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Locarno

Einer der Brocken, der dem deutschen Volke als Lockmittel zur Annahme des Dawes-Paktes hingeworfen wurde, war die Bestimmung, daß sich Frankreich verpflichtet, nach Annahme des Abkommens das besetzte Ruhrgebiet zu räumen und später auch die Räumung der außer dem Ruhrgebiet noch besetzten Teile um Dortmund-Höhe und des Gebiets Düsseldorf-Duisburg-Ruhrort zu vollziehen.

Bereits im Sommer 1924 beginnt seitens der Feindbundstaaten die Vorbereitung zu einer neuen Offensive gegen Deutschland, welche den letzten Akt der Versklavung darstellen sollte. Wehrhoheit, Wirtschaftshoheit, Finanzhoheit, alles war Deutschland im Laufe der Jahre genommen worden. Wie der Nationalsozialist Dr. Goebbels später einmal sagt, befanden wir uns auf der Stufe eines Negerstaates. Man beabsichtigt aber noch weitere Zugeständnisse aus Deutschland zu erpressen. Den ganzen Sommer über durchschnüffelt eine alliierte Militärkommission Deutschland, um festzustellen, wie weit die Abrüstungsverpflichtungen erfüllt seien. Der Erfolg dieser Kontrolle konnte nur die Feststellung sein, daß Deutschland seine Verpflichtungen nicht restlos erfüllt habe. Man beanstandet, daß die deutsche Zivilfliegerei nicht genügend eingeschränkt ist, daß die Rüstungsindustrie nicht schnell genug umgestellt wurde usw.

Diese Feststellungen bringen die armen Erfüllungspolitiker wiederum in arge Bedrängnis. Man weiß, daß Frankreich nun, nachdem es in wirtschaftlichen Fragen kaum noch Erfolge buchen konnte, auf dem Gebiete der militärischen Sicherheit versuchen wird, Deutschland in eine neue Zwangslage zu bringen. Schließlich erklärt Frankreich, daß die in Aussicht stehende und nach dem Versailler Vertrag festgesetzte [38] weitere Räumung des Rheinlandes gar nicht in Frage käme, da die nötigen Voraussetzungen zu dieser Räumung besetzter Gebiete nicht vorhanden seien. Frankreich unterstützt diese Taktik dadurch, daß es seine Außenpolitik darauf abstellt, einen neuen Block gegen Deutschland herzustellen, der letztlich dazu dienen soll, das gesamte linke Rheinufer von Deutschland loszulösen, eine Taktik, die durchaus in den Rahmen der brutalen Machtpolitik Frankreichs paßt, wenn sie auch schon über die festgesetzten Artikel des Versailler Vertrages hinausgreift.

Hier fühlt sich Stresemann, der damalige Außenminister, verpflichtet, vorsorglich einzugreifen und unter dem Schlagwort "Allgemeine Sicherheiten" die Gefahr abzuwenden. Die deutsche Regierung macht auf Vorschlag Stresemanns ein freiwilliges Angebot auf der Grundlage, daß die gegenseitige Garantie der Westgrenzen von den daran interessierten Staaten noch einmal endgültig niedergelegt werden solle. Dies ist überflüssig insofern, als ja der Versailler Vertrag von den Feindbundstaaten bei jeder Verhandlung immer wieder als die feste Grundlage für alle Aktionen bezeichnet wird. Wäre das Selbstbewußtsein der deutschen Politiker nur einigermaßen fest gewesen, so hätten sie eine neuerliche Garantie der Grenzen gar nicht zur Diskussion gestellt.

Zunächst ist Frankreich über diese neue Wendung der Dinge gar nicht sehr erbaut. Und es entwickelt sich wiederum eine Situation, die bemerkenswert ist: Gegenüber den brutalen Hegemoniebestrebungen Frankreichs steht das Interesse der internationalen Hochfinanz Englands und Amerikas, die, nicht blind vor Habgier wie Frankreich, weiter denkt und weiß, daß die in Deutschland immer stärker werdende parteipolitische Opposition zur sicheren und friedlichen Weiterentwicklung der Dawes-Absichten nicht beitragen kann. Sie sieht in dem freiwilligen Anerbieten Deutschlands eine Möglichkeit, den deutschen Staat in eine neue außenpolitisch härtere Bindung zu legen. Auf einen Regiewink Englands und Amerikas hin fügt sich Frankreich deren Absichten und beschreitet nun seinerseits den erprobten Weg eines Gegenangebotes, worin [39] enthalten ist, daß ein zu tätigendes neues Abkommen unter keinen Umständen die durch den Versailler Vertrag garantierten Grenzen Frankreichs gefährden soll. Weiter müsse die Unverletzlichkeit der deutschen Ostgrenzen garantiert werden, und endlich kommt wieder erneut die alte Forderung von der Unverletzlichkeit des Versailler Vertrages. Dagegen könne Deutschland in den Völkerbund als gleichberechtigtes Mitglied aufgenommen werden.

Hier muß nun ein kurzer Abschnitt die Grundlagen des Völkerbundes erläutern: Der geistige Urheber dieser Institution war der uns vom Ausgang des Krieges her bekannte amerikanische Präsident Wilson. Der Sinn des Völkerbundes sollte sein, einen Gerichtshof aller Völker darzustellen, der die Aufgabe hat, "Friede und Gerechtigkeit und gegenseitige Verständigung ins Völkerleben einzuführen". In Wirklichkeit ist er aber gar nichts weiter geworden als eine Organisation der Feindbundstaaten gegen die Besiegten. Die Satzungen des Völkerbundes beabsichtigen u. a. die Herabsetzung der allgemeinen Rüstungen auf ein Mindestmaß durchzuführen, fernerhin die Wahrung der Rechte und die politische Handlungsfreiheit aller Bundesmitglieder zu achten, die Kriegsgefahr dadurch abzuwenden, daß die Bundesmitglieder das Recht haben, Kriegsfragen einem internationalen Gerichtshof zur Entscheidung vorzulegen, damit dieser in friedlicher Weise entscheiden kann; weiterhin Minderheitenfragen zu regeln, internationale oder angemessene Arbeitsbedingungen zu bestimmen usw.

Innerhalb der Völkerbundssatzungen besteht nun der sogenannte Artikel 16, nach welchem alle Bundesmitglieder zueinander stehen müßten und ihre Beziehungen zu einem Bundesmitglied sofort abzubrechen hätten, wenn dieses sich dem Urteil des Völkerbundes nicht beugt. Weiter verpflichten sich die Mitglieder in diesem Artikel 16, daß sie ihre ganze militärische Macht irgendwelchen Bundesexekutionen zur Verfügung zu stellen haben und ferner einen eventuellen Durchzug durch ihr Gebiet erlauben müssen.

Nachdem der deutschen Regierung das oben erwähnte im [40] Gegenangebot Frankreichs vorliegt, entscheidet sich Stresemann zunächst für ein entrüstetes "Nein". Eine Garantie der unmöglichen Ostgrenzen komme gar nicht in Frage, und in den Völkerbund führe er Deutschland nur, wenn der bereits erwähnte Artikel 16 auf Deutschland keine Anwendung finden würde, da er der Möglichkeit Raum gibt, daß im Falle eines Krieges zwischen Polen und Rußland Frankreich durch deutsches Gebiet marschieren könne.

Dieses entrüstete "Nein" machte auf die Verhandlungspartner gar keinen Eindruck. Die Konferenz solle nur zunächst einmal beginnen, das weitere würde sich von allein entwickeln. Zunächst trifft man sich ja auf dieser Verhandlung keineswegs als Gegner, sondern als gleichwertige Interessenten. Das persönliche Einvernehmen zwischen Stresemann, dem französischen Außenminister Briand und dem Engländer Chamberlain sei ja ganz ausgezeichnet und grenze beinahe an Freundschaft, so daß absolut keine Befürchtungen beständen, daß irgend etwas schief gehen könne. Das stimmt ja auch. Was soll schon für Frankreich und England schief gehen, wo man mit dem deutschen Verhandlungspartner bisher so gute Erfolge erzielt hat. Die Atmosphäre auf dieser Konferenz, die im Oktober 1925 in Locarno in der Schweiz stattfindet, ist ja auch eine durchaus angenehme und freundliche. Frühstücke und Motorbootfahrten verschönen den harten Dienst. Die Zeitschriften aller Länder bringen Bilder von Briand, Chamberlain und Stresemann in trauter Gemeinschaft. Als der liebe Gott sich den Schaden aber besieht, ist Deutschland in aller Freundlichkeit wieder einmal der zweite Sieger.

Der in Locarno getätigte Vertrag ist in zwei Teile zu zerlegen: 1. den Westpakt, 2. den Ostpakt. Im ersteren ist die von Frankreich geforderte nochmalige Garantie der im Versailler Vertrag bereits festgelegten Grenzen niedergelegt, weiterhin eine sogenannte entmilitarisierte Zone rechts- und linksrheinisch festgesetzt. Diese entmilitarisierte Zone bedeutet nichts weiter als die Verpflichtung Deutschlands, vor den Toren des schwergerüsteten Frankreichs ein ungeschütztes Gebiet zu [41] belassen, damit das unbewaffnete Deutschland auf keinen Fall Frankreich unmittelbar an der Grenze bedrohen könne. Frankreich, Belgien und Deutschland verpflichten sich, unter keinen Umständen einander anzugreifen. Italien und England sichern dem angegriffenen Teil im Falle einer "flagranten Verletzung der Bestimmungen" ihren Beistand zu.

Der Begriff "flagrante Verletzung" besagt, daß unter dieser Formulierung eine Vertragsverletzung Deutschlands in bezug auf die entmilitarisierte Zone zu verstehen ist.

Im sogenannten Ostpakt verpflichten sich Deutschland und Polen gegenseitig, nur im Einverständnis beider Staaten ihre Grenze zu ändern. Bei Kenntnisnahme der französischen Gegenvorschläge vor dem Locarnopakt lehnt Stresemann eine Garantie der Ostgrenzen ganz entschieden ab. Was bedeutet aber das nachher im Vertragswerk niedergelegte sogenannte Ostlocarno weiter als eine Garantie der Ostgrenzen, wenn zu einer Änderung im Sinne Deutschlands Polen sein Einverständnis geben muß! Gerade hier sieht man deutlich, wie kindlich die deutsche Außenpolitik war.

Ist dieser Vertrag einmal unterzeichnet, so steht der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund und der Überlassung eines ständigen Ratssitzes dortselbst nichts mehr im Wege.

Wie in allen bisherigen deutschen Reichstagen, so entwickelt sich auch jetzt bei Vorlage dieses Vertrages zwecks Annahme ein erbittertes Hin und Her. Stresemann spricht auch jetzt noch, nachdem er übers Ohr gehauen ist, von Verständigung, von der Politik der Vernunft usw. Worte wie Einigung und Befriedung erklingen, der "Geist von Locarno" wird für die Erfüllungspolitiker ein Begriff.

Es ist nicht ganz leicht, diesen Kampf durchzufechten, und man ist sehr froh, als Frankreich den deutschen Systemparteien seinen "Verständigungswillen" dadurch beweist, daß es sie in diesem Kampfe unterstützt. Die Feindbundstaaten versprechen nämlich, bis zum 31. Januar 1926 die Kölner Zone zu räumen. Dieses Versprechen als Erfolg zu buchen, ist politisch mehr als töricht. Denn eine Räumung war ja bereits ein Jahr früher fällig.

[42] Die derzeitige Zusammensetzung des deutschen Reichstages veranlaßt die Regierung, ihre Zuflucht zu einer besonderen Taktik zu nehmen. Sie erklärt nämlich, daß die Annahme dieses Vertrages keineswegs die Zwei-Drittel-Mehrheit des Reichstages erfordere, sondern mit einfacher Mehrheit gerechtfertigt sei, da das Locarno-Abkommen ja keineswegs verfassungsändernd ist. Mit dieser einfachen Mehrheit, also den Stimmen der Erfüllungspolitiker, wird das Schandwerk angenommen, wodurch sich Deutschland freiwillig nochmals den alten Friedensbedingungen unterwirft.

Der Geist von Locarno wirkt sich erstmalig nach der Annahme des Vertrages dahingehend aus, daß Deutschland wieder einmal betrogen wird, und zwar in bezug auf seine neue Stellung im Völkerbund. Deutschland hat, wie oben bereits erwähnt, einen ständigen Ratssitz im Völkerbund erhalten; ohne Deutschlands Wissen jedoch nehmen die Alliierten zum Ausgleich dieser unbequemen Stimme Polen ebenfalls mit einem ständigen Ratssitz auf. Durch das Beispiel der Aufnahme Polens angeregt, verlangen nun verschiedene andere Staaten gleichfalls einen Ratssitz. Es muß zu einem Ausgleich kommen, der schließlich darin gipfelt, daß Deutschland noch einige halbständige Ratssitze bekommt, Polen aber bleibt. Die Situation ist dadurch nicht geändert, der deutsche Ratssitz in Genf ist illusorisch, da Polen gleichfalls einen solchen Sitz innehat.

Das ist Verständigung und Gleichberechtigung, das ist "der Geist von Locarno", das ist Friede und Freundschaft.

Eine weitere vertragsmäßige Räumung besetzter Gebiete tritt nicht ein, von jetzt ab wird mit Fleiß das Problem der Kriegsschuld, das Problem der politischen Fragen mit dem der wirtschaftlichen, also der Tribute, verquickt, Frankreich weigert sich, die weiteren Gebiete des Rheinlandes zu räumen, ehe Deutschland nicht mit seinen Tributen ins Reine kommt. Wie so oft fallen die deutschen Politiker auch hier wieder einer Illusion zum Opfer. Sie haben aus der deutschen Geschichte nichts gelernt, und das deutsche Volk ist der leidtragende Teil.

[43] Inzwischen bieten sich die Segnungen des Dawes-Planes dem erstaunten deutschen Volke dar. Die Erfüllungspolitiker sind festen Willens, um jeden Preis die Zahlungen des Dawes-Abkommens pünktlich zu leisten. Wie bereits einmal bei der Erläuterung des Begriffs der Transferierung dargelegt, kann ohne erheblichen Schaden für die deutsche Wirtschaft nur soviel in Devisen ans Ausland gezahlt werden, wie an Ausfuhrüberschüssen von der deutschen Wirtschaft erzielt werden. Der übrige Teil hätte in Deutschland angelegt werden müssen, wie die Transfer-Schutzklausel es vorsah.

Nach Ablauf des ersten Dawes-Normaljahres muß aber festgestellt werden, daß Deutschland ohne alle Schwierigkeiten die hohen Tribute pünktlich bezahlt hat. Ist es denn wirklich möglich gewesen, soviel Devisen durch Ausfuhrüberschuß nach Deutschland hereinzubekommen, wie an Tributen im Plan gefordert waren? Die Transfer-Schutzklausel ist merkwürdigerweise nicht beansprucht worden. Der deutschen Wirtschaft ist es selbstverständlich nicht möglich gewesen, derartige Ausfuhrüberschüsse zu erzielen. Erstens fehlten die nötigen Rohstoffe, und zweitens kämpfte die innerdeutsche Industrie verzweifelt gegen die überhöhten Schutzzollmauern des Auslandes, durch die sich alle Staaten vor fremder Einfuhr schützten. Gezahlt hat Deutschland lediglich mit den geliehenen Geldern.

Nach dem Dawes-Pakt geht ein wahres Wettrennen in Deutschland nach ausländischen Geldern los. Die Städte pumpen, die Industriewerke werden verschuldet, die einzelnen Länder pumpen, alles was nur irgendwie im Ausland kreditfähig ist, nimmt Anleihen auf. Letzten Endes haben wir unsere wirtschaftliche Zahlungsbilanz nicht gesund ausgeglichen, sondern mit Schulden ausbalanziert.

Im Jahre 1929 schuldet Deutschland über 13 Milliarden Mark an das Ausland, für die es einen Zinsendienst von fast 1½ Milliarden aufzubringen hat. Die Grundforderung des Dawes-Planes, daß die Reparationszahlungen nur aus wirtschaftlichen Überschüssen gezahlt werden sollen, beachten weder Deutschland noch die Gläubigerstaaten. Die große [44] Chance für Deutschland ist verpaßt, niemand denkt daran, die Transfer-Schutzklausel in Anspruch zu nehmen.

Durch die geliehenen Gelder, die in ausländischer Währung nach Deutschland kamen, ist es dem Reparationsagenten möglich, ohne Schwierigkeiten die gezahlten Markbeträge in Devisen umzuwandeln.

Die deutschen Regierungsvertreter aber erklären stolz, daß Deutschland seinen guten Willen praktisch beweise, indem es zahlt.

Auf die Dauer kann dieser Zustand aber nicht bestehen bleiben. Mit der Zeit sind die Kreditmöglichkeiten erschöpft, das Ausland gibt nur noch ungern neue Kredite, da ja eines Tages die guten Sicherheiten, die zu Anfang der Anleihewirtschaft vorhanden waren, überbelastet sind. Hier taucht eine neue Gefahr auf, die wiederum im Zusammenhang steht mit dem Transfer. Wenn die Zahlungen in Devisen vom Auslande aufhören, so besteht für den Reparationsagenten keine Möglichkeit mehr, zu transferieren. Bis jetzt ging alles glatt. Die internationale Hochfinanz hat mehr und mehr Besitz vom deutschen Eigentum genommen. Wenn jetzt die Deutschen auf den Gedanken kommen, die Transfer-Schutzklausel in Anspruch zu nehmen, dann wird die Lage des Reparationsagenten mehr als unangenehm, denn dann wird es heißen müssen: Entweder eine aktive Zahlungsbilanz herstellen, aus deren Devisenzufluß transferiert werden kann, oder aber er kann keine Devisen mehr kaufen und muß die auf dem Reparationskonto aufgelaufenen Tributbeträge in Deutschland anlegen. Durch die Verschuldung der Industrie, der Gemeinden und Körperschaften wird es aber immer mehr unmöglich, vernünftige, konkurrenzfähige Preise im Ausland zu erzielen, da die Unkosten durch den Zinsendienst ständig steigen.

Der Reparationsagent wendet sich an die deutsche Regierung und verwahrt sich energisch gegen das deutsche Verhalten. Er sagt aber nicht nur, daß die Kreditfrage gefährdet sei, sondern er verlangt auch eine Revision der Beamtengehälter, der Kriegsopferversorgung, der Finanzwirtschaft usw. Die deutsche Regierung denkt gar nicht daran, die Erklärung [45] des Reparationsagenten ebenso energisch zurückzuweisen, sondern beeilt sich, zu versichern, daß sie in den meisten Punkten derselben Ansicht sei. Im übrigen weiß sie sich vor lauter Geldknappheit gar nicht mehr zu helfen. Man entsinnt sich heute noch der Zeit, als man von Woche zu Woche nicht wußte, ob die Regierung die Arbeitslosengelder wird zahlen können, als die deutschen Banken der deutschen Regierung kurzfristig Gelder leihen mußten, um den Haushalt zu balanzieren.

Zu dieser Zeit etwa berichtet der Reparationsagent an seine Auftraggeber, daß eine Revision des Dawes-Paktes unvermeidbar sei. Erstens einmal müsse endlich festgestellt werden, wie hoch die Gesamtschuld Deutschlands sei, d. h. wie lange Deutschland seine jährlichen Zahlungen zu leisten habe. Weiterhin, daß die Reparationen in Zukunft ohne Transferschutz gezahlt werden müßten und die fremde Kontrolle aufhören müßte. Wer jubelt jetzt mehr als die Erfüllungspolitiker? Hier, sagen sie, zeigt sich die Einsicht der Gegenseite. Die Politik der Erfüllung war richtig, jetzt hat sich gezeigt, daß Deutschland trotz guten Willens die hohen Lasten nicht tragen kann. Daß der Reparationsagent nur im Sinne seiner Auftraggeber handelt, bedenkt keiner der verantwortlichen Männer. Die Transferschutzklausel soll fallen, weil der Reparationsagent in ihr eine große Gefahr sieht, und die Kontrolle soll nicht aus Menschenfreundlichkeit und Einsicht für die deutsche Lage aufgehoben werden, sondern lediglich deshalb, weil den mit der Kontrolle Beauftragten bei einer Katastrophe ein Teil der Verantwortung zufallen würde.

Wäre der Dawes-Pakt damals bestehen geblieben, so hätte die Unmöglichkeit seiner Durchführung Deutschland in eine sehr günstige Situation gebracht. Amerikas Schuldnerstaaten konnten ihre Verpflichtungen nur erfüllen, wenn Deutschland bezahlte. Deutschland hatte aber bei der bestehenden Lage die Möglichkeit, Sperrung der Dawes-Leistungen zu fordern. Sollte der Reparationsagent trotzdem auf Zahlungen bestehen, dann war noch die Möglichkeit gegeben, daß eine weitere Kreditaufnahme aus dem Ausland für alle deutschen [46] Körperschaften, Kommunen usw. verboten würde; daß weiterhin kein Ausländer in Deutschland Grundbesitz, Aktien usw. erwerben dürfte, wodurch die Einfuhr von Devisen nach Deutschland verhindert worden wäre. Dem Reparationsagenten wäre eine Transferierung der Reichsmarkbeträge unmöglich gewesen, und die Transferschutzklausel hätte zwangsläufig Anwendung finden müssen. Die Tributbeträge hätten als Ersatz für den Auslandskredit in Deutschland angelegt werden müssen, und die Aufgabe der deutschen Regierung wäre es gewesen, nachzuweisen, welche Höhe der Beträge tatsächlich aus einer aktiven Zahlungsbilanz für die Dawes-Leistungen in Frage gekommen wäre.

Nichts dergleichen geschah, die Instinktlosigkeit der deutschen Politiker ließ hier eine Möglichkeit unbeachtet, die aufzunehmen sie die Verpflichtung hatte. Die Judenpresse jedoch und die vor jedem Vertreter der Feindbundstaaten zitternden Erfüllungspolitiker hatten mehr Angst als kühlen abwägenden Verstand. Alles sprach von der sogenannten Dawes-Krise und fürchtete sich vor den Folgen, welche aus der schwierigen Lage des Reparationsagenten hätten entstehen können. Bestimmt wären diese Folgen nicht so groß gewesen, als daß sie nicht durch energische Maßnahmen hätten behoben werden können. Auf jeden Fall waren die Aufhebung des Dawes-Paktes und die kommenden Youngverpflichtungen weit entsetzlicher als eine mehr oder minder zeitlich begrenzte Krise, welche sich aus einer Ausnutzung der Transferklausel ergeben hätte.


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Die Schandverträge
Hans Wilhelm Scheidt