[Bd. 1 S. 182]
Gelang uns dieser Vorstoß ins Wesen der schöpferischen Geister nur in höchst bescheidenem Maße bei den Künstlern neuerer Zeit – die verheerenden Wirkungen dieser Betrachtungsweise bei den Malern spüren wir noch bis ins Mark –, so sind die Versuche auf dem Gebiete der ersten großen Epoche deutscher Dichtung bis vor kurzem beinahe kläglich. Dabei ist der Grund hierfür nur zu verständlich. Als sich vor hundert und etlichen Jahren die Schatzkammer des "Schwäbischen Zeitalters", die lang verschlossene, auftat, brach ein solch funkelndes [183] Getümmel auf die glücklichen Entdecker herein, daß es zunächst der Sichtung bedurfte, der Säuberung, der Gliederung. Restaurator und Registrator hatten den Vorrang. Es war selbstverständlich, und keinem Einsichtigen wird es beikommen, diese höchstverdienten Männer zu schelten. Allein ebenso selbstverständlich war es, daß die Hauptbeteiligten vor diesem aufwirbelnden Staub weit flüchteten. Zwischen dem Volk und seiner blühenden Vergangenheit bauten sich Barrikaden auf von tief gelehrten Werken, Mauern von so undurchdringlicher Dicke, daß nur hie und da noch ein Fünklein dieses Himmelsglanzes hindurchsprühte auf die Menge, die vom Tag und Alltag nur allzusehr und mehr und mehr abgelenkt wurde. Da waren die Handschriften zu prüfen und zu entziffern, die Herkunft, der Dialekt zu ergründen, Echtes von Unechtem zu scheiden. Metrik und Grammatik überwucherten die Dichtung, den Namen, und noch bis in die neueste Zeit schien es, als wären die mittelhochdeutschen Sänger zu nichts Besserem da, als Übungsstücke für germanistische Seminare herzugeben. So mußte es kommen, daß erst heute für weitere Kreise sich langsam das Dunkel erhellt, das über dieser Zeit um die Wende des zwölften zum dreizehnten Jahrhundert ruht. Wir sind ohnehin geneigt, die Gestalten unserer Vergangenheit, die miteinander wenig oder sogar gar nichts zu tun haben, zu Dioskuren oder Zwillingen umzuschaffen, wir erinnern an so gefährliche Zusammenstellungen wie Goethe und Schiller, Bach und Händel, als ob es nicht der ungeheure Vorzug des deutschen Geistes wäre, daß er eigene und scharfe Charaktere schüfe; es ist, als ob wir uns unseres Überreichtums an Persönlichkeiten schämen. (Wie unendlich fein wir bei anderen Völkern die einzelnen zu scheiden wissen, zeigt unsere beispiellose Übersetzerkunst.) Schon haben sich Stimmen erhoben, die auf neue Wertung des alten Gutes dringen; ob nicht ein Dichter vom Range des Morungers Herrn Walther zum mindesten an die Seite zu stellen wäre, aber das alles sind nur ganz bescheidene Anfänge, das Ende ist noch nicht abzusehen.
Aber gerade die neueren Forschungen über ihn – hier sei vor allem Albert Schreiber dankbar genannt – zeigen, wie fein deutsche Gelehrsamkeit zu spüren weiß, und wenn heute zwei dicke Bände über das Leben Grimmelshausens vorliegen, von dem wir vor einem Jahrhundert noch nicht einmal den Namen kannten, so dürfen wir hoffen, daß sich die Gestalt des Eschenbachers immer klarer abzeichnen wird.
[184] Die Zeit seiner Geburt und seiner Herkunft sind unzweifelhaft. Das Geschlecht stammt mit ziemlicher Gewißheit aus Bayern, und es ist anzunehmen, daß einer der Vorfahren im Dienste eines Grafen – der Wertheim? – nach Eschenbach versetzt wurde. Dorther stammt denn auch der Name. Was ihn zum Dichter berief, wir wissen es nicht. War es ein älterer Bruder, der ihn zwang, sein Brot andern Ortes zu suchen, oder war er seines Genius schon voll bewußt? Es wäre nicht undenkbar, daß seine Lyrik uns den Weg deutet. Zwar sind uns nur wenige Lieder bekannt, sie aber sind von solcher Stärke und so tiefer Brunst und Inbrunst, daß wir vielleicht nicht fehlgehen, wenn wir auch hier wieder im Eros den fackeltragenden Wegweiser sehen dürfen, schließt doch der kleine Zyklus mit einem Hohenlied auf die Ehe. Daß aber Wolfram während seiner großen Werke kleine Lieder zum Preis der Liebsten sang, ist kaum anzunehmen, fand er doch Gelegenheit genug, in seinen Epen von Lust und Leid der Minne zu singen. Verheiratet war er und nannte eine Tochter sein eigen, zerbricht er sich doch schon in väterlicher Angst den Kopf um seinen künftigen Eidam. Um die Jahrhundertwende tritt er uns deutlich entgegen. Wer von dem Städtchen Amorbach im nördlichen Odenwald südwärts wandert, der sieht alsbald in einem grünen Tal zu linker Hand einen kegelförmigen Hügel sich vorschieben. Es ist der Wildenberg, der Mont sauvage, der Munsalvaesche. Dort steht die Burg der Herren von Durne, eins der kostbarsten Denkmäler romanischer Baukunst. Die Bauern haben es seinerzeit zerstört, doch haben bisher moderne Architekten das Unheil nicht fortgesetzt. So träumt dort erhabene Einsamkeit, wo einst fürstliches Leben geherrscht hat. Noch können wir die Wangen der riesigen Kamine bestaunen, ein Wunder ihrer Zeit, daß Wolfram, Kind einer sonnengierigen Zeit, nur noch in der Gralsburg so schöne Wärmespender anzunehmen wagt. Und erschüttert sehen wir an der Wand eingemeißelt die Buchstaben OWE-MUTER – das aber ist der Anfang jenes Leitmotivs, das den ganzen Parzival untermalt: ôwê muoter, waz ist got? Wir wollen uns nicht in unnützen Phantasien verlieren, aber zu denken wäre es, daß dieser Michelangelo des Worts hier selbst zu Meißel und Hammer gegriffen hat, um ein Zeichen zu setzen an der Stelle, wo er der Welt – nicht nur der deutschen – eine Heilsbotschaft verkündete. Denn es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Wolfram hier, wenn nicht den größten, so den wesentlichsten Teil des Parzival schrieb, als Gast der edlen Herren von Durne, insbesondere des Rupert von Durne.
Mögen die Urkunden, wie so oft, versagen: rings breitet sich Wolframsches Gefilde. Da ist Sigunens Klause, ein mîle oder mêr von der Gralsburg entfernt, dort sitzt die reclusa eingemauert in ihrer Siedelei, die über einem Bächlein steht. Sie steht noch heute und nennt sich Amorsbrunn. Und Amorbach selbst, ein Amarbach; man erfand um jene Zeit einen heiligen Amor und nannte Ort und Kloster um. Niemand konnte beglückter über diesen rührenden Unsinn sein als Herr Wolfram, der denn auch spaßt, eigentlich sollten doch Mönche und Nonnen âmûrschaft mîden. [185] Auch sei noch einer Vermutung Raum gegeben, die freilich der Nachprüfung bedarf. Wolfram erwähnt einmal Neidharts von Reuenthal, des dörfischen Dichters. Er spricht da von einem "Gäubühel", eine vollkommen unverständliche Bemerkung, so witzig und parodistisch sich sonst die Verse gegen den Dichter wenden. Nun liegt aber unweit nördlich Amorbachs ein Reuental, zwischen beide schiebt sich ein anmutiges "Gäubühel", das schlechterdings diesen Namen herausfordern würde, wäre er nicht schon geprägt. Es wird der Einwand erhoben werden, es könne sich aus den bekannten "inneren Gründen" unmöglich um dieses Reuental handeln, aber wenn man sich vorstellt, eine Katastrophe vernichtete sämtliche Urkunden unserer Zeit und nur die Bücher blieben übrig, so würde eine künftige Forschung vielleicht feststellen, daß die Mehrzahl unserer Dichter in Leipzig geboren wäre. Man soll sehr vorsichtig sein, aber nicht allzu vorsichtig, auch nicht in der Philologie. Die Arbeit am Parzival ist dann unterbrochen worden, im Jahre 1203. Wolfram zog zu Felde. Die Belagerung von Erfurt machte er auf der staufischen Seite mit, sie hat Niederschlag in seiner Dichtung gefunden. Nach Abschluß dieses Krieges tritt das Schicksal in Wolframs Leben. Er kommt an den Hof Hermanns von Thüringen. Der Vorgänger Carl Augusts war unzweifelhaft ein Mäzen, aber wie es scheint, spielte er ihn auch gern. Es findet sich eine große Anzahl von vielen Leuten ein, die am Hofe herumscharwenzeln, um sich dort nach des Krieges oder auch des Lagers Last und Not ein Gutes zu tun. Wolfram findet das ganze Treiben widerlich. Seine volle Wut richtet sich besonders gegen den Truchseß des Thüringers, wahrscheinlich einen Günther von Schlotheim, der mit weniger erlauchten Gästen gemeisame Sache macht. Hier ist es, wo Walther von der Vogelweide dem Parzival-Dichter entgegentritt, aber die Beziehungen der beiden sind nicht die besten. Wolfram äußert sich des öfteren recht mißfällig, wenn nicht gar bösartig über den Vogelweider. Dies wenig erquickliche Beieinander der Größten ihrer Tage dürfte der Grund zum Sängerkrieg geworden sein, man versprach sich gewiß ein paar lustige Stunden bei diesem Wettstreit. In all diesem Trubel und Jubel nun mag Wolfram nach einer gleichfühlenden Seele Ausschau gehalten haben. So kommt die Frau – oder war sie von allem Anfang da, und ist der Widerstreit zwischen Wolfram und Walther auf sie zurückzuführen?
Etwa sechsundzwanzigjährig, jung verwitwet, scheint die Schwägerin Hermanns, Markgräfin Elisabeth von Vohburg, fast vergrämt durch die schlechte Behandlung ihres Bruders, des Herzogs Ludwig von Bayern, der sie nach dem Tode ihres Gatten freundwillig enteignete und ihr wohl keine allzu große Rente ausgesetzt hatte, am politisch mißvergnügten Hofe zu Eisenach aufgetaucht zu sein. Walther gab der Erbitterung des Herrscherpaares und ihrer Verwandten mit boshaften Worten Ausdruck, wie er ja leider zu den Menschen gehörte, die in ihrer politischen Haltung das Mäntelchen auch nach dem Winde hängen. Stachelte der [186] Ehrgeiz den staufischen Wolfram, der nun freilich seine politische Überzeugung niemals gewechselt hat? Oder war es ein Wiedersehen? Eine Sage will, daß Wolfram einst als Page am Hause der Markgräfin gedient habe. Das ist zeitlich kaum möglich, aber man soll den Wert solcher Überlieferungen nicht unterschätzen. In jedem Falle: Wolfram brennt lichterloh. Nicht eben leicht wird ihm der Sieg über die reizende Frau, reizend – denn es ist eine ansprechende Vermutung, daß Antikonie, nicht eben die tugendreinste, gewiß die sinnlichste Frauengestalt Wolframs, ihr Vorbild in Frau Elisabeth hat. Dann aber nimmt sie die Widmung der Bücher III bis VI des Parzival an, und es ist möglich, daß Walthers politische Reime und die Darreichung dieses Teils des tiefen Ritterromans Urgrund zur Sage vom Sängerkrieg sind. Und Elisabeth widersteht nicht mehr. Der Turmwächter weiß nicht, warum er eines Morgens in das Horn stößt; es müssen zwei sich trennen. Denn ist schon alles erlaubt, so darf es niemand erfahren. Doch Wolfram, Genie und darum Feind gesellschaftlich-gemeiner Übereinkunft, schreit seine Seligkeit in alle Welt. Der unnachahmliche Beherrscher des Worts überspitzt sich. Er wählt Ausdrücke, die zwar nachgeborenen braven Philologen unverfänglich scheinen dürfen, die aber von der lüsternen Umwelt in ihrer nackten Eindeutigkeit sofort erkannt werden. Er ist zu wahr in seiner hohen Seele, er ist, angeekelt vom Treiben am Thüringer Hofe, viel zu sicher seiner Leidenschaft, er mißachtet zu sehr dies ganze Pack und verfällt in den schwersten Fehler, den die Menschen machen können: die andern für dümmer zu halten, als sie sind. Ja, sie sind zu dumm, aber eben diese ihre Dummheit befähigt sie, zu wittern und zu schnüffeln. Die Niederträchtigkeit hat diesmal recht. Sie lesen und hören nur zu genau, was da geschah. Kurzwîle, sagt er. Das Getuschel ringrum weiß, was unter solcher Kurzweil zu verstehen ist. Und er zittert, daß sie ihm untreu wird. "Der Frau, die ich da lobe, ist Zucht als Hut recht wol." Kochende Angst. Das große Genie Wolfram, des eigenen wohl, des fremden Zügels nicht bewußt, donnert drein. Der Irrtum ist ungeheuer. Ein beispielloser Lärm geht auf. Ja, es ist "Sitte", mit einer Geliebten zu sein, es ist beinahe Pflicht. Aber – nur Schweigen, nur Ruhe. Verlogenheit triumphiert. Da kommt einer, der die Wahrheit sagt: "Weg mit ihm!" Frau Elisabeth steht erstarrt, und wir können es ihr nicht verdenken, wenn sie den Allzukühnen, der sie, im wahrsten Sinne, bloßstellt, mit wütendem Haß verfolgt. Und wie eine Meute entfesselter Mänaden stürzt sich die gesamte Weiberschar auf den unseligen Orpheus, der es wagte, seiner Seligkeit Laut zu geben. Ein tumber tor zieht heim, gen Franken. Echt Wolframsches Geschick. Parzival ist seinem Herzen gefolgt. Und das just, eben das wollen sie nicht, die lieben Leute. Ein Zwischenspiel: in Maasfeld an der Werra haben sie ihn wohl zum Ritter geschlagen. Der Henneberger Boppo VII. feiert Hochzeit und machte sich vielleicht den Spaß, diesen wunderlichen Narren nun erst herauszustreichen. [187] Oder auch: der Schwertschlag war ein Schlag gegen die Thüringer – das wäre eine wahrhaft fürstliche Haltung. Doch das liegt ganz und gar im Dunkel, auch wird diese Ehrung dem zwar selbstbewußten, aber niemals eitlen Wolfram ein sehr schwacher Trost gewesen sein. Danach entschwindet er unsern Augen, doch ist er offenbar in der Steiermark gewesen. Der Grund zu dieser Fahrt ist nicht klar. Nachdem der Parzival in seiner ersten Fassung fertiggestellt war, dürfte er wieder in seine Wahlheimat, diesmal in den Spessart, zurückgekehrt sein, möglicherweise als Lehnsmann des Wertheimers. Dort wird er am Willehalm gearbeitet haben. Wann er dieses Werk begonnen hat, wissen wir wiederum nicht. Er hat kein Glück mit diesem Werk gehabt. Zwei seiner Mäzene, denen er das Buch zu widmen gedachte, die wohl auch den armen Dichter unterstützten, starben kurz hintereinander. Allein das waren wohl nur äußerliche Zufälligkeiten. Mit dem Parzival hatte Wolfram ausgesungen. Wie stark er sich auf dieses sein Epos beschränkte, geht deutlich aus dem Titel-Fragment hervor, das er beiseite ließ, um es seinem Hauptwerk einzuverleiben, wo es denn zu einem der ganz großen und tiefen Episoden wird, die kunstvoll eingewebt den Kontrapunkt darstellen. Und ebenso: erst nach dem [188] Aufgeben des Willehalm schiebt Wolfram das erste und zweite Buch dem Parzival vor. Mit reifster Kunst erklärt er im Prolog die Herkunft seines Helden, bringt er die seelischen Vorbedingungen des künftigen Gralskönigs. Diese feinsten Facettierungen seines Diamanten sind das letzte, was er geschaffen hat. Über sein Ende wissen wir nichts. Es ist durchaus nicht gesagt, daß er um 1220 verstorben ist, vielleicht baute er, wie Shakespeare, seinen Kohl, nachdem Prospero den Zauberstab zerbrochen hatte. Er war gewiß nicht erschöpft, allein er war ausgeschöpft. Er hatte nichts mehr zu sagen, und ein so weltweiter und weltweiser Mann wie Wolfram wird das sehr genau gewußt haben. Im Anfang des siebzehnten Jahrhunderts konnte man sein Grab noch in Eschenbach sehen, das heute sich mit schönem Stolze Wolframs-Eschenbach nennt. Allein das war die Zeit, als man sich Stammbäume schuf von höchst phantastischer Ahnenschaft; es wäre denkbar, daß auch das fränkische Städtlein sich ein sichtbares Zeichen seiner Vergangenheit schaffen wollte, so gern wir zu der Stätte pilgern möchten, wo die Knochen des wahren Gralsuchers morschen. Doch auch der Gedanke ist schön, daß die Erde eines ihrer liebsten Kinder zu sich nahm, eifersüchtig, denn zu den Menschen, an die Natur sich hemmungslos verschwendete, gehört der Eschenbacher; es sind ihrer wenige, und wir können sie an den Fingern unserer Hände abzählen.
Der Meister der Manesseschen Handschrift zeigt uns den Dichter auf eine liebenswürdige, wenn auch recht unbeholfene Weise. Allein in diesem Bildnis wirkt ein fast Wolframscher
Alle Großen waren einsam. Einsamere als diesen Ritter kann es kaum geben. Er ist nicht das, was man als eine Kampfnatur bezeichnet, er sieht sich nur allein in einer fremden Welt, ein ritterlicher Herr, der es nicht für nötig erachtet, viel Wesens aus Gegnerschaft zu machen, des eigenen Werts, des eigenen Worts, der ihm allein aufgetragenen Sendung königlich bewußt. Er ist ein Deutscher. In seiner fränkischen Natur liegt es, daß sein Gedicht, das an die tiefsten Probleme menschlichen Schicksals hart herantritt und sie zu lösen vermag, von einer unnahbaren, unerschütterlichen Heiterkeit durchzogen ist, wie später die Werke seines Landsmanns Johann Wolfgang Goethe. Wir können nur Don Quichote und den [189] Faust neben dem Parzival nennen, die ähnliche Überwindung zeigen, und doch klingen sowohl im Werke des großen Spaniers wie im "Hauptgeschäft" des Dichters von Weimar weit bitterere, weit verzweifeltere Klagen und Anklagen auf als im Parzival, Bitternisse, wie sie in den beiden andern grämeln, kennt er nicht. Es verlohnt sich ihm nicht. Er ist viel zu sehr Menschenverächter, jedoch Menschenverächter aus einer heißen Liebe heraus, wie etwa Friedrich der Große, im Gegensatz zu Napoleon, der sich über Gemeinheit und Niedertracht noch aufzuregen vermochte. So muß er allein stehen. Man hat gesagt, die triuwe, die Treue, sei das Grundelement des Parzival. Das ist ein verhängnisvoller Irrtum. Just die triuwe ist es, die Wolfram bekämpft. Er ehrt das Nibelungenlied, allein er sieht auf das klarste die ungeheure Gefahr, die aus diesem dunklen Sang auftönt, aufstöhnt. Die Treue, erkennt er, ist hier Verhängnis. Wer dürfte Hagen schelten? Aus Treue erschlägt er den herrlichsten Helden. Die Treue vernichtet Rüdiger, die Treue führt die Burgunder, führt Etzel selbst, den Fremden, ins Verderben. Dies erkennt der Ritter von Eschenbach. Ihm dämmert es, daß ein Volk, das solch ein Gedicht in die Welt braust, daran ist, sich selbst aufzugeben. Denn, sehen wir uns um, wo ist je so trostloser Sang angestimmt worden wie in der Nibelunge Not? Und da wirft Ritter Wolfram von Eschenbach sein Panier auf und schreit es hinaus in die Welt: Nein, nein, nicht die triuwe, die euch ja längst zum hohlen Schlagwort geworden ist, diu staete ist es, die euch retten. Dir selber sollst du treu sein, das ist diu staete, das eben ist der Durchbruch des deutschen Menschen, das aber ist die beinahe unverständliche Tat Wolframs. Und, dies sei festgestellt, wir sind bis heute noch nicht über diesen gewaltigen Vorstoß hinausgekommen. Wenn die Engelchöre des andern großen Franken künden:
Den können wir erlösen -, so ist das nichts anderes als die Umschreibung, die Variation des Parzival-Themas. Über sechs Jahrhunderte reichen unsere beiden Größten sich die feinen Hände. Bist du dir selber stät, sagt Wolfram, so kannst du den Gral gewinnen und darfst ihn hüten. Nicht Muttersorgen, nicht Rat erfahrenen Freundes, nicht Rittertum, nicht höfische Sitte, nicht Schuld und nicht Verzweiflung selbst vermögen dir zu helfen. Das alles ist nur Tand und Hemmnis. Erst wenn du dich selbst gefunden hast, erst wenn du alles, was aus der Welt auf dich hineindringt, wegwirfst und du den eigenen Beruf erkennst, dann wird dir das Heil. Dies klingt sehr einfach, klingt sehr kindlich. Aber da springt das Wort auf von den Kindlein, derer das Himmelreich ist, und allmählich lernten wir ja wohl, daß alles Einfache schwer ist, weil von außen her an uns Aufgaben treten, die verwirren und vom Eigensten abzuziehen suchen. Wolfram hat als erster erkannt, daß die Deutschen das Volk der Persönlichkeiten sind und daß nur dieses höchste Glück die Erdenkinder fähig [190] macht, dem Großen und Ganzen zu nützen: Diener und Könige des Grals. Ein Mann, der so kühn dem größten Gedichte seiner Zeit die Stirn zu bieten wagte, mußte naturgemäß den andern dichterischen Erscheinungen seiner Zeit gegenüber seine Waffen gebrauchen. Am heftigsten wendet er sich gegen Gottfried. Das ist ihm der westlerische Mensch, der Mann der Konvention, der schon langsam erstarrenden Sitte einer höchstbewegten Zeit, einer Sitte, die dem Schlagwort huldigte und aus diesem Grunde tief verlogen sein mußte. Erkühnen wir uns der Frage nach dem Zündungsmoment, der Einschlagstelle der künstlerischen Konzeption, so dürfte sie dort liegen, wo Parzival versäumt, die entscheidende Frage zu stellen, weil höfisches Gebot den Drang des Herzens hemmt. Das ist bei Wolfram nicht mehr das Schelmenmärchen, darin einer wortwörtlich befolgt, was man ihm sagte – später ist dieses Motiv im Eulenspiegel wunderschön vielfach abgewandelt. Was bei den Vorgängern leblos als eine Schnurre dargestellt wird, ist dem Ritter von Eschenbach bitter ernst, seine ganze Seele empört sich, daß dem Ablauf freier Menschlichkeit und natürlichen Menschentums ein gesellschaftliches Hemmnis entgegengeworfen wird. Solche Einstellung ist bei dem Spötter Gottfried, der sogar dem Herrgott ein Schnippchen zu schlagen sich untersteht, völlig undenkbar. Nun wird sich niemand dem süßen Zauber des frechen Straßburgers und seinem tollen Märlein von Herrn Tristan und seiner Isolde entziehen können, doch werden wir einsehen müssen, daß hier mit den urewigen Gefühlen der Menschheit nun eben nichts anderes als ein Spiel getrieben wird, ein frivoles Spiel, das uns wohl entzücken kann, aber uns nichts angeht, so zauberhaft Liebe und Liebesnot geschildert sind. Es ist auch ganz selbstverständlich, daß Gottfried in eine sinnlose Wut gerät, als ihm der Geharnischte von Eschenbach entgegentritt. Denn was dieser Unbestechliche vermag, kann er ganz einfach nicht, weil er ein Höfischer ist, ein zeitgebundener, freilich der unnachahmlichste Künder seiner Tage. Und so wischt Wolfram sie alle weg, sie mögen heißen, wie sie wollen. Er hat nichts mit ihnen zu tun. Der Gralssucher will mit ihnen nichts gemein haben. Er höhnt sie nicht, er lacht sie mit gelassener Gebärde aus, ein Meister witziger Parodie, daß Jena und Weimar in ihren Xenien verblassen. Im Gegensatz zu Schiller und Goethe, die doch nur Versteck spielen, rennt Wolfram frontal an. Es ist ihm ganz gleichgültig, ob er aneckt. Er sprengt drauf los. Er kann gar nicht anders. Männlich haut er rechts und links: ihr oder ich. Daß sich das deutsche Volk noch nicht entschieden hat, auf welche Seite es sich zu werfen hat, ist eine sehr traurige Tatsache. Dieser Kampf gegen die Zeitgenossen, der ihm bitter ernst war, zeigt ihn bei allem Zorn von seiner liebenswürdigsten Seite. Er spottet, ja er ulkt, verulkt die Mitwelt und auch die Nachfahren. Da sind Leute, die damit prahlen, daß sie lesen und schreiben können. Welch herrlichen Grund, zu behaupten, er selbst sei dieser Künste nicht mächtig. Ob man ihm damals diese Unverschämtheit glaubte, dürfte zweifelhaft sein. Aber heute gibt es tatsächlich noch ernste Männer, die Stein und Bein schwören, es sei dem Eschenbacher mit diesem urgründigen Witz todernst [191] gewesen. Man mag das Genie Wolframs noch so hoch schätzen, die Tatsache, daß er, der durch Jahrzehnte an seinem Gedichte schuf, auch nicht einen einzigen Fehler macht bei all den verzwickten Verzweigungen und Verästelungen, beweist das stracke Gegenteil. Es gibt kein Gehirn auf der ganzen Erde, das solche Fülle der Gedichte meisterte, ohne Hilfe von Tinte und Papier. Erinnern wir uns nur, welche Widersprüche dem fast allzu klugen Schiller etwa im Don Carlos unterlaufen. Oder glaubt man, daß ständig ein Schreiberlein hinter Wolfram herritt und freundlich daran erinnerte, daß sich hier ein Widerspruch zu dem und dem Verse auftue, ein Schreiberlein, das zudem von dem so überaus reichen Herrn Wolfram hätte Gehalt beziehen müssen? Gewiß waren die Gehirne damals noch nicht so mit Druckerschwärze verseucht, die fahrenden Sänger waren imstande, große Strecken der beliebten Mären aufzusagen, aber es ist ein anderes, ob ich fremde Strophen wiederhole, also ein Rezitator bin, oder solche Strophen schaffe, demnach ein Dichter bin. Wäre es wahr, was Wolfram von sich behauptete, so stünden wir vor einem menschlichen Phänomen, wie wir ihm sonst nicht begegnen. Wie recht wir mit der Behauptung haben, daß hier eine Eulenspiegelei getrieben wird, beweist der Fall Kyot. Es galt zu jenen Zeiten als fein, sich auf einen fremden Autor als Quelle zu beziehen. In den meisten Fällen hatten die Herren auch alles Recht. Sie bildeten wirklich nur um. Die Vorlage des Parzival nun ist Chrestien von Troyes, aber wollte man den Franzosen mit Wolfram vergleichen, so könnte man ebenso gut sagen, daß Goethe kein Verdienst am Götz von Berlichingen habe, da ja die Selbstbiographie dieses wunderlichen Ritters vorliege. Chrestien erzählt eine Märe wie eben die anderen auch, ohne von ferne zu ahnen, welch ein Stoff hier zu formen wäre, wie hinter Schelmenmär und Abenteurerei letztes Geheimnis des Menschenlebens wetterleuchtet. Wolfram übernimmt denn auch lediglich das Geschehnis und schiebt den Franzosen mit wundervoller Überlegenheit beiseite. Nun aber, es ist einmal Sitte, einen Vorgänger zu haben, und so erfindet Wolfram den Herrn Kyot. Den holt er heran, wenn er seine Abweichung von Chrestien dick unterstreichen will.
Disem maere hât unreht getân Daz mac wol zürnen Kyôt. Welch ein Behagen, sich vorzustellen, wie die Herren Kameraden von der Dichtung sich den Kopf zerbrachen, um herauszubekommen, wer denn dieser Guiot sein möchte. Gustav Roethe hat mit Recht gesagt, wenn dieser Dichter wirklich gelebt hat, dann trifft Frankreich die Schuld, seine gewaltige Dichtung verschlampt zu haben. Das ist kaum anzunehmen, wenn wir auch auf den Untergang des Ur-Hamlet von Kyd hinweisen können. Aber von Mister Kyd wissen wir; maistre Kyot tritt uns sonst nirgends entgegen als in Wolframs köstlichem Lügenmärchen. Er schafft sich kraft seines Genies seine Quelle selber, er muß es vielleicht, [192] sonst käme sein Buch gar nicht unter die Leute, die das Fremde höher ehren wie das Heimische, wie das deutscher Brauch. Tiefernsten Gesichts spricht er von diesem lustigen Gespenst, und keine Muskel seines Gesichts verrät, wie er innerlich vor Lachen birst. Und welch ein Recht er hatte, die Leute zu nasführen, beweist das eifrige Bemühen, das heute noch nach diesem Fabelwesen herrscht. Man schäme sich doch, so humorlos zu sein und so wolframfeindlich. Denn hat dieser Kyot je gelebt, so ist unser Dichter nur eben auch ein Abschreiber wie die andern. Dies zuzugeben wäre schmerzlich, allein der ganze Mann, die ganze durch und durch deutsche Dichtung spricht dagegen. Nehmen wir nur Wolframs Sprache. Er, der die wundervollsten und innigsten Formeln findet, kann wie ein Toller mit Fremdwörtern um sich werfen. Auch hier blinzelt er zu dem Straßburger hinüber: das kann ich auch. Er spielt sich bewußt als Kraftstoffel auf, er ist Groteskkomiker, um zu zeigen, wie wenig an solchem Getu und Gehabe sei. Ihm ist's nur ein Spiel, vielleicht wirklich eine Freude, sich formal zu bewegen, aber doch nur Arabeske, Nebensache, die ihm nichts beweist, als daß auch er ein Virtuose sein kann, nicht bloß ein Künstler, wie wohl große Geiger sich den Spaß machen, ihr Instrument hinter dem Rücken zu spielen, wenn sie lustiger Laune sind. Künstler aber ist Wolfram durch und durch. Es gibt kunstvolle Hersteller feinster Waagen, die imstande sind, jegliches Gewicht, sei es Metall oder Papier, auf das Milligramm genau zu schätzen. An diese gemahnt der Dichter des Parzival. Kein Wort, das nicht am rechten Platze säße, kein Geschehen, das nicht unmittelbar zum Großen und Ganzen in rechter Weise abgeschattet stünde. Und bis zu welcher Riesenweite spannt sich diese Seele. Zartes und Rohes, Heiligstes und Gemeinstes, Starkes und Schwaches, Narrheit und letzte Weisheit, das alles umrauscht und überbraust das herrliche Herz dieses Einzigen. Mit einer, man möchte sagen, schmerzlichen Zartheit sind Schicksal, Wandel, Wesen und Weben angefaßt. Ein Beispiel nur, vielleicht das köstlichste, obwohl es schwer ist, bei Wolfram solche Unterscheidungen zu treffen: als nach langer Trennung Parzival Frau Kondwiramur – si hete niht wanz hemde an – endlich wieder umarmen darf – da heißt es nichts weiter als: man sagte mir, si kusten sich. Keine noch so schmetternde Fanfare könnte, nachdem sich das Epos zu rauschendem letztem Kreszendo gerafft hat – derartige Erschütterung erwecken, könnte uns so mit allem Entzücken rühren wie diese einzige Zeile. Nun ist gewiß eine ganz duftige Heiterkeit über diesen Worten, aber Wolframs Humore sind noch ganz anderer Art. So wenn er pantagruelisch in Kraftmeierei wühlt – da ballt etwa einer so wütig die Faust, daß ihm das Blut aus der Hand über den Ärmel spritzt. Nicht ganz zu Unrecht hat man ihn mit Jean Paul und Wilhelm Raabe verglichen, die man aus unerfindlichen Gründen zu den Humoristen zählt; es ist da auch Verwandtes: die Schnörkeleien, die Lust, vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen. Aber wenn wir bei den jüngeren Dichtern [193] oft ungeduldig werden und wenn ihre Skurrilitäten uns bisweilen überflüssig scheinen, somit einen gewissen Abstand zwischen Erzähler und Leser schaffen, so laufen wir bei Wolfram nie solche Gefahr. Selbst dort, wo wir zweifeln, ob es nicht genug sei an weit und breiter Schilderung, müssen wir immer wieder erfahren, daß auch dies Glied in der endlosen Kette nicht fehlen darf, ganz abgesehen davon, daß uns bei den minder wichtigen Episoden der Prunk und Rausch der Sprache hinreißt. Wolfram entschuldigt sich auch wohl, wie er es denn liebt, den Leser teilnehmen zu lassen an seinen Schöpfernöten und Freuden. Er klopft sich befriedigt voll des Lobes auf die Schulter, er staunt sich selbst an, wenn ihm ein besonders guter Wurf gelang. Oder wir sehen ihn geradezu in Fleisch und Blut vor uns sitzen: die Stirne gekraust, schneidet er drollige Grimassen und fragt uns um Rat, wie er denn nun um Himmels willen diese tolle Sache da erzählen soll. Dabei tut er so, als meinte er es höllisch ernst, und als sollten wir gar nicht lachen. Es gibt wohl überhaupt kaum einen Dichter, dessen Atem wir so nah zu spüren vermeinen, mit Ausnahme vielleicht des Prosaikers Schiller, aber Wolfram übertrifft ihn doch noch bei weitem. Es ist, als schöbe er blutsnah den brüderlichen Arm unter den unsern. So zieht er unser armes Du an sein mächtiges Ich. Aber der große Wir-Dichter bekennt sich doch zu seinem Es. Er will uns seine Idee nicht aufzwingen, er ist nirgends lehrhaft, und dennoch schreibt er den ersten Erziehungsroman, und überblicken wir die Nachfolger, so können wir nur feststellen, daß wir es eben nicht sehr viel weiter gebracht haben. Erst im Faust werden der Menschheit große Gegenstände in gleich gewaltiger Weise abgehandelt. Wolfram wie Goethe wissen um das dumpfe Irren des Menschen. Wir haben schon von der staete gesprochen als dem tiefen Prinzip beider. Und man erstaunt über die Ähnlichkeit der zwei Großen. Es muß gesagt werden, daß Richard Wagner seinen Meister mißverstanden hat. Wolfram ist so wenig Christ wie der Goethe der letzten Szene des zweiten Faust. Es dürfte anzunehmen sein, daß unser Meister fromm wie die andern sein Knie vor den großen hölzernen Schmerzensmännern seiner Tage gebeugt hat. Der Gral aber, das Gefäß, darein einst das Blut des Gottessohnes gesprudelt sein soll, ist ihm nur Symbol, Sinnbild der Selbsterlösung, der Sublimierung, wie der heutige wenig schöne Fachausdruck heißt, der Reinigung des eigenen Ich von allem Dunst und Rauch, die der Tag in uns hineinqualmt, einer Reinigung, die wir weit höher einschätzen müssen als die Katharsis des Aristoteles, weil sie nicht von außen her an uns herangetragen wird, sondern wir selbst an ihr unablässig zu wirken und zu werken aufgerufen werden. Und hier wird uns klar, warum Wolfram scheinbar schrullig seine Leser und Hörer hineinzwingt in sein Epos: er sagt, ihr und ich, wir alle zusamt sind Parzivals. Kommt mit mir, durchzuleiden und durchzufreuen den bitterheitren Leidensweg unseres vorbildlichen Kameraden. Weh allen, die zur rechten Zeit die rechte Frage versäumen. Überall hinter jeder Hecke, an jeder Ecke lauert Klingsor, [194] der arge Zauberer, Satanas' liebstes Kind. Hier sei der überwindenden Enthaltsamkeit des meisterlichen Künsters gedacht. Wie mußte es ihn reizen, den Teufelssohn darzustellen. Er versagt es sich. Er wandelt ihn in tausend Gestalten. Er, der die grauenvolle und doch eher anziehende als abstoßende Zwittergestalt Kundrie schuf, läßt den Bösen im Hintergrund. Das ist nicht Kunstgriff, nicht Ausspartechnik, das gräßliche Gelächter des Widerparts echot durch das ganze Gedicht, das wie kein anderes in berauschendem und beängstigendem Zwielicht schillert. "Hie Gott, hie Teufel, entscheide dich, du Menschenkind. Wohl ist der Ewige um dich. Du spürst ihn nicht, das weiß ich gut, doch schlimmer ist's, den Teufel nicht zu ahnen, der holde Masken vornimmt." Das ist die königliche Lehre, die dunkel-geheimnisvolle Weisheit des Herrn Wolfram von Eschenbach. Der Mann, der sich dankbar als Schüler Veldekes bekennt, steht dem Heute näher als seiner eigenen Zeit. Das ist die ungeheure Tat seines Gedichts, daß es sich weit über das rein abenteuerliche und äußerliche Geschehen der Ritterromane in die reine Sphäre menschlicher Problematik hebt. Rückwärts müssen wir tief ins Altertum steigen, um einer ähnlichen dichterischen Kraft zu begegnen. In Deutschland wird er sobald nicht wieder erreicht. Das Echo kommt über die Alpen. Sein echtester Sohn ist der Höllen- und Himmelswanderer. Aber so kunstreich und gedankengewaltig Dante Alighieri ist, wir müssen ihn mehr den Ich-Dichtern zuweisen, wenngleich dieses Ich auch die vorbildliche Persönlichkeit verkörpert. Auch ist er weit eher zeitgebunden in all seinen vielfältigen politischen, geschichtlichen Anspielungen, er ist von der Katholizität und von der Zeitphilosophie mehr abhängig als die Natur Wolfram. Ob Dante den Deutschen gekannt hat, wissen wir nicht; wenn kein Zeugnis dafür vorhanden ist, so wäre das kein Beweis gegen diese Möglichkeit. Bei der ungeheuren Bildungsweite des jüngeren Italieners, der zudem glühend kaisertreu war, kann man vermuten, daß nicht nur dunkle Kunde von einem strahlenden Gedicht zu ihm gedrungen ist. Wohl wird niemand die Zeitebene verleugnen, aber verwunderlich bleibt es immer, daß zwei unabhängig voneinander den Weg zur Erlösung beschreiten sollten. Dabei verschlägt es nichts, daß einer mit dem andern kaum etwas anzufangen gewußt hätte, die Nationalcharaktere sind bei beiden viel zu scharf ausgeprägt. So ragt der ritterliche Seher Wolfram von Eschenbach lebendig mitten uns, ewiger Mahner, ewiger Streiter Gottes, ewiger Feind von verknechteter Humanitas, ewiger Bejaher des heutigen Lebens. An keinem Fleckchen hat sein makelloser Schild Rosttüpflein angesetzt. Es wäre gut, wir nutzten ihn häufiger als Spiegel. Sitzt auch die Gorgo heimlich als Zier auf seinem Gewaffen, es blitzt ein Segen aus ihm auf uns hernieder, fast wie vom goldenen Standbild des Pallas Athene, das schon am Sunischen Kap die heimkehrenden Schiffer tröstlich grüßte. Heimkehr, mitten in den Kern der deutschen Seele, bedeutet der Weg zu Wolfram; weh dem, der zu träge ist, sie aufzusuchen, weh dem, vor dessen blindem Auge sie sich verschließt.
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