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[Bd. 6 S. 7]
Vorwort zu Bd. 6

"Der Sinn der Geschichte liegt nicht an ihrem Ende, sondern in ihren größten Persönlichkeiten!" Mit diesen Worten wandte sich Nietzsche gegen den naiven Fortschrittsglauben seiner Zeit, der eine ständige Verbesserung der Welt verhieß und alle vergangenen Zustände verächtlich machte. Mit der Beschränkung auf das Persönliche wandelte er damit die Erkenntnis Rankes ab, daß jede Epoche gleich nahe zu Gott sei.


Die Geschichte der Völkergemeinschaft des Abendlandes, vor allem aber die unseres eigenen Volkes, ist ein kostbares Besitztum, uns allen ans Herz gewachsen und unverlierbar. Wir erleben sie am unmittelbarsten in der Begegnung mit den Großen unseres Volkes. Auf zwei Wegen nähern wir uns den führenden Gestalten der Geschichte: wir halten in Wort und Schrift den Inhalt ihres Lebens fest – ihre Biographie. Der andere Weg: wir vergegenwärtigen uns die plastische Form des Kopfes, den Bau des Gesichts, den Ausdruck der Augen, das Mienenspiel – wir begegnen ihnen von Angesicht zu Angesicht und bewahren ihr Bildnis.

So früh im Lauf der Geschichte die Anteilnahme am literarischen Porträt, dem Lebensbild, hervortritt, so vergleichsweise spät stoßen wir auf ein Interesse an den Gesichtszügen, finden wir das gemalte oder plastische Porträt. Bis in die Zeiten der Blüte und Reife war im ägyptischen und im griechischen Altertum das Bildnis unbekannt, die versinkende spätantike Kultur nahm es wieder mit in ihr Grab. Uns ist die Vertrautheit mit den Gesichtszügen der Großen der Zeit so selbstverständlich geworden, daß wir kaum wahrhaben wollen, daß dies Wissen der abendländischen Welt in ihrer Jugend und weit hinein bis in ihr Mannesalter gefehlt hat. Die bildlichen Menschendarstellungen der ersten fünf Jahrhunderte unserer Geschichte, von Karl dem Großen bis Rudolf von Habs- [8] burg, sind keine Porträts in unserem Sinne. Erst an der Schwelle der Neuzeit lebt die Empfindung für das Besondere und Einmalige der Menschengestalt wieder auf; jetzt erst wird das Gesicht als Spiegel ererbten und erworbenen Charakters, als Träger des geistigen und willensmäßigen Ausdrucks, als Signatur der Person überhaupt angesehen. Die Stirn des Denkers, der Kopf des Gelehrten, das Auge des Dichters, der bestimmte Zug um Mund und Kinn des Feldherrn – all dies wird beobachtet und festgehalten.

Es ist nicht undenkbar, daß dieser geistig-seelischen Ausdeutung der leiblichen Erscheinung, soweit sie dem Auge wahrnehmbar ist und im Bilde festgehalten werden kann, einmal wieder weniger Gewicht beigelegt werden wird. Müßte nicht zum mindesten die Betrachtung des ruhenden Körpers, der entspannten Gesichtszüge, ergänzt werden durch Beobachtung der bewegten Zustände, des Gehens, Laufens und der geistig-seelischen Bewegung in jeder Form? Wird unsere Vorstellung eines Menschen nicht entscheidend durch den Klang seiner Stimme und die Art seines Sprechens bestimmt? Während alle diese Faktoren vereint uns Geistesart und Charakter von Lebenden näherbringen, lernen wir von Verstorbenen nur den Schnitt der Gesichtszüge kennen und gewinnen so sicherlich oft ein einseitiges, vielleicht sogar ein schiefes Bild. Aus diesem Grunde enttäuschen uns manche realistische Bildnisse der Neuzeit und machen uns geneigt, der Auffassung des Mittelalters mehr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Nicht darin sah der mittelalterliche Künstler seine Aufgabe, die sichtbaren Besonderheiten des Einzelnen wiederzugeben, sondern er versuchte mit den eigentümlichen Mitteln der Großplastik eine Gesamtwirkung zu erreichen, die wie ein Abglanz des Wesens der dargestellten Persönlichkeit den Betrachter umfing. Kaiser Heinrich II., rund hundert Jahre nach seinem Tode als herrscherliche Gestalt an ein Portal des Bamberger Doms gebannt, war sicherlich nicht "ähnlich"; aber für die Bürger der Stadt und des Landes war der steinerne Wächter am Dom ihr Kaiser, der Begründer von Bistum und Bischofskirche, und für uns Spätgeborene noch wurde er zum Inbegriff des altdeutschen Volksführers und Helden.


[9] Deutschland besitzt keine Sammlung, die sich an Umfang und Bedeutung neben die Porträtgalerie in London stellen könnte. Die bescheidene, wenn auch vorbildlich aufgestellte Bildnissammlung der Nationalgalerie, von Ludwig Justi 1913 begründet, konnte sich durch Mangel an Mitteln und an Raum nicht recht weiterentwickeln und ist nun schon seit drei Jahren gänzlich heimatlos geworden. Ihre Bestände bildeten einen wichtigen Grundstock, als der Gedanke verwirklicht wurde, mangels eines ständigen Museums die Bildnisse der großen Deutschen in einer vorübergehenden Schau zu vereinigen.

Die Ausstellung "Große Deutsche in Bildnissen ihrer Zeit", von den Staatlichen Museen und der Nationalgalerie in Berlin gemeinsam zur Zeit der Olympischen Spiele 1936 veranstaltet, hat beim deutschen Volk und seinen Gästen einen über alles Erwarten starken Widerhall gefunden. Nicht nur während der vierzehn Tage des Festes, als Hunderttausende von Fremden in der Reichshauptstadt weilten, sondern erst recht in den folgenden Wochen, als die unumschränkte Vorherrschaft des Sportes ihr Ende gefunden hatte, hat sich eine stetig wachsende Zahl von Besuchern aller Volksschichten vor den Bildnissen gedrängt. Der überraschende Erfolg enthüllte das allgemeine Bedürfnis nach anschaulicher Geschichtsdarstellung und damit die Berechtigung des Unternehmens erst ganz und ließ nun geboten erscheinen, was früher schon geplant war: in einem Buch dauernd festzuhalten, was nur für kurze Monate beisammenbleiben konnte.

So soll dieser Band ein Denkmal der Ausstellung sein und bringt, was ihr Katalog in bescheidener Form gezeigt hatte, nur in anderer, jetzt zeitlicher Anordnung. Von Erweiterungen durch Kunstwerke, die im Sommer 1936 nicht erreichbar waren, ist mit Ausnahme von wenigen besonders wichtigen Fällen abgesehen worden, schon um zu ermöglichen, daß das Buch erscheint, solange noch der Eindruck der Ausstellung in aller Kunstfreunde Bewußtsein lebendig ist.

Von idealen Darstellungen großer Persönlichkeiten des frühen und hohen Mittelalters wird hier nur eine Auswahl gezeigt. Mit der Steinbüste Karls IV. im Prager Dom beginnt die Neuzeit, die Bildnisabsicht im modernen Sinne wird erkennbar. Den fünf Jahrhunderten vom späten Mittelalter bis zum Ausgang des Weltkrieges entstammen [10] mehr als neun Zehntel der wiedergegebenen Kunstwerke. Für die allerletzte Zeit stand die Wahl zwischen Fotografie und künstlerischem Bildnis frei. Der Einheitlichkeit der Sammlung zuliebe wurde jedoch von der Aufnahme von Lichtbildern grundsätzlich abgesehen.


In jedem Bildnis treffen zwei Individualitäten zusammen: der Dargestellte und der Darsteller, Modell und Künstler. Für uns stellt sich zunächst die Frage, wie der Dargestellte sich behauptet, wieviel von seinem Wesen das vollendete Werk ausstrahlt. Oft genug hat der Dargestellte, gewollt oder ungewollt, uns den Kern seines Wesens verborgen. Rückblickend erscheint uns der Bürger einer fernen Zeit durch die Besonderheiten seiner Haltung und seiner Tracht persönlich charakterisiert; hier müssen wir uns hüten, die Eigentümlichkeiten des Zeitstils, des Zeitgesichts, für individuelle Züge zu halten. Auch der stimmungsmäßige Ausdruck vieler Bildnisse, etwa aus der Zeit der Romantik, wirkt auf uns zunächst als persönliche Note. Mancher Vertreter des öffentlichen Lebens ist gewohnt, dauernd eine angenommene Rolle zu spielen – er tut es auch und gerade vor dem darstellenden Künstler. Der gleiche Beruf formt ähnliche Gesichter: die Gelehrten und Wirtschaftsführer des späten 19. Jahrhunderts beweisen es uns.

Außer dem Dargestellten spricht auch der Darsteller zu uns; des großen wie des bescheidenen Meisters Kunst hinterläßt im Bildnis ein persönliches Element, das wir als solches werten müssen. Manchmal könnte es scheinen, als ob der handwerkliche Stecher, der ängstliche Gelegenheitsmaler sich in die notwendigerweise dienende Rolle des Porträtisten am leichtesten gefunden habe. Doch ist in dieser gleichsam noch vorkünstlerischen Sphäre des Bildnisschaffens oft auch kleinliche Gesinnung zu Hause. Die geschulten Spezialisten des Faches dagegen, ein Lenbach etwa, verfallen bei aller Begabung für das Besondere ihrer Aufgabe nur zu oft der Selbstwiederholung; wohl wissend, wie es um ein wirkungsvolles Bildnis bestellt sein muß, unterdrücken sie das Einmalige der Persönlichkeit, soweit es sich dem erfolgreichen Schema nicht einfügen läßt. In einer ganz anderen menschlichen und künstlerischen Höhen- [11] schicht unterliegen auch die Größten dieser Gefahr. Das dämonische Temperament des Tirpitzkopfes von Corinth ist Wesensausdruck des Malers der Walchenseelandschaften, wie wir in diesem zeitlich nahen Fall deutlich erkennen. Aber sollte nicht auch die monumentale Haltung und steinerne Ruhe der Modelle Holbeins eher Rückschlüsse auf die Sinnesart des Malers als auf den Charakter der englischen Höflinge zulassen? Daß der große Mann den ebenbürtigen Gestalter findet und daß aus dem Zusammentreffen eine menschliche Begegnung im tiefsten Sinne wird, die Geburtsstunde eines vollkommenen Kunstwerkes und einer vollendeten Menschendarstellung, das bleibt ein seltener Glücksfall. Künstlerbildnisse, in denen menschliche und künstlerische Größe sich geschwisterlich berühren, sind das Höchste, was uns die Bildniskunst schenkt.

Eines müssen wir noch berücksichtigen, wenn wir Antwort auf die Frage suchen, inwieweit ein Bildnis die Wesenszüge eines Menschen treu wiederzugeben vermag. Es gibt genau durchgeformte, gleichsam gemeißelte Köpfe bei Feldherren, großen Kaufleuten, Männern der Tat, daneben den lebhaften Blick, das immer bewegliche Mienenspiel des Künstlers, Forschers und Gelehrten. Dies Gesicht zu verewigen, ist der Maler berufen, jenen Kopf zu formen, der Bildhauer. Aber wie oft besitzen wir leider kein Bildnis aus der für den Einzelfall glücklichsten Kunstgattung.

Zu den grundsätzlichen Schwierigkeiten, die einer Darstellung der deutschen Vergangenheit durch Bildnisse führender Männer entgegenstehen, treten noch besondere Umstände, die die Durchführung der Aufgabe erschweren. Von vielen großen Deutschen sind keine bildlichen Darstellungen nachweisbar. Dazu gehören aus dem Mittelalter Einhard, der Biograph Karls des Großen, Meister Eckhart, der Philosoph und Mystiker, Hroswitha von Gandersheim, die erste deutsche Dichterin, und Ordenshochmeister Heinrich von Plauen, der Retter des deutschen Ostens nach der Niederlage von Tannenberg. Aus dem Ende des Mittelalters vermissen wir Bildnisse Stefan Lochners, des Kölner Malers, und Pachers, des Tiroler Bildschnitzers, um nur zwei Namen zu nennen. In anderen Fällen können wir noch hoffen, daß der Zufall Porträts ans Licht bringen wird. Das gilt etwa für Grimmelshausen, den Verfasser des Simplizissimus, und für Schlüter, den großen norddeutschen Baumeister [12] und Bildhauer. Sogar von bekannten Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts kennen wir manchmal keine Porträts, z. B. von Büchner, dem dramatischen Dichter, und von Victor Hehn, dem Schilderer Italiens.

Auch aus diesem Grunde treten in dieser Bildnissammlung nicht alle Schichten unseres geistigen Erbes in gleicher Weise ans Licht. Was deutsche Musik uns bedeutet, das rufen wohl Schütz und Bach, Mozart und Beethoven, Brahms, Wagner und Reger in uns wach. Aber ist deutsches Christentum nicht mehr, als was die Namen Albertus Magnus und Luther, August Hermann Francke und Döllinger umschreiben? Und wie steht es im Mittelalter? Wir bewundern die monumentale Kunst der romanischen und gotischen Dome, aber wir kennen ihre Meister nicht; und wo wir gelegentlich Individualitäten zu spüren meinen, können wir sie doch nicht "namhaft" machen. So ist die stolze Versammlung von Großen, die hier im Bilde vereint sind, kein treuer Spiegel der geschichtlichen Wirklichkeit. Taten und Werke, die uns viel bedeuten, bleiben namenlos.

Wir vergessen die Frage nach dem Künstler zunächst selbst vor einem Bilde von Tizian und suchen den klugen, etwas lauernden Blick Karls V., und hinter der repräsentativen Maske einer Darstellung des achtzehnten Jahrhunderts sehen wir die echte Menschlichkeit der Liselotte von der Pfalz. Vielleicht noch unmittelbarer erleben wir die Wirkung des dargestellten Menschen vor Bildnissen, die mit geringerem künstlerischen Anspruch die Züge der Großen festhalten. Wer fragte vor dem Bildnis des großen Gauß nach dem dänischen Maler Jensen, der es geschaffen hat; wie großartig überragend, weise und ein wenig weltverachtend erscheint uns der alte Bach; mit wie viel liebevoller Verehrung malte ein Unbekannter die Züge des Matthias Claudius, wieviel schwärmerische Liebe spricht aus dem Hölderlin-Bildnis, das ein Maler-Dilettant schuf, von dem wir sonst nur wenig Werke kennen. Und der Zauber des Wunderkindes Mozart hätte uns durch keine der Größen der Wiener Akademie so bezwingend bewahrt werden können wie durch den wenig bekannten Taddäus Helbling.

Bei einigen der Größten kann man in dieser Sammlung zwei oder mehrere Bildnisse vergleichen. Wenn sie aus verschiedenen Lebensaltern [13] sind, verfolgen wir die Durchformung des Gesichts, wie bei Holbein und Dürer, bei Friedrich, Cornelius und Menzel, bei Luther und Fichte, bei Bach, Mozart und Wagner, bei Lessing, Goethe und Schiller, am erschütterndsten vielleicht bei Schopenhauer, bei Beethoven und bei Friedrich dem Großen. Hier wird uns die Lebensgeschichte anschaulich: Wille und Versagen, Erfolg und Niederlage, Wunsch und Verzicht.

Einige andere Bildnisse, die mehr oder weniger aus der gleichen Zeit stammen, geben die Möglichkeit, abzuziehen, was von der Persönlichkeit des Künstlers in das Werk hineingeflossen ist. Wir vergleichen gespannt Zug um Zug, um vor dem geistigen Auge den Dargestellten deutlicher zu erfassen. Stielers Goethebildnis ist im gleichen Jahre entstanden wie die Statuette von Rauch. Der Süddeutsche gibt, idealisierend, die Züge glatter, das Auge strahlender, als es in Wirklichkeit gewesen sein mag; der Norddeutsche ist bei aller klassischen Grundhaltung sachlicher, zeichnet die Züge des Alters schärfer und gibt der untersetzten Gestalt im langen Rock einen bürgerlichen Zug, der mit zu unserer Gesamtvorstellung Goethes gehört. Den Freiherrn vom Stein haben zwei Künstlerfreunde, Schnorr und Olivier, in Rom, zur gleichen Zeit gezeichnet und bei aller Stilgleichheit: welch fesselnder Unterschied der Wesensdeutung! Auch bei Leibniz, bei Händel, bei Herder werden zwischen den beiden Bildnissen nur wenige Jahre liegen. Wie spürt man etwa bei Kant, daß die Miniatur von Vernet und die Büste von Bardou sich gegenseitig ergänzen: dort der merkwürdige Kopf des Weltweisen mit dem schmalen Mund, dem kurzen Kinn und der übermäßig breiten und hohen Stirn, fast karikiert; hier, in antikischer Draperie, ohne Perücke, alles ausgeglichen und in eine klassische Formwelt erhoben.


Ist uns das Bildnis eines bedeutenden Menschen selbstverständlich zuerst Denkmal seines persönlichen Wesens, so sollen wir, gerade um das Persönliche noch in anderen Dimensionen zu erfassen, die Bilder nicht nur einzeln, sondern auch in Gruppen sehen. Was ist etwa den Schlachtenführern von Frundsberg und Wallenstein bis zu Blücher, Moltke und Hindenburg gemeinsam ? Gibt es gleichbleibende Züge in den Köpfen [14] der Baumeister von Peter Parler über Moritz Ensinger, Elias Holl, Balthasar Neumann bis zu Weinbrenner, Schinkel und Semper?

Wie bezeichnend ist Tracht und Bildniskunst des 18. Jahrhunderts für Geist und Leben seiner genußfreudigen, aufgeklärten Menschen, und wie fällt der seltsame Kopf des großen Friedrich aus der Reihe der Zeitgenossen heraus, deren Ruhe er durch seine Taten störte.

Wieviel Aufschluß erhalten wir über Wesen und Bedeutung der einzelnen deutschen Stämme, wenn wir einmal nicht – wie es meist geschieht – nur Bauernköpfe nebeneinander stellen, sondern an den Bildnissen der führenden Männer das Besondere zu fassen suchen, das die Bayern oder die Märker, die Hessen oder die Sachsen kennzeichnet. So wird uns bewußt, was an der persönlichen Leistung des einzelnen stammesmäßig bedingt ist. Welche Spannungen in Schwaben in einer Generation von Hölderlin bis zu Hegel! Welch überraschende innere Verwandtschaft zwischen zwei Malern wie Willmann und Corinth, die im Abstand von 250 Jahren demselben Ostpreußen entstammen! Wie überzeugend die Wesenseinheit der Österreicher Mozart und Schubert, Waldmüller und Schwind, Stifter und Grillparzer! So wird unsere innere Anschauung von Reichtum, Fülle und Vielartigkeit deutschen Wesens und deutscher Kultur lebendiger, deutlicher, greifbarer, gerade weil hier Dinge sichtbar werden, die in Worte und Begriffe zu fassen kaum möglich ist.


Erhält nicht unsere Vorstellung vom zeitlichen Ablauf der Geschichte erst Farbe durch die Bildnisdokumente, die wir aus den einzelnen Epochen besitzen, bleibt sie ohne diese nicht unlebendig und manchmal sogar falsch? Wir sahen das Element des Stiles in allen Bildnissen wirken. Auch für die Menschen des 19. Jahrhunderts ist es noch bezeichnend, wie sie sich darstellen ließen. Der innere Zwiespalt der Zeit nach 1848 ließ die besten Künstler abseits vom öffentlichen Leben stehen. Von Feuerbach, Marées, Böcklin, Leibl können wir hier nur Selbstbildnisse oder Bildnisse von befreundeten Künstlern zeigen, während die Großen des Staates, der Wirtschaft und der Wissenschaft sich von Malern und Bildhauern zweiten und geringeren Ranges porträtieren ließen, mit der [15] einzigen Ausnahme der Auftraggeber Adolf von Hildebrands. Die Aufspaltung des umfassenden Geistesbesitzes der vorangehenden Zeit in Fachgebiete, die nur noch von Einzelnen beherrscht werden, wird hier als Lebensausdruck spürbar. Welcher Künstler oder Dichter hat von den großen Erkenntnissen seiner Zeitgenossen Gauß, Robert Mayer, Helmholtz gewußt? Welcher Führer der Naturwissenschaften mag die Namen Thoma oder Marées gekannt haben? Denken wir dagegen an die Zeit um 1800, die Zeit des nationalen Erwachens auf allen Gebieten, die Zeit der Freiheitskriege: aus den klaren Augen der jungen Menschen, die wie von einer neuen schöneren Rasse hervorgebracht scheinen, spricht der gleiche Geist – vor allem in Norddeutschland –, ob sie nun Künstler sind, wie Gilly, Schinkel, Runge, Friedrich, Dichter wie Kleist, Brentano, Hölderlin, [...] oder Soldaten wie [Körner,] Scharnhorst und Gneisenau. Man würde, auch wenn die Geschichtsüberlieferung verschüttet wäre, die innere Gemeinsamkeit, die Ausrichtung der Nation auf neue Ideale aus diesen Köpfen ablesen können.

Daß die allgemeine Vorstellung von der Zeit und den Menschen der Reformation weit deutlicher ist als von vielen uns näherliegenden Epochen hat seinen Grund in der großen Bildniskunst Dürers, Cranachs, Holbeins und ihrer Zeitgenossen, die durch die Museen und die Kunstbücher in jedermanns Bewußtsein gedrungen ist. Wie Luther, Melanchthon, Erasmus, Dürer, Maximilian ausgesehen haben, ist dem Deutschen in ungleich stärkerem Maße gegenwärtig als etwa das Äußere von Händel, Winckelmann, Jean Paul oder Hölderlin.

Wer sich über das Antlitz der großen Deutschen unterrichten wollte, mußte bisher zu Spezialwerken greifen und fand auch dort oft genug nicht, was er suchte. Wie stark die Anteilnahme des deutschen Volkes an den Gestalten seiner Geschichte und seiner Kultur ist, hat der Erfolg der Ausstellung gezeigt. So wird dieser Band – solange eine Bildnissammlung nur Hoffnung und Forderung bleibt – dazu beitragen, das Bewußtsein von der Größe deutscher Vergangenheit und der daraus folgenden Verpflichtung für Gegenwart und Zukunft zu verbreiten und zu stärken.

Alfred Hentzen            Niels v. Holst

Paul Ernst Inhaltsübersicht der Abbildungen in Reihenfolge des Originals Karl der Große



Die großen Deutschen im Bild.
Hg. von Alfred Hentzen & Niels v. Holst