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[Bd. 1 S. 316]
Bernt Notke, tätig um 1460 bis 1509, von Carl Georg Heise

Bernt Notke, Selbstporträt in Gestalt eines knienden Priesters.
Bernt Notke, Selbstporträt
als kniender Priester in dem Gemälde der Messe des Heiligen Gregor, ca. 1504.
Einst Marienkirche, Lübeck; 1943 zerstört.
Abgebildet in "Das deutsche Antlitz,"
Zürich: Atlantis Verlag, 1954, T. 11.
[Nach 19thc-artworldwide.org.]
Langsam erst, in den letzten Jahrzehnten, hat der Name des größten Lübecker Malers und Bildschnitzers für das erinnernde Bewußtsein der Deutschen wiedergewonnen werden können. Freilich ist Bernt Notke noch immer nicht auferstanden als umfassende Künstlerpersönlichkeit, neben Pacher, Stoß, Kraft, Riemenschneider eine der bedeutendsten des ausgehenden Mittelalters, sondern lediglich als Verfertiger eines einzigen Werkes, der gewaltigen, holzgeschnitzten St. Jürgen-Gruppe von 1489 in der Hauptkirche in Stockholm. Dies Monument aber ist mehr als ein deutsches Meisterwerk unter vielen anderen, es ist schlechthin das Sinnbild für Ausdehnung, Art und Bedeutung norddeutschen Kunstschaffens im Ostseeraum. Nirgends sonst ist Deutschland auf dem Gebiet der bildenden Kunst außerhalb seiner staatlichen Grenzen so führend, so ausschließlich der gebende Teil gewesen wie hier. Nicht so sehr eine Person und den Umfang ihrer Wirksamkeit also gilt es zu erschließen als vielmehr im Bilde der Zentralfigur eines Kreises und ihrer Ausstrahlungen ein Stück deutsches Kunstschicksal richtig verstehen zu lernen. Vor Notke also muß begonnen und über ihn hinaus muß Wesentliches ausgesagt werden. Daß ein einzelner Künstler und sein Werk aufschlußreich eine große historische Situation zu versinnbildlichen vermag, das ist ein deutliches Anzeichen für das Heraufkommen eines neuen Zeitabschnittes der europäischen Geschichte. Daß indessen ein Versuch lebensgeschichtlicher Darstellung im engeren Sinne fast eine Unmöglichkeit ist und gerade dann, wenn die entscheidende Wirkung aufgedeckt werden soll, einmünden muß in eine mehr oder minder breite Vergegenwärtigung aller treibenden Kräfte jener Epoche, das beweist die Verwurzelung dieser Kunst im Gemeinschaftsgeist des Mittelalters. Notke ist ein Vertreter der großen Wende, der sinkenden so sehr wie der kommenden Zeit verpflichtet.


Das wirtschaftspolitische Schicksal des Ostseeraumes hat auch Wesen und Wendung der künstlerischen Leistung entscheidend mitbestimmt, wenn auch nicht zu verkennen ist, daß die Kunstblüte – bei fortschreitender Entwicklung um so nachdrücklicher – ihrerseits nicht unwesentlich dazu beigetragen hat, aus dem vielteiligen Ländergefüge einen einheitlichen Kulturkreis zu machen. Am Anfang aber steht die Herrschaft nüchterner kaufmännischer Eroberer. Zwar schaffen sich [317] im 12. und vor allem im 13. Jahrhundert die siedelnden Handelsherrn einen großartigen eigenen Baustil für ihre Städte – damit ist dem Geltungsbedürfnis der Emporkömmlinge Genüge getan –, was sie indessen an Werken der schmückenden Künste nicht entbehren wollen, das holen sie sich in der Regel von auswärts. Noch das erzene Grabmal des 1341 verstorbenen Bischofs Bocholt, der den Chor des Lübecker Doms vollendete, ist unbezweifelbar importiertes Kunstgut. Wie in Venedig, wo ähnliche wirtschaftspolitische Voraussetzungen maßgebend waren, bestätigt sich in Lübeck das alte Entwicklungsgesetz, daß eine umfassende ästhetische Kultur eine lange Periode gesicherten Wohlstandes voraussetzt. Erst als der Friede von Stralsund (1370) als Folge des entscheidenden Sieges der Hanse über den Dänenkönig Waldemar Atterdag solche gesichertere Epoche einleitet und an Stelle des vorbehaltlosen Wagemuts eine geruhsamere Rentnergesinnung tritt, gewinnt die lübeckische Kunst den ihr gemäßen äußeren Rahmen und erhebt sich rasch im Laufe der folgenden Jahrzehnte zu europäischem Rang. Man zieht zum Schmuck der Stadt und der Gotteshäuser Künstler von auswärts heran, doch nun bleiben sie in Lübeck; hier gibt es Arbeit übergenug, und was in den Lübecker Kirchen entsteht, das erweckt die Bewunderung der kulturärmeren Nordländer. Es setzt ein Kunstexport ein, der nach Umfang und Durchschnittshöhe ohne Vergleich ist. Das ist auch rückwirkend für den Charakter der lübeckischen Plastik und Malerei nicht ohne Bedeutung geblieben: es hat zum mindesten die konservative Note unterstützt, aber wohl auch, durch die besondere Art der Aufträge, die Neigung zum Dekorativen und Prächtigen, die Richtung aufs Monumentale befördert.

Bezeichnend für den lübeckischen Kunstbetrieb, wie er sich in seinen Grundzügen für die Gesamtzeit seiner Ostseegeltung, also über hundert Jahre lang, erhielt, ist die bedeutende Werkstatt, die etwa ab 1400 für ein Menschenalter die führende wird. Man pflegt sie – ohne voll ausreichende urkundliche Belege – die des Johannes Junge zu nennen. Der Stil kommt aus Westfalen, wir kennen Steinfiguren der gleichen Hand in Soest und in Lübeck. Neben diesen älteren Meister treten jüngere, in einzelnen Hauptwerken deutlich als künstlerische Persönlichkeiten unterscheidbar, dann aber einen ausgesprochenen lübeckisch bestimmten Gesamtstil bewirkend, dessen Erzeugnisse auf einzelne Mitarbeiter aufzuteilen ein unfruchtbares Unterfangen sein würde. Die berühmte "Madonna des Ratsherrn Darssow" in der Marienkirche (von einem 1420 gestifteten Altar) bezeichnet eine leicht altertümelnde, sakral gestimmte Richtung, mit der etwa gleichzeitigen "Niendorfer Madonna" (genannt nach dem Ort ihrer Verschleppung im 19. Jahrhundert) dringen französische, höfisch-realistische Elemente in die lübeckische Kunst ein, schon das im nächsten Jahrzehnt entstandene Grabmal der Königin Margarete in Roeskilde aber, das unverkennbar dieser führenden Werkstatt entstammt, zeigt Gesellen verschiedener künstlerischer Herkunft zu schwer entwirrbarer Gemeinschaftsarbeit vereint. Die Reichweite dieses Stils ist überraschend: [318] im Osten über die Gegend von Danzig (Tiegenhagen) nach Reval und Finnland (Nystad), im Norden über Dänemark (Sonder-Alslev auf Falster), Südschweden (Widsköfle) nach Vadstena und Glanshammer, um nur einige Orte mit heute noch erhaltenen Werken zu nennen.

Wichtig ist vor allem, daß unter den Exportstücken sich damals schon Arbeiten hohen Ranges befanden, in Erfüllung ausgesprochen nationaler Aufgaben der außerdeutschen Ostseeländer. Lübeckische Meister zog man heran, als es galt, das Grabmal für die Einigerin der drei nordischen Reiche in Roeskilde zu errichten, als die Königin Filippa ein Bildwerk der Heiligen Anna selbdritt in das schwedische Birgittenkloster Vadstena stiftete, ja gar für den Entwurf des großen schwedischen Staatssiegels von 1436. Das sind künstlerische Höchstleistungen. Daneben beobachten wir die Belieferung kleinerer nordischer Gotteshäuser in weniger persönlicher, fast möchte man sagen fabrikmäßig-schematischer Art. Erst kürzlich haben auch in Norwegen eine ganze Anzahl solcher lübeckischer Figuren und Altäre festgestellt werden können – die Nachfrage ist zweifellos sehr groß gewesen. Zunächst hat man sie von Lübeck aus befriedigt, die Meister blieben in ihrer Werkstatt und schickten die fertigen Kunstwerke zu Schiff an den Ort ihrer Bestimmung. Von zwei Meistern der Mitte des Jahrhunderts dürfen wir annehmen, daß sie selbst in Schweden gewesen sind: Hans Hesse, der den Auftrag für den Hauptaltar des Klosters Vadstena erhielt und dessen persönliche Anwesenheit dort feststeht, ferner Johannes Stenrat, der den gleichen Altar vollendet und sich inschriftlich als Meister eines Altars in Bälinge bei Upsala bezeichnet hat. Als Künstler dürfen wir sie nicht überschätzen, gerade für den Altar von Bälinge findet sich in Lübeck in einer großartigen Olafsfigur das weit bedeutendere heimische Vorbild.

Noch bleiben die Besten als Leiter ihrer Werkstatt im eigenen Lande. Die beiden großen Meister, die als Bildhauer und als Maler kurz vor und neben Notke das Bild der lübeckischen Kunst bestimmen, der anonyme "Meister der lübeckischen Stein-Madonnen", der den knittrigen Faltenstil des flandrischen Realismus in die hansische Kunst einführt, und der vielbeschäftigte Hermen Rode sind nur in Lübeck nachweisbar. Rodes seßhafte Arbeitsweise und der konservative Charakter seiner Kunst bilden die beste Folie zu Notkes in jeder Beziehung entgegengesetztem Wirken. Man muß ihn kennen, der die andere, die traditionelle Seite der lübeckischen Kunst vertritt, der zu ihrer ungeheuren Beliebtheit Wesentliches beigetragen hat, um einerseits die Voraussetzungen für Notkes riesigen Wirkungskreis, andererseits die umwälzende Bedeutung seiner Erscheinung richtig abschätzen zu können.

Hermen Rode ist Maler, ein Handwerker von vielen Graden, aber ohne künstlerisches Genie. Seine Schulung wird er in Westfalen erhalten haben, von dort bringt er eine saubere Technik mit, einen zarten, vornehm harmonisierenden Farbengeschmack. Er ist sanfter Gemütsart, ihm fehlt jeder Sinn für dramatische Belebung seiner Figurenbilder; zwingt ihn die Aufgabe zur Darstellung einer Marterszene, so gehen Henker und Opfer im Tanzschritt. Nur zögernd entschließt [319] er sich zu zeitgemäßen Neuerungen: Goldgrund herrscht vor, die Landschaft ist gleichförmig in Zonen gegliedert, der Ausdruck der Gesichter nur notdürftig belebt, die Figurengruppen kleben ohne Tiefenerstreckung vorn am Bildrand, die Innenräume werden nach vorhandenen Mustern, nicht nach eigener Anschauung gestaltet. Er bleibt ganz auf die Malerei beschränkt und scheint alle seine Tafeln im Wesentlichen selbst ausgeführt zu haben. Frühwerke und Bilder der Spätzeit sind wenig voneinander unterschieden. Muß er im Ausnahmefall auch die plastischen Arbeiten seiner Altäre besorgen, so spricht die Kümmerlichkeit der Gestalten für das geringe Maß der Anregungskraft über die Grenzen seiner eigenen Handfertigkeit hinaus. Seine Malergesellen aber werden zu sauberer Nachahmung unterwiesen; es gibt, namentlich in Schweden, Altäre der Werkstatt, die in nichts als im Grade der handwerklichen Meisterschaft von den eigenhändigen Arbeiten Rodes unterschieden sind. Die Person wird zum Stilbegriff. Das hatte gerade für den entfernt wohnenden Auftraggeber seine unschätzbaren Vorteile: man wußte, was man bekam. Als Rode zu Anfang des neuen Jahrhunderts starb, hatte seine Kunst sich längst überlebt, doch scheint ihr die Nachfrage bis zuletzt treu geblieben zu sein.

Das Auftreten Notkes in Lübeck muß in hohem Maße revolutionär gewirkt haben. Ist bisher bei aller noch so bedeutenden Kunstübung der Antrieb durch einen führenden Kopf mehr durch Überlegung zu erschließen, als im einzelnen Werk erkennbar, da rasch ein nachahmender Gesamtstil sich bildet, den auch schwächere Mitarbeiter mehr oder minder sicher zu handhaben verstehen, so spricht aus den Arbeiten Notkes, selbst dann, wenn ihre Ausführung sich unzweideutig als Gruppenleistung erweist, eine so eigenwillige Phantasie, daß wir vor ihnen nicht mehr nach einem Stil, sondern nach einem Menschen fragen. Die Werkstattgewohnheiten bleiben die gleichen: ein großer Stab von Gesellen, wachsend und wechselnd mit Zunahme und Besonderheit der Aufträge, ist verantwortlich für die handwerkliche Gestaltung, ja, es liegt die Vermutung nahe, daß der Meister in manchen Fällen überhaupt nicht, jedenfalls nicht immer an eindeutig erkennbarer Stelle, persönlich Hand ans Werk gelegt hat. Um so erstaunlicher ist es, daß nun etwa vier Jahrzehnte hindurch im weiten Umkreis des Ostseegebietes Kunstwerke verschiedenster Gattung entstehen – Altar, Sakramentshaus, Triumphkreuz, Grabmal und Monument, Gemälde und Holzschnitt, Stickerei und Goldschmiedearbeit –, die unverkennbar den Stempel dieses einen Meisters tragen, der ebensosehr Unternehmer und Anreger großen Stils wie Künstler hohen Ranges gewesen sein muß. Man spürt überall das Wirken einer universal gerichteten Natur, aber es ist sehr schwer, es im Bilde der Persönlichkeit zu fassen. Hält man sich allein an die Urkunden, die manche Seite von Notkes bewegtem Leben gut beleuchten, so wird man leicht auf einen künstlerisch viel zu begrenzten Meister schließen. Es ist bezeichnend, daß nicht einmal sein Hauptwerk, der Stockholmer Georg, dokumentarisch einwandfrei als Arbeit seiner Hand erwiesen werden kann. [320] Befragt man allein die Kunstwerke, so fühlt man an so vielen Orten, unter so mannigfacher Verkleidung das Aufleuchten des Genies, daß man leicht geneigt ist, den Kreis seines Wirkens allzu weit zu ziehen, und unter der Entdeckerfreude über immer neue Meisterwerke verdunkelt sich das Bild des Meisters selbst.

Es muß hier angemerkt werden, daß die weitschichtigen, kunstwissenschaftlichen Untersuchungen, die in kameradschaftlicher Weise von skandinavischer und deutscher Seite betrieben werden, bisher noch keineswegs als abgeschlossen gelten dürfen. Friedrich Bruns in Lübeck hat mustergültig das archivalische Material zusammengestellt. Johnny Roosval in Stockholm hat über die St. Jürgen-Gruppe zwei Bücher geschrieben, die eine Fülle wertvollster Hinweise enthalten. Auch Walter Paatz, der eine grundlegend veränderte Vorstellung von Notkes Persönlichkeit erarbeitet hat, die hier mit seiner freundlichen Erlaubnis z. T. berücksichtigt werden konnte, hat seine Ergebnisse noch nicht öffentlich vorlegen können. Wenn hier nach dem gegenwärtigen Stande der Forschung der erste Versuch einer Gesamtdarstellung gewagt werden soll, so kann es sich nur um einen vorläufigen Notbau handeln. Fast schon verschollene Lebenskunde muß neu erweckt und der Leser eingeladen werden, am Werkvorgang teilzunehmen.


Bernt Notke ist nicht in Lübeck geboren, sondern stammt aus dem lauenburgischen Kirchdorf Lassahn am östlichen Ufer des Schaalsees. Das Jahr seiner Geburt ist nicht bekannt, doch werden wir es zwischen 1430 und 1440 ansetzen dürfen. Urkundlich erwähnt wird er zuerst 1467 in Lübeck, und zwar bereits als selbständiger Meister. Er gehört keiner Zunft an, sondern ist ein "Freimeister", dem die Befugnis zur Ausübung seines Berufes durch besondere Ratsverfügung erteilt war. Zeitlebens scheint ihm das Maleramt als unbequemem Eindringling Schwierigkeiten gemacht zu haben, gelegentlich weigerte man sich gar, seinen Gesellen den Aufstieg zu Amtsmeistern zu gewähren; doch fällt es auf, daß wir bei solchen Streitereien den Rat immer auf Notkes Seite finden. Der erste Auftrag, von dem wir hören, wird ihm von der Nowgorodfahrerkompagnie, einer der angesehensten Lübecker Körperschaften, erteilt. Warum gehört er der Zunft nicht an? Warum sind die Mächtigen der Stadt ihm gewogen?

Für beide Fragen bieten sich einleuchtende Antworten an, die durch allerhand Hinweise gestützt werden können, für die es aber einstweilen keine tatsächlichen Belege gibt. Notke könnte, wie Albrecht Dürer, ursprünglich ein anderes Handwerk gelernt haben, und zwar die Goldschmiedekunst, und der Rat hätte ihn daraufhin als Meister zugelassen. Es ist immerhin auffällig, daß Notke fast niemals mit anderen Malern, immer wieder aber in Gemeinschaft mit Goldschmieden genannt wird, mit Nikolaus Rughese, dem Meister des Sakramentshauses der Marienkirche, an dessen Erfindung Notke nicht unbeteiligt gewesen sein wird, mit Sander Oldendorp, Jost Jakob und vor allem mit dem ausgezeichneten Bernt Heynemann, der noch unter [321] des Künstlers Testamentsvollstreckern erscheint. Und sollte der schwedische Reichsverweser Sten Sture ihn zum "Reichsmünzmeister" ernannt haben, wenn Notke nicht gewisse Erfahrungen in dieser Richtung hätte mitbringen können?

Die andere Antwort ist schwieriger zu finden. Schließlich aber wird man sich sagen müssen, daß kaum etwas anderes als eine außerordentliche künstlerische Leistung den Grund gelegt haben kann zu Notkes besonderer Bevorzugung. Ein lübeckisches Kunstwerk aber von außergewöhnlicher Art, bis heute weltberühmt trotz seiner Zerstörung, entstand 1463 in der Marienkirche: der Totentanz, ein gemalter Fries mit lebensgroßen Figuren.

Bernt Notke. Totentanz in der Marienkirche zu Lübeck, 1463.

Bernt Notke. Totentanz in der Marienkirche zu Lübeck, 1463.
[Nach wikipedia.org.]

Seine gegenwärtige Erscheinungsform läßt Rückschlüsse auf den Urheber kaum noch zu, da eine gründliche Übermalung von 1701 den Stilcharakter vollkommen verändert hat. Allerdings wird man mit einiger Sicherheit sagen dürfen, daß Rode, der sanfte Heiligenmaler, wohl keinesfalls der Gestalter dieses grausigsten Themas gewesen sein wird. Notkes ganzes Lebenswerk dagegen ist so sehr von dieser düster-pathetischen Gesamtstimmung erfüllt, die hier in Lübeck zum ersten Male aufklingt – der irdischen Not näher als der himmlischen Erhebung, gewaltsam im Ausdruck, in der Formensprache aufs Monumentale gerichtet –, daß die Verlockung groß ist, ihn als den Meister des Totentanzes und dies Werk als Grundlage seines Ruhmes anzusehen. Es kommt hinzu, nahezu beweisend, daß sich in der Nicolai-Kirche in Reval ein Stück eines ähnlichen Totentanzes erhalten hat, das unverkennbare Züge Notkescher Malerei tragt. Es gehört zum Eindrucksvollsten, was wir von seiner Hand besitzen.

Bernt Notke. Totentanz in der Nicolai-Kirche in Reval.

Bernt Notke. Totentanz in der Nicolai-Kirche in Reval.
[Nach wikipedia.org.]

Immer ist in dieser Zeit ausdrücklich von Malerei die Rede, nicht von Bildhauer-Arbeit. "Mester Bernde, dem maler," zahlt die Nowgorodfahrerkompagnie eine hohe Summe für die dekorative Ausstattung ihrer Kapelle, während ausdrücklich erwähnt wird, daß das Schnitzwerk von "Mester Ilies" stammt, nicht von ihm. Malerei ist es wiederum, eine "tafele, de mester Bernd Notken malet", die 1471 der aus Frankfurt a. M. gebürtige Lübecker Kaufmann Johann Biis in seinem Testament erwähnt, ein Werk, das uns leider nicht erhalten ist. Das gibt die Richtung an, in der wir des Künstlers eigenhändigen Anteil zu suchen haben, am ersten der erhaltenen und urkundlich belegten Riesenwerke, die bei Notke bestellt worden sind. 1478 finden wir den Künstler tätig für den Hochaltar des Doms von Aarhus im Auftrag des dänischen Bischofs Jens Iwersen. Voraussichtlich ist die sehr umfangreiche Arbeit aber schon früher begonnen, denn eine Inschrift nennt als Vollendungsdatum das Jahr 1479.

Dom zu Aarhus: Flügelaltar von Bernt Notke, 1479
Dom zu Aarhus: Flügelaltar von Bernt Notke, 1479.     [Nach wikipedia.org.]

Es handelt sich um einen dekorativen Aufbau von größtem Ausmaß, bei dem die Schnitzerei des Mittelschreins – drei große Heiligenfiguren – zwar zuerst den Blick des Betrachters auffängt, aber nicht einmal rein massenmäßig, geschweige denn künstlerisch das Wichtigste ist. Riesige Doppelflügel, die sich nur ächzend in den Angeln drehen lassen, eine ungewöhnlich hohe Predella mit ebenfalls zwei Paar Flügeln, im Gesprenge lebensgroß ein Bischof und ein Engel, endlich ein kleines bekrönendes Altärchen, wiederum mit gemalten Flügeln, nicht zu reden von der Fülle der kleinen Zier- [322] figürchen – das ist Werkstattarbeit großen Stils. Wenigstens vier verschiedene ausführende Hände lassen sich heute noch deutlich unterscheiden, wahrscheinlich sind es noch viel mehr gewesen. Etwas Ähnliches hatte es in Lübeck selbst bisher nur einmal gegeben: unmittelbar vorher war das pomphafte Triumphkreuz im Dom entstanden, ein verwirrend schmuckreiches Schaugerüst, das so phantasievoll wie aufdringlich den Gesamteindruck des Kircheninneren bestimmt. Richtig hat man denn auch erkannt, daß der ausführende Hauptmeister des geschnitzten Figurenwerkes hier und dort der gleiche gewesen sein muß, ja, daß sich ihm leicht noch eine ganze Anzahl weiterer Arbeiten zuweisen läßt, so ein thronender Thomas a Beckett aus dem schwedischen Ort Skepptuna, das Original heute im Stockholmer National-Museum. (Eine modeme Nachbildung steht – man sieht auch daran das Wiederaufflammen lang vergessenen Ruhmes in unseren Tagen – an der Grabstätte des Heiligen in der Krypta der Kathedrale in Canterbury als Geschenk des schwedischen Erzbischofs Nathan Söderblom.)

Das alles sind grobschlächtige Gestalten, Teilglieder eines dekorativ wirkungsvollen Gesamtkunstwerkes, aber im einzelnen ohne formschöpferische Kraft, ohne Feinheit der handwerklichen Ausführung. Ist Notke selbst dieser Meister gewesen? Wir müßten es annehmen (und die meisten Forscher tun es heute noch) auf Grund der erhaltenen Urkunden, die eindeutig erkennen lassen, daß der Aarhuser Altar bei Notke und nur bei ihm bestellt ist, fänden sich an diesem Werk nicht Proben hervorragender künstlerischer Leistung, die jene derben Schnitzarbeiten vollkommen in den Schatten stellen; ich meine einen Teil der Gemälde, namentlich die Monumentalgestalten der Außenseiten der Flügel, einen Johannes den Täufer und einen Heiligen Clemens. Nehmen wir dazu die Reste des Revaler Totentanzes und die im Lübecker

Prophetenfigur.
[328b]      Bernt Notke: Prophetenfigur
vom Dreifaltigkeitsaltar der Lübecker Marienkirche,
um 1480. Lübeck, St.-Annen-Museum.

[Bildquelle: W. Castell jr., Lübeck.]
Museum erhaltenen Außenseiten der Flügel eines Dreifaltigkeitsaltars, so haben wir eine einheitliche Bildergruppe, die einzige unter den erhaltenen, die bedeutend genug ist für einen Meister, von dem die zeitgenössischen Berichte die Vorstellung einer überragenden, leidenschaftlichen und neuerungssüchtigen Künstlerpersönlichkeit zu geben verstehen. In diesen Bildern lebt wirklich ein neuer Geist. Mit Ungestüm wird um Ausdruck gerungen, die Figuren sind häßlich, aber charaktervoll, der menschliche Körper wird studiert, eine eindrucksvolle Gebärde gilt mehr als ein Heiligenschein, die Landschaft drängt sich vor, Raumprobleme melden sich an, die Farben sind düster und glühend. Diese Malerei, das ist Notke.

Aber er ist mehr als das. Mögen rein malerische Leistungen seinen Ruf begründet haben, so liegt seine eigentümlichste Fähigkeit, der er gewiß auch seine großen Auslandsaufträge verdankt haben wird, doch noch auf anderem Felde: keiner konnte wie er ein künstlerisches Gesamtprogramm so einheitlich, so festlich überzeugend und doch so kühn und neuartig ersinnen und verwirklichen. Immer ist Notke beides: Werkstatthaupt im mittelalterlichen Sinne, nur schwungvoller, genialischer, selbstbewußter, und originelle künstlerische Einzelpersönlichkeit, doch im Rahmen des Ganzen, mehr auf Einordnung als auf Sicht- [323] barmachen des Neuen bedacht. Man könnte auch sagen, daß er zur Ausbildung einer ganz individuell bestimmten, ganz zeitgemäß einmaligen schöpferischen Leistung den großen Apparat mittelalterlicher Gemeinschaftsarbeit nach seinem Kopf befehligt, daß ihm die Werkstatt das Instrument ist, um seine neue Melodie darauf zu spielen.

Der Auftrag für Aarhus hat ein unangenehmes Nachspiel. 1482 bescheinigt Notke, daß er alle Arbeiten für den Aarhuser Dom – es scheinen zum Hochaltar später noch andere hinzugekommen zu sein – voll bezahlt erhalten habe. Trotzdem stellt er, als kurz darauf der Bischof gestorben war, eine weitere Forderung von 800 Gulden. Er bekommt sie auch mit Hilfe des Lübecker Rates, doch gibt es im Verlauf der langwierigen Verhandlungen einen Aufsehen erregenden Todesfall und noch 1484 einen Protest des dänischen Reichsrates, der behauptet, daß Notkes Forderung durchaus unberechtigt gewesen sei und er sie nur durchgesetzt habe "mit Lügen, listigen und falschen Worten, deren er wohl kundig wäre". Wüßten wir nicht, wie sehr in jener Zeit fast alle Männer des öffentlichen Lebens mit allerhand Makel behaftet erscheinen, wie Unrechtlichkeit und Durchbrechung alter Ordnungen nur das Widerspiel der erwachenden schöpferischen Kräfte der freien Persönlichkeit gewesen sind, Notkes Charakterbild könnte abstoßend wirken. 1471 finden wir ihn in einen Ehestreit verwickelt, 1498 in einen Prozeß wegen übler Nachrede. Auch seine Nächsten hatten sich über ihn zu beschweren: Heinrich Wylsynck, der sich selbst als Mitarbeiter am Stockholmer St. Jürgen bezeichnet, hat sich mit dem Meister um Geld veruneinigt und schließt einen Brief mit dem Stoßseufzer: Gott weiß, er ist ein seltsamer Mann! Das läßt immerhin auf mehr als gewöhnliche charakterliche Schwierigkeiten schließen.

Immer weiter spannt sich der Aufgabenkreis. 1483 ist der große Altar der Heiligen-Geist-Kirche in Reval datiert, für den Notke im gleichen Jahr in einem noch erhaltenen Schreiben aus Stockholm eine Restzahlung anfordert. Auch der Revaler Altar ist zwar einheitlich in der Erfindung, nicht aber in der handwerklichen Ausführung. Einen der Maler – es ist nicht der beste – kennen wir schon aus Aarhus, der Plastiker aber ist nicht mehr der gleiche. War hier Notke selbst als Bildhauer tätig? Der künstlerische Hauptakzent liegt jedenfalls auf der geschnitzten Figurengruppe des Pfingstfestes im Mittelschrein, die schon als Darstellungsform für das Ostseegebiet neu ist. Wie auf süddeutschen Schreinen, etwa auf Veit Stoß' Krakauer Marienaltar, ist eine tiefe Bühne für die hintereinander knienden, sitzenden, stehenden Figuren geschaffen, in betontestem Gegensatz zur flachen Reihung der alten lübeckischen Kunstübung, wie sie noch Rode ein Jahr früher bei seinem ebenfalls für Reval gelieferten Altar eingehalten hatte. Zwar haben die einzelnen Figuren trotz des erzählenden Inhalts immer noch eine gewisse Neigung zu statuarischer Absonderung, aber sie sind von innen her bewegt, die schweren Körper scheinen geladen mit seelischer Spannung. Bezeichnend für den Gesamtstil ist auch hier der Reichtum des schmückenden Beiwerks und das [324] dekorative Ineinandergreifen aller Teile. Die Ausführung ist, verglichen mit bester süddeutscher oder niederländischer Schnitzarbeit, keineswegs von besonderer technischer Vollendung, aber doch wesentlich lebendiger als in Aarhus. Hier kündigt sich der Meister der Stockholmer St. Jürgen-Gruppe an.

Seit April 1483 ist Notke in Schweden, und erst im März 1486 wird er wieder in Lübeck genannt, ebenso im August 1487. Dann ist er über ein Jahrzehnt von der Heimat abwesend und kommt während dieser Zeit in Stockholmer Urkunden so häufig vor, daß wir mit einer ununterbrochenen Tätigkeit im Dienste des schwedischen Reichsverwesers rechnen dürfen. Als im Oktober 1497 Sten Sture seines Amtes entsetzt wird und den König Johann von Dänemark als Beherrscher Schwedens anerkennen muß, wird Notke nach Lübeck zurückgekehrt sein, denn vom Frühling 1498 bis zu seinem Tode ist er wieder dort nachweisbar. Was hat er in Schweden geschaffen?

Vor allem die große St. Jürgen-Gruppe für die Stockholmer Hauptkirche. Keine Urkunde nennt Notke als ihren Verfertiger, doch viele Anzeichen, die erwähnte Briefstelle seines Gehilfen Wylsynck, des Künstlers langer Aufenthalt in der schwedischen Hauptstadt und stilvergleichende Bemühungen haben Roosval mit Recht zu dieser Zuschreibung geführt, die seit 30 Jahren unwidersprochen in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Am Silvestertage des Jahres 1489 ist das Werk feierlich geweiht worden; den Pergamentzettel, auf dem der Tag verzeichnet steht, entdeckte der Dichter August Strindberg im Brustpanzer des Ritters. Es hat seinen Platz in einer eigenen (heute abgerissenen) Kapelle hinter dem Hauptaltar gehabt und war vermutlich auf hohem Sockel aufgestellt, von dem Teile des Reliefschmuckes sich noch erhalten haben, rechts und links davon auf eigenen Konsolen oder Postamenten die befreite Prinzessin und die Königsburg. Gestiftet war die St. Jürgen-Gruppe vom Reichsverweser Sten Sture, der Schweden befreit und geeinigt hatte – darin der große Vorläufer Gustav Wasas – zur Erinnerung an seinen entscheidenden, 1471 am Brunkeberg dicht vor Stockholm erfochtenen Sieg über die Dänen. Dreifach war ihre Bestimmung: Als Kultbild hat sie lange Zeit hindurch im Zentrum des religiösen Lebens der Stadt gestanden, als Siegesdenkmal war sie ein nationales Heiligtum des Landes, dessen Hauptfigur (wahrscheinlich auf einem anderen Pferde reitend) in der alljährlichen Gedenk-Prozession mitgeführt wurde, von der uns die Chroniken ausführlich berichten, als Grabmonument für Sture und seine Gattin ist sie endlich auch – eine damals sehr neuzeitliche Vorstellung – als persönliche Heldenehrung aufzufassen. Schon die eigentümliche Aufgabe, Kirchliches und Weltliches zu verbinden, den Heerführer und Staatsmann im Bilde des Heiligen vorzustellen, äußerlich im Rahmen traditioneller Altarkunst einen vollkommen neuen Typus volkstümlich-nationaler Repräsentation zu schaffen, entspricht in so hohem Grade den besonderen Fähigkeiten Notkes, erscheint so sehr "wie für ihn geschaffen", daß wir seine Mitarbeit schon bei der Konzeption des Planes annehmen möchten. [325] Freilich soll hier nicht vergessen werden, daß die schwedischen Verhältnisse seiner künstlerischen Arbeit Voraussetzungen geschaffen hatten, die in seiner engeren Heimat damals nicht gegeben waren. In der Genialität der staatsmännischen Leistung und in der Kühnheit der Auftragserteilung sehen wir den nicht zu unterschätzenden schwedischen Anteil an Notkes Meisterwerk. Man hat darauf hingewiesen, daß der Gedanke des Reiterdenkmals damals in Italien seine großartigste Ausprägung fand, daß schon seit 1447 Donatellos Gattamelata vielbewundert vor dem Santo in Padua stand, daß Verrocchio an seinem Colleoni, Leonardo an seinem Sforza-Denkmal zur gleichen Zeit arbeiteten wie Notke an seinem reitenden Georg, und daß von dort her die Anregungen gekommen sein müßten. Es würde zu weit gehen, daraus auf eine Italienreise des Künstlers zu schließen (die an sich, etwa zur Begleitung einer Gesandtschaft, im Bereich der Möglichkeiten gelegen hätte), auch andere Beziehungen zu italienischer Kunst – Anregungen Mantegnas etwa für die Aarhuser Passionsszenen – reichen für solche Annahme nicht aus. Wir werden sie uns, genau wie die Kenntnis chinesischer Drachen, die das Ungeheuer der St. Jürgen-Gruppe voraussetzt, durch indirekte Vermittlung hinreichend erklären können. Ja, gerade das ist für Notkes Arbeitsweise so charakteristisch: daß er von den Renaissance-Problemen genau so lebhaft erfüllt ist wie die Künstler südlicherer Länder, daß er ihre Lösung aber – fast möchte man sagen: tollkühn – auf eigene Faust, allein mit den Mitteln spätgotischer Formengebung innerhalb der gegebenen Verhältnisse zu erzwingen versucht. Von Zwiespältigkeit sind seine großen Leistungen gewiß nicht frei, doch was wäre Genie anderes als die magische Vereinigung von Gegensätzen?

St. Jürgengruppe.
[320a]      Bernt Notke: St. Jürgengruppe,
1489. Holz. Stockholm, Hauptkirche.

[Bildquelle: J. Maaß, Lübeck.]

Teilstück der St. Jürgengruppe.
[320b]      Bernt Notke: Kopf eines Toten.
Holz. Teilstück der St. Jürgengruppe.
Beim St. Jürgen wird keine klare Linie, geschweige denn eine im Zusammenhang ablesbare Gesamtform unter dem Gestrüpp krauser Einzelheiten erkennbar, und doch ist das Ganze von unbezweifelbarer Monumentalität. Ebenso unmittelbar teilt sich die Stimmung heroischer Aktivität jedem Betrachter mit, und doch ist die Figur des Ritters selbst von kaum überbietbarer Gelassenheit, nicht dem Schwert, sondern seiner Sendung vertrauend, Gott und Held in einer Person. Wilhelm Pinder sagt von ihm: "Seine Größe liegt im Zupacken" und an anderer Stelle: "Der Reiter ist nicht eigentlich im Kampfe, sondern wunderhaft erstarrt; die Schwerthaltung mehr festliches Signal als Hieb." Das widerspricht sich und ist doch beides vollkommen richtig. Die Bewunderung für das Ganze läßt sich wiederum nicht auf alle Einzelheiten der Ausführung erstrecken. Nicht nur die viel getadelte Prinzessin, selbst der Kopf des Heiligen oder gar die anatomisch unsichere Durchbildung des Pferdekörpers sind handwerklich derb. Vergessen wir es niemals: Notke war Maler und sicherlich auch ein großer Erfinder, wahrscheinlich überdies als Goldschmied ausgebildet. Was er dagegen als Bildhauer selber ausgeführt, was er nur in allgemeinen Umrissen entworfen hat, das ist jeweils nur zu vermuten. Auffallend durch besondere Vollkommenheit ist die auch technisch komplizierte Durchbildung des Drachens unter Verwendung [326] echter Elchgeweihe, die mit feinstem Sinn für Metalltechnik holzgeschnitzte Rüstung und das schmuckreiche Zaumzeug, endlich drei Totenköpfe, deren Anbringung im Gesamtaufbau des Monuments nicht mehr eindeutig zu rekonstruieren ist, besonders der eines erst eben Verstorbenen, der realistische Bildnishaftigkeit mit verallgemeinernder Todesverklärung geheimnisvoll verbindet. Dazu kommt endlich noch die meisterhafte Statuette des Königs Karl Knutson in Schloß Gripsholm, die von Roosval scharfsinnig als abgesprengtes Teilstück des Denkmals erkannt ist. Überall hier wird man Notkes eigene Hand erkennen dürfen. Noch sieben Jahre nach Errichtung der Jürgen-Gruppe ist der Meister in Schweden geblieben. Als des "rykes muntemester" bekleidet er ein hohes schwedisches Staatsamt. Weithin im Land spürt man in jener Zeit seine Wirkung, doch ist heute die Abgrenzung seiner künstlerischen Tätigkeit in Schweden im einzelnen noch nicht spruchreif. Es sei hier an zwei weitere Georgs-Darstellungen erinnert, die erst kürzlich mit überzeugenden Gründen als Werke Notkes haben vorgestellt werden können. Beides sind – auffallenderweise – Goldschmiedearbeiten: die phantastische Silberstatuette aus Elbing im Berliner Kunstgewerbemuseum und die reich verzierte Scheide eines Dolchbestecks, das ursprünglich Henning von der Heides Lübecker Georgs-Figur als Schmuck gedient hat.

Für Notkes letztes, in Lübeck verbrachtes Altersjahrzehnt sind die urkundlichen Nachrichten nicht allzu ergiebig. Immerhin lassen sie den Schluß zu, daß sich der Meister besten Ansehens erfreut haben muß. Mit dem achtzigjährigen Bürgermeister Ludeke van Thunen verbinden ihn freundschaftliche Beziehungen, ein Zeichen für seine geachtete soziale Stellung, wir begegnen ihm als Zeuge bei gerichtlichen Vergleichen, als Vormund, als Testamentsvollstrecker und Bevollmächtigter in Erbschaftssachen. Um Ostern 1505 hat er das Amt eines Werkmeisters der St. Petri-Kirche angetreten, das wir wohl als eine Art von Altersversorgung ansehen dürfen; regelmäßig zeigen die Rechnungsbücher seine eigenhändigen Eintragungen. Im ersten Drittel des Jahres 1509 ist er, offenbar hochbetagt, gestorben. Ob er in Lübeck noch künstlerisch ausübend war und was er geschaffen hat, ist nicht überliefert. Es ist indessen in hohem Maße unwahrscheinlich, daß der unternehmende Mann ein Jahrzehnt lang untätig geblieben sein sollte. Die künstlerische Welt um ihn her allerdings hatte sich stark verändert. Der Maler Hermen Rode war um die Jahrhundertwende gestorben. Der begehrteste Meister dieser Jahre scheint der Bildschnitzer Henning von der Heide gewesen zu sein, für den der 1496 datierte Fronleichnamsaltar der Burgkirche und die St. Jürgen-Gruppe von 1504 (beide heute im St. Annen-Museum) urkundlich gesichert sind. Henning war Notke-Schüler, das lehrt der Augenschein. Es lassen das auch eine ganze Anzahl von Arbeiten erkennen, die sich in Schweden erhalten haben: der Altar in Rytterne, die Figur einer Prinzessin aus Tyresö, ein Heiliger Hieronymus in Vadstena, um nur die wichtigsten zu nennen. Es sei hier angemerkt, daß auch die Vermutung festen Boden gewinnt, Henning sei unter Notkes [327] Mitarbeitern an der Stockholmer St. Jürgen-Gruppe gewesen und habe z. B. die Sockelreliefs geschaffen. Auffallend aber ist es, wie sein Stil über die statuarische Monumentalität des Lehrers hinausstrebt zu einer mehr erzählenden Vortragsweise, zu psychologisch vertiefterem Ausdruck, wie er spontaner, affektreicher gestaltet, jedoch unter Einbuße an plastischer Wucht. Der Vergleich von Hennings St. Jürgen-Gruppe mit der Notkes läßt das besonders deutlich erkennen. Suchen wir unter den in Lübeck erhaltenen Kunstdenkmälern nach Notkes Alterswerken, so werden wir uns also nicht an die fortschrittlichsten Leistungen der Zeit halten dürfen.

Ein Werk nun, vollkommen ungewöhnlicher und – ist es wirklich um 1500 entstanden – auch unzeitgemäßer Art, spätmittelalterlich befangen und doch von eigenwillig fortschrittlichem Bemühen, vor allem aber von unvergleichlich eindrucksvoller Monumentalität, hat sich in dem großen, 2,50 m hohen und 3,75 m breiten Gemälde der Messe des Heiligen Gregor in der Marienkirche erhalten.

Bernt Notke: Messe des Heiligen Gregor.
[328a]      Bernt Notke: Messe des Heiligen Gregor, um 1500. Lübeck, Marienkirche.
[Bildquelle: J. Maaß, Lübeck.]

Vieles spricht dafür, daß es vom Kanonikus Greverade zum Jubiläumsjahr bestellt ist, das mit großen Zeremonien gefeiert worden ist, eine norddeutsche Parallele zu den bekannten Basilika-Bildern des älteren Holbein in Augsburg. Das würde das ungewöhnliche Gepränge der Darstellung auch äußerlich erklären. Lange hat die Forschung geschwankt, welchem Meister sie dies Werk zuschreiben solle, das sich jeder Einordnung zu widersetzen scheint. Wir glauben, es für Notke in Anspruch nehmen zu dürfen. Der "Totalcharakter" ist durchaus derjenige seiner größten Leistungen in Aarhus, Reval und Stockholm. Mit leidenschaftlichem Aufwand werden Spannungen seelischer und künstlerischer Art angedeutet und wieder aufgelöst in festliche Repräsentation. Der Pracht überreicher dekorativer Flächenfüllung – die Tafel wirkt, unterstützt durch den Reichtum der Gewänder, fast wie ein Bildteppich – verbindet sich das neue Ideal überzeugender Gestaltung von Raum und Einzelpersönlichkeit mit unheimlich andrängender Mächtigkeit. Schwieriger ist die Verknüpfung des Spätwerks mit den frühen Arbeiten des Künstlers auf Grundlage stilistischer Einzelvergleichung. Aber auch das ist möglich und an anderer Stelle ausführlich unternommen worden. Hier genüge die schlagende stimmungsmäßige Verwandtschaft des Totenkopfes in Stockholm mit dem Greisenhaupt des anbetenden Papstes in Lübeck, ferner der Hinweis auf ein bisher in diesem Zusammenhang nicht beachtetes verbindendes Zwischenglied: auf die ebenfalls schwer einzuordnenden, ungestüm ausdruckskräftigen Holzschnitte des bei Steffen Arndes in

Bischof Jens Iwersen vom Hochaltar des Doms zu Aarhus.
[328b]    Bernt Notke: Bischof Jens Iwersen
vom Hochaltar des Doms zu Aarhus, 1479.

[Bildquelle: Kunstgeschichtliches Seminar
der Universität Marburg.]

Papst Gregor von der Gregorsmesse.
[328b]      Bernt Notke: Papst Gregor
von der Gregorsmesse, um 1500. Lübeck.
Lübeck 1489 gedruckten Totentanzes und der ebendort erschienenen niederdeutschen Bibel von 1494. Hat Notke diese Holzschnitte von Schweden aus geliefert? Die Flügelbilder des Altars von Tensta in Uppland zeigen die engste Übereinstimmung mit ihnen und beide Werkgruppen lassen sich durch Stilvergleichung sowohl mit den frühen Notke-Malereien aus der Zeit um 1480 als mit der Gregorsmesse verbinden. Läßt es sich endlich nicht sehr wohl denken, daß eine so stark auf ausdrucksbetonte Menschen- [328] darstellung gerichtete Kunst wie die, welche den Kopf des Bischofs Iwersen in Aarhus und den des Königs Karl Knutson in Gripsholm geschaffen hat, sich schließlich zu der unvergleichlichen Höhe der Charakterköpfe des Gregor-Bildes erhoben haben könnte? Auch sie sind immer noch keine Bildnisse im modernen Sinne, aber die eindrucksvollste Summe typenmäßiger Menschenschau. Gerade dies eigensinnige Verharren bei symbolhaltiger Darstellungsweise trotz voll entwickelter handwerklicher Fähigkeit zu realistischem Ausdruck ist bezeichnend für einen bejahrten Meister, der mit sicherem Instinkt die Grenzüberschreitung zur Wirklichkeitsmalerei scheut, die ihn entwurzeln würde.

Auf der gleichen Stufe steht die Grabplatte des Ratsherrn Hermen Hutterock, eines Mannes, der uns in Notkes Leben schon zur Zeit seines Aarhuser Prozesses begegnet. Walter Paatz, der diese bisher kaum beachtete, grandiose Leistung aus der Zeit um 1508 erst kürzlich als voraussichtlich letzte Arbeit Notkes in Anspruch genommen hat, charakterisiert sie folgendermaßen: "Sie zeigt den Hingeschiedenen und seine Gemahlin unter üppigem Bogenwerk in eingetiefter, schwarz ausgelegter Zeichnung. An düsterer Größe tut sie es den berühmtesten zeitgenössischen Phantasien über den Tod gleich, ja, sie gibt sich eher noch spröder als selbst die schroffsten unter diesen. Es ist, als ob die zusammengetrockneten, in gespenstiges Gefält eingesponnenen Leichen Hutterocks und seines Weibes gleichsam knisterten von elektrischen Funken, die dann im Flammengeäst des Baldachins jähsprühend aufblitzen. Abgestorben und doch von unbeugsamer Tatkraft durchgeistet, wirken sie wie aus einer Vermischung des Todes und des Lebens erzeugt." Gewiß, das ist Bernt Notke, der große Meister der Totentänze.

Endlich gehört hierher noch eine plastische Arbeit, die schönste lübeckische Figur dieser Zeit schlechthin, ein Evangelist Johannes in der Marienkirche, von echter statuarischer Größe und sanftester Beseelung. Die Zuschreibung schwankt zwischen Notke und Henning, und wenn sich zwischen ihr und der entsprechenden Johannes-Figur des Revaler Altars auch eine ähnliche Beziehung aufzeigen läßt wie zwischen den gemalten Bildnissen in Aarhus und denen der großen Gregor-Tafel, getrennt nur durch die Zeit – hier Vorstufe, dort Vollendung –, so scheint es doch gerade diesem Werk kampfloser Schönheit gegenüber notwendig, an die Möglichkeit zu erinnern, daß ein in den Werkstattgewohnheiten des alten Meisters aufgewachsener, unter seinen Augen arbeitender Schüler dies frisch und jugendlich wirkende Heiligenbild geschaffen hat. Noch ist, trotz aller Auflehnung dagegen, Zunftgeist des Mittelalters lebendig und Notkes einst so revolutionäre Kunstsprache ist längst zur lübeckischen Tradition geworden.


Aus Urkunde, Kunstwerk und verknüpfender Vermutung, deren Maß an Glaubwürdigkeit sich von nichts anderem herzuleiten vermag als vom Maß der Einfühlung in jenes seltsame Zeitalter, entsteht das Bild einer der großartigsten [329] und bewegendsten Gestalten des deutschen Nordens. In seiner Person wird noch einmal zusammengefaßt, was Generationen kaufmännischer Eroberer vor ihm errungen haben und im Begriff sind, wieder preiszugeben. Am Ende steht der Künstler; seine heute noch schaubare Kunde von der Macht hansischen Geistes hat die Zeiten überdauert. Nur wo die beharrenden Mächte als Träger des Kolonisationsgedankens durch Jahrhunderte hindurch die eigentlich fruchtbaren geblieben waren, nur dort konnte eine Persönlichkeit von der Wucht und dem Ausmaß eines Renaissance-Menschen, wie Notke es zweifellos gewesen ist, in vielfach noch mittelalterlich beschränkten äußeren Verhältnissen, schon in der Periode des Wetterleuchtens einer neuen Zeit, ihre entscheidende Leistung vollbringen. Was die Umwelt an helfenden Kräften zu vergeben hatte, das war unlöslich verknüpft mit der großen Vergangenheit. Von der Zukunft war nichts zu erwarten. Die nordischen Nationalstaaten erstarkten immer mehr, die Handelskonkurrenz auf der Ostsee, besonders die der Holländer und der Dänen, wurde übermächtig, die untereinander längst nicht mehr einigen Städte des Hansebundes sanken an Bedeutung weit hinter die emporstrebenden, reichen Handelsplätze des deutschen Südens zurück, Lübecks Ansehen verblaßte neben dem Augsburgs und Nürnbergs. Vermochten im Süden Renaissance und Humanismus stärkste Kräfte der Persönlichkeit zu befreien, die in Dürer und Holbein Deutschlands größte Meisterwerke entstehen ließen, so bedeutete im Ostseegebiet das Ende des Mittelalters zugleich auch das Ende der Kunst.

Freilich ist dieses Ende in ebenso überraschender Weise weit über das zu erwartende Maß hinaus verzögert worden, wie die schöpferischen Anfänge auf künstlerischem Gebiet so überraschend spät sich eingestellt hatten. Fehlt auch schon der tragende Unterbau gefestigter wirtschaftlicher, politischer, sozialer Verhältnisse, so vermag doch die Kunst aus sich selbst heraus noch eine Zeitlang neue Kräfte zu entwickeln. Dem empfindsamen Betrachter allerdings wird das Übertreibende, das außerhalb der gegebenen Verhältnisse frei Schwebende und daher leicht manieristisch Entartete solcher Spätkunst nicht entgehen. Eben deswegen kommt auch den geschmacklich so fesselnden Arbeiten eines Claus Berg und eines Benedikt Dreyer, die eine letzte Hochblüte lübeckischer Kunst heraufführen, nicht mehr die gleiche Bedeutung zu wie dem Lebenswerk Notkes. Dreyer vereinsamt. Er hat wenig fürs Ausland geliefert, nur eine Werkstattarbeit in Norwegen kennen wir von ihm außerhalb Lübecks. Und auch hier scheint er in seinen letzten Lebensjahrzehnten nach Einbruch der Reformation künstlerisch kaum noch tätig gewesen zu sein. Seine feingliedrigen, durchgeistigten, schmerzlich-pathetischen Figuren vom Lettner der Marienkirche gehören einem sterbenden Geschlechte an. Claus Berg ist derber. Auch macht er noch einmal einen Vorstoß in nordisches Gebiet, erobert künstlerisch gerade dasjenige Land, das am wirtschaftlichen Ruin der Hanse den stärksten Anteil hat. Aber sein jahrelanges Arbeiten am Hof der dänischen Königin Christine auf Fünen hat auch etwas von einer Flucht. In seiner [330] Heimatstadt gab es keine Aufgaben mehr, die seinem anspruchsvollen, zum großfigurigen Repräsentationsstück drängenden Schaffenstrieb hätten genügen können. Wie bezeichnend ist es, daß in Lübeck allein im Jahre 1518, knapp ein Jahrzehnt nach Notkes Tod, drei künstlerische Importstücke in der Marienkirche aufgestellt werden: ein großes Triptychon Adriaen Isenbrants, ein kleinfigurig-redseliger Antwerpener Schnitzaltar und eine herrliche Grabplatte mit Renaissance-Motiven aus der Nürnberger Werkstatt Peter Vischers. Der Einkauf modischer "Fertigfabrikate" entspricht der allein auf Sicherheit bedachten Geisteshaltung der Spätlinge. So sieht Claus Berg sich genötigt, in den letzten nordischen Hochburgen des Katholizismus, am Schluß seines Lebens in Mecklenburg, seine schwelgerisch unberechenbare Kunst zu entfalten, deren fast schon barocke Formenwelt von gegenreformatorischer Leidenschaft erfüllt ist. Sein berühmter Allerheiligenaltar in Odense aus den Jahren 1516 bis 1522, ein wahres Wunderwerk an dogmatischen Heilsrequisiten und schnitztechnischen Verführungskünsten, ist zu flackrig bewegt, um – wie bei Notke – ein überzeugendes Sinnbild sein zu können, zu virtuos, um an die Seele zu rühren, aber er ist die letzte Aufgipfelung konservativ-heroischen Kunstgeistes.

Noch lange verarbeiten die Nachfahren das ererbte Formengut, Erinnerungen an Notke, Berg und Dreyer finden sich in dekorativen Schnitzereien an Stuhlwangen und Schrankenwerk. Im dritten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts löst in Lübeck ein Geschlecht hausbackener Handwerker, das auf den engen Kreis der eigenen Stadt beschränkt bleibt, die großen schöpferischen Meister ab, die ein Jahrhundert lang dem ganzen Norden das künstlerische Gepräge gegeben hatten.




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Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz