Rahmen der gesamten Grenzlandfragen diesem Schmerzenskinde der Reichspolitik zukommt. Alle Grenzlanddeutschen des Ostens scheidet von den Mehrheitsvölkern ihrer Staaten das Bewußtsein älterer, überlegener Kultur. Ihre Stellung zum Staate ist von vornherein dadurch bedingt, daß [51=Karte] [52] sie gegen ihren Willen vom deutschen Gesamtvolk losgetrennt und einem fremdnationalen Staate überantwortet worden sind. Beide Voraussetzungen treffen für das Elsaß und Lothringen nicht bzw. nicht voll zu. Um begreifen zu können, aus welchen Gründen die Stellung der Elsässer und Lothringer zum französischen Staate 1918 eine so ganz andere war als etwa die der Deutschböhmen zum tschechoslowakischen oder der Oberschlesier zum polnischen Staate, ist es notwendig, die historischen Entwicklungen zu betrachten, durch die dieser Teil der Oberrheinlande dem Reiche entfremdet wurde.

Beide Gebiete, das Elsaß ebenso wie Lothringen, sind in ihren überwiegenden Teilen deutscher Stammesboden; daran haben auch die Jahrhunderte der französischen Herrschaft nichts zu ändern vermocht. Die Grenze zwischen den Gebieten des germanischen und des romanischen Volkstums liegt im wesentlichen seit der Völkerwanderungszeit fest und hat seither nur geringfügige Verschiebungen erfahren. In das Elsaß reicht französisches Sprachgebiet überhaupt nur in wenigen Gebirgstälern der Vogesen hinein; lediglich die Kreise Rappoltsweiler und Molsheim wiesen im Jahre 1910 mit 33 bzw. 23,8% einen etwas bedeutenderen französischen Anteil auf; sonst war dieser ganz unbeträchtlich. Etwas anders liegen die Dinge in Lothringen; hier waren an der Westgrenze größere Teile des französischen Sprachgebietes in die Reichslande mit einbezogen worden. Rein oder fast rein deutsch waren in Lothringen die Kreise Bolchen, Diedenhofen-Ost, Forbach und Saargemünd; zwischen 20 und 50% betrug der französische Anteil in den Kreisen Metz-Stadt und -Land, Diedenhofen-West und Saarburg; mehr als die Hälfte französischer Bevölkerung hatte lediglich der Kreis Château-Salins (mit 68,4%). Allerdings war auch Metz selbst vor dem Kriege von 1870/71 eine ganz überwiegend französische Stadt gewesen. Interessant ist, daß im Kreise Diedenhofen-West 15 000 Italiener ansässig waren; es handelte sich bei diesen um Arbeits- [53] kräfte, die in der lothringischen Schwereisenindustrie (s. S. 62) Verwendung fanden. In absoluten Zahlen war das Verhältnis der Nationalitäten 1910 das folgende:

    Landesteil Muttersprache Gesamt-
    bevölkerung
    deutsch französisch
    Unterelsaß 671 425      26 394      700 938   
    Oberelsaß 481 375      31 771      517 865   
    Lothringen 481 460      146 097      655 211   
    Elsaß-Lothringen 1 634 260      204 262      1 874 014   

Diese Zahlen zeigen deutlich, daß die Reichslande ihren Hauptteilen nach dem geschlossenen deutschen Sprachgebiet angehören. Lediglich an den Grenzen, und auch da vorwiegend in Lothringen, waren Teile des französischen Sprachgebiets dem Deutschen Reiche eingegliedert worden.

Sprachenkarte von Elsaß-Lothringen und 
Eupen-Malmedy
[51]   Sprachenkarte von Elsaß-Lothringen
und Eupen-Malmedy.

(Die zwei- und mehrsprachigen Einwohner sind verhältnismäßig verteilt.)

Das alte Deutsche Reich des Mittelalters, machtvoll über den größten Teil des damaligen Europa gebietend, hatte im Westen seine politischen Grenzen weit über die deutsche Sprachgrenze hinaus in romanisches Volksgebiet erstreckt. Damals waren Elsaß und Lothringen noch nicht Grenzlande, die im Spiel der politischen Kräfte bald der einen, bald der anderen Seite zufielen. Erst als das alte Reich allmählich durch den Aufstieg der Territorialfürstentümer von innen heraus ausgehöhlt wurde, vermochte es den Grenzlanden nicht mehr Schutz und Sicherheit zu geben; das hat neben dem Elsaß im Westen auch das Baltikum im Nordosten erfahren müssen. Während in Deutschland der politische Einfluß des Kaisertums immer mehr sank und das Reich in eine Unzahl großer, mittlerer, kleiner und kleinster Territorialfürstentümer zersplittert wurde, wuchs in Frankreich ein geschlossener, machtbewußter Großstaat heran, der seine Hauptentfaltung unter Ludwig XIV. fand. Das Machtstreben des französischen Königtums ging in erster Linie nach Osten, zum Rhein; es griff über die Grenzen des romanischen Volkstums hinüber, und da seine Ausdehnungsbestrebungen von keinem ebenso mächtigen deutschen Großstaat pariert werden konnten, fielen ihm die deutschen Grenzlande des Westens zum Opfer.

[54] Das Elsaß war im Mittelalter und in der Reformationszeit ein hervorragendes Zentrum deutschen Geisteslebens gewesen; der wunderbare Straßburger Dom Erwin von Steinbachs, die Dichtung Gottfrieds von Straßburg, die Werke Taulers, Sebastian Brandts, Johannes Fischarts legen davon Zeugnis ab. Straßburg war freie Reichsstadt und eine der größten Städte des Reiches zu einer Zeit, als an der Stelle Berlins noch ein slawisches Fischerdorf lag. Auch als im 17. Jahrhundert die politische Macht Frankreichs den Erwerb des Elsaß anstrebte, fand sie, anders als später, beim deutschen Bürgertum des Elsaß keinerlei Zuneigung. Aber die politische Macht war stärker als diese geistig-kulturelle Verbindung zwischen dem Elsaß und dem übrigen Reiche.

Der Einbruch Frankreichs in die Oberrheinlande begann 1552 mit der Besetzung der drei Bistümer Metz, Toul und Verdun durch den französischen König Heinrich II. Diesem ersten Schritt folgte eine Ruhepause von mehreren Jahrzehnten, in denen Frankreich selbst durch innere Kämpfe und religiöse Gegensätze gehemmt war. Aber nachdem unter Heinrich IV. und Ludwig XIII. das französische Königtum alle inneren Gegner überwunden hatte, und als im Dreißigjährigen Kriege die Selbstzerfleischung Deutschlands zu seiner völligen politischen Ohnmacht führte, folgte das weitere Vordringen Frankreichs Schlag auf Schlag. Es wurde durch die ungemeine politische Zersplitterung der Grenzlande begünstigt; denn sowohl Lothringen wie noch mehr das Elsaß zerfielen in eine große Zahl geistlicher und weltlicher Territorien und freier Reichsstädte. In Lothringen war die vorherrschende Macht das mit dem Hause Habsburg eng verbundene Herzogtum Lothringen; auch im Oberelsaß besaß Habsburg ein umfangreiches Territorium im Sundgau. Dieses kam durch den Westfälischen Frieden (1648) an Frankreich; 1673 fiel Kolmar, 1681 Straßburg; 1766 wurde auch das Herzogtum Lothringen dem französischen Staate angegliedert, von dem es tatsächlich schon seit 1735 abhängig gewesen war. Der Friede von Lunéville brachte 1801 auch die letzten dem Reiche noch verbliebenen Teile Lothringens an Frankreich. So waren schrittweise in einem Zeitraum von ungefähr 150 Jahren das Elsaß und Lothringen dem Reiche verlorengegangen. Solange jedoch in Frankreich das absolute Königtum herrschte, beschränkte es sich auf die politische Oberhoheit; das deutsche Volkstum und Geistesleben blieb ungefährdet, die Universität Straßburg eine Hochburg deutschen Geistes. Goethe hat als Student in Straßburg recht eigentlich erst das Bewußtsein seines Deutschtums gewonnen.

[55] Trotzdem aber wurde schon in dieser ersten Periode der französischen Herrschaft der Boden für die innere Hinneigung der deutschen Elsässer und Lothringer zu Frankreich bereitet. Sie erlebten in Frankreich einen mächtigen, geschlossenen Großstaat, dem gegenüber das uneinige, zerrissene, kläglich machtlose Deutsche Reich eine wenig vorteilhafte Rolle spielte. Die aufsteigende deutsche Macht Brandenburg-Preußen lag fern von ihnen; was sie in ihrer unmittelbaren Nähe sahen, war die Willkürherrschaft der kleinen Dynasten in Süd- und Südwestdeutschland. In den achtzig Jahren von der französischen Revolution bis zur Wiedereroberung durch das neue Reich hat sich dann, insbesondere im wohlhabenden und gebildeten Bürgertum, diese frankreichfreundliche Stimmung immer mehr verstärkt. Die frühere lockere Oberhoheit wurde seit der großen Revolution durch eine straffe Eingliederung in das zentralistische System des neuen französischen Staates ersetzt. Die Waffentaten Napoleons fanden auch im Elsaß weiten Widerhall und zahlreiche Elsässer und Lothringer dienten als Soldaten und Offiziere unter seinen Fahnen. Auch der Zusammenbruch der napoleonischen Macht änderte nichts an der staatlichen Zugehörigkeit zu Frankreich. Seither suchte der französische Staat durch planvolle Maßnahmen die auf politischem Gebiete immer fortschreitende Assimilation der Elsaß-Lothringer auch auf das Gebiet des kulturellen Lebens auszudehnen. 1814 trat an die Stelle der schon in der französischen Revolution beseitigten deutschen Universität zu Straßburg eine französische Akademie. Die deutschen mittleren und höheren Schulen erhielten immer mehr französischen Charakter; 1853 wurde auch in den Volksschulen die französische Unterrichtssprache eingeführt und damit der Schlußstein zur völligen Assimilierung der Jugend durch den Schulunterricht gelegt. Das elsässische Landvolk, das ebenso wie das deutsche Bauerntum Lothringens instinktiv noch an seinem deutschen Volkstum festhielt, fand in diesem nationalen Widerstande nur bei der Geistlichkeit eine Unterstützung, nicht aber bei dem gehobenen Bürgertum; dieses sympathisierte weitgehend mit Frankreich, dessen Kultur als die höhere anzusehen und zu verehren es sich gewöhnt hatte. Der elsässische Politiker Georges Wolf hat das Ergebnis dieser Zeit treffend in den Worten zusammengefaßt: "Nicht die Gemeinsamkeit von Sprache und Kultur, sondern die Gemeinsamkeit staatlich-politischen Erlebens hat die Elsässer politisch zu Franzosen gemacht."

So kam es, daß weite Kreise auch der deutschen Bevölkerung Elsaß-Lothringens der Wiederangliederung an das deutsche [56] Reich 1871 innerlich ablehnend gegenüberstanden, und es konnte nicht wundernehmen, daß noch 1874 die elsaß-lothringischen Abgeordneten im Reichstag eine Volksabstimmung über die politische Zugehörigkeit ihrer Heimat verlangten. Dem Reiche war damit die große Aufgabe gestellt, die wiedergewonnenen deutschen Stämme - bei der französischen Bevölkerung lagen die Dinge natürlich noch schwieriger - innerlich dem deutschen Geistes- und Staatsleben wieder einzugliedern. Es ist kein Zweifel, daß auf dem Wege zu dieser Wiedereingliederung in der Zeit zwischen 1871 und 1918 manches erreicht worden ist. Aber es wäre eine verhängnisvolle Täuschung, wenn man annehmen wollte, daß die Aufgabe so gelöst worden ist, wie es notwendig gewesen wäre, um Elsaß-Lothringen innerlich auf die Dauer dem Deutschen Reiche wieder zu gewinnen. Gewiß wurde die Stellung des Deutschtums ebenso durch die neue Universität Straßburg wie durch die große Zahl der Zuwanderer von jenseits des Rheines (der sog. "Altdeutschen") gestärkt. Aber der Teil der eingesessenen Elsaß-Lothringer, der innerlich eine uneingeschränkte Hinwendung zum Deutschtum und zum Deutschen Reiche vollzog, ist klein geblieben; die große Mehrheit der Bevölkerung stand unentschieden zwischen den Nationen, ein anderer kleiner Teil, vorwiegend des wirtschaftlich gehobenen Bürgertums, liebäugelte nach wie vor unverhohlen mit Frankreich. Es wäre verkehrt, wenn man diese Mißerfolge ausschließlich der französischen Propaganda zuschreiben wollte, die freilich seit der "Entente cordiale" zwischen England und Frankreich (1904) recht bedenkliche Formen annahm; einen erheblichen Teil der Schuld trägt doch auch die deutsche Reichspolitik, die ohne einheitliche Richtlinie in der Behandlung der Elsaß-Lothringer "zwischen Zuckerbrot und Peitsche" schwankte. Schon staatsrechtlich war es verkehrt, daß man Elsaß-Lothringen nach der Befreiung weder geschlossen einem Bundesstaat eingliederte noch es selbst in den Rang eines Bundesstaates [57] erhob; Elsaß-Lothringen wurde "Reichsland", seine Souveränität wurde dem Kaiser übertragen, in dessen Namen (seit 1879) ein Statthalter die Regierung führte. Die Wirksamkeit des ersten Statthalters, des Feldmarschalls Edwin von Manteuffel, bedeutete einen wenig glücklichen Anfang. Anstatt sein Augenmerk in erster Linie darauf zu richten, die breiten Massen der bäuerlichen und kleinbäuerlichen Bevölkerung für das Deutschtum zu gewinnen, stützte er sich vorwiegend auf die dünne Schicht der "Notabeln", des begüterten und gebildeten Bürgertums, das franzosenfreundlicher war als irgendein anderer Teil des Volkes. Der erhoffte Erfolg blieb aus; die Bourgeoisie schaute in ihrer großen Mehrheit nach wie vor nach Westen. So kam die Elsaß-Lothringische Verfassungsfrage nicht zur Ruhe; das Reich aber hat sich niemals zu einer wirklich durchgreifenden Lösung aufgerafft, die dem Reichsland die ersehnte Autonomie innerhalb der gebotenen staatsrechtlichen Grenzen gegeben hätte. Zwar wurde 1910 dem Lande eine Verfassung gewährt, durch die es eine Vertretung im Bundesrate sowie eine erste und zweite Kammer erhielt; aber auch dies war nur eine halbe Lösung der Frage, die auf keiner Seite mit wirklicher Befriedigung aufgenommen wurde. Ungeschicklichkeiten, wie der Zwischenfall von Zabern (1913), die sehr verfehlte Behandlung der elsaß-lothringischen Soldaten im Weltkriege und zum Teil auch das Verhalten der im Elsaß stehenden deutschen Etappe verschlechterten die Stimmung der Bevölkerung.

Das sind die Ursachen gewesen, denen die schmerzlichste Tatsache der Grenzlandgeschichte zuzuschreiben ist: die Tatsache, daß 1918, nach dem Abzug der deutschen Truppen, ein Teil der Bevölkerung des Elsaß und Lothringens die einrückenden Franzosen als Befreier begrüßte! Die Wiedergewinnung der verlorenen Lande war das Ziel gewesen, das der französische Nationalismus unausgesetzt mit zäher Hartnäckigkeit verfolgt hatte; der Zusammenbruch Deutschlands schenkte ihm die Er- [58] reichung dieses Zieles. Schon mit dem Waffenstillstand ging die Souveränität der ehemaligen Reichslande an Frankreich über, "in Anerkennung der sittlichen Verpflichtung, das Unrecht wieder gut zu machen, das Deutschland im Jahre 1871 sowohl dem Rechte Frankreichs als dem Willen der trotz des feierlichen Protestes ihrer Vertreter in der Versammlung zu Bordeaux von ihrem Vaterlande getrennten elsaß-lothringischen Bevölkerung gegenüber begangen hat", wie es das Versailler Diktat bestimmt, ohne zu bedenken, daß zuerst Frankreich diese Gebiete durch reine Machtpolitik aus dem Körper des Deutschen Reiches herausgerissen hatte.

Der französische Nationalismus ebenso wie die franzosenfreundlichen Teile der elsaß-lothringischen Bevölkerung waren damit am Ziel ihrer Wünsche angelangt. Der Übergang an Frankreich wurde dadurch gekennzeichnet, daß etwa 150 000 Einwohner, zum größten Teil sog. "Altdeutsche", das Land verlassen und über den Rhein nach Deutschland gehen mußten. Man war also unter sich. Aber trotzdem ging die innere Wiedereingliederung in Frankreich keineswegs so leicht vor sich, wie das Franzosen und Franzosenfreunde gehofft hatten; im Gegenteil, heute, über ein Jahrzehnt später, ist die elsässische "Malaise", das "elsässische Unbehagen", zu einer Stärke angewachsen, die der französischen Regierung ernstliche Sorgen bereitet. Es war wie in dem alten elsässischen Spruch vom Hans im Schnakeloch: "Was er well, das hett er net, und was er hett, das well er net." Jetzt zeigte sich, daß das halbe Jahrhundert der abermaligen Zugehörigkeit zum Deutschen Reiche doch nicht spurlos an den Elsaß-Lothringern vorübergegangen war. Wenn es auch nicht gelungen war, sie wieder ganz dem Deutschtum zu verbinden, so hatte sich doch in dieser Zeit etwas anderes in ihnen ausgebildet: ein elsaß-lothringisches Sonderbewußtsein und ein Bewußtsein ihrer völkisch-sprachlichen Eigenart. Dieses elsaß-lothringische Sonderbewußt- [59] sein stieß mit dem Zentralismus des französischen Staatswesens zusammen, der die neuen Gebiete - sie wurden jetzt zu den drei Departements Haut-Rhin, Bas-Rhin und Moselle - ohne Berücksichtigung ihrer besonderen Verhältnisse der allgemeinen französischen Verwaltungsorganisation eingliedern wollte, in der alle wichtigen Dinge von Paris aus entschieden werden. Ihre völkisch-sprachliche Eigenart wehrte sich gegen die Vergewaltigung der deutschen Sprache, die als Amts- und Gerichtssprache sogleich völlig durch die französische ersetzt wurde, und des deutschen Schulwesens. Ihr stark religiöses Empfinden - im Elsaß sind rund drei Viertel, in Lothringen rund 90% der Bevölkerung katholisch - wehrte sich gegen das antireligiöse französische Regierungssystem, ganz besonders stark unter dem Ministerium Herriot. Frankreich hat es noch weniger als vor ihm Deutschland verstanden, sich auf die Eigenart der elsaß-lothringischen Bevölkerung einzustellen und ihren berechtigten Wünschen nachzugeben; starrsinnig hielt es daran fest, Elsaß-Lothringen nicht nur dem zentralistischen französischen Staate einzugliedern, sondern es auch in nationaler Hinsicht so rasch wie möglich dem Franzosentum zu assimilieren. Das hat dazu geführt, daß in den letzten Jahren, etwa seit 1925, besonders im Elsaß eine Bewegung immer stärker geworden ist, die Wahrung der Heimatrechte, Selbstbestimmung, letzten Endes Autonomie für Elsaß-Lothringen fordert. Die Franzosen sehen in solchen ihnen unverständlichen Bestrebungen nur Verrat und Undank und suchen der Welt vorzuspiegeln, daß lediglich deutsches Geld und deutsche Propaganda dahinter ständen. Aber so liegen die Dinge nicht; es handelt sich bei dieser Bewegung, deren Führung der "Elsaß-Lothringische Heimatbund" hat, wirklich um eine Volksbewegung, eine Bewegung gerade der breiten Volksschichten, die sich, im Gegensatz zu der französisch aufgefärbten Bourgeoisie, ihre deutsche Sprache und ihre elsaß-lothringische Sonderart nicht nehmen lassen wollen; das haben die Kammerwahlen [60] vom Frühjahr 1928 und die Generalratswahlen vom Herbst 1928 deutlich gezeigt. Die Franzosen haben die Bewegung mit harter Faust niederzuhalten versucht, sie haben ihre Führer Ricklin und Rossé ins Gefängnis geworfen. Aber sie werden mit Gewalt allein die aus der Tiefe des Volkes hervorbrechende Sehnsucht nach Selbstbestimmung nicht zu unterdrücken vermögen.

Deutschland hat im Pakt von Locarno vom 16. Oktober 1925 feierlich die Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Grenze mit Frankreich garantiert. Um so leichter müßte es Frankreich also fallen, den Elsaß-Lothringern im Rahmen des französischen Staates dasjenige Maß von Selbstbestimmung zu gewähren, das der Elsaß-Lothringische Heimatbund in seinem grundlegenden Aufruf vom 8. Juni 19261 gefordert hat. Dann würde das eintreten können, was der Heimatbund und mit ihm die große Mehrheit des deutschen Volkes erhofft: "Unser Land soll als Treffpunkt zweier großer Kulturen in die Lage versetzt werden, seinen Anteil an der Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland und an der zivilisatorischen Gemeinschaftsarbeit von West- und Mitteleuropa beizutragen."

In einer Beziehung hat Elsaß-Lothringen nach dem Kriege bereits ein solches Bindeglied zwischen Deutschland und Frankreich zu bilden vermocht: in wirtschaftlicher. Die wirtschaftliche Struktur Elsaß-Lothringens ist insofern von besonderem Interesse, als es zusammen mit dem Sudetendeutschtum und Oberschlesien zu denjenigen Gebieten des Grenzlanddeutschtums gehört, für die die Industrie eine entscheidende Rolle spielt. Die Berufsgliederung der elsaß-lothringischen Bevölkerung gestaltete sich 1907 folgendermaßen:

[61]

    Wirtschaftsabteilung Zahl der
     Berufstätigen 
    In % der
     Berufstätigen 
    Land- und Forstwirtschaft 339 166      37,4        
    Industrie und Bergbau 350 309      38,7        
    Handel und Verkehr 97 544      10,8        
    Häusliche Dienste, Lohnarbeit
         wechselnder Art
    10 283      1,1        
    Freie Berufe, öffentlicher Dienst 109 383      12,0        

Der Anteil der Industrie an der Gesamtzahl der Berufstätigen war also in Elsaß-Lothringen fast ebenso stark wie im gesamten Deutschen Reiche (43,2%), der Anteil der Landwirtschaft ging nur wenig darüber hinaus. Die drei Zweige, in denen der größte Teil der industriellen Bevölkerung arbeitete, waren die Textilindustrie und der Kalibergbau im Elsaß und die Schwereisenindustrie in Lothringen. Das Elsaß zählte 1907 insgesamt 79 479 gewerbliche Betriebe mit 278 266 Beschäftigten; davon entfielen 5730 Betriebe mit 75 986 Beschäftigten, also mehr als 25%, auf die Textilindustrie. Diese elsässische Textilindustrie ist alten Ursprungs und geht bereits auf die Zeit zurück, in der das Elsaß zwar schon politisch zum größten Teil zu Frankreich gehörte, aber dem französischen Zollgebiet noch nicht eingegliedert war. 1746 wurde in Mülhausen die erste Fabrik für buntgedruckte Baumwolltücher eingerichtet. Die Textilindustrie dehnte sich dann rasch auf das Landgebiet des Oberelsaß aus; zu der alten Baumwollspinnerei und -weberei und Stoffdruckerei trat nach 1871 als neuer Zweig der Textilgroßindustrie die Kammgarnspinnerei. Auch heute noch findet sich die Textilindustrie überwiegend im Oberelsaß, ihre städtischen Hauptsitze sind Mülhausen, Gebweiler und Thann. Auch nach dem Kriege sind die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der elsässischen Textilindustrie und dem Reiche recht enge gewesen; die Ausfuhr nach Deutschland war zunächst durch den Versailler Vertrag begünstigt, der bis Anfang [62] 1925 die Einfuhr zollfreier Kontingente vorsah, später durch die französische Inflation. Aber noch 1927 wurden aus dem Elsaß 78 000 Doppelzentner Baumwollgewebe nach Deutschland eingeführt, was rund 60% der deutschen Einfuhr von Baumwollgeweben aus Frankreich und 33% der gesamten deutschen Baumwollgewebeeinfuhr ausmachte. Auch in der elsässischen Textilindustrie hat jedoch der Übergang an das französische Wirtschaftsgebiet zu ernsten Schwierigkeiten, z. T. auch zum Eindringen französischen Kapitals geführt.

Metallverarbeitung und Maschinenbau standen im Elsaß mit 32 000 Beschäftigten weit hinter der Textilindustrie zurück.

Wenn vor 1918 für die elsässische Baumwollindustrie in erster Linie das übrige Deutsche Reich als Absatzgebiet in Betracht kam, so war die Reichsverbundenheit der lothringischen Schwereisenindustrie noch viel enger. Diese Schwereisenindustrie findet sich westlich der Mosel (Mittelpunkt Diedenhofen) in den ehemaligen Kreisen Diedenhofen-West und Metz-Land und stützt sich auf die gewaltigen Eisenerzlager, an denen nördlich Luxemburg, südwestlich Frankreich (um Longwy und Briey) Anteil haben. Etwa ein Drittel der geschätzten Vorkommen dieser Minetteerze entfiel auf das ehemalige Deutsch-Lothringen. Die Eisenindustrie dieses Gebietes geht ebenfalls bereits auf das 18. Jahrhundert zurück, wo die ursprünglich deutsche Familie Wendel (später als de Wendel völlig französiert) die ersten Hüttenwerke errichtete. Ihre große Entwicklung fand sie jedoch erst, als seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts die rheinisch-westfälische Großeisenindustrie nach Lothringen hinübergriff. Sie fand hier die Eisenerze, die sie selbst entbehrte, konnte aber umgekehrt den Koks liefern, den Lothringen wiederum nicht in genügendem Maße zu erzeugen vermochte. So ging die rheinisch-westfälische Industrie immer mehr dazu über, selbst modernste Hüttenwerke in Lothringen einzurichten; erinnert sei z. B. an das Riesenwerk Hagen- [63] dingen des Thyssen-Konzerns. Man erzeugte vorwiegend Thomasstahl; das Roheisen und Halbzeug der lothringischen Hütten- und Walzwerke ging zur weiteren Verarbeitung an Ruhr und Rhein. 1913 war fast die Hälfte der Lagerstätten im Besitz der Ruhrindustrie; das in den Hochöfen, Stahl- und Walzwerken Lothringens angelegte Kapital wurde vor dem Kriege auf etwa eine halbe Milliarde Goldmark geschätzt. Die Abtretung Lothringens an Frankreich zerriß jäh diese Verbindungen; die auf fast 3 Milliarden Tonnen geschätzten Vorkommen an Eisenerz, die eine Jahresproduktion von 20 Millionen Tonnen lieferten, gehören zu den wertvollsten durch Versailles verlorengegangenen Aktien der deutschen Volkswirtschaft. Frankreich gelangte dagegen durch die Gewinnung Lothringens in den Besitz einer selbst die britische überflügelnde Eisenindustrie. Die plötzliche Zerreißung dieses Gebietes hat nun nicht zum wenigsten dazu geführt, daß die eisenerzeugenden Länder des europäischen Kontinents sich 1926 in der Internationalen Rohstahlgemeinschaft zusammenschlossen, deren Zweck die Regulierung des Weltmarktes für Eisen und Eisenerzeugnisse ist. So ist zweifellos Lothringen die Brücke gewesen, auf der sich die Eisenindustrien Deutschlands und Frankreichs zu Verständigung und gemeinsamem Vorgehen gefunden haben.2

Ganz ähnlich liegen die Dinge in der Kaliwirtschaft. Der Kalibergbau ist von den großen Wirtschaftszweigen Elsaß-Lothringens der jüngste; die Entdeckung der Kalisalzlager, die sich im oberen Elsaß in der Gegend von Wittelsheim befinden, erfolgte erst im Jahre 1904. 14 Gesellschaften beschäftigten sich mit dem Kalibergbau, von denen sich 10 in deutschen Hän- [64] den befanden. Deutschland besaß bekanntlich mit den Lagerstätten in Mitteldeutschland und im Elsaß das Weltmonopol für Kali. Dieses Weltmonopol wurde durch den Vertrag von Versailles durchbrochen; die Kalilager gingen in das Eigentum des französischen Staates über. Die große staatliche Unterstützung, die der Kalibergbau durch Frankreich erfuhr, ließ die elsässische Kaliproduktion sehr rasch ansteigen, von 349 000 Tonnen im Jahre 1913 auf 1 926 000 Tonnen 1925. Auch hier zeigte sich jedoch bald, daß die Konkurrenz auf dem Weltmarkt für beide Länder, die nunmehr als Kaliproduzenten in Betracht kamen, durchaus unvorteilhaft war. So kam es im Dezember 1926 zu dem Pariser Vertrag zwischen dem Deutschen Kalisyndikat und den französischen Kaliproduzenten, der für den größten Teil des Absatzes auf dem Weltmarkt eine Aufteilung zwischen Deutschland und Frankreich im Verhältnis 70 : 30 vorsieht. Die Erfolge dieser deutsch-französischen Zusammenarbeit sind bisher befriedigend.

Von weniger bedeutenden bergbaulichen Produktionszweigen sind die Petroleumgewinnung im Unterelsaß (Jahresproduktion 1913 50 000, 1924 70 000 Tonnen) und die Salzgewinnung im französischsprachigen Teile Lothringens im Bezirke Château-Salins zu erwähnen.

Im waldreichen Osten Lothringens spielte die auf eine jahrhundertelange Tradition zurückschauende Glasindustrie eine nicht unbedeutende Rolle; zu ihr gehörte z. B. die größte Brillen- und Uhrengläserfabrik des Reiches in Götzenbrück, ferner die Betriebe in Meisenthal, Münzthal, Vallerysthal und Dreibrunnen. Eine Fayencefabrikation größeren Umfangs wurde in Saargemünd und Niederweiler betrieben.

Die blühende Landwirtschaft trägt im Elsaß wie in Lothringen überwiegend bäuerlichen Charakter. In Lothringen war der Prozentsatz der Betriebe zwischen 20 und 100 Hektar und über 100 Hektar größer, während im Elsaß von 152 546 landwirtschaftlichen Betrieben (1907) nur 926 zwischen [65] 20 und 100 Hektar und nur 35 über 100 Hektar waren. Das Elsaß als Teil der landschaftlich und klimatisch außerordentlich begünstigten oberrheinischen Tiefebene zeigt also eine sehr intensive Bodennutzung, bei der der Weizenbau, der Anbau von Handelsgewächsen, wie z. B. Tabak, besonders aber der Obst- und Weinbau eine sehr große Rolle spielen. 23% des gesamten deutschen Rebenlandes entfielen auf das Elsaß! Für den elsässischen Weinbau ist die Eingliederung in das französische Wirtschaftsgebiet mit seiner großen Weinproduktion nicht von Vorteil gewesen. - Auch Lothringen weist im Mosel- und Seilletal einen bedeutenden Weinbau auf, der überwiegend Rotweine liefert; an der Spitze seiner landwirtschaftlichen Produktion steht jedoch der Kornbau (Weizen, Hafer, Roggen), daneben spielt auch Viehwirtschaft, besonders Pferdezucht, eine wichtige Rolle.



1Abgedruckt bei Hohlfeld, Deutsche Reichsgeschichte in Dokumenten. Bd. 2, S. 856 - 860 (Berlin 1928). ...zurück...

2In engem Zusammenhange mit der Schwereisenindustrie Lothringens stand der in rascher Entwicklung begriffene Steinkohlenbergbau; die Steinkohlevorkommen des Saargebiets reichten über die preußische Grenze nach dem nordöstlichen Lothringen hinüber. ...zurück...



Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat, Kapitel "Elsaß und Lothringen."

Deutschtum in Not! Die Schicksale der Deutschen in Europa außerhalb des Reiches, besonders das Kapitel "Das Deutschtum in Elsaß-Lothringen."

Zehn Jahre Versailles, besonders Bd. 3, die Kapitel "Gegnerische Gebietsforderungen und ihre Vorgeschichte: Die Franzosen" und "Gebietsverlust durch erzwungene Abtretung oder Verselbständigung: Elsaß-Lothringen."

Das Versailler Diktat. Vorgeschichte, Vollständiger Vertragstext, Gegenvorschläge der deutschen Regierung


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Das Grenzlanddeutschtum
Mit besonderer Berücksichtigung seines Wirtschafts- und Soziallebens

Dr. Karl C. Thalheim