SucheScriptoriumBuchversandArchiv IndexSponsor

[Bd. 1 S. 298]
Michael Pacher, etwa 1435 - 1496, von Hans Karlinger

Michael Pacher: Krönung Mariä.
[296b]      Michael Pacher: Krönung Mariä.
Vom Mittelschrein des Altars zu St. Wolfgang
am Abersee, 1481.      [Vergrößern]

[Bildquelle: Dr. Franz Stoedtner, Berlin.]
Die Tiroler Kunst bildete von jeher einen erheblichen Teil des großen Geschichtsbildes von der Kultur der südostdeutschen Marken. Wien und Graz, Bozen und Salzburg waren ehedem die Lebenszentren, aus denen die bestimmte eigene Prägung dieser Kultur kam. Die Straße vom Norden zum Süden und die Ostgrenze sind die geographische, die bayrische Besiedelung die volkliche Voraussetzung. Austausch zwischen südlich lombardischen Formgütern und dem Geist deutschen Volkstums hat seit den Anfängen einer in Landschaftsräumen sich entwickelnden Kunst hier immer wieder eine Rolle gespielt; lückenlos läßt sich diese Geschichtslagerung noch bis in die Stauferzeit des zwölften Jahrhunderts zurückverfolgen. Vor allem ist die monumentale Haltung in der Kunst dieser Lande durch das Ineinanderfluten der Lebensbeziehungen zwischen Süd und Nord – denen völkerkundlich betrachtet von deutscher Seite her mehr zu Grunde liegt als nur die geographische Nachbarschaft – zeitweise stärker gefördert worden in deutschen Binnenlandschaften; die Reihe von Schöpfungen dieser Art seit romanischer Zeit (die machtvolle Erscheinung von Münsterbauten wie Gurk in der Steiermark oder Altenstadt am Lech in Oberbayern zum Beispiel) ist nicht gering und noch in der monumentalen Malerei eines Egger-Lienz bis in die Gegenwart lebendig. Von der Ostgrenze mag ein Mitklingen des dem ganzen deutschen Osten benachbarten Slawentums da und dort im Künstlerischen verspürt werden; das dem ganzen Osten gemeinsame Empfinden für unmittelbare Lebendigkeit der ungebrochenen Farbakkorde, das noch heute ein Wesenselement der Wiener Werkkunst bildet, ist eine Erscheinung dieser Art. Endlich: die Eigenart und die bildkräftige Phantasie des Volkstums hat sich im Bereich des großen bayrischen Stammesgebietes, das, geschichtlich betrachtet, die ganze Ländermasse vom Oberlauf der Donau durch die Ostalpen bis an die Friauler Grenze einmal umspannte, durch die Tatsache der Grenzmarkstellung zu ähnlich plastisch scharfumrissener Form herausgebildet, wie solches unter verwandten Voraussetzungen im alemannischen Westen in den Landschaften des Elsaß und der Nordschweiz geschehen ist. Die Namen Adalbert Stifter und Gottfried Keller stellen sich hier unwillkürlich als Erinnerungsbilder ein.

Trotzdem steht die Geschichte der südostdeutschen Kultur im reichsdeutschen Geschichtsbild verhältnismäßig vereinsamt da – Georg Dehio nennt den Künstler Michael Pacher "einen einsamen Gipfel in den wohl angebauten [299] Gebreiten der deutschen bürgerlichen Kunst", eine Bezeichnung, die in so schroffer Formulierung weder der künstlerischen Umgebung noch der Persönlichkeit Pachers selbst wirklich entspricht. Pachers Künstlertum lebt, auf seine Umgebung hin angesehen, so wenig ein Sonderdasein, wie das seines großen schwäbischen Zeitgenossen Martin Schongauer. Wohl aber sind die Voraussetzungen der Schongauerschen, im weiteren Sinne der oberdeutschen Kunst im Westen des Reiches früher dem allgemeinen Geschichtsbilde von deutscher Kunst nahegebracht worden – Pachers mächtigstes Werk, der Kirchenväteraltar, fristete noch ein bescheidenes Sonderdasein in Filialgalerien, als längst Schongauers Maria im Rosenhag in Kolmar internationalen Ruf besaß. Man kann diese Tatsache auf allen Teilgebieten der deutschen Kunstforschung feststellen. Ein Zug, der für die wesentliche Deutung der südostdeutschen Spätgotik besonders ins Gewicht fällt, sei hervorgehoben: die Vorstellung von der unbedingten Vorherrschaft der niederländischen Malerei des fünfzehnten Jahrhunderts auf allen Gebieten, auch dem der Landschaftsschilderung, innerhalb der gesamten deutschen Malerei. Erst innerhalb der Forschung der letzten Generation hat diese Vorstellung, welche auf die Geltung des niederländischen Kunstbereiches und ‑einflusses in anderer Beziehung, zum Beispiel hinsichtlich von Erfahrungen und Anordnungen der Komposition, keine Ausdehnung findet, erhebliche Berichtigung erfahren, obwohl etwa Berthold Riehl schon 1885 eingehend darzustellen versucht hatte, daß die ausdrückliche Begabung für persönliche Landschaftsschilderung im Sinne des Stimmungshaften zu den Grundtatsachen der Malerei im oberen Donauraum gehört. Und so sind wir erst heute in der Lage, die geistigen Zusammenhänge, die zwischen der Anschauung des größten altdeutschen Landschafters, Albrecht Altdorfer, und seines Geistesverwandten Michael Pacher bestehen, richtig zu deuten: nicht Einflüsse von der älteren Kunst Pachers auf den "Meister des Donaustils", vielmehr eine beiden gemeinsame ältere Grundlage ist die Voraussetzung; es ist das besondere Auffassungsvermögen gegenüber landschaftlichen Eindrücken als gemeinsame, stammesmäßige Anlage, welches erlaubt, das Verwandte in Pachers Berglandschaften und Altdorfers Donaubildern zu erkennen. Gerade die porträthafte Bestimmtheit und Deutlichkeit dieser Landschaftshintergründe, das Wirklichkeitserlebnis der Landschaft, ist von anderen deutschen Schulen des fünfzehnten Jahrhunderts, namentlich in Mittel- und Niederdeutschland, verschieden.

Die Kunst Pachers kann also – die Einmaligkeit des Genialen vorausgesetzt – nicht als Einzelfall in dem oben bezeichneten Sinn angesehen und gewertet werden. Sie stellt vielmehr die Frucht einer sehr lebendigen und nichts weniger als armen Kunstpflege dar, wenn man das erhaltene Gut bayrisch-österreichischer Kunstdenkmäler der Spätgotik in Betracht zieht.

Gewiß hat die Sonderstellung südostdeutscher Kultur ihre tieferen Gründe. Es sei ein Vergleich erlaubt aus dem Gebiete des Literarischen: das Verhältnis der allgemeinen Geltung des Schrifttums von Gottfried Keller, dem alemannischen [300] Schweizer, und Adalbert Stifter, dem bayrischen Österreicher. Wenn Kellers Gestalten in der deutschen Öffentlichkeit so ungleich größeren Widerhall fanden als Stifters Stimmungsbilder, obschon der künstlerische Wert auf gleich hoher Stufe steht, so hat daran die Verschiedenheit der gesellschaftlichen Lage, aus der beide Dichter ihr künstlerisches Schaffen erholen, erheblichsten Anteil. Die Stadtluft Kellers ist dem neuzeitlichen deutschen Leser, zum mindesten bis in die jüngste Vergangenheit, ebenso zugänglich wie die Landluft Stifters ungewohnt. Beides aber, der städtische Horizont Kellers und die Bauern- oder Landadelspoesie Stifters, entspricht geschichtlichen Grundlagen. Der deutsche Südosten war im Gegensatz zur Schweizer Heimat Kellers nie Städteland. Der südostdeutsche Künstler besitzt demgemäß als unmittelbarer Künder stammlichen Lebens nicht die eingängigen Züge urbanen Charakters, die zum Beispiel der Alt-Kölner Malerei ihre führende Bedeutung seit der Zeit der Spätromantiker begründeten. Er verfügte nicht über die großstädtischen Züge einer Nürnberger Spätgotik, einer niederrheinischen Meisterkultur in der Art Kalkars oder Xantens, ihm bleibt die Gefühlsempfindsamkeit im Sinne Tilman Riemenschneiders in Würzburg fremd. Es ist aber nicht nur die Spätgotik des fünfzehnten Jahrhunderts, innerhalb der die Charakterzüge deutscher Kunst allerdings in besonderstem Maße klar umrissen erscheinen; gegenüber der eleganten Form rheinischer Dome wie Mainz oder Worms kann die Bauernschwere der romanischen Münster in Regensburg nicht ohne weiteres überzeugen. Die rauhe, monumentale Wucht romanischer Alpenklöster, zum Beispiel Millstadt in Kärnten oder das schon genannte Gurk, wird dem an die reicheren Formen fränkischer oder sächsischer Werke der Stauferzeit (Bamberg oder Hildesheim) Gewohnten zunächst als ein Mangel an werkmäßiger Geformtheit und so als Folge einer geringeren kulturellen Erfahrung erscheinen. In der Tat ist der Dialekt der südostdeutschen Formensprache nicht nur bei Stifter für den ersten Eindruck, verglichen mit der Geschmeidigkeit des Alamannischen oder gar der weltstädtischen Abgewogenheit des Niederrheinischen, ungefüge und schwer zugänglich. Der erste Bauernroman deutscher Geschichte, der Meier Helmbrecht Wernhers des Gärtners, wird im Zeitalter Walthers von der Vogelweide im Herzen der deutschen Ostmark, im Innviertel, geschrieben; zur selben Zeit dichtet Meister Gottfried in Straßburg den Liebesroman von Tristan und Isolde; diese Situation hat sich im Laufe der Geschichte als ein grundsätzlich wiederkehrender Gegensatz im deutschen Stammesleben bis zu Keller und Stifter – oder bis zu Leibl und Thoma, um an die Bildkunst zu erinnern – erhalten.

Einen besten Gradmesser für die Erscheinung stammlich eigener Prägung auf dem Gebiet der bildenden Kunst ergeben bis in die Gegenwart die überlieferten Formen des Städte- und Hausbaues innerhalb der großen deutschen Landschaftsgaue. Der südostdeutsche Haustypus, dessen Kernformen in den Hintergründen und Kulissen der Pacherschen Gemälde oft und bestimmend für den Charakter seiner Bilder begegnen, unterscheidet sich vom fränkischen oder schwäbischen in [301] wesentlichen Punkten so sehr, daß lange Zeit das Gepräge der sogenannten Innstädte, die den Pacherschen Schilderungen noch heute entsprechen, als südliche Form angesehen werden konnte. Während der fränkische und mitteldeutsche Städtebau das malerische Verfließen von Straße und Platz als Grundlage seiner Raumvorstellung betont, wird in den ostdeutschen Alpenländern in der weiten Spanne von Südtirol bis Niederösterreich und Lechschwaben von jeher der überraschende Gegensatz von schmalen, schluchtartigen – also die Raumtiefe bewußt auswertenden – Gassen und breiten Platzflächen als Grundlage der stadträumlichen Aufteilung angesehen. Während ferner der Fachwerkkörper des mitteldeutschen Hauses mit verhältnismäßig schmaler Stirnbreite hoch aufwächst, ist der Stein- oder in älterer Zeit gelegentlich Blockholzkörper der Inntaler Stadt völlig in das Breite und Waagrechte gelagert; die Fensterhöhlen werden tief eingeschnitten gegenüber der sorgsam gewahrten Flächigkeit der Befensterung etwa des Thüringer Hauses. Das Dach, das in Franken, am Rhein, in Niederdeutschland ohne Steilgiebel nicht denkbar ist, tritt bei der Innstadt verhältnismäßig wenig in Erscheinung – wenn schon der Steilgiebel im spätgotischen Stadtbild auch der Innstadt stärker mitsprach als in späterer Zeit, wie zum Beispiel Dürers Ansicht der Stadt Innsbruck, übrigens auch die Ausschnitte bei Pacher (vergleiche das Bild der Geburt Christi auf dem Wolfgangsaltar) bezeugen. Dazu kommt endlich als eindrücklichstes Merkmal die alte Anordnung der Laube, das heißt des in Arkaden geöffneten Erdgeschosses, in den Straßenbildern der Alpenstädte; ein Merkmal, das der Verschachtelung und Verklammerung der räumlichen Ausdehnungen etwas ganz besonders Kennzeichnendes verleiht. Zusammengefaßt: die Erscheinung der alten südostdeutschen Stadtbilder würde für sich allein schon genügen, um wesentliche Eigenheiten des künstlerischen Sehens dieser Länder zu erklären, so wie es in den Bildern der Pacherzeit begegnet; es bedarf nicht allein der Annahme italienischer Einflüsse, um die Begabung Pachers – oder richtiger: der gesamten bayrisch-österreichischen spätgotischen Malerei – für Tiefenwirkung, überraschende Perspektiven und monumentale Raumvorstellung zu begründen. Wie weit alle diese Einzelzüge mit bodenständiger Landschaftsstruktur und ihrem Erleben zusammenhängen – der in der Pacher-Literatur oft begegnende Hinweis auf den Tiefblick in den Alpentälern – ist hier nicht zu untersuchen; die alemannische Schweiz, die ja auch anderen Gesetzen des Hausbaues folgt, kennt trotz gleicher geologischer Voraussetzungen eine ähnliche Wertlegung auf räumliche Tiefenwirkungen von streng architektonischem Aufbau nicht. Dort liegt der Nachdruck viel stärker auf dem malerischen Gesamtanblick, zum Beispiel in dem Christophorusbild des Konrad Witz in Basel.

Stellt also das räumlich tiefenhafte Sehen in der Tiroler Malerei, durch Pacher in vorbildlichem Maße herausgestellt, einen kulturgeschichtlich erweisbaren Zug stammlicher Gesamtveranlagung dar, so steht es ähnlich mit der Klangfarbe des Wirklichkeitsgefühls, das in den Typen dieser Kunst, im Ausdruck [302] der Gesichter und in der rhythmischen Gebärde ihrer Haltungen erscheint. Auch hier geht das Auffällige eines Sonderverhaltens weiter als in anderen deutschen Landschaften. Wie auf dem Gebiete der Landschaftsschilderung wird das persönliche Erlebnis einer Stimmung besonders dann lebendig, wenn es sich um intime Beobachtungen des täglichen Lebens handelt. Die Tätigkeit der Maurer auf dem Baugerüst in dem Bild mit der Wunderheilung des heiligen Wolfgang oder der seinen Weg heimwandelnde Bettler mit dem Rucksack auf dem Bild der Almosenverteilung im Wolfgangsaltar sind Darstellungen einer reinen Sachschilderung, die vor dem Zeitalter Dürers außerhalb der Pacherschen Malerei in der deutschen Spätgotik kaum vorkommen. Es liegt nahe, solche Durchbrechungen der im fünfzehnten Jahrhundert im Norden im allgemeinen noch sehr streng gewahrten Bildüberlieferung im Grenzland Tirol mit der Realistik der italienischen Frührenaissance in Zusammenhang zu bringen; bedeutet es ja doch einen Wesenszug der Schilderei seit Giotto, daß dort "Dinge gesehen wurden, die man bis dahin nirgends beobachtet hatte", wie etwa Wölfflin einmal die italienische Lage bezeichnete.

Keine Kunst vermag aber Elemente in sich aufzunehmen und in sich auszubilden, für die nicht schon eine im Lebensgefühl vorbereitete Veranlagung vorhanden ist, ohne in ihrem Gesamtausdruck zwiespältig zu werden und damit die ihr eigene Geschlossenheit aufzugeben. Ein Vergleich Pacherscher Bilder mit Dürer-Werken, die unter dem mächtigen Eindruck der Venetianer Reise von 1505 und 1506 entstanden sind, wie zum Beispiel Dürers Madonna mit dem Zeisig im Kaiser-Friedrich-Museum (Berlin), deutet die Verschiedenheit nicht nur der Zeiten in bezug auf das Verhältnis zwischen eigener Auffassung und Übernahme an. Während für Dürer der Venezianer Eindruck auf einige Zeit das Eigene fremdartig überfärbt, bleiben im Bilde der Pacherschen Kunst die italienischen Eindrücke Begleitakkorde, die neben dem rein altdeutschen Gesamtanblick nicht aufkommen, vor allem an diesem Anblick nichts Grundsätzliches ändern. In einer Galerie von Frührenaissance-Malern würde man Gemälde Pachers stets als fremd empfinden, so viel Anklänge an Mantegna in der Farbe, in Einzelbeobachtungen der Perspektive sich auch finden mögen. Innerhalb der italienischen Malerei des fünfzehnten Jahrhunderts führt die Wirklichkeitsbeobachtung zur Isolierung der Einzelfigur im Sinne plastischer Monumentalität und Statuarik. Der epische Flächenstil der mittelalterlichen Chronik wird von ihr seit dem dreizehnten Jahrhundert mehr und mehr aufgegeben, der bestimmende Eindruck des einmaligen Vorganges in klar umrissener räumlicher Umgebung ist ihr wichtiger, als der symbolische Ausdruck des Geschehens (vergleiche Gentile Bellinis Bilder der Markus-Legende). Eine "richtige" Beziehung der Figur zum Gesamtraum des Bildausschnittes im Sinne der italienischen Malerei wird man bei Pacher vergeblich suchen; seine Figuren sind innerhalb ihrer Bildgründe fast stets zu groß, jedenfalls soweit es um Träger der jeweils geschilderten Handlung geht. Das heißt: sie sind noch ganz in nordisch-mittelalterlichem Sinn von dem Maße [303] ihrer inneren Bedeutsamkeit her gesehen, und zwar in einem Grade, dem der Süden überhaupt kaum folgte: man vergleiche den heiligen Wolfgang als Kirchenbauer auf dem Wolfgangsaltar, wo sicher nicht etwa ein Unvermögen schlechthin, die Figur im Landschaftsraum einzuordnen, sondern vielmehr der magische Ton der Legende – wie der Kirchenfürst inmitten der wilden Einsamkeit mit eigenen Händen gleichsam die Gewalt der Natur durch seinen Bau bezwingt – den Kern dessen bildet, was der Künstler veranschaulichen wollte; die Vorstellung bleibt stärker als die reale Anschauung. Wäre die Begabung für die Beobachtung des Wirklichen in der Tiroler spätgotischen Malerei grundsätzliche Folge der Nähelage zur Lombardei, so hätte sich das zuerst in der geistigen Haltung ihrer Schilderung offenbaren müssen; die Schau der realistisch vorgetragenen Anekdote und nicht die Nachdichtung des im gedanklichen Vorstellungsbild lebendigen Vorganges einer mittelalterlichen Legende hätte das Wort. In der Tat aber ist die lineare Wesensschau der mittelalterlichen Vorgangsschilderung – die große Tat des nordischen Geistes, das Wundererlebnis schaubar zu machen jenseits der Schwelle aller barocken Illusionen – das Bestimmende. Nur die Art der Schau unterscheidet sich von anderen deutschen Schulen, indem sie in der Klangfarbe ihrer Darstellungsmittel sich freier und ungehemmter des persönlichen Erlebnisses bedient.

Für den Weg, auf dem die lombardischen – Veroneser und Venezianer – Einzelmotive der Raumauffassung, der perspektivischen Andeutungen, der Verkürzung oder Überschneidung der Figuren in der Tiroler Malerei ähnlich Eingang finden wie Lehnwörter oder Handelsbegriffe längs der alten Kaufmannsstraßen, dürfte die in Südtirol und den Nachbarländern besonders gepflegte Kunst der Wandmalerei in Betracht kommen: die Fülle des in Brixen und anderen Orten an Freskomalerei Erhaltenen scheint darauf hinzuweisen, daß die Geltung dieser diesseits der Alpen durch die Glasmalerei zurückgedrängten Kunstgattung einmal vor dem Auftreten der Tafelaltäre von beherrschender Bedeutung war. Noch in Pachers Lebenswerk spielt die Wandmalerei eine Rolle, wie wir sie bei anderen altdeutschen Meistern wenig, etwa den jüngeren Holbein ausgenommen, kennen. Angesichts der Vorrangstellung der Wandmalerei im vierzehnten Jahrhundert in Italien liegen Beziehungen nahe und lassen sich längs des Weges Verona – Trient – Brixen auch wohl verfolgen, ohne daß aber die Ausbeute an rein italienischen Motiven viel weiterführen würde als in dem oben betrachteten Bereich: im ganzen bleiben die erhaltenen Denkmäler der Südtiroler Wandmalerei Flächendekorationen gotischen Gepräges. Steigerung der Raumillusion im Sinne etwa der Florentiner ist der alpenländischen Wandmalerei ebenso fremd wie die Raumweite der Toskaner Architektur. Wohl aber sind die Einzelmotive, die in der Tafelmalerei als raumsteigernde Elemente begegnen, die im Vordergrund des Bildausschnittes eingestellte Mittelsäule oder die perspektivischen Fußbodenmuster, zuerst im Bereich der Wandmalerei anzutreffen. Für Pachers [304] Lehrjahre mochte die satte Pracht des älteren Bilderzyklus im Brixener Domkreuzgang, der ihm zeitweise vielleicht täglich vor Augen stand, keinen geringen Antrieb bedeuten.

Versucht man die Grundlagen der geistigen und kulturellen Umgebung, aus der Michael Pachers Kunst hervorging, zusammenzufassen, so ergibt sich etwa folgendes Bild: deutsch ist nicht nur die geistige Haltung, sondern der Stil Pachers in seiner ganzen Erscheinung – seiner rein deutschen Eigenschaft als Bildschnitzer wäre in dieser Hinsicht noch ganz besonders zu gedenken. Die Beziehung zu dem reich und stolz entfalteten Kunstleben Oberitaliens aber – eine Folge jahrhundertealter Überlieferung ebenso wie geographischer Begünstigung – gibt der Pacherschen Kunst ihre besondere Klangfarbe und vermöge des Weitblickes für das künstlerisch Wirksame, den Pacher besaß wie nur Dürer oder der jüngere Holbein nach ihm, ihre monumentale Einmaligkeit.

Altar in der Alten Grieser Pfarrkirche in Bozen, Südtirol.
Michael Pacher.
Altar in der Alten Grieser Pfarrkirche
in Bozen, Südtirol.
[Nach wikipedia.org.]
Über Michael Pachers Lebensumstände ist wenig bekannt. Als Heimatsort der Pacher – der Name kommt außer bei Michael noch bei dem zur gleichen Zeit lebenden Maler Friedrich Pacher, ferner bei dem Probst Leonhard Pacher in Neustift vor, doch sind die möglichen verwandtschaftlichen Beziehungen der Namensträger nicht feststellbar – wird das Klosterdorf Neustift unweit Brixen am Eingang in das Pustertal genannt. Dort ist der Name (in der Form "Bacher") heute noch vorhanden. In einer Brunecker Urkunde von 1467 tritt Michael zum erstenmal als Meister auf, wenige Jahre später (1471) werden mit ihm die Verträge für zwei seiner größten Altarwerke: den Grieser Altar bei Bozen und den Hochaltar für Sankt Wolfgang im Salzkammergut, abgeschlossen. Aus den beiden Daten hat man seine Geburtszeit um das Jahr 1435 errechnet; die Bezeichnung als Meister im Jahr 1467 setzt einen mindestens Zwanzigjährigen nach mittelalterlichem Handwerksherkommen voraus. Die Übertragung so großer Aufgaben, wie sie der Wolfgangaltar stellte, berechtigt aber zu der Vermutung, daß die Tätigkeit des Künstlers wohl schon einen gewissen Ruf besaß, also schon mehrere Jahre währte. Zwischen 1469 und 1496 ist Michael Pacher aus Beurkundungen in Bruneck nachweisbar. Der Überlieferung zufolge gilt das im neunzehnten Jahrhundert etwas veränderte "Stifterhaus" (Nr. 79 in Bruneck) als seine Wohn- und Arbeitsstätte. Der Künstler hat es auf seinem Einblick in die Hauptstraße von Bruneck auf der Szene der Geburt Christi des Wolfgangaltares abgebildet: ein typischer Südtiroler Bau mit flachem Giebeldach; der große Dielenraum des Erdgeschosses soll seine Werkstatt gewesen sein. Den nachweisbaren Arbeiten folgend, finden wir Pacher innerhalb der oben genannten Jahre in der Gegend zwischen Bozen, Innichen und Salzburg tätig. In Innsbruck, das seit den dreißiger Jahren des fünfzehnten Jahrhunderts an Stelle der alten Hofhaltung der Tiroler Herzöge in Meran tritt, ist sein Name nicht nachweisbar, wohl aber der des gleichfalls in Bruneck ansässigen Friedrich Pacher, der als Mitarbeiter bei den Bildern des Wolfgangaltares in Betracht kommt. Über Pachers [305] künstlerische Lehrzeit vermag nur der stilistische Befund der älteren Pustertaler Kunst (Altar in Sankt Sigmund um 1430 mit Schreinfiguren und Gemälden) und vor allem die im Pustertal reich entwickelte Schnitzerei einigen Anhalt zu geben, daneben die schon erwähnte, in ganz Südtirol gepflegte Wandmalerei; das heißt die Lehrzeit spielte sich in seiner engeren Heimat ab. Dem klaren Inhalt der Verträge von Gries und Sankt Wolfgang zufolge und angesichts der Ausdruckssprache der Werke selber kann nicht daran gezweifelt werden, daß Michael Pacher die beiden Kunstgattungen: die Malerei wie die Schnitzerei beherrschte und ausübte. Kenntnis der Kunst Mantegnas und wohl auch der Venedigs wird durch einzelne Motive des Wolfgangaltares vorausgesetzt, insbesondere mögen Beobachtungen überraschender Bewegung, wie der nach einem Stein sich Bückende auf der Darstellung der versuchten Steinigung Christi (Wolfgangaltar, Außenflügel), für den Lernenden, der auch mit den Vorstellungsformen des plastischen Bildens vertraut war, von Bedeutung gewesen sein. Die Art der Bildkomposition im Wolfgangaltar mit den in den Hintergrund führenden, gedrängt mit Figürlichem gefüllten Randkulissen und der freibleibenden Bildmitte – der immer wieder hervorgehobene "Tiefenblick" der Pacherschen Komposition – ist in ihrer großen Klarheit und Bestimmtheit ohne Mantegna schwer vorstellbar, die Tiefenwirkungen etwa auf dem Johannesaltar des Niederländers Rogier von der Weyden (Berlin, Kaiser-Friedrich-Museum) sind nicht in dem Maße räumlich körperhaft gesehen, wie das bei Michael Pacher der Fall ist. Auch der sonore Klang des Pacherschen Kolorits läßt sich eher mit mantegnesker Farbigkeit vergleichen als mit irgendeinem Meister des Nordens.

Michael Pacher ist vermutlich im Sommer 1498 gestorben, seit August dieses Jahres gehen die Zahlungen für seinen Salzburger Altar an seinen Schwiegersohn Kaspar Neunhauser in Brixen. Sein Name ist bis in die Romantikerzeit des neunzehnten Jahrhunderts (1822) verschollen geblieben.

Erhalten sind an entscheidenden und für die Autorschaft Pachers gesicherten Werken drei große Altäre, die ungefähr die Stufen seines Künstlertums andeuten: der geschnitzte Marienaltar im Dorf Gries bei Bozen, der der Marienkrönung und dem Leben des heiligen Wolfgang bestimmte Hochaltar der Wallfahrtskirche Sankt Wolfgang bei Salzburg und der in der Alten Pinakothek in München befindliche, ehedem für Neustift geschaffene Kirchenväteraltar. Von einem vierten Werk, dem einstigen Hochaltar der Franziskanerkirche in Salzburg, sind nur Bruchstücke übriggeblieben. Zwischen den Grieser Altar, der stilgeschichtlich das früheste Werk darstellen dürfte – die sich wiederholenden Hauptszenen der Marienkrönung in dem Grieser beziehungsweise dem Wolfganger Altar verhalten sich zueinander wie Erwartung und Erfüllung – und das Werk von Sankt Wolfgang schalten sich

Der berühmte Altar von Michael Pacher in der katholischen Wallfahrtskirche St. Wolfgang.
Der berühmte Altar von Michael Pacher
in der katholischen Wallfahrtskirche St. Wolfgang.
[Nach arge-oekumene.at.]
einige kleinere Arbeiten ein, vor allem die Freskomalereien in Neustift und Innichen und die zusammen mit Friedrich Pacher gefertigten in Sankt Paul im Lavant. Der Wolfgangaltar darf als der Höhepunkt des Pacherschen Schaffens [306] angesehen werden; der etwa ein Jahrzehnt jüngere Kirchenväteraltar und was ihm folgt, der vermutete Altar von Sankt Lorenzen und die Bruchstücke des Salzburger Altares, bezeichnen die Reifezeit. Der künstlerische Weg führt von einer ungemein zarten Stimmungskunst, die im Grieser Altar noch Elemente der älteren idealistischen Prägung des Gotischen im Sinne des frühen fünfzehnten Jahrhunderts in sich birgt, zu dem dramatisch feierlichen Daseinsausdruck der spätgotischen Bildvorstellung im Wolfgangaltare. In Sankt Wolfgang wird zum erstenmal innerhalb der deutschen Spätgotik der liturgische Mittelpunkt eines großen Sakralraumes durch die künstlerische Erscheinung des mächtigen Altarwerkes, durch das hier erreichte völlige Zusammenklingen von Plastik und Malerei, zum schaubaren Erlebnis vollendeter Sammlung – nicht also nur die Mächtigkeit architektonischer Erscheinung, die ja schon an älteren Retabelaltären bis zurück zu den Schwellen des Spätgotischen im vierzehnten Jahrhundert gesehen werden kann, vielmehr die Steigerung der Bildkünste im Dienste einer größten dekorativen Vergegenwärtigung ist beabsichtigt und erreicht. Der Kirchenväteraltar bedeutet Vertiefung der Pacherschen Kunst hinsichtlich des rein Malerischen; es kann kein Zufall sein, daß der Bildschnitzer in diesem Werk ganz verschwindet, um alles dem Maler zu überlassen und so eine letzte, vom Werkmäßigen in das Ästhetische im Sinne der heraufziehenden Zeit der Renaissance hinübergreifende Geschlossenheit der Wirkung zu erreichen.

Am 27. Mai 1471 wird in Bozen zwischen sieben Bürgern der Gemeinde Gries und Meister Michael Pacher zu Bruneck der Vertrag abgeschlossen, wonach Pacher binnen vier Jahren den Hochaltar für die Pfarrkirche Gries mit der Krönung Maria im Schrein und den Patronen Georg und Erasmus, mit Brustbildern in der Altarstufe (Predella) und Szenen aus dem Marienleben als Flügelreliefs schnitzen sollte. Als Entschädigung wird der Betrag von dreihundertundfünfzig Berner Mark Meraner Währung vereinbart. Eine Reihe kleinerer Figuren sollte die ornamentale Bekrönung des Altares (das "Gespreng") schmücken.

Erhalten ist in der Hauptsache als Pachersche Arbeit der Mittelschrein mit den Figuren in etwa zweidrittel Lebensgröße. Die Komposition ist streng symmetrisch in altertümlichem Sinn: eine Mittelnische, in der auf einem Teppichsockel die Madonna zwischen Gottvater und Christus kniet, sechs Engel, zum Teil mit Musikinstrumenten, stehen zu seiten längs der rahmenden Fialen, vier gemalte Engel halten den Goldteppich des Hintergrundes. Auf eigenen Teppichsockeln stehen in den Seitennischen Georg und Erasmus. Feingliedrige, aber noch streng architektonisch komponierte Maßwerkbaldachine schließen den Schrein nach oben ab. Die ehemalige farbige Behandlung der Figuren ist nur zum Teil erhalten.

Das Thema der Marienkrönung als eines der Symbole des volkstümlichsten Marienfestes im deutschen Süden, des Festes Maria Himmelfahrt am 15. August, begegnet in der Tiroler spätgotischen Kunst oft. Pacher hat es, wie erwähnt, noch einmal in seinem Hauptwerk zu Sankt Wolfgang gestaltet. Als Gemälde [307] seiner Hand ist eine gleiche Darstellung in der Alten Pinakothek in München erhalten, die dem Grieser Altar stilistisch nahesteht.

Geht man dem Ausdruck der Form in den Figuren des Grieser Altares nach, so mag zunächst das merkwürdig Weiche und Idyllische in der Erscheinung der Gesichter Beachtung finden. Der Madonnenkopf besitzt unbeschadet der erkennbaren Tiroler Prägung mit der spitzen Nase und dem kleinen Kinn noch die hohe Stirn und die ruhig fließenden großen Gesichtsflächen, wie sie etwa am besten durch den Kölner Madonnentypus der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts (zum Beispiel bei Stefan Lochner) der Vorstellung vertraut sind. Milde und Ruhe erscheint in den Köpfen Gottvaters oder Christi, knabenhafte weiche Zärtlichkeit im Gesicht des Michael, ausgesprochen idealisiert ist das Antlitz des Erasmus. Überall wird der unmittelbare Wirklichkeitswille des Charakteristischen oder gar des pathetisch Machtvollen zugunsten einer fast schwärmerischen frommen Stille zurückgehalten, nur bei den geschnitzten Engelsfigürchen tritt das launisch-übermütige Kindertemperament, das ein halbes Jahrhundert später im Marienleben Dürers eine bestimmte Rolle spielt, etwas stärker hervor. Ähnlich die Stilistik der Körper- und Stofformen. Wohl deuten die tiefen Unterschneidungen der Faltenzüge und die starken Schatten in den lockeren Haarflechten das malerisch barocke Formgefühl der kommenden spätgotischen Reifezeit an; die flächenhafte Tektonik des älteren Stiles und dessen lineare Sicherheit ist verlassen, ein bewegtes Oberflächenspiel in den Beiwerken: Kronen, Ornamentsäumen, Umriß der Maßwerkblumen, ist an deren Stelle getreten. Aber diese Erlebnisse malerischen Sehens bestehen stärker für sich als Einzelbeobachtung, sie sind noch nicht von dem alles durchzitternden Wirbel aufrauschender Bewegtheit erfaßt, der in den Skulpturen des Wolfgangaltares herrscht. Und so wird der Blick unwillkürlich immer wieder zu der großen Ruhe der Komposition zurückgeleitet. Bei den gemalten Engeln des Hintergrundes hat man auf Ähnlichkeiten mit dem Niederländer Rogier von der Weyden hingewiesen. Weitergehend könnte eine grundsätzliche Stimmungsverwandtschaft zwischen Werken, wie Rogiers Medici-Madonna in Frankfurt und dem Grieser Altar empfunden werden, als Zeitausdruck einer in etwa vergleichbaren Gemütshaltung gegenüber dem sakralen Erlebnis überhaupt. Denn wie der Flame Rogier erscheint der Tiroler Pacher im Grieser Altar nicht als ein Revolutionär des Realismus im Sinne der fest geprägten Typen des Paele-Altars des Holländers Jan van Eyk. Das Wirklichkeitsringen als künstlerisches Anliegen im Zeitalter Schongauers, das heißt in der Zeit zwischen 1460 und 1480, ist in dem Grieser Werk von einem Rest idealistischer Rückschau überschichtet. Es mag sein, daß diese Art von Vorstellung und Ausdruck des Andachtsbildes mit ihrem Festhalten an Gewohntem und durch Generationen Vertrautem im Volkstum beider Länder seine Begründung findet. Wie in Flandern spielt in Tirol die Reformtendenz im kirchlichen Volksleben der Spätgotik keine bestimmende Rolle; den Reformversuchen des Rheinländers [308] Nikolaus von Kues, der von 1452 bis 1460 den bischöflichen Stuhl von Brixen innehatte, war Erfolg nicht beschieden.

Für den Werdegang der künstlerischen Form Pachers besagt der Grieser Altar jedenfalls so viel: die werkmäßige Leistung steht auf einer Stufe, die über alles in der gleichen Zeit in Tirol Nachweisbare hinausragt an Sicherheit der Formbeherrschung. In den erhaltenen Flügelreliefs (Verkündigung und Anbetung der Könige) verstärkt sich der Eindruck der räumlichen Klarheit des Aufbaues, der den Mittelschrein bestimmt und den großen Komponisten der Gemälde des Wolfgangaltares ahnen läßt. Die Stimmung des Gesamtwerkes trägt altertümliche Züge, die an ältere Werke des Pustertales erinnern.

Noch am 13. Dezember 1471 hat Pacher mit dem Abt Benedikt von Mondsee den Lieferungsvertrag für den Flügelaltar in Sankt Wolfgang abgeschlossen; der hohe Betrag des Lohnes von zwölfhundert Gulden ungarischer Währung deutet den Umfang der Arbeit an. Zum Vertragsabschluß lag eine Entwurfsskizze vor; die Arbeit selbst entstand in Bruneck, wie aus den Vereinbarungen über Transport und Aufenthaltsvergütung während der Aufstellung des Altares hervorgeht. Eine Inschrift auf den Rahmen der Außenflügel des Altares besagt, daß er 1481 vollendet wurde; wahrscheinlich hat sich die Arbeit zwischen die Jahre 1477 (Weihe des Chorneubaues, in dem der Altar steht) und 1481 erstreckt.

Wallfahrtskirche St. Wolfgang.
[311]      Die Wallfahrtskirche St. Wolfgang
am Wolfgangsee.
   
[Bildquelle: Margarete Schmedes, Berlin.]
Auch wenn man die Verschiedenheit der Aufgaben – der Grieser Altar ist für eine einfache Dorfkirche bestimmt, der Wolfgangaltar bildet den Mittelpunkt einer großen, zu seiner Zeit von weither besuchten Wallfahrtskirche – in Anrechnung bringt, ist die Steigerung des künstlerischen Wachstums, das im Vergleich beider Werke vor Augen steht, gewaltig. Was an Feierlichkeit der Wirkung im Grieser Altar als schlichte Bauernfrömmigkeit angesprochen werden könnte, entfaltet sich in Sankt Wolfgang zu rauschender Pracht. Mag die besonders glückliche Erhaltung des Werkes inmitten seiner ursprünglichen Umgebung das Erlebnis steigern – ohne die Urkunden würde wohl niemand auf die Vorstellung kommen, daß das Monumentalwerk zu Sankt Wolfgang nur um etwa ein halbes Jahrzehnt später als der Dorfaltar aus der Hand des gleichen Meisters hervorging.

Am unmittelbarsten ergibt sich dieser Eindruck durch einen Vergleich der Darstellung der Marienkrönung auf dem Grieser Altar mit dem Schrein zu Sankt Wolfgang. Die Grieser Szene ist Ruhe, Beharren, Zustand, gemessen an der visionären Dramatik des Wolfgangaltares. In ihrer streng symmetrischen Ordnung wirken die Figuren in Gries wie ein reiches, flach gereihtes Ornament; aus den tiefen Schatten der Schreinnische in Sankt Wolfgang blitzen Figuren und Baldachine auf als Augenblicksbild eines großen Festspieles auf weiter Raumbühne. Die Dreiteilung aus Krönungsgruppe und Seitenfiguren, die in Gries unmittelbar abgelesen wird, ist im Wolfgangaltar zu einem überraschenden [309] Einklang geworden, an Stelle der nebeneinandergestellten Baldachine tritt eine kühne Durchflechtung, die einen Siebentakt erkennen läßt. Das Ganze wogt wie ein reich gefaltetes breites Gitterband über die Figuren weg. Die Krönungsszene selbst verzichtet auf die symbolische Dreiteiligkeit: Christus sitzt segnend erhoben oben links, Maria kniet zu seinen Füßen unten rechts, die Mittellinie gleitet lautlos vom Symbol der Taube des Heiligen Geistes zu den beiden gegeneinander gestellten Engeln im Sockel. Die Diagonale der Bewegung, die durch diese Komposition entsteht (an Stelle des Ruhepunktes eines Achsenkreuzes im Grieser Altar) gibt entscheidenden Klang; es ist einer der ersten Fälle gleitender Spannung, wie solche in der Reifezeit der deutschen Spätgotik von Dürer bis Grünewald zum Dominantakkord der Komposition überhaupt wird. Das Augenblickliche, Schwebende, "Transitorische" – und damit das Visionäre eines Bilderlebnisses ist da.

Diesem Gesamtanblick fügen sich die Einzelheiten. Der Ausdruck der Physiognomien verrät Ekstase: spendende Macht im Christuskopf, tiefste innere Ergriffenheit im Antlitz der Maria, Versunkenheit in die Gewalt der liturgischen Feier bei den Seitenfiguren der Heiligen Wolfgang und Benedikt, die innerlich Teilnehmende, nicht nur begleitende Rahmenfiguren, wie in Gries, sind. Das Beiwerk der dienenden, singenden oder musizierenden Engel ist gedämpft mitschwebende Melodie, die in der prächtigen Girlande der Rahmenleiste des Schreines ausklingt. Die Kanten und Flächen der Draperien wogen knisternd auf; nicht die festen Ebenen, sondern immer wieder die Höhlen der Verschattungen fesseln den Blick. Bei geschlossenen Flügeln sprechen die monumentalen Senkrechten der Wächter zu seiten des Schreins, des Sankt Georg und Sankt Florian. Sie sind geformt aus Gewalt und Reichtum rhythmischer Gebärdensprache, die mit solcher Kraft nur im Barock wieder auflebte. Zum Wölbescheitel des Chores wächst die Bekrönung des Altares mit der Kreuzigungsgruppe zwischen den Blütenstengeln der Fialen empor, bekrönt durch die Segensgeste des thronenden Gottvaters, der so "Anfang und Ende" des ganzen Werkes versinnbildlicht.

Zu dem Goldklang der Schnitzereien stehen die Gemälde der Flügel wie edles Pflanzenwerk, das Architekturgebilde umschlingt. Der Altar besitzt wie alle ganz großen Wandelaltäre der Spätgotik ein doppeltes Flügelpaar, so daß er, je nach den Zeiten des Kirchenjahres, drei Gesamterscheinungen zeigen kann. Die Festtagsseite mit der geschnitzten Marienkrönung wird von den geöffneten Innenflügeln mit den Bildern der Geburt Christi, der Darstellung im Tempel, der Beschneidung Christi und des Todes Mariä umrahmt. Bei geschlossenen Innenflügeln ergibt sich das Sonntagsbild: acht Szenen aus dem Leben und Wirken Christi stehen nebeneinander. Die dritte Verwandlung des Altares mit geschlossenen Außenflügeln zeigt vier Bilder aus der Legende des Kirchenpatrons, des heiligen Wolfgang: die Alltagsseite des Altares. Der gesamte Rhythmus der [310] Gemälde in Farbe und Komposition ist so, daß er die Bewegtheit der Skulpturen weiterklingen läßt, aber ihnen einen festen Grund gegenüberstellt. Malerei und Plastik verhalten sich im Wolfgangaltar zueinander etwa wie Choralgesang und vollinstrumentierte liturgische Komposition. Das vornehm satte Farbenbild hält gleichsam die flitternde Schimmerwirkung der Schnitzerei.

Das Wesen der Pacherschen Malerei verkörpert sich am deutlichsten in den Bildern der Wolfganglegende oder in den vier Mittelbildern des Christuslebens: Versuchung, Hochzeit zu Kana, Austreibung der Händler und Christus vor der Ehebrecherin. Bei den Bildern der Wolfganglegende ergänzen sich die Bildgewichte in diagonaler Verschränkung: Predigt des heiligen Wolfgang oben links und Heilung der Besessenen unten rechts, entsprechend Almosenspende und der Heilige als Kirchenbauer auf der anderen Seite. Das Gleitende der Blickführung entspricht wieder dem Bewegungszug des Gesamtausdruckes: die Tiefenräumlichkeit der Bilder – besonders eindringlich in der Szene der Almosenspende mit dem Durchblick durch einen der Bogen in die Straßentiefe einer Stadt in der Mitte – unterstreicht den Eindruck des unmittelbar Lebendigen. Es ist spätgotischer Legendenton reinster Prägung. In den obengenannten Christusbildern ist der Klang feierlicher und großartiger: weniger Figuren, diese maßstäblich etwas größer als die der Wolfganglegende, die architektonischen Gründe majestätischer – besonders prachtvoll der symmetrisch in die Tiefe gespannte Kirchenraum auf der Szene der Ehebrecherin vor Christus.

Michael Pacher: Christus und die Ehebrecherin.
[304a]      Michael Pacher: Christus und die Ehebrecherin.
Tafel vom Altar zu St. Wolfgang am Abersee, 1481.

Die Außenbilder dieser Folge sind unruhiger und kleinformiger; man nimmt in ihnen die Hand Friedrich Pachers nach Entwürfen Michaels an. Auf den Bildern der Festtagsseite endlich ist die Szenerie am stärksten gelockert, Bewegtheit der Umrisse und Tiefenwirkung am nachdrücklichsten herausgehoben, die farbige Abstufung am reichsten entwickelt: die Bildstimmung folgt den Spannungen der Plastik des Mittelschreins.

Es würde zu weit führen, die Typen der Gemälde und die farbige Haltung mit den prachtvollen Rot- und Grüntönungen im einzelnen zu benennen. Angesichts der unmittelbaren Volkstümlichkeit der Schilderung, für die etwa die Tiroler Prägung der Christusfigur und die feingliederigen Frauengestalten mit ihrem blassen Inkarnat, in reich gemusterten oder gedämpft-farbigen Gewändern gegen die Marmortöne der Architektur gestellt, die Pachersche Malerei einmalig unverkennbar bezeichnen, hat man wiederholt auf das Erlebnis der geistlichen Volksschauspiele hingewiesen. Sie mochten dem Künstler in seiner Heimat stets vor Augen stehen; ihre zutiefst erlebte Widerspiegelung erklärt Wesentliches der geheimnisvollen Wirkung, die der Altar zu Sankt Wolfgang an Macht und visionärer Fülle ausstrahlt. Man geht kaum zu weit, wenn man bei Pacher von einer Eroberung des Volkstons, wie er im liturgischen Spiel vorlag, für das Bild der Spätgotik innerhalb Oberdeutschlands spricht. Noch ist solches nicht Erlebnis großstädtischer Kultur – erst im Krakauer Altar des Veit Stoß oder im Isenheimer Altar Grünewalds werden die letzten Folgerungen einer [311] Ausdruckshaltung erfüllt, für die in Pachers Altar zu Sankt Wolfgang der Grund gelegt wurde.

Zur Zeit der Vollendung des Altares in Sankt Wolfgang stand Michael Pacher auf der Höhe seines künstlerischen Schaffens. Sein Name galt im Alpenland von Salzburg bis Bozen. Im Jahre 1481 wurde ihm in Bozen ein Auftrag für die Pfarrkirche zuteil (der verschollene Michaelsaltar), und wenig später begannen die Vorverhandlungen für den ehemaligen Hochaltar der Salzburger Franziskanerkirche, der wohl einst das umfänglichste Werk seiner Hand (vergleiche unten) darstellte. Inmitten dieser Reifezeit steht die bedeutendste Schöpfung seiner Malerei, der Kirchenväteraltar in der Alten Pinakothek in München – der jüngeren Forschung zufolge wurde er zu Beginn der achtziger Jahre für Neustift, wo ein Leonhard Pacher von 1467 bis 1483 als Probst seines Amtes waltete, gemalt.

Das Thema der vier großen Kirchenlehrer des Abendlandes – Hieronymus, Augustinus, Gregor der Große und Ambrosius – hat im fünfzehnten Jahrhundert an der Schwelle der Reformation die abendländische Kunst vielfach beschäftigt. Der allgemeine Wunsch einer Rückkehr zu den Urschriften und Urlehren der Kirche legte es nahe, die Träger des altchristlichen Geistes aus der Zeit, in der die Lehren der römischen Kirche ihre grundsätzliche, dauernde Gestalt erhielten, im Bild zu verkörpern, gleichsam als die dem Volk vor Augen gestellten Wächter der Überlieferung und im Sinne der spätmittelalterlichen Legende als die Vorbilder des Klerikerstandes.

Der Kirchenväteraltar für Kloster Neustift bei Brixen,.
Der Kirchenväteraltar für Kloster Neustift bei Brixen,
jetzt in der Alten Pinakothek in München.   [Nach oceansbridge.com.]   [Vergrößern]

[312] Pacher hatte das Thema vor dem Altar für Neustift wiederholt behandelt. Zuerst als Fresken in der alten Sakristei in Neustift, wo die vier Kirchenväter in den Vierpässen zwischen den Rippen des Gewölbes als Füllung erscheinen. Diese um 1467 – den überlieferten Baunachrichten zufolge – entstandenen Gemälde sind seine älteste nachweisbare Arbeit. Etwa gleichzeitig begegnet das Motiv auf einem al fresco bemalten Bildstock in Welsberg, dessen Originale im Jahr 1882 fast ganz zugrunde gegangen sind. Als Entwürfe seiner Hand – von Friedrich Pacher ausgeführt – gelten die in Vierpässen aufgemalten Büsten in der Stiftskirche zu Sankt Paul im Lavanttal aus der Zeit vor 1480. In monumentaler Fassung kehrt eine verwandte Aufgabe in den etwa lebensgroßen Bischofsgestalten der Heiligen Candidus und Korbinian über dem Südportal der Stiftskirche zu Innichen wieder. Auch hier ist der plastisch scharf zeichnende Stil der Wandmalereien als Voraussetzung für die viel weicher gemalte Form der Tafelbilder des Neustifter Altares anzusehen. Diese verschiedenen Variationen des Themas des in vollem Ornat thronenden kirchlichen Würdenträgers werden in dem genannten Altar zu dem stärksten Ausdruck hoher Feierlichkeit. Es ist der Anblick der ganzen dekorativen Pracht eines spätgotischen Chorgestühls, besetzt von den dazu gehörigen geistlichen Regenten, den der geöffnete Neustifter Altar in seinen vier Tafeln aufzeigt.

Ähnliche Szenerie mag Pacher in den Stiftskirchen zu Brixen und Salzburg oft genug mit eigenen Augen gesehen haben – seine Vertrautheit mit liturgischen Ornaten beweist u. a. auch ein ihm zugehöriger Entwurf für eine Bischofsmitra in der Universitätsbibliothek Erlangen. Das Verlangen der Zeit nach würdevoll reicher Erscheinung des Kirchenfürsten – als solche sind die Kirchenväter im fünfzehnten Jahrhundert allgemein angesehen – findet sich in der gleichzeitigen Schrift des Kardinallegaten Äneas Silvius Piccolomini "De moribus Germanorum" bestätigt.

Vier nebeneinandergereihte Baldachinstühle bilden den Rahmen des Neustifter Altares. Im Zweitakt schließt sich das Motiv der Handlung: die beiden inneren Figuren, Augustinus und Gregor, wenden sich frontal zu ihrem Symbol (Augustinus zu dem Kind, das mit einem Löffel das Meer ausschöpfen will, Gregor zu dem Kaiser Trajan, der aus der Unterwelt zu ihm aufsteigt), die Außenfiguren sitzen seitlich gewendet in Betrachtung versunken: links Hieronymus mit dem Löwen, rechts Ambrosius mit dem Kind, das zuerst ihn als den Berufenen auf den Mailänder Bischofsstuhl ausrief.

Viermal senkt sich der Blick in die tiefen Nischen mit den Brokatgründen, über denen die goldfunkelnden Baldachine in den Raum vorstoßen und in deren Mitte die durchgeistigten Antlitze der Kirchenväter stehen, gleichsam wie Edelsteine, um die herum die volle Pracht des Schmelzes der Farben in den Gewändern, des Goldes in den Ornamenten, der Lichter und Schatten in den begleitenden Geräten gesammelt ist. Es gibt wohl kein Gemälde deutscher Spätgotik aus dieser [313] Zeit, das heißt vor dem älteren Holbein, das eine ähnlich reiche Stufung toniger Farbigkeit aufweisen könnte. Am ehesten wären Mantegna und die älteren Venezianer zum Vergleich heranzuziehen, obschon man auch im lombardischen Bereich den tiefsatten Schimmer der Farben nicht antrifft, die im Kirchenväteraltar das Weben der Lichter in spätgotischem, von bunten Glasfenstern umschlossenen Raum zum unmittelbarsten Erlebnis erheben. Die vier Bilder der Außenflügel zeigen Szenen aus der Wolfganglegende; gegenüber dem Wolfgangaltar hat die Bewegtheit der Schilderung an Einfachheit des Ausdruckes und räumlicher Bestimmtheit zugenommen. Die ornamentale Umrahmung des Altares, vor allem die Bekrönung, ist nicht erhalten; man kann sich schwer vorstellen, daß sie gegenüber der Erscheinung der Malerei, die Pacher hier ganz in den Vordergrund rückte, noch viel zu besagen vermöchte. Denn, wie schon erwähnt, gerade das ist das Wesentliche im künstlerischen Werden Pachers, wie im Neustifter Altar der Maler die Wirkungsmöglichkeiten des Bildschnitzers aufnimmt und damit der spätgotischen Malerei neue Wege eröffnet.

Spätwerke der Pacherschen Malerei sind die Szenen aus der Laurenziuslegende in der Alten Pinakothek in München (mit den dazugehörigen zwei Bildern aus dem Marienleben, Verkündigung und Tod Mariä) und im Kunsthistorischen Museum in Wien, ferner die Bruchstücke zweier Bilder mit der Vermählung Mariens und der

Michael Pacher, Madonna, um 1495, in der Franziskanerkirche in Salzburg.
Michael Pacher, Madonna, um 1495,
in der Franziskanerkirche in Salzburg.
[Nach austria-forum.org.]
Geißlung Christi im Wiener Kunsthistorischen Museum. Den Altersstil seiner Schnitzkunst bezeichnen die thronenden Madonnenfiguren in Sankt Lorenzen im Pustertal und in der Franziskanerkirche in Salzburg. In die Zeitstufe dieser Schöpfungen, die etwa zwischen 1484, dem Jahr des Vertragsabschlusses des ehemaligen Hochaltares in der Salzburger Franziskanerkirche und dem Todesjahr 1498 entstanden, reiht sich das Bild mit der Vermählung der heiligen Katharina (Salzburg, Sankt-Peters-Stift) noch als wichtige Arbeit ein.

Die Madonna von Sankt Lorenzen und die obengenannten Bilder der Laurenziuslegende hat Hempel, der jüngste der großen Pacher-Forscher, zu einem ehemaligen Altar für Sankt Lorenzen zu vereinigen gesucht. Die geschnitzte Madonna erinnert unverkennbar an Sankt Wolfgang; das Schlichtere der Erscheinung erklärt sich hinlänglich aus der Zweckstellung. Ähnlich wie seinerzeit in Gries handelt es sich um das Werk einer Dorfkirche. Und man könnte den Gegensatz des Ausdruckes, wie er oben zwischen dem Grieser und Wolfgangaltar festgestellt wurde, wiederholt finden, wenn man der Madonna von Sankt Lorenzen die der Salzburger Franziskanerkirche gegenüberstellt. Noch heute, wo die Salzburger Figur stark überarbeitet und ohne das ursprüngliche Christkind vor Augen steht, empfindet man den Unterschied zwischen dem anspruchslos Herkömmlichen im besten Sinn des Wortes in Sankt Lorenzen und dem adelig Erhabenen der Salzburger Madonna. Bedeutsam erscheint vor allem: die Haltung der jungen Mutter mit dem Kind in Salzburg trägt einen profan lässigen Zug, der bei Pacher [314] ganz neuartig anklingt und zu den zeitlich ersten Beispielen der Wendung vom älteren sakralen Ideal zum stadtbürgerlichen der Zeit um 1500 gehören dürfte. In der Auffassung, die etwa die Kunst des großen Landshuter Bildschnitzers Hans Leinberger um 1520 beherrscht, könnte recht wohl eine Fortsetzung dieser späten Pacherschen Prägung gesehen werden. Um so mehr, wenn in Rechnung gestellt wird, daß einmal der Hochaltar der Salzburger Franziskanerkirche, von dem die Madonna stammt, an Umfang und Reichtum der Ausstattung den Altar von Sankt Wolfgang wohl übertroffen hat, also um 1500 wohl eines der größten Altarwerke darstellte, die in Südostdeutschland überhaupt vorhanden waren.

Der Stil der genannten Bilder der Laurenziuslegende einschließlich der Marienbilder setzt die Bildererscheinung, die auf den Wolfgangsbildern des Kirchenväteraltars angetroffen wird, fort. Die Zahl der Figuren ist gegenüber den früheren Werken beschränkt; die Figuren selbst stehen noch klarer im Raum, dieser spricht ferner durch größere und einfachere Teilformen nachdrücklicher als in Sankt Wolfgang. Gebärden und Gesichtsausdruck entsprechen an Feinheit der Schilderung der Höhe der Kirchenväter. Im Farbigen ist die Stimmung besonders in der Darstellung des Laurenziusmartyriums mit dem föhnigen Himmel über der venezianisch ansehnlichen Erscheinung des Palastbaues wohl die reichste, die sich bei mehrfigurigen Schilderungen innerhalb der Pacherschen Kunst überhaupt findet.

Nur hinsichtlich des seelischen Gehaltes ist vielleicht der Gesamtanblick der Wiener Fragmente des Salzburger Altares noch tiefer: die Typen auf der Marienvermählung in Wien, verglichen mit verwandten Gruppierungen in Sankt Wolfgang, zeigen eine letzte Entwicklung. Der Komponist vermochte mit den Gegensatzmotiven von Einzelfigur und geballter Masse zu spielen, wie ihm das zwanzig Jahre vorher zum Beispiel bei der Predigt des heiligen Wolfgang noch nicht möglich gewesen war. Der letzte Rest des altertümlich Zusammengedrängten im Sinne des früheren fünfzehnten Jahrhunderts ist völlig überwunden, die Einheit des Vorganges spricht mit augenblicklicher Lebendigkeit. Was an Wucht und Eindringlichkeit der Schilderung in den Wiener Fragmenten erreicht ist, hat nur der junge Dürer gelegentlich übertroffen, der Erzählungsstil Altdorfers und seines Kreises aber weitgehend fortgesetzt.

Die Auswirkung der Pacherschen Kunst zeigt sich in Südtirol und den Nachbargebieten von Salzburg bis Lienz in der Frühzeit des sechzehnten Jahrhunderts weitgehend. Da aber, abgesehen von dem Salzburger Maler Marx Reichlich, die künstlerische Höhe aller dieser Werke selten das Mittelmaß erheblich übersteigt, kann man von einer wirklichen Pacherschule kaum sprechen. Es mag hinzukommen, daß Pachers Tätigkeitsort, Bruneck, für eine Schulbildung zu klein war, die für eine größere künstlerische Tätigkeit in Frage kommenden Mittelpunkte: Salzburg und Innsbruck, aber im Zeitalter Maximilians von Augsburg und Nürnberg, [315] wohin der Kaiser den Großteil seiner Aufgaben verlegte, ganz in den Hintergrund gedrängt wurden. So mußten sich die Werke der Pacher-Nachfolger in der Fortsetzung eines tüchtigen Handwerkes begnügen, das dem Gepräge seines ländlichen Bodens entsprechend nicht ins Weite reichen konnte und deshalb über den Rahmen örtlicher Geschichte nicht hinausdrang. Der Geist der Pacherschen Malerei wurde, wie erwähnt, innerhalb der sogenannten Donauschule aufgenommen und kann dort besonders bei den Bildern der Florianslegende von Albrecht Altdorfer als eigentümlichste Eigenschaft südostdeutscher Kunst an der Wende zur Renaissance empfunden werden.




Alphabetische Inhaltsübersicht
Otto der Große Otto der Große Otto der Große alphabetische Inhaltsübersicht der Biographien Paracelsus Paracelsus Paracelsus


Chronologische Inhaltsübersicht
Nikolaus von Kues Nikolaus von Kues Nikolaus von Kues chronologische Inhaltsübersicht der Biographien Veit Stoß Veit Stoß Veit Stoß


Originalgetreue Inhaltsübersicht
Johannes Gutenberg Johannes Gutenberg Johannes Gutenberg Inhaltsübersicht der Biographien in Reihenfolge des Originals Bernt Notke Bernt Notke Bernt Notke





Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz