[Bd. 5 S. 522]
Über seine Herkunft schreibt der Dichter selbst einmal folgende Sätze: "Ich wurde am 7. März 1866 in Elbingerode am Unterharz als Sohn des Grubensteigers Ernst geboren, der die Aufsicht über die dortigen Manganerz- und Eisensteingruben hatte. Von mütterlicher Seite hänge ich mit dem Komponisten Heinrich Schütz zusammen, dem Vorläufer von Bach und Händel, von väterlicher stamme ich aus einer 1490 aus Antwerpen zugezogenen Nordhäuser Familie, die im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert die herrschende in der Stadt war und später durch Unglück mit Bergwerksbesitz verarmte. Nach dem Eingehen des Elbingeroder Bergwerks in meinem fünften Lebensjahre wurde mein Vater nach Clausthal im Oberharz als Pochsteiger versetzt." Paul Ernst betont des öfteren den von der zurückliegenden Zeit aus durchsichtigen Grün- [523] den geleugneten "festen Zusammenhang zwischen Kunst und Leben eines Künstlers". Die ganze Unbarmherzigkeit der Maßstäbe, die wir ihn später in harter Rücksichtslosigkeit an die Zeiterscheinungen anlegen sehen, kann nur begriffen werden, wenn wir auf die Erlebnisse zurückgehen, die dem aus einer gesicherten bürgerlichen Ordnung kommenden jungen Dichter vor allem in seinen ersten Berliner Jahren beschieden waren. In Clausthal besuchte Ernst das Gymnasium bis zum letzten Halbjahr, das er, da er es an der Schule seiner Heimatstadt besonderer Verhältnisse wegen nicht mehr aushielt, in Nordhausen abmachte. Dann folgten Studienjahre in Göttingen, Tübingen und Berlin, die ihn bald in die um die neunziger Jahre alle ernsthaften Menschen bedrängenden geistigen und sittlichen Nöte hineinführten. In Berlin wurde ihm zum menschlich und dichterisch entscheidenden Erlebnis das Wankendwerden und der Zusammenbruch aller gesellschaftlichen Ordnungen, in die er als Glied seines Volkes und als Sproß einer alten Handwerkerfamilie hineingeboren war. Schon dem Knaben und Schüler des Clausthaler Gymnasiums war es schwergefallen, in ein gedeihliches Verhältnis zu seiner Umwelt, zu Lehrern und Schülern zu kommen. Aus diesem Zwiespalt flüchtete er sich in die Einsamkeit und in die Welt des Buches. Dann bringt ihn die Dissonanz zwischen seiner Zeit und dem, was er wollte und suchte, in die schwersten Konflikte. Das theologische Studium wird nach vier Semestern an den Nagel gehängt; volkswirtschaftliche, politische, philosophische Probleme füllen nunmehr seinen Gesichtskreis aus; der junge Kämpfer verzichtet auf die Unterstützung seiner Eltern und schlägt sich mit Honorareinnahmen für Zeitungsaufsätze schlecht und recht durch. So wichtig wie sein Zusammentreffen mit den naturalistischen Größen der Zeit wird für seine Entwicklung die Begegnung mit der Lehre Karl Marxens und mit der Sozialdemokratie. Die stille Mitgliedschaft in der Partei genügt dem nach einem neuen Leben Sehnsucht Tragenden nicht; er wird Schriftleiter und Mitarbeiter revolutionärer Organe und Volksredner in Massenversammlungen. Monatelang weiß er sich, der auch von Gesinnungsgenossen gelegentlich als Anarchist denunziert wird, von der Geheimpolizei in seiner Wohnung beobachtet und auf jedem Gang verfolgt. Er steht in vorderster Linie des Kampfes der "jungen", umstürzlerischen Richtung der unter dem Sozialistengesetz aufblühenden sozialdemokratischen Partei gegen die "Alten", die sich in Bonzensesseln, des revolutionären Schwungs vergessend, rekeln. Wo Kampf und Verfolgung andere zu immer fanatischeren Anhängern des Marxismus machen, schärft er sich den durch das Parteidogma nicht getrübten Blick für eine eingehende Schau des Marxschen Lehrgebäudes, das sich ihm bald in seiner ganzen inneren Hohlheit und Plattheit enthüllt. Der Glaube, die Formung eines neuen Weltbildes zu finden, hatte ihn der Sozialdemokratie zugeführt; statt dessen entdeckt er im Marxismus nur ein lügenhaftes, unorganisches "Weiterdenken der bürgerlichen [524] Gesellschaftsauflösung". Er hält zunächst die äußere Verbindung mit der Partei noch aufrecht, als er sich über die innere Distanzierung vom Marxschen Sozialismus schon längst klargeworden ist. Mit Schwermutsfingern greift die Einsamkeit, das "Anderssein", nach ihm. Während die Mehrzahl seiner Zeitgenossen, blind und taub für die Zeichen der Zeit, gleißendem Lebensvergnügen sich noch willig hingibt, hört Ernst mit feinem Ohr das Schreiten der Geister des Niedergangs, das Knistern im Gebälk der alten Ordnung, die für den Zusammenbruch reif ist. Überzeugt davon, daß nur ein Verstehen des "Warum?", die Erkenntnis der Ursachen des drohenden Untergangs den Weg zum notwendigen Wiederaufbau der Gesellschaft zu weisen vermögen, versucht er, den "Irrtum" seiner Zeit, die Auflösung der bestehenden Ordnung im Zusammenbruch des Marxismus darzustellen. Als der von Ernst vorausgesehene und vor dem 9. November 1918 mehrmals vorausgesagte Zusammenbruch eingetreten ist, sieht er die Aufgabe des Wiederaufbaus in ihrer ganzen Schwere auch vor sich selbst hingestellt. Eine Reihe neuer Untersuchungen schließt sich an die Kritik des Marxismus an, die ihm im Glauben an den guten Kern seiner Zeit, an die Sendung des deutschen Volkes und in seinem starken Aufbauwillen zu den Grundlagen der neuen Gesellschaft wird. Damit hatte sich Paul Ernst, der die allgemeinen Erschütterungen seiner Zeit vor der Jahrhundertwende und dann wieder nach der Beendigung des Weltkrieges immer als seine eigenen fühlte, bewußt als Dichter in den Schicksalsablauf seines Volkes hineingestellt. Sein ganzes Streben war von jetzt ab darauf gerichtet, dieses sein Volk wieder mit einem starken Glauben an seine Größe und seine Zukunft zu erfüllen. "Wir werden schon wieder auferstehen, unsere Zeit war noch nicht, sie wird erst noch kommen", bekannte Ernst ganz schlicht nach dem Zusammenbruch, als man um ihn herum allenthalben von Untergang und endgültiger Vernichtung munkelte. Und er wurde nun nicht müde, der allgemeinen Verzagtheit, Selbstaufgabe und Hoffnungslosigkeit, die in den besten Schichten der Nation um sich griffen, entgegenzuarbeiten durch den Glauben und die Tat seines Wortes und seines Lebens. Er lenkte den verzagten deutschen Blick auf die großen Zeiten der deutschen Geschichte, um aus ihr Ströme der Kraft und neuen Lebenswillen in die eigene dunklere Zeit hereinzuleiten. Er versuchte, dem deutschen Volk seine besondere Aufgabe zu deuten, um ihm dadurch Mut zu sich selbst zu machen; er warf unbarmherzig den Blitzstrahl seines Zornes, wo ihm in Dingen des nationalen Lebens Mangel an Liebe und Entschlossenheit Wege zur Zukunft zu verbauen schienen; und über aller Sorge und über aller Not stand ihm stets das einfache Bekenntnis, das besonders in seinen grundlegenden theoretischen Schriften immer wiederkehrt: Das deutsche Volk wird leben; das Bekenntnis, in das ihm jede Auslassung über die Notwendigkeit einer grundlegenden Neuordnung aller Verhältnisse in Deutschland, Europa und in der gesamten zivilisierten Welt ausläuft. Das große Aufbauwerk, [525] das getan werden muß, liegt im Wirken einer "formbildenden Kraft", und, so ist sein Glaube, nur von Deutschland aus kann es getan werden! "Findet Deutschland die Form für ein Handeln in ganz neuer Weise, dann ist es gut, dann führt es die Welt weiter, aus dem jetzigen Zustand heraus. Findet es die Form nicht, dann geht die Welt unter, wenigstens die europäische." "Im deutschen Heer war die Form vorhanden; sie wurde 1918 zerschlagen – für immer? Im deutschen Volk sind die Kräfte vorhanden, eine neue Form zu schaffen – vielleicht besser, die nicht fertiggewordene alte Form fertigzumachen... Wenn man die anderen großen Kulturvölker von heute betrachtet, dann sind die Deutschen das einzige, von dem die Rettung kommen kann." Mit diesem stolzen Glauben an die Zukunft seines Volkes versuchte Ernst, überall das Verständnis für die unserem Volk neu gestellten Aufgaben zu erwecken, da er für jene Neuordnung auch über die deutschen Grenzen hinaus eigentlich Entscheidendes nur von Deutschland erwartete. Noch während des Krieges hatte sich der Dichter auf einem Bauernhof in Oberbayern, dem Sonnenhof, festgesetzt, um in seinem eigenen Leben die von ihm aufgestellten Grundsätze einer organischen Lebensordnung zu verwirklichen. Da er den "Sonnenhof" im allgemeinen Niedergang der Inflationsjahre nicht zu halten vermochte, siedelte er nach Sankt Georgen an der Stiefing in Steiermark über, wo er als Bauer und Dichter bis zu seinem Tod am 13. Mai 1933 lebte. Eine nachhaltige Klärung seines künstlerischen Wollens empfing Ernst, der sich vom Naturalismus losgesagt hatte, durch eine Italien-Reise. Die gemeißelte Form der altitalienischen Novelle wurde ihm zum Vorbild für sein eigenes Schaffen, und wir sehen ihn von da ab besonders bemüht um die innerste Erkenntnis des Wesens und der Gesetze der künstlerischen Form, deren Vernachlässigung durch die Vertreter des Naturalismus zu einer allgemeinen Verwilderung geführt hatte. Als Dichter, der bewußt auf eine Neuordnung des deutschen Lebens hinarbeitete, war es ihm darum zu tun, jene Form der künstlerischen Aussage herauszuholen, die ihm am meisten geeignet schien als Gefäß für eine Dichtung, die Dienst am Leben des Volksganzen sein sollte – zu einer anderen Auffassung ließ sich Paul Ernst nie verleiten. So verdanken wir dem Dichter eine große Reihe von aufschlußreichen, tiefschürfenden Abhandlungen über das Wesen und die Technik der Novelle, des Dramas (insbesondere der Tragödie) und des Epos (Der Weg zur Form, Ein Credo, Tagebuch eines Dichters). Auch über den Roman hat er sich ausgelassen, um zu begründen, warum er gerade den Roman nicht als vollwertige künstlerische Form ansehen konnte. Er hat sich dieser Form trotzdem mit großem Geschick bedient. In den Romanen Der schmale Weg zum Glück, Saat auf Hoffnung, Die selige Insel und Grün aus Trümmern hat er das Wesen und den Inhalt oder die Inhaltlosigkeit einer entwurzelten Zeit, deren Menschen mit sich selbst nichts mehr [526] anzufangen wußten, treffend gekennzeichnet. Daneben stehen die zwei geschichtlichen Romane: Der Schatz im Morgenbrotstal und Das Glück von Lautenthal, von denen der erste ein eindrucksvolles Lebensgemälde aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges bietet, während der andere als Dichtung um eine Sage des Harzes durch die innige Einfachheit seiner Sprache und liebevolle Güte seiner Menschengestaltung zu ergreifen vermag. Nachdem der Dichter mit dem Roman Der schmale Weg zum Glück von seinen Berliner Erlebnissen sich freigeschrieben hatte, suchte er den Weg zum Drama, in dem er die höchste künstlerische Form überhaupt gefunden zu haben glaubte, da im Drama das "Göttliche der Dichtung am stärksten zum Ausdruck" komme. Dem vom Naturalismus verzerrten und in seinem eigentlichen Wesen verleugneten dramatischen Schaffen verlieh er eine neue, hohe Würde, indem er selbst die strengsten Anforderungen an sich stellte. Er erkannte, daß die im Kult des Einzelmenschen sich verzehrende Zeit zur "völligen Zerstörung des Dramas, zu dessen Auflösung im allgemeinen Schwindel" geführt hatte; und er unternahm es, dieser Auflösung ein neues Drama entgegenzustellen, das als "Darstellung eines persönlichen Geschehens" aufgefaßt und zum Gefäß eines neuen Gott- und Weltbildes werden sollte. Fünfzehn Dramen entstanden in der Zeit zwischen 1905 und 1916: sie gipfeln in den Schicksalsdramen Canossa und Brunhild, die die "Treue gegen sich selbst" als erstes sittliches Gebot aufstellen. In äußerst knappem Handlungsrahmen stellt er uns hier Gestalten vor, die dazu ausersehen sind, in unlösbarer "Einheit von Schicksal und Charakter" "nach Notwendigkeit" ein "höheres Leben" zum tragischen Ende zu führen. Neben der Canossa-Tragödie, die in höchster Sinnbildlichkeit die große Auseinandersetzung zwischen der Idee des Reiches und dem Anspruch der Kirche auf die Weltherrschaft gestaltet, stehen als besonders bedeutsam die Nibelungen-Dramen: Brunhild und Chriemhild und die Dramen um den Gedanken des Preußentums: Preußengeist und Yorck. Das Ende seines dramatischen Schaffens, dem der Dichter selbst die größte Bedeutung im Rahmen seines Gesamtwerkes zuweist, fällt ungefähr zusammen mit dem Zusammenbruch des deutschen Volkes von 1918. Ungefähr in der gleichen Zeit, die durch sein dramatisches Schaffen ausgefüllt war, entstanden die zahlreichen Novellen, die in sieben Bänden gesammelt sind (Frühe Geschichten, Geschichten von deutscher Art, Lustige Geschichten, Komödianten- und Spitzbubengeschichten, Romantische Geschichten, Liebesgeschichten, Geschichten zwischen Traum und Tag). Es spricht nur wieder für die hohe Verantwortung, die Paul Ernst bei der Ausübung seines dichterischen Amtes leitete, wenn er nicht nur seine Romane, sondern auch die Novellen nur "Nebenarbeiten" nennt. Der Dichter selbst gab diesen Arbeiten später die deutsche Bezeichnung "Geschichten", und er verband damit ganz bestimmte Anschauungen über diese reizvolle, von vielen angewandte, von wenigen beherrschte Kunstform [527] der Novelle. "Eine Novelle muß in ihrem Hauptpunkt etwas Unvernünftiges enthalten", sagt Paul Ernst, "etwas, wodurch sich das in ihr Erzählte als ein Besonderes und Überraschendes ausweist, wodurch es eben würdig wird, behandelt zu werden"; oder an anderer Stelle: "Das Unwahrscheinliche, das sich sogar bis zum Unmöglichen steigern kann, ist gerade die Lust, in welcher die Novelle, diese Schwester des Märchens, sich am liebsten bewegt." Die Novelle "gibt nicht Breite und Fülle durch Zufälligkeit des scheinbaren Lebens, sondern sie gibt das Notwendige und erzielt ihre Wirkung durch Geschlossenheit und strenge Fügung". Wir müssen diese handwerklichen Äußerungen des Dichters aufmerksam lesen und durchdenken, um verstehen zu können, was das Besondere der Novellenkunst Paul Ernsts ausmacht, was sie abhebt von dem allgemeinen Novellenbegriff und was seine eigenen Novellen zu "Geschichten" macht. Es kommt ihm gar nicht darauf an, um jeden Preis Neues zu bringen; ein altitalienischer Vorwurf wird ihm in gleicher Weise zum schöpferischen Anreiz wie ein Motiv aus der nordländischen Saga; er findet seinen Stoff in einem alten deutschen Volkslied oder Volksbuch ebenso wie in der Nachrichtenspalte der Tageszeitung; Volkssage und Volksmärchen stehen ihm Pate; eigene Erfindung tut das Ihre dazu; jeder Stoff ist ihm recht, der etwas "Besonderes und Überraschendes" aufweist – nicht der Ausgangspunkt, nicht der Stoff an sich ist wichtig, sondern das dichterische Ergebnis seiner Behandlung, die die beabsichtigte Wirkung erzielt durch ihre "Geschlossenheit und strenge Fügung". Neben romanischen Stoffen der verschiedensten Färbung finden wir also Stoffe aus der deutschen Geschichte, die die ganze Entwicklung unseres Volkes andeuten, und zahlreiche andere Stücke, die aus dem den Dichter umflutenden Leben, aus einer Zeitungsnotiz oder aus einem Gespräch, gegriffen sind. Die Geschichten sind mit großer Einfachheit erzählt; sie breiten sich mit selbstverständlicher Anteilnahme über das ganze Volksleben in all seinen Ständen und Schichten aus und stellen in ihrer Art etwas ganz Einmaliges dar. Im Jahre 1918 wurde als letztes Werk in der Reihe der Dramen das zweite Nibelungendrama: Chriemhild fertig; und mitten im Zusammenbruch faßte Paul Ernst den Plan zu einem neuen großen Werk, dem Kaiserbuch, einer epischen Dichtung in drei Teilen. Mit der Gestaltung der Geschichte des altdeutschen Kaisertums wollte er dem Volk in einer Stunde seiner tiefsten Erniedrigung Mut zu sich selbst machen – damit stellte er sich in leidenschaftlicher Entschlossenheit vor die gedemütigte und gepeinigte Nation, als einer der wenigen Dichter, die damals wußten, was dem Volke nottat, wenn es wieder zu sich selbst kommen wollte. In fast zehnjährigem Schaffen zwang der Dichter den gewaltigen Stoff dieser Geschichte des ersten deutschen Kaisertums von 950 bis 1250 zu einem "Epos in drei Teilen", das mehr als neunzigtausend Verse umfaßt. Je einer der drei Teile ist den Sachsenkaisern, den Frankenkaisern und den Schwabenkaisern gewidmet. [528] Bewundernswert ist der innere Aufbau des Kaiserbuchs, durch den die Gestaltwandlungen jener großen Periode der deutschen Geschichte sinnfällig zum Ausdruck kommen. Was das Kaiserbuch aber über die Formung tatsächlichen historischen Geschehens hinaus in besonderem Maße auszeichnet, das ist die außerordentliche Kunst, mit der der Dichter es versteht, aus den geschichtlich überlieferten Ereignissen und den Zeit- und Lebensverhältnissen des mittelalterlichen Menschen ein gemeinsames Gewebe herzustellen. Es ist da keine Seite des menschlichen und völkischen Seins, die Ernst uns mit Absicht dunkel ließe neben den Höhepunkten, den strahlenden Aufgängen, den jauchzenden Siegen, von denen diese Jahrhunderte die Fülle haben. Geschaut mit den Augen des Dichters, gedeutet mit der Kraft des Sehers, gekündet mit der Stimme des Propheten, so türmt sich im Kaiserbuch Paul Ernsts mittelalterliches Leben in Fülle und Erbärmlichkeit, in Glanz und Dunkel, in Reichtum und Kargheit vor uns auf, als Bild einer Zeit, deren Menschen sich aus "allgemeiner Formlosigkeit" in der Gefolgschaft einer einzigartigen, alles Sein weit überragenden Idee eine Lebensform von unerhörter Spannkraft und Tragkraft schufen. Es gibt kaum eine andere Dichtung, in der uns jene große Zeit der deutschen Geschichte mit solcher Eindringlichkeit und Lebendigkeit und mit so ehrlichem Verzicht auf alle billigen Mittel der Wirkung vor Augen geführt würde wie in dem Kaiserepos des Dichters Paul Ernst; derart, daß wir uns selbst, unsere Art, unsere Not, unser Blut, unser Schicksal, in dem hier geformten persönlichen und überpersönlichen, zeitlichen und überzeitlichen Geschehen zu erleben vermögen. Eine solche Dichtung kann nicht um des künstlerischen Ausdrucks willen geschrieben sein, sie muß geschaffen sein im Dienst am Volk und an des Volkes Leben und an des Volkes Zukunft. Neben den Dramen ist das Kaiserbuch das Werk Paul Ernsts, dessen breite Wirkung im Leben des Volkes er selbst am heftigsten ersehnte.
Paul Ernst war aber nicht nur Dichter, sondern auch Philosoph und Kulturkritiker. Als solcher hat er sich um die Erhellung aller wichtigen Lebensfragen seines Volkes bemüht. Er verdankte seiner für uns kaum noch begreifbaren Belesenheit das unbedingt zuverlässige Erfassen der großen Zusammenhänge in der geschichtlichen Entwicklung nicht nur des deutschen, sondern aller abendländischen Völker. Besonders tiefgründig ist seine Kritik des neunzehnten Jahrhunderts, über die er zu seinen auch heut noch gültigen Gedanken über die Neuordnung des deutschen Lebens gelangte, deren Verwirklichung selbst noch zu erleben ihm das Schicksal versagte. Freilich: Paul Ernst wollte in erster Linie Dichter sein, und so läßt er sich über seine theoretischen Arbeiten einmal folgendermaßen aus: "Ich war immer nach meiner ganzen Gemütsart Dichter und habe weder eine Begabung für theoretische Untersuchungen – mir ist ganz klar, daß meine theoretischen Arbeiten nur unbehilflich gestammelte Selbstbekenntnisse sind mit allen Unklarheiten und Widersprüchen der nicht durch höheres Denken [529] gereinigten Natur – noch habe ich von Haus aus Neigung zu solchen Arbeiten." "Ich habe, gegen meine Natur, zweifeln müssen", fährt er fort, und um diese Zweifel zu überwinden, um an die Stelle der ihm überkommenen, aber als untauglich erkannten Glaubenssätze einen neuen, wirksamen, aus den Erfordernissen der Zeit gewonnenen Glauben setzen zu können, bemüht er sich mit zähem, nie ermüdendem Eifer um die Erkenntnis des "Warum". Zu stark fühlt er die Verantwortung für seine Zeit und für sein Volk, als daß er es vermocht hätte, sich mit der Tatsache der Erscheinungen an sich zufriedenzugeben. So gelangte er in seinem Forschen und Nachspüren zu jener erstaunlichen Fülle von Abhandlungen, deren unermeßliches Gedankengut noch lange nicht in vollem Ausmaß für unser Volk fruchtbar gemacht ist, deren Schätze noch darauf warten, gehoben zu werden (Der Zusammenbruch des deutschen Idealismus, Grundlagen der neuen Gesellschaft). Auch diese Arbeiten beweisen, daß die ganze Art der Wirksamkeit Paul Ernsts völlig außerhalb dessen lag, was die Zeit unter einem Dichter verstand und was sie von ihren Dichtern wollte. Die Einzigartigkeit dieser Haltung wird immer zum Eindrucksvollsten nicht nur im Gesamtbild Paul Ernsts, sondern ganz allgemein in dem der deutschen Dichtung unserer Zeit gehören, denn wir sind es in den letzten Jahrhunderten nicht gewohnt gewesen, Herkunft, Sendung und Aufgabe, deutsche Lebensanschauung und ein weit ausgreifendes Weltbild so zum Ganzen einer künstlerisch schöpferischen Persönlichkeit zusammenwachsen zu sehen, wie es bei Paul Ernst der Fall ist. Zu den theoretischen Arbeiten dürfen auch die Erdachten Gespräche gerechnet werden, in denen der Dichter eine reizvolle Zwischenform zwischen Gedichtetem und Gedachtem geschaffen hat. Diese Erdachten Gespräche bilden für Menschen, die dem Werk des Dichters noch fremd gegenüberstehen, sicher den schönsten Zugang zu seinem Gesamtschaffen, denn in ihnen verschenkt der gütige Mensch, der große Dichter und der scharfe Denker die reichsten Gaben seines umfassenden Geistes. Hier glänzt und sprüht es von Einfällen, Gedanken und überraschenden Prägungen, von Witz, Sarkasmus und lächelnder Laune, ohne daß je der Untergrund ernsthafter Besinnung verlassen würde. Große Fragen und schwierige Probleme werden in knapper und sicherer Gestaltung nicht nur behandelt, sondern bis ins kleinste hinein anschaulich gemacht. Unbestechliche Betrachtung öffnet den Blick für die großen, ewigen Wahrheiten, die auch der kleinsten, unscheinbarsten Wirklichkeit des Lebens innewohnen. Den Reichtum dieses Lebens aber und seiner schöpferischen Träger vom demütigen In-sich-selbst-Ruhen der einfachen Menschen aus dem Volk bis zur hohen Verantwortlichkeit des Königs, Dichters, Philosophen für Zeit, Volk und Menschheit bringt der Dichter zu schönster Entfaltung. So geben gerade die Erdachten Gespräche, wo immer wir uns mit ihnen befassen, einen klaren und beglückenden Abglanz der gesamten dichterischen Welt Paul Ernsts. [530] Unter den Dichtungen seien schließlich nicht vergessen die kleine Sammlung von Gedichten: Beten und Arbeiten und das religiöse Epos Der Heiland. Der organische Lebensgedanke, dem Paul Ernst mit seinem Schaffen diente, fand seinen lyrischen Niederschlag in der verhältnismäßig kleinen Anzahl von Gedichten, die in dem Bändchen Beten und Arbeiten vereinigt sind. Auch diese Gedichte stellen etwas durchaus Besonderes dar, sie halten sich frei von jeder gedanklichen Blässe und jedem rauschhaften Gefühlsüberschwang, sie sollen und wollen nichts sein als einfache Aussagen aus dem Leben des Volkes, die aber gerade durch ihre Schlichtheit zu ergreifen und zu erschüttern vermögen. Wenn Paul Ernst im Kaiserbuch darauf ausging, das deutsche Volk an seine eigene Art hinzuführen, ihm das innerste Wesen seiner selbst zu zeigen, so geht es ihm im Heiland darum, den Menschen von heute im Raum des Lebens von Christus heimisch zu machen. Der Heiland Paul Ernsts ist mitten unter uns in unsere Zeit hineingestellt. Ernst will trotzdem keinen Evangelien-Ersatz geben, sondern vom Boden seiner eigenen religiösen Anschauungen aus zeigen, daß die christliche Botschaft auch dem aufgeklärten und viel bedrängten Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts noch etwas zu bedeuten vermag.
Paul Ernst ist wenige Monate nach dem Sieg der Bewegung auf seiner Besitzung in Sankt Georgen in Steiermark gestorben. Er selbst hat an den Sieg der Bewegung geglaubt und seit vielen Jahren auf ihn gehofft. Er hat noch in den letzten Monaten seines Lebens eine Reise durch Deutschland gemacht und durfte dabei erfahren, daß das neu geordnete Volk sich anschickte, dem Dichter, dessen gesamte Lebensarbeit bis zum letzten Atemzug nur diesem Volk gehörte, die Anerkennung und Ehre zuteil werden zu lassen, die man ihm bis dahin versagt hatte. Sein Werk stellt einen der stolzesten Bausteine des neuen Reiches dar, denn er hat in ihm unablässig und unberührt von der Ungunst der Zeiten jene neue Lebensordnung des deutschen Volkes seherisch beschworen, die heute vom Führer des geeinten Reiches aufgerichtet worden ist.
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