[Bd. 1 S. 246]
Versuchen wir, diesen philosophischen Beweggrund seines ganzen Lebenswerkes zu begreifen, so gilt es zunächst, die drei großen Fragenbereiche zu überblicken, die Cusanus mit seiner neuen Wissenslehre durchleuchtete. Es handelt sich erstens um das Verhältnis von Gott und Welt, um die Eigenart jener "Kluft" zwischen beiden, die für christliches Bewußtsein bestehen muß. Zweitens um den Begriff der Welt als des All, also um die einheitliche Ganzheit des "Weltalls". Drittens um die Bestimmung des Menschen, insonderheit um die Bedeutung der menschlichen "Vernunft".
Der alte Satz, "daß zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen keine Proportion bestehe", gilt nach Cusanus grundsätzlich und uneingeschränkt nur für das Verhältnis zwischen Göttlichem und Weltlichem. Gott ist das Eine, das Unendliche, Unbedingte, Absolute; alles Weltliche ist verschieden, endlich, bedingt und relativ. Also entbehrt das Verhältnis vom Endlichen und Unendlichen der "Maßgleichheit". Nun aber ist nicht nur unser Dasein in der Welt endlich, sondern auch unser Denken des Weltlichen ist endlich. Unser Denken bewegt sich im Bereiche des "Mehr oder Minder". Alles, was unser Verstand an Weltinhalten denkt, ist größer oder kleiner, besser oder schlechter, richtiger oder weniger richtig. Unser endliches Denken ist ein Vergleichen des Vergleichbaren, es ist ein Denken der "comparatio". Unser Denken müßte statt komparativ superlativ werden, wenn es Gott erreichen sollte. Also kann der Gegensatz von unendlich und endlich auch ausgesprochen werden als Gegensatz von "superlatio" und "comparatio"; nur darf die superlatio nicht als höchster Grad von Steigerung, sondern sie muß als der alle Steigerung übersteigende Grad verstanden werden. Gott ist der Ewig-Selbige, alles außer Gott ist durchgehend wandelbar; nur Gott ist das Nie-Andere, alles außer ihm das Immer-Andere. Da Gott das schlechthin Unendliche, das unbedingt Superlative und ewig Selbige ist, ist er im absoluten Sinne das Einzig-Eine, dem gegenüber alles Andere zum Bereiche des Vielen gehört. Wie in der Zahlenreihe die Eins allen Zahlen voransteht und dennoch den Grund aller Zahlen in sich enthält, da jede Zahl wiederum "eine" ist, so ist Gott das "eingefaltet" Eine, demgegenüber alles Andere Ausfaltung und Auswickelung ist. In Gott liegt die reine "complicatio", alles Weltliche ist seine "explicatio". In diesem Gedanken nun liegt für Cusanus ein Mittel, das grundsätzlich ungleiche Verhältnis zwischen Göttlichem und Weltlichem dennoch denkbar zu machen: Wie alle entfaltete Vielheit ihr Maß nur in der einfaltenden Einheit findet, so ist der Eine unendliche Gott zugleich der Maßstab für alles Weltliche, wofern es meßbar ist. Gott ist die unbedingte "mensura", jegliches Andere ist "mensuratum". All diese Begriffspaare, welche den Einen Gottes- [248] begriff (unter mancherlei Bezeichnungen) auf die eine Seite stellen und die verschiedenen Begriffe von allem Anderen auf die andere Seite, sind lauter Richtung suchende Gesichtspunkte unserer Vernunft, unter denen die eine Tatsache betrachtet werden muß, daß unser verstandesgemäßes Denken, welches von Begriff zu Begriffe läuft, also "diskursiv" ist, einer logischen Bewegung ins Jenseits bedarf, eines "transcensus", wenn es das absolute Denken gelten soll. Es ist eine andere Denkform, in der das Unbedingte, eine andere, in der das Bedingte von uns begriffen wird. Und wie die beiden Arten des Begreifens, so stehen auch ihre beiden Gegenstände in einem Gegensatze zueinander, der alles Ebenmaß verstandesgemäßen Begreifens sprengt. Das vielerlei Endliche und das Eine Unendliche stehen zueinander wie das in sich selber Gegensätzliche zu dem in sich selber Einen. Wie der endliche Kreis und das endliche Vieleck zueinander gegensätzlich bleiben, aber im Unendlichen zusammenfallen, so ist Gottes Einsheit zu vergleichen der "coincidentia oppositorum", alles Weltliche hingegen bleibt Stätte durchgehender Verschiedenheit. Größtes und Kleinstes, Wirklichkeit und Möglichkeit, Denkendes und Gedachtes fallen im Endlichen stets auseinander, nur im absolut Unendlichen fallen sie zusammen. Demnach erweist sich unser Wissen im Grunde als "Unwissenheit". Denn richten wir unser Denken auf Weltliches, so ist nur vergleichendes, komparatives Wissen möglich, das der Absolutheit entbehrt; richten wir hingegen das Wissen auf das Absolute, so versagt unsere endliche Denkform, die auf Vielheit angewiesen und dem Einzig-Einen nicht gewachsen ist. "Präzises" Wissen kann nur Gott selber haben. Wie sein Einer Blick zugleich der unendliche Blick ist, da er alle Vielfalt des Geschehens in der Einfaltung seines unendlichen Augenblicks intuitiv erschaut, so bedarf auch das göttliche Wissen nicht des Vergleichens, nicht des vergleichenden Zählens, Messens, Nennens, Wertens, Deutens, sondern in der unendlichen Einsheit von Gottes Sein liegt zugleich die Allheit und Unbedingheit seines allein wahren Wissens. Schon in dieser ersten Fragestellung zeigt sich, daß der Cusaner vornehmlich in platonisierender Überlieferung steht, wie sie im Mittelalter besonders auf Grundlage von Proklos' Schriften sich erhalten hatte. Cusanus überträgt die scharfe Scheidung, die Platon zwischen der ewigen Seinsheit der Ideen und dem Bereiche der wandelbaren Erscheinungen vorgenommen hatte, auf den Gegensatz zwischen dem Göttlichen und dem Weltlichen, und Cusanus begründet wie Platon diesen Gegensatz rein "dialektisch". Er geht aus von dem logischen Inhalte der begreifenden Begriffe, und aus der Verschiedenheit der zwei begrifflichen Formen folgert er die Verschiedenheit der beiden Inhalte, die in ihnen geborgen sind. Aber neben dem Einflusse des Platonismus steht der der deutschen Mystik und ihrer Lehre von der allen Verstand übersteigenden Jenseitigkeit des einen, unendlichen Gottes. Die unendliche Einsheit Gottes war in der christlichen Philosophie in neuplatonischer Denkweise durch die "Negative Theologie" des Areopagiten [249] zum beherrschenden Lehrstück geworden und hatte im Hochmittelalter durch Meister Eckehart diejenige Prägung erhalten, welche auf Cusanus den stärksten Eindruck gemacht hat. So bildete er den Platonischen Dualismus zwischen Ideen und Erscheinungen ins Christliche um, indem er Gott allein zum Inbegriff des Absoluten machte, neben dem eine selbständige Ideenwelt im Sinne Platons nicht bestehen kann. Aber schon hier ist auch noch ein Weiteres deutlich: der Schnitt zwischen Endlichem und Unendlichem hat für unser menschliches Wissen eine eigenartig doppelte Bedeutung. Einerseits weist er das Denken des Endlichen streng in seine Schranken und erteilt aller Scheinwissenschaft, die mit den endlichen Denkmitteln der Schlußfolge dem unendlichen Gotte nahen zu können glaubt, die endgültige Absage; andererseits eröffnet aber gerade diese neue Art, das Denkbewußtsein selber zu zergliedern, den unerwarteten Ausblick auf einen neuen Weg der Gotteserkenntnis. So hoch auch das Ewig-Selbige über dem Stets-Andern, das Einfaltende über dem Ausgefalteten, der Maßstab über dem Gemessenen erhaben ist: das Wissen um den Schnitt macht dennoch zugleich ein Wissen um die "Teilhabe" möglich. Es zeigt sich, daß die ernsthafte Erkenntnis der Unerkennbarkeit Gottes durchaus ihre positive Seite hat und daß aus der Unwissenheit eine "docta ignorantia" werden kann. Denn wer sich des bloß vergleichenden Charakters unseres Verstandeswissens bewußt wird, der muß die "präzise Gleichheit" als Absolutes voraussetzen. Wer alles Weltliche als bloß ausgefaltete Vielheit begreift, der muß die reine Einsheit des Einfaltenden als Absolutes vorausdenken. Alles Meßbare ist "Zeichen" für den absoluten Maßstab; alles Wandelbare ist "Symbol" für das Absolut-Selbige. Wer den Sinn der "Grenze" begreift, dem wird die Grenze selber zum Kennzeichen, daß sich dem Denken eine Pforte öffnen kann, die zum mindesten einen Ausblick ins Unbedingte verstattet. So erneuert Cusanus auch durch die "belehrte Unwissenheit" einen grundsätzlichen Zug der Philosophie Platons: Teilhabe und Maß, Zeichen und Symbol sind ihm Begriffe, deren tiefe Bedeutung er wahrhaft erst in christlicher Gesinnung erfüllt sieht. Denn jene Pforte öffnet sich nur demjenigen unverbildeten Denken, welches den Hochmut der Schulweisheit ablegt und die natürliche Demut des "Laien" annimmt. Zur angemessenen Erkenntnis der göttlichen Einfaltung gehört die Herzenseinfalt des Erkenntnis erstrebenden Menschen. Ihm wird der Gottesbegriff nicht zum Gegenstand eines Beweises, sondern zur Voraussetzung alles Beweisens.
Im Weltall hat das Allgemeine besondere Gestalt angenommen; und im Weltall ist das Gestaltete, das Wesenhafte, das Besondere ins Allgemeine, Große und Umfassende gesteigert. Das Weltall ist individuelles Geschöpf im Großen. Für alle einzelnen Geschöpfe haben wir festzuhalten, daß sie in ihrer Endlichkeit zueinander in Widerspruch und Gegensatz stehen, sie sind "opposita". Alles Einzelne in der Welt ist individuell in dem Sinne, daß es nicht zweierlei Weltliches gibt, was einander "präzis" gleich sein kann. Dieses Individualprinzip folgt aus dem Begriffe der Teilhabe: Jegliches in der Welt hat die Teilhabe am Einen zur Aufgabe erhalten, und jedes Einzelne kann diese Teilhabe nur auf seine besondere und unvertauschbare Weise erfüllen. Daher ist es "notwendig", daß im Bereiche des Endlichen Gegensätzlichkeit besteht. Das Weltall selber aber ist dasjenige Geschöpf, welches als Ganzheit und Allheit alles Geschöpflichen die Widersprüche der Besonderungen organisch in sich eint und sie auf diese Weise ausgleicht, also in einer gottähnlichen Weise zur Koinzidenz bringt und aufhebt. Denn das Weltall ist nicht "größer oder kleiner", sondern es ist "das Größte", es ist das "kontrakte Maximum". Dieser Ausdruck besagt folgendes: Alle Allgemeinbegriffe (zum Beispiel die der Gattungen und Arten) sind "abstrakt", sofern wir im Denken das Besondere und Zufällige "abziehen" müssen, um zu jenen Allgemeinbegriffen zu gelangen. Dasjenige hingegen, was besonders und zufällig ist, ist "kontrakt", sofern das Allgemeine und Gattungsmäßige im Einzelnen eingeschränkt, eingegrenzt, "zusammengezogen" ist. Das Weltall ist kontrakt, weil es selber einzeln, einmalig und eigentümlich ist; es ist aber das Größte von allem Kontrakten. Mit diesem Begriffe des "Größten" hat der Cusaner ein Denkmittel geschaffen, um zwischen das Absolut-Unendliche (Gott) und das Relativ-Endliche (das Einzelne in der Welt) einen gleichsam die Mitte haltenden Begriff zu stellen, der die grundsätzliche Kluft zwischen beiden nicht aufhebt, sondern sie vielmehr betont und bestätigt. Wie allem Komparablen das Absolute gegenübersteht, das jeglicher Steigerung entrückt ist, und wie dennoch zwischen dem Absoluten und dem Komparablen der höchste Grad der Steigerung liegt, so ist das Weltall weder unendlich wie Gott noch endlich wie die Einzelgeschöpfe, sondern es ist das unendliche Ganze alles Endlichen; es steht zwischen dem Einzig-Einen und den Einzeln-Vielen als das "All". [251] Dieses "All", weil es in sich selbst einheitlich ist, ist Abbild des Ur-Einen. "Ganzheit" ist im Bereiche des Weltlichen diejenige Form, die der unbedingten "Einsheit", also Gott, am ähnlichsten ist. Demnach ist das Weltganze das geschöpfliche Abbild des absoluten Einen, Unendlichen. Die unbedingte und unendliche Einsheit eignet nur Gott. Wenn man aber das Eine Absolut-Unendliche mit einem Kreise vergleicht und alle Sonderformen des Endlichen mit der Reihe aller möglichen n-Ecke, so wäre das Weltall dem größten Polygon zu vergleichen. Dem Göttlich-Absoluten steht alles Endliche als gestuft, als gegliedert, als nach Arten und Gattungen in Reihen geordnet (seriatim) gegenüber. Aber es gibt einen Inbegriff der Stufung, eine Ganzheit aller Reihung, eine Ordnung alles Weltlichen, und diese ist das lebendige Weltall. Nun ist das Gesetz alles Lebens dies, daß im Organismus die Ganzheit über das Einzelne herrscht und daß sie im Einzelnen auf verschiedene Weise, aber immer ganzheitlich enthalten ist. Nicht nur das einzelne Glied des Organismus ist als Teil "in" einem Ganzen, sondern das Ganze selber ist im einzelnen Teile "anwesend" und durch ihn gliedhaft "vertreten". Im Auge des Menschen ist "Menschheit" als Auge vertreten, in der Hand dieselbe Menschheit als Hand. In gleichem Sinne ist das Weltall in jedem Einzelgeschöpfe "repräsentativ" gegenwärtig. Die Einheit Gottes ist in den Reihen und in der Vielheit seiner Geschöpfe "explizit" geworden: darauf beruht deren "participatio" am Absoluten. Und die Ganzheit des Universums ist in der Individuation der Geschöpfe in endlicher Weise "kontrakt" geworden: darauf beruht die "repraesentatio" des Allgemeinen im Besonderen. Wie jede Zahl der Zahlenreihe an der Eins "teilhat", jede Zahl aber diese Teilhabe nach Maßgabe ihrer besonderen Stelle in der Zahlenreihe in verschiedener Art und verschiedenem Grade "vertritt", so haben alle endlichen Geschöpfe an dem einen Unendlich-Göttlichen nach Maßgabe ihrer besonderen Stelle im Universum teil, jedes in verschiedener, eigener und unvergleichlicher Weise. Es gibt nicht nur das Endliche, welches teilhat, und das Absolut-Unendliche, an welchem es teilhat, sondern es gibt das Universum als die Ganzheit aller Teilhabe. Es gibt nicht nur die verschiedenen Stufen des Geschöpflichen, sondern es gibt den Inbegriff aller Stufung. Dies ist das Weltall. Es ist Gott gegenüber das bloße Abbild und Gleichnis seiner absoluten Unendlichkeit, es besitzt also nur eine Unendlichkeit zweiten Grades: die Unendlichkeit des "Grenzenlosen", nicht die des Allmächtigen; es ist aber allen endlichen Geschöpfen gegenüber das unendliche Ganze, das vollkommen Einige und die konkret gewordene Idee alles dessen, was in der Form individueller Teilhabe am Absoluten vom Schöpfer die Bestimmung erhalten hat, als Einzelnes das Ganze zu vertreten. Die Teilhabe des Einzelnen am Einen ist nur möglich, indem das Einzelne im Ganzen das von Gott als sein "Abbild" geschaffene "Vorbild" erkennt und nach Maßgabe der individuellen Kräfte des Einzelnen diese Ganzheit zu vertreten strebt. Dafür aber bedarf es des Lehrers, und dieser ist Christus. Für Cusanus ist der [252] Begriff Christi vom Begriffe des Weltalls untrennbar. Da das Weltall als "kontraktes Maximum" die Ganzheit aller Schöpfung, aller gestuften Teilhabe am Einen ist, so muß es in dieser Wirklichkeit einen wirklich höchsten Grad solcher Teilhabe geben, in welchem allein der Sinn des Ganzen vollkommen erfüllt ist. Denn Teilhabe ist Angleichung, und diese setzt einen Höchstfall von Gleichheit als Ideal voraus. Das Weltall wäre nur ein Ganzes von "Teilen", aber nicht von "Teilhabenden", wenn es im "Größten" nicht zugleich ein "Höchstes" gäbe, in dem alle Aufgabe und Bestimmung der Welt den Charakter unbedingter Höchstleistung angenommen hat. Verstehbar der Zweckbestimmung nach wird das Weltganze noch nicht, wenn es nur als umfassende Allheit begriffen wird, sondern erst wenn in einem unbedingt vorbildlichen Gipfelbegriffe die Gleichheit mit dem von Gott gewollten Weltsinne als wirklich erreicht gedacht wird. Das war nach Cusanus schon der Sinn der hellenischen Logosphilosophie: Die Welt wäre nicht der "Kosmos", wenn sie nicht den "Logos" in sich hätte. Der reine Logos aber ist die reine Humanitas: Menschlichkeit und Vernünftigkeit sollen zu vollendeter Gleichung kommen. Alle Stufung der Geschöpfe gipfelt im Menschen, alle Stufung des Menschlichen in der Idee der reinen Menschheit: in ihr soll die unendliche, göttliche Vernunftform auf Erden (actualis) wirklich werden. Was aber die hellenische Philosophie im Begriffe gedacht hatte, das ist durch Christus geschichtlich zur Tatsache geworden, und darauf beruht für Cusanus die Absolutheit und Wahrheit des Christentums: Wenn die Idee der Humanität höchste Erhöhung, lebendigstes Leben, gleichste Gleichheit mit Gott bedeutet, so hat in dem wirklichen Christus diese Idee die einmalige und unwiederholbare Wirklichkeitsgestalt angenommen. Er hat die Idee in der Welt heimisch gemacht, indem er das Leben mit dem Tode, die höchste Erhöhung mit der tiefsten Erniedrigung, die nächste Gottesnähe mit der fernsten Gottverlassenheit zur "Koinzidenz" brachte. Wenn Gott die "unbedingte Wahrheit" ist, so ist in Christus der "unbedingte Glaube" an die Wahrheit wirklich geworden. Wenn Gottes Einsheit das gesamte Weltsein "eingefaltet" in sich begreift, so ist in Christus die Einfaltung des gesamten Weltsinnes, der ganzen in der Welt zu verwirklichenden "Menschlichkeit" beschlossen. Daher ist er der Lehrer aller menschlichen Teilhabe an Gott; und nur durch den Christusbegriff wird es für Cusanus möglich, aus dem Weltproblem heraus das Problem der Geschichte und der Kultur zu entwickeln. Das Weltproblem geht die Frage an, wie aus dem Komplizit-Einen in der Natur das Explizit-Viele wird. Vom christlichen Standpunkte des Cusanus aus liegt hierin auch der Sinn der Geschichte beschlossen. Es gilt nicht, die Vielheit und scheinbare Zufälligkeit des Mannigfaltigen im Kulturleben gering zu achten oder gar zu zerschlagen; die Verschiedenheit der Völker und Sprachen, der Religionen und der Philosophien soll nicht dem Trugbilde einer künstlich gemachten Einförmigkeit zu Liebe vernichtet werden; vielmehr soll auf allen Gebieten im Vielen das Ganze und das Eine gesehen werden, im Individuellen und Eigen- [253] tümlichen die besondere Art der Vertretung und der Teilhabe. In aller Kultur aber, deren Weg die Geschichte ist, ist das Einfaltend-Eine nicht nur der Ursprung der Vielfalt, sondern es bezeichnet auch ihr Ziel, sofern der Sinn der Vielheit und Mannigfaltigkeit in "concordantia" besteht. Nicht einmal im religiösen Leben, ja in ihm eher noch weniger als in anderen Bereichen, darf das persönliche Bekenntnis eine Verführung zur Unduldsamkeit bedeuten: "Una religio in rituum diversitate." Sogar den Gottesglauben zu verwirklichen und zu vertreten darf nur auf individuelle Weise möglich sein, sonst ist es um den Wert der Teilhabe geschehen. Die christliche Kirche ist die explicatio des Glaubens aller christlich Gläubigen; aber Cusanus verlangt, sie solle sich einerseits mit allen anderen Glaubensgemeinschaften, die sich zum Einen Gott bekennen, unter christlicher Führung zusammenschließen, und sie solle andererseits innerhalb des christlichen Bekenntnisses das ihr aufgegebene Ziel nicht in einer starren Einförmigkeit des Glaubenslebens erblicken, welche die Freiheit aufhebt, sondern im Gegenteil: in einer Anleitung zum tätigen Erwerbe der Teilhabe am Einen und zur wahrhaft gliedhaften Vertretung des Ganzen, worin erst der Sinn der menschlichen Freiheit ganz offenbar wird: Auge in Auge mit dem Absoluten in persönlicher Weise dem Ganzen zu dienen. So schließt der Weltbegriff des Cusanus drei Fragen in sich: nach dem "Ganzen" der Welt, nach dem "Gipfel" der Welt, nach dem "Ziele" der Welt. Wiederum führt die geschichtliche Herleitung seiner Philosophie auf die Überlieferung des Platonismus zurück. Das "Weltganze" des Cusanus ist ein Begriff, der bis auf den Timaios Platons zurückgeht. Der "Weltlogos" des Cusanus ist nach Maßgabe der Anfangsworte des Johannesevangeliums gedacht, die vom Spätplatonismus Philons beeinflußt sind. Der kirchlich-geschichtliche "Weltsinn" des Cusanus hat seinen Ahn im Augustinischen Platonismus: in der Lehre von Entfaltung und Offenbarung des Ur-Sinnes im Werden, von den Spuren des Göttlichen in Vielfalt und Irrsal der Menschengeschichte, und vom Gottesfrieden als dem Kennzeichen der Gottesgemeinschaft. Aber so wenig wie die Gotteslehre des Cusanus ist auch seine Weltlehre in irgendeiner Hinsicht entlehnt, sondern die platonisierende Überlieferung gibt ihm nur die Anleitung, in ursprünglicher und natürlicher Weise zu philosophieren, wie die Weisen, "die noch keine Bücher hatten", das bedeutet für ihn: mit offenem Auge und mit frommem Herzen.
Cusanus hat seine Lehre von der menschlichen Vernunft am ausführlichsten in dem Mittelteile seines Werkes über den "Laien" ("Idiota") entwickelt, das er auf der Höhe seines Lebens, im Jubiläumsjahre der Kirche 1450 geschrieben hat. Wie damals Menschen aus aller Welt den Weg nach Rom fanden, so wollte er von Rom aus allen Wahrheitssuchern den Weg zu rechter Philosophie weisen. Das [254] Werk enthält drei selbständige Untersuchungen in Form sokratischer Gespräche, ist also eine Trilogie in dem Sinne, wie auch Platon bisweilen Dialoge zu einer Dreieinheit zusammengefaßt hat. Die drei Gespräche geben die endgültige Auskunft über die Stellung des Cusanus zu den drei Grundrichtungen der mittelalterlichen Philosophie: zur Mystik, zur Dialektik, zur Scholastik. Alle christliche Philosophie mußte von jeher eine nahe Beziehung zur "Mystik" haben, sofern der christliche Kirchenbegriff selber mystisch war. Die Kirche galt, seit dem Areopagiten, als der mystische Leib der himmlischen Hierarchie. Die Beziehung des christlichen Denkens zur "Dialektik" war darin gegeben, daß der christliche Gottesbegriff dreifaltig ist und der Begriff der Dreifaltigkeit nur dialektisch verstehbar gemacht werden kann. Wenn der "Vater" gedacht werden soll, so ist der Begriff des "Einen" zu denken; wenn der Sohn, so der Begriff der "Gleichheit", wenn der Geist, so die "Vereinung" von Einheit und Gleichheit. Und die christliche Philosophie mußte "Scholastik" sein, weil die Welt christlich als das Sechstagewerk Gottes aufgefaßt wird und Scholastik diejenige Erfahrungsphilosophie sein will, welche vom Verständnis der Schöpfung zum Verständnis des Schöpfers sich erhebt, von den Dingen zu ihrer Sinngebung, vom Geschehen zu seinem Grunde. Die drei Teile des "Idiota" haben also die Bestimmung, Aufschluß zu geben über das grundsätzliche Verhältnis der Cusanischen "Laienphilosophie" zu den drei Denkwegen der christlichen Schulwissenschaft. Der erste Dialog des "Idiota" heißt "De sapientia": über die Gottesweisheit; Gott als der unbedingte Vor-Begriff vor jedem Begreifen, als der Vor-Satz vor jeder Setzung, als die Vor-Bedeutung vor allem Deuten, als das Vor-Zeichen aller Bezeichnungen, als das absolute Apriori. Cusanus denkt mit der "Mystik" den Einen unendlichen Gott als das unendliche Vor-Urteil, und er gibt dem Schnitte zwischen dem Über-Sein des Absolut-Unendlichen und dem Sein, wie es der Gegenstand unserer Logik des Relativ-Endlichen ist, gänzlich mystischen Charakter. Seine Gottesweisheit aber unterscheidet sich von Eckharts Mystik dadurch, daß das Endliche, das Aposteriori, nicht versinkt im Gegensatz zum Unendlichen, zum Apriori und Vorbegriff, sondern sich zu ihm verhält wie die Angleichung zum Identischen, die Richtung zum Ziele, der "Vorgeschmack" zum Schmecken. Denn die Bestimmung des erkennenden Ich ist für Cusanus nicht, sich der Ichheit zu entbilden und als Ich im Absoluten zu verlöschen, sondern gerade erst im unmittelbaren "Blick" auf das Absolute ein wahrhaftes Ich zu werden. Erst dann, so heißt es in der Schrift "De visione Dei", ist Gott dein, wenn du selber dein bist. So ist die Mystik des Cusanus ganz im Einklange zu seiner Logik: sie bringt nur zur Wahrheit des "Begreifens" noch die Wonne des "Ergreifens", zum Fortschritt des Denkens das Beseligende der Denkerhebung, zum Wachstum der Erkenntnis die wachsende Liebe des Kennenlernens. Der dritte Dialog heißt "De staticis experimentis". Es ist diejenige Schrift, die vor allem die physikalischen und medizinischen Entdeckungen und Experimente des [255] Cusanus enthält und sein Verhältnis zur scholastischen "Experienz" klarstellt. Die thomistisch-aristotelische Analysis der Wirklichkeit auf Grund der Begriffe Potentialität, Aktualität, Finalität, wie sie durch Albert den Großen erneuert war, reicht für Cusanus nicht hin, um Naturwissenschaft zu begründen. "Mensura" ist die Grundfunktion der "Mens". Wir begreifen naturwissenschaftlich nur, wo wir messen, wägen, zählen. Wie vorher die Mystik umgebildet wurde, weil die Welt als wirklich gefaßt wird, so wird in "De staticis" die scholastische "Erfahrung" umgebildet. Sie erhält ihre mathematische Grundlage, und Cusanus zeigt, welche Bedeutung der Waage zuzuschreiben ist für das Erkennen von Wasser, Blut und Harn, von Kräutern, Früchten und Säften. Er bespricht das Zählen des Pulses und der Atmung, die Verschiedenheit solcher Feststellungen je nach Lebensalter, Erdteil, Klima und biologischer Gattung, die Bedeutung dieses Verfahrens für die Heilkunde. Er verwertet seine Einsicht der experimentellen Methode für Meereskunde und Himmelskunde, für den Glockenguß und die Herstellung von Geschützen, für Pflanzung und Tonkunst. Die auf Mathematik gegründete Mechanik tritt an die Stelle der spekulativen Erfahrung des Mittelalters. Das Mittelstück des "Idiota", an Umfang bei weitem das größte, ist der Dialog "De mente", der die Lehre vom menschlichen Geiste enthält und das Verhältnis des Cusanus zur "Dialektik" klarstellt. Hier gewinnen wir den maßgebenden Einblick, warum Cusanus glaubte, in sokratisch-platonischer Weise zu philosophieren. Scholastik hatte immer, weil sie im Grunde Erfahrungsphilosophie war, den Anschluß an Aristoteles erstrebt: sie hatte immer, nach dem Vorbilde des Boethius, versucht, in aristotelischer Weise von den Dingen auszugehen und deren Mannigfaltigkeit unter die Einheit des aristotelischen Begriffsgefüges zu stellen. Mystik war immer, vom Areopagiten an, Weiterbildung des Neuplatonismus gewesen, Übernahme dessen, was Plotinos und Proklos von der Übereinsheit, Überverstehbarkeit, Übergestaltetheit des Unendlich-Einen und von der "Entrückung" des Endlichen ins Unendliche gelehrt hatten. Dialektik aber war immer, im Anschluß an den sokratischen Grundzug des Platonismus, das Unternehmen gewesen, weder von Welt noch von Gott auszugehen, sondern von reinen Höchstbegriffen als solchen, wie Sein und Nichtsein, Sosein und Anderssein, Selbigkeit und Gleichheit, Einheit und Vereinigung, von Begriffen also, wie sie in allem Denken bereits für den Denkvorgang vorausgesetzt werden. Die Dialektik macht es zu ihrer Aufgabe, das bloß Wortmäßige, das Sinnlich-Sprachliche, das allen Wörtern anhaftet, von dem rein logischen Inhalt dieser Begriffsbeziehungen abzustreifen, sich durch das Sprachliche gewissermaßen so "hindurchzusprechen", daß der übersprachlich-geistige Sinn des Begriffs freigelegt wird. Daher ist der Dialog die angemessene Ausdrucksform der Dialektik. In der ganzen Geschichte der christlichen Philosophie treten das scholastische, das mystische und das dialektische Motiv immer ineinander verschlungen auf, weil Schöpfungsbegriff, Kirchenbegriff und Gottesbegriff für christliche Gesinnung [256] untrennbar voneinander sind. Die Geschichte der christlichen Philosophie ist vielleicht durch nichts zutreffender zu kennzeichnen als durch das Ringen der drei Motive um den methodischen Vorrang. Unter diesem Gesichtspunkte kann man die Bedeutung von "De mente" in einen Satz zusammenfassen: Cusanus gibt der Dialektik eine ganz neue Grundlage, ja einen ganz neuen Grundriß, indem er nicht Dialektik des Verstandes (ratio), sondern der Vernunft (intelligentia) begründet. Er entdeckt die Vernunft als denjenigen Bereich des Geistes (mens), wo es sich um anderes handelt als um verstandesmäßiges Urteilen und Schließen, Zählen und Messen, nämlich um Höheres: um "Ideen" wie die der Einheit und Ganzheit, der Bedeutung und des Maßes, in denen die Vorgänge des Urteilens und Schließens, des Zählens und Messens erst ihre Rechtfertigung finden; und wo es sich zugleich um anderes handelt als um mystische Einung mit dem Einen, Absoluten, nämlich um weniger: um das Verstehen bestimmter höchster Ideen, die in der Vernunft "Vertreter" des Einen, Absoluten sind. Erst diese neue Dialektik bestimmt nun auch das Verhältnis der Philosophie zu Mystik und Experienz ganz neu. Das Wort "Intelligentia" ist alt, es war für Cusanus ebensowenig neu wie das Wort "Vernunft" für Kant, als dieser dennoch in ganz neuartiger Weise die Kritik der Vernunft begründete. Aber im Mittelalter hatte die Vernunft entweder nur als die höchste Stufe des Verstandes oder schon als die Stufe mystischer Schau des Absoluten gegolten. Für Cusanus ist die Vernunft keines von beiden, wohl aber ein eigenes Vermögen, das mit beiden in Gemeinschaft steht. Die Namen Kant und Cusanus gehören in der Tat zusammen. Was "De mente" enthält, ist nicht anders zu bezeichnen als: Begründung des Vernunftproblems mit den Mitteln christlichen Denkens. In diesem Sinne bedeutet die Philosophie des Cusanus für das Mittelalter jenes Grundsätzliche, was die Philosophie Platons für das Altertum, die Philosophie Kants für die Neuzeit bedeutet. Dies läßt sich mit wenigen Worten über den Ausbau der Erkenntnislehre in "De mente" deutlich machen. Das Problem der Erkenntnis wird von Cusanus behandelt von der Sinnesempfindung an: Der Geist (mens) ist ein Vermögen der Seele (anima). Die Seele wird getragen und bedient von einem körperlichen Lebenshauch (spiritus), der wiederum getragen und bedient wird vom Blute. Das Blut ist in die Adern verteilt, und die Adern leiten es hin bis zu den Sinneswerkzeugen, deren Rangfolge ist: Augen, Ohren, Nase, Gaumen, Gliederspitzen. Das Leben, das in diesen fünf Sinneswerkzeugen wirkt, hat noch engsten Zusammenhang mit den fünf Grundstoffen Feuer, Äther, Luft, Wasser, Erde. Von Wahrnehmung (sensatio) ist nun in dem Augenblicke die Rede, da der ununterbrochene physische Vorgang in einem Sinnesorgane durch einen Widerstand (obstaculum) gehemmt wird. Sobald die Sinnesempfindung auf ein Hindernis stößt, hat die Wahrnehmung einen "Gegenstand" (obiectum). Also [257] Erkenntnis (schon im sinnlichen Bereiche) beginnt, indem das dauernde Wogen der Empfindungen gehemmt und unterbrochen wird. Der "Widerstand" bewirkt den "Gegenstand". Sobald dies nun der Fall ist, tritt zusammen mit der Wahrnehmung ein Vermögen in Tätigkeit, das jedem Sinne beigegeben ist, die Einbildungskraft (imaginatio). Mit der Sinnesempfindung zugleich entsteht ein "Bild". Cusanus sagt: Und damit entsteht für den Gegenstand die "Begrenzung" (terminus). Das heißt Folgendes: Die bloße Sensatio ist abhängig von der Gegenwart des Gegenstandes. Sobald aber die Imaginatio sich ein Bild vom Gegenstande gemacht hat, hat der Gegenstand Grenze, Bestimmtheit erhalten und kann, auch ohne Gegenwart, jederzeit vergegenwärtigt werden. Aber das Bild der Imaginatio kann noch kein "klares" Bild sein. Klarheit kann erst kommen, wenn ein Bild vom andern unterschieden, wenn im Bilde ein Zug von anderen abgehoben wird. Das kann erst der Verstand (ratio) bewirken; denn Unterscheidung ist etwas Logisches, das auf Zergliederung und Aufteilung angewiesen ist. Also Sensatio bringt den Gegenstand, Imaginatio seine Form, Ratio seinen logischen Charakter. Alle drei sind der sinnlichen Welt verbunden, da diese den Stoff der Empfindung liefert; alle drei müssen auch körperlich in bestimmten Gehirnteilen angesiedelt sein. Das Vernunftproblem kann aber erst in Angriff genommen werden, wenn bedacht wird, daß es in einer bestimmten Höhe der geistigen Betätigung eine Denkart gibt, wo das Denken nicht nur keine Werkzeuge und Gegenstände in sinnlicher und stofflicher Sphäre braucht, sondern wo das Denken recht eigentlich darin besteht, sich selber das Werkzeug aus eigenen Denkmitteln zu liefern und den Denkgegenstand auf diese Weise erst zu bearbeiten und zu erarbeiten. Wenn der Mathematiker den Kreis und das Viereck durch Rückgang des Denkens auf das unendliche Polygon zur Koinzidenz bringt, so sind sowohl die Werkzeuge wie der Gegenstand des Denkens in diesem Falle gänzlich unabhängig von sinnlichen und stofflichen Voraussetzungen. Wie aber ist nun das Vernunftproblem erkenntnistheoretisch anzufassen? Keineswegs ist die Vernunft einfach als vierte Stufe zu verstehen. Wahrnehmung, Einbildung, Verstand werden nicht nur hinaufgesteigert, denn es handelt sich in der Vernunft um ganz anders geartete Denkerkenntnis: um Gewinnung von Denkformen und Denkinhalten aus Vernunftmitteln. Aber es handelt sich auch nicht sogleich um den Sprung in die Mystik; denn das wäre ein Sprung ins Absolut-Eine. In der Vernunft aber muß Vielheit sein, denn vernünftiges Denken besteht in der Notwendigkeit von Verknüpfung (necessitas complexionis), und Verknüpfung setzt eine Mehrheit des Verknüpfbaren voraus. Cusanus geht folgendermaßen ans Werk: Er zeigt, daß in allem Denken immer zweierlei wirksam ist, ein concipere und ein intelligere, ein "Auffassen" und ein "Einsehen". Jenes kommt aus dem Verstande, dieses aus der Vernunft. [258] Beide gehen immer Hand in Hand und sind doch zweierlei. Sie gehen immer Hand in Hand. Denn in allem Denken gebrauchen wir erstens auffassende Begriffe, das heißt Angleichungen an die Formen der Gegenstände, "Konzeptionen" dessen, was wir durch Angleichung unseres Denkens an die Gegenstände begreifen wollen; zweitens aber brauchen wir "Perfektionen", das heißt Vollendungen dieser Begriffe, indem wir sie auf Ideen des Unbedingten beziehen. Alle Tätigkeit (actio) des Verstandes bleibt eine begriffliche Angleichung; die Verwendung der Ideen des Unbedingten aber ist ein Empfang (passio) aus eigenem Vernunftgut. Die Begriffe bilden wir immer unter einem jeweiligen Gesichtspunkte (Kategorie, Modus); die Ideen des Unbedingten und Vollendeten hingegen verwenden wir grundsätzlich ohne solche Einschränkungen; im Gegenteil, wir wollen die Einschränkung als solche in der Idee aufheben. Verständiges Auffassen und vernünftiges Einsehen müssen immer zusammenwirken, denn die "actio" will immer "perfectio" sein. Es gibt nichts im Verstande, was unabhängig von der Vernunft sein könnte. Und dennoch sind sie zweierlei. Denn im Verstande ist andererseits nichts, was unabhängig wäre von dem durch die Sinne gelieferten Stoffe. Die Ideen des Unbedingten hingegen sind allem Sinnlichen und Stofflichen entgegengesetzt, sie sind die reinen Formen des Unbedingten, sofern die Vernunft ihrer als der Vorbilder der Begriffsbildung bedarf. Sie sind letztlich drei: Einheit, Gleichheit und Verknüpfung beider (unitas, aequalitas, connexio); diese drei sind als Ideen der Vollendung die höchsten Vorbilder für alles Begreifen. Denn alles Begreifen ist erstens Reihenbildung, also immer Entfaltung aus ursprünglicher Einheit; alles Begreifen ist zweitens Vergleichen in Gleichungen, untersteht also der Gleichheit als Maß; alles Vergleichen ist drittens Urteil, also Verknüpfung. Der Verstand begreift demnach nur, wenn er für seine Verstandesbegriffe ein Maß im Vernünftigen hat. Diese Ideen machen den Bereich der "Notwendigkeit" des Denkens aus. Nur in ihnen denken und verknüpfen wir wahrhaft Notwendiges. So ist die Vernunft dasjenige Vermögen (virtus) des Geistes, wo wir erstens über die Gegensätzlichkeiten des Endlichen hinaus sind und Einheit haben, zweitens über die Mutmaßungen des Verstandes hinaus sind und Notwendigkeit haben, drittens über das Stückwerkhafte hinaus sind und Vollendung haben. Zum Bewußtsein dieser Ideen gelangt die Vernunft, indem sie auf sich selber blickt, auf ihre eigene dreieinige Einfaltung. Von ihr stammen alle Spielarten der Erkenntnisweise. Ob wir einen Gegenstand nach "Stoff, Form und Verbindung beider" analysieren, ob nach "Substanz, Akzidenz, Vereinung", ob nach "Möglichkeit, Wirklichkeit, Verknüpfung", ob nach "Subjekt, Prädikat, Kopula": unsere Erkenntnis entfaltet immer dreigestaltiges Geistesleben, weil die Dreifaltigkeit des Absoluten eingefaltet in unserer Vernunft als in dem lebendigen Abbilde Gottes liegt. Wir haben die Vernunft kennengelernt als das Vermögen der Vollendungs- [259] ideen. Erst wenn die Vernunft noch über diese Dreifalt hinaus das Absolute in seinem eigenen Für-sich-Sein schlechthin als Einheit ersehnen will, hat Meister Eckhart recht. In jener Höhe will die Vernunft ohne Verstand sein, sie will nicht denken, sondern schauen, über sich hinaus zum unendlich Einen. Dort ist die Stätte der Mystik. Was ist mit dieser Erkenntnislehre geleistet? Das Ergebnis ist, daß es zwei Arten der Abhängigkeit von Gott gibt. Die erste Art ist die, daß der komplizite Gott explizit geworden ist. Das Eine wurde Vieles, Gott wurde Welt. In dieser Art haben alle Geschöpfe an Gott teil. Auf dieses explizit Viele richtet sich unsere Erkenntnis, solange sie Wahrnehmung, Hineinbildung, Begreifung ist. Denn wir empfinden, stellen vor und denken die Gegenstandswelt: unsere Eindrücke, Bilder, Begriffe sind Angleichungen an diese Gegenstände. Gott hat aber nicht nur als Einfalt sich in Vielheit ausgefaltet, sondern er hat ein Bild seiner Dreifaltigkeit selber geschaffen. Dies Bild liegt vor in der menschlichen Vernunft, deren drei Ideen des Unbedingten so erhaben sind über alle Begriffe, wie Gott über alle vielheitlichen Geschöpfe. Alle Geschöpfe sind Entfaltungen Gottes. Aber nur die Vernunft ist Bild seiner Einfaltung. Wenn Gott trinitarisch denkt, so entsteht Welt. Wenn wir trinitarisch denken, so entsteht Begriffswelt. Gott schafft entfaltend als trinitarischer Gott. Wir begreifen als trinitarische Vernunft, wenn wir die Dreieinheit unserer Vernunftideen sich in die Vielheit begrifflicher Reihen entfalten lassen. Der Verstand formt sich den geschaffenen Dingen an; die Vernunft formt sich dem schaffenden Geiste Gottes an. Platons Ideenwelt war im Christentum verflüchtigt worden zum Bereiche der bloßen Gattungsbegriffe. Gattungsbegriffe sind für Cusanus Begriffe wie alle anderen "abgezogenen" Begriffe. Aber Platons Ideenwelt ersteht bei Cusanus wieder in der systematischen Dreiheit der Ideen des Vollendeten. Und damit ist Philosophie wieder geworden zu dem, was sie allein sein kann: Wissenschaft von der Vernunft. Gibt es nur Verstand, so gibt es nur verstandesgemäße Wissenschaft, die keiner Philosophie bedarf. Gibt es über dem Verstande nur die Schau des Einen, so gibt es Mystik, die wiederum keiner Philosophie bedarf; sie kann als Glaube leben. Nur wenn es Vernunft gibt, muß es auch Philosophie geben. In den Ideen allein liegt das Moment jener Vollendung, ohne das weder unser Denken einen wahren Sinn noch unser Wollen eine letzte Einheit haben kann.
Im Vorangehenden ist die Philosophie des Cusanus in ihren Grundlagen umrissen; in ihr liegen nicht nur die Leitgedanken auch für seine theologischen und juristischen, für seine geschichtlichen und naturwissenschaftlichen Forschungen, sondern zugleich die Beweggründe seines tätigen Lebens. Wie die ganze Richtung [260] seines Denkens, so war auch die ganze Absicht seines Wirkens in der christlichen Kultur des Mittelalters verwurzelt. Er wollte in Leben und Lehre Reform des Alten, aber keinen revolutionären Durchbruch zu Neuem. Alle systembildenden Denkwege seines Philosophierens waren bereits vor ihm im Mittelalter angebahnt; aber überall baute er nicht nur weiter, er erneuerte von Grund auf. Er kannte alle Zweige der mittelalterlichen Überlieferung, alle Schulrichtungen seiner eigenen Zeit, und er brach mit keiner einzigen; aber er hielt von allen gleichen Abstand, weil er in keiner von ihnen geistiges Leben mehr sah. Und dieses gerade war es, was er wecken wollte. Ihm war schon früh das Denken selber zum persönlichen, sein Inneres im Tiefsten ergreifenden Erlebnis geworden: In Heidelberg, Padua und Köln hatte er Recht und Theologie nicht nur als Fachwissenschaften studiert, sondern er hatte mitten im Gezänk der Hochschulen um die Lehrmeinungen, mitten in den Sorgen und Nöten der geistlichen Kreise um den Bestand der Kirche zum systematischen Ursprung der Wissenschaft überhaupt vorzudringen versucht. Hierfür war ihm die Antike erleuchtend geworden, die schon während seiner Schulzeit im Unterricht der Fraterherren von Deventer eine bestimmende Rolle gespielt zu haben scheint, die aber vor allem in Italien dem jungen Studenten aus erster Hand dargereicht wurde. Im Süden konnte er mit Augen sehen, wie die christliche Welt auf antiken Fundamenten ruhte; er durfte persönlich miterleben, wie griechische und lateinische Kultur nach tausendjähriger Trennung einander wieder fanden. Der Süden wurde ihm zum Erlebnis des Ursprünglichen. Wie die Alten zu philosophieren "angefangen" hatten, und wie diese antike Kunst des geistigen Erzeugens auch in Augustin und in der Frühscholastik, in der jüdischen Philosophie des Mittelalters, in der deutschen Mystik und bei Lullus neues Leben hatte entspringen lassen, so wollte auch er das Wesen der Philosophie darin sehen, immer wieder, ja täglich aufs neue sich der Anfänge des Denkens bewußt zu werden und nicht Ergebnisse der Erkenntnis zu buchen, sondern die Erkenntnis selber wieder entstehen zu lassen, sie zu begründen und das Eigenleben der Begriffe zu fruchtbarer Entfaltung zu bringen. Und wenn er die drei Bereiche der mittelalterlichen Kultur, Sacerdotium, Imperium, Studium, von Auflösung bedroht sah, so war er überzeugt, daß gerade vom Studium her auch den beiden anderen Rettung kommen könne. Im Studium mußten wieder lebendig strömende Quellpunkte, in der Philosophie mußte wieder der einheitliche Ursprung christlichen Geisteslebens aufgewiesen werden. Nur wenn die Kirche selbst durch Philosophie wieder zu wahrer Kultur käme, könnte sie über sich selbst hinaus Leben, Bildung und Gesittung des Volkes befruchten und ihre Überlegenheit über den Geist der Sekten und über die Wissenschaft der Nichtchristen bewähren. Darum schien ihm die Scholastik, wenn sie Glauben und Wissen trennte, nicht nur unfruchtbar, sondern verderblich. Es ist kennzeichnend, wie er als philosophischer Schriftsteller arbeitete: Er nahm scheinbar Zufälliges, das Globusspiel, das Treiben auf dem Markte, die vergrößernde Sicht des Beryll (Brille), das Selbstporträt [261] eines Künstlers zum Anlaß, um vom Alltäglichen aus zu philosophieren und die ganze Philosophie von dorther zu entwickeln, denn "die Weisheit erschallt auf der Straße". Das ist anders, als wenn man Summen, Sentenzenkommentare, Specula schreibt. Er arbeitete mit Lehrstücken wie dem Zusammenfall der Gegensätze, oder der Ausfaltung und Einfaltung, oder dem kontrakt Größten, und er lehrte, mit solchen wegweisenden Denkmitteln zu philosophischen Fragestellungen zu gelangen. Das ist anders, als wenn man das fertige Aristotelische Begriffsgefüge anwendet, um die formale Kunst schlußfolgernden Antwortens zu überliefern. Alle seine Werke füllte er, der (vielleicht als einziger in Deutschland) nicht nur des Lateinischen, sondern auch des Griechischen und Hebräischen kundig war, mit vieler Gelehrsamkeit und reichlichen Lesefrüchten; und er gab dem, was er schrieb, gern das Gepräge der beschaulichen, spielenden Muße, die unabhängig ist von der praktischen Forderung der Stunde. Aber nichts ist unangemessener, als ihn so zu lesen, als gehörte er seinen Absichten nach eigentlich schon ins sechzehnte Jahrhundert. Als Erfolg seiner Lehre erhoffte er eine Wiedergeburt christlicher Philosophie; in gar keiner Hinsicht wollte er eine vom mittelalterlichen Weltbilde losgelöste, vom kirchlichen Christentum unabhängige, durch Bruch mit der Überlieferung "neue" Wissenschaft oder Lebensweisheit vorbereiten. Ihm war im eigenen Denken die Dynamik alles Denkens, die schöpferische Entfaltung aus ideellen Einheitspunkten zu umfassenden Begriffsgebilden bewußt geworden. Er war im Denken der "Form" auf die Spur gekommen, die allem Gedachten das Leben gibt, indem sie Sein als Werden entfaltet. Er war sich klar geworden, daß der Geist die Bestimmung hat, die Begriffswelt als Ganzes zu umfassen, indem er sie aus Einheit hervorgehen läßt; daher ist es der Geist, der berufen ist, durch Einsicht Einklang zu erzeugen. Und diesem Grundsatze entsprach vollkommen auf politischem und kirchenreformatorischem Gebiete sein tätiges Wirken, das mit dem Baseler Konzil seinen Anfang nahm. Dort vertrat er zuerst den Vorrang des Konzils vor dem Papste, dann mit Wendung ins Gegenteil wurde er der "Herkules der Eugenianer". Wegen dieser Schwenkung verfolgt ihn bis heute der Vorwurf der Unbeständigkeit. In Wahrheit stand er jeder "Partei" so fern wie jeder "Schule": er verließ vielmehr die Konzilspartei, als er sich überzeugt hatte, daß die Vielheit der Gruppen auf dem Konzil im Grunde gar nicht nach Eintracht strebte, sondern daß das Konzil der Schauplatz des Kampfes von lauter Sonderinteressen gegeneinander war und sozusagen vom Hader lebte. Sein Stellungswechsel war also nicht durch Untreue gegen das Konzil (dem er in keiner Hinsicht verpflichtet war), sondern durch Treue gegen seinen eigenen Grundsatz verursacht. Wo die Einheit des Vielen nicht gewollt wird, da glaubte Cusanus nicht an die Anwesenheit, sondern an die Abwesenheit des Heiligen Geistes. Seine eigene Lehre von Einfaltung und Ausfaltung sah er bestätigt durch das Scheitern des Baseler wie durch den Erfolg [262] des Florentiner Konzils, welches durch Eintracht die Einung der westlichen und der östlichen Kirche zum mindesten in einigen Punkten erzielte. Auch von seinen fruchtbaren Gedanken zur Reichsreform darf der ihnen eigentümliche religiös-mittelalterliche Rahmen nicht entfernt werden. Sein Kampf für die Stärkung der Kaisermacht gegen den Eigendünkel der Landesfürsten, sein Vorschlag, aller Staatsgewalt, Gerichtsgewalt, Heeresgewalt im Kaiser selbst den starken Mittelpunkt zu geben, hat seinen Beweggrund nicht in modern-nationalen, sondern in mittelalterlich-imperialen Begriffen. Das Reich soll eine lebendige, organische, durchseelte Ganzheit sein, also muß seine Mannigfaltigkeit in der Vertretung einer höchsten Einheit bestehen. Nicht nur die Kirche, sondern auch das Reich ist bestimmt, die Wirkungsstätte des Heiligen Geistes zu sein, der in der Welt nie anders waltet denn als Einheit im Vielen. Cusanus, der schon als junger Geistlicher dem Baseler Konzil durch Überreichung seiner "Concordantia Catholica" (1433) die eigentliche Idee hatte geben dürfen, und der alsdann (wohl wegen seiner Kenntnis des Griechischen, wegen seiner diplomatischen Geschicklichkeit und wegen der harmonisierenden Richtung seiner Überzeugungen) ausersehen war, die Kirchenfürsten des Ostens persönlich zum Unionskonzil nach Italien zu geleiten (1437), erhielt im Laufe seines Lebens zweimal Gelegenheit, von hoher Warte aus der Sendbote seiner eigenen Weltanschauung zu sein. Das erste Mal, als er in päpstlichem Auftrage das kirchliche Leben Deutschlands zu reformieren hatte und zu diesem Zwecke die Macht seiner Predigten in den unmittelbaren Dienst der Rettung seines eigenen Volkes von dem Verfalle stellte. Die Zahl seiner Predigten und das Ausmaß seiner Predigtreisen sind erstaunlich, und der unmittelbare Erfolg scheint in manchen Städten einem Triumphe ähnlich gewesen zu sein. Was uns aber heute beim Lesen seiner Predigten am stärksten berührt, ist doch wohl jenes gänzliche Ineinander von Denken und Glauben, von Philosophie und Christentum, also jener Geist, welcher Glaube, Erkenntnis, Wille in eins ist, weil er "Sein" ist, und welcher dieser bewußten Seinseinheit eine für die Welt heilbringende Wirkung zutraut, an der schließlich, falls sie Wirklichkeit würde, aller Hader und Eigennutz im Innern, aller Ansturm der Türken und Hussiten zuschanden werden müßte. Diese Überzeugung von der Lebenskraft der christlichen Kultur, der nur eines fehlte: die philosophische Bewußtheit ihrer eigenen Notwendigkeit, verließ Cusanus niemals; und dem entsprach auch seine Stellung zu den geistigen Parteikämpfen des Zeitalters. Sein kritisches Denken blieb frei von Skeptizismus, obwohl er den Nominalisten in der Logik manches verdankte. Seine kontemplative Erkenntnis blieb mystischer Weltentsagung fern, obwohl Eckhart mehr als irgendein anderer sein Lehrer genannt werden muß. Sein Humanismus führte ihn nicht zu Epikur wie einen Valla, sondern zu Platon; und nicht durch die Griechen vom Christentum fort wie einen Plethon und Bessarion, sondern durch die Griechen zu einem tieferen philosophischen Verständnis des Christentums hin. Was er [263] baute, war auf den "Geist" gegründet, der für ihn immer der Heilige Geist des Christentums war, aber als Begriff immer mit den Mitteln der griechischen Dialektik von ihm gedacht wurde. Alle Hoffnung, die er für die Zukunft hatte, und aller Wille, den er für die Gegenwart nährte, beruhten auf seinem Ideal einer christlichen Geisteskultur, in welcher der Glaube denkbar, die Wahrheit glaubbar gemacht werden könne. Wie einst am Ausgange des Altertums der Platoniker Proklos die antike Kultur zu retten versucht hatte, indem er ihr noch einmal ihren eigenen Geist im Spiegel der neuplatonischen Lehre vorhielt, so führte auch der christliche Platoniker Cusanus seinen reformatorischen Kampf für den Geist des Mittelalters mit den Waffen der Verteidigung, nicht des Angriffs. Und diesem Grundsatze blieb er bis zum Lebensende treu, auch als er, seit 1448 Kardinal, seit 1452 Bischof von Brixen, zum zweiten Male berufen war, Stellvertreter des Papstes zu sein, diesmal in Rom selber (1459). Dies Amt war nicht nur im Sinne seiner Laufbahn, sondern auch im Sinne seiner Philosophie die Krönung seines Lebens. Denn "Vertretung" hatte für ihn zugleich die philosophische Bedeutung der "repraesentatio", und er wirkte nicht sowohl für den Papst als vielmehr für die Papstidee, ebenso wie er in Tirol gegen Sigismund nicht so sehr für den Kaiser wie für die christliche Kaiseridee kämpfte. Leben und Lehre waren gewidmet den "Ideen" der gläubigen Vernunft. Es mag zwar befremden, daß Cusanus, der leidenschaftlicher als alle anderen die Verwelt- [264] lichung der Kirche brandmarkte, gar nicht daran dachte, auf seine eigenen Pfründen zu verzichten. Aber man darf das nicht als Charakterschwäche deuten. Er bejahte eben nicht nur den Kirchengedanken, sondern auch den kirchlichen Leib mit dem wohlgegliederten Organismus seiner Hierarchie, und dazu gehörte für ihn auch der hohe Rang der Kirchenfürsten, ja selbst das
Den Reformbestrebungen des Cusanus war kein Erfolg von Dauer beschieden. Es kam zu keiner Einheit des Reiches, zu keiner Vergeistigung der kirchlichen Kultur, zu keiner ebenbürtigen Nachfolge seiner Philosophie. Zu seinen Lebzeiten war die Verbreitung der Handschriften seiner Werke erheblich; aber wie es scheint, war sie vornehmlich beschränkt auf die Umwelt kleinerer, humanistisch und mystisch interessierter Kreise des kirchlichen und klösterlichen Lebens. Nach seinem Tode blieb der Ruhm seines Namens mehr an Einzelverdiensten haften. Es wurde nicht vergessen, daß er eine der wichtigsten Plautus-Handschriften gefunden, eine der ersten Landkarten von Europa gezeichnet, den Pseudo-Isidor und die Konstantinische Schenkung als Fälschungen erkannt hatte; daß er durch seinen Unendlichkeitsbegriff der Kosmologie einen neuen Inhalt gegeben, dem Kopernikus den Weg bereitet, der rationellen Heilkunde und der Mechanik die Pfade gewiesen hatte. Aber der tiefere Beweggrund seiner Philosophie blieb ohne unmittelbare Nachwirkung, das heißt: das gewaltige Ineinander von Gottesverehrung, Naturanschauung und Ichbewußtsein bei Cusanus hatte keinen Einfluß auf die nachfolgenden Philosophen. Die Thomisten haßten ihn (wie noch heute); die Naturalisten der Renaissance beriefen sich auf ihn, aber zu Unrecht. Noch im neunzehnten Jahrhundert war der Name des Cusanus in den Darstellungen der Geschichte der Einzelwissenschaften fast immer, in denen der Philosophie fast nie zu finden; und wenn, dann bestenfalls als der Name eines Denkers, der halb ahnend Einiges vorweggenommen habe, was erst in ganz anderen, späteren Zusammenhängen zu ernsthafter Bedeutung und zu verdienter Auswirkung gelangt sei. Cusanus hatte sich noch dafür einsetzen können, daß [265] Gutenbergs Erfindung auch in Italien verbreitet wurde. Aber seine eigenen Werke erlebten erst verhältnismäßig spät, erstmals 1488 in Straßburg ihren Wiegendruck, und erst der Franzose Faber Stapulensis machte 1514 den Versuch, eine Gesamtausgabe der Cusanischen Schriften in überarbeitetem und geglättetem Lateinisch zu veranstalten. Auf die überragende philosophische Bedeutung des Cusanus aber wurden die Deutschen erst durch Giordano Bruno hingewiesen, der in seiner Wittenberger Abschiedsrede die Worte sprach: "Wer war dem Cusanus vergleichbar, der, je größer er ist, um so weniger zugänglich ist? Hätte nicht die Priesterkutte hier und da sein Genie verhüllt, ich würde anerkennen, daß er dem Pythagoras nicht gleich, sondern daß er ein Größerer war." Doch fast ein halbes Jahrtausend verging, bevor der Anfang gemacht wurde, seine Lehre wissenschaftlich zu erforschen und seine Werke auf Grund des gesamten handschriftlichen Nachlasses herauszugeben. Wie Albert der Große durch Thomas verdunkelt war, wie Meister Eckhart durch die rationalistische Enge der Neuzeit in Vergessenheit geriet, so litt die Würdigung des Cusanus unter dem Vorurteil, daß die großen Gedanken der Renaissance ausschließlich dem entschiedenen Bruch mit dem Mittelalter verdankt würden. In Wahrheit war die geistige Schöpferkraft des Cusanus größer als die aller Renaissance-Philosophen. Denn was deren Begründung des "neuen" Denkens kennzeichnet: das Bewußtsein der individuellen Ichheit, die Wiedergeburt des Geistes, die unendliche Allheit des Endlichen, das sind Motive, die sämtlich in der Philosophie des Cusanus enthalten sind und die ihr auch tatsächlich verdankt wurden, wenngleich die Wirkung des Cusanus nicht auf dem stetigen, lehrmäßigen Wege der Weiterarbeit erfolgte, sondern losgelöst von ihrem ursprünglichen Problemzusammenhang und ohne Bezug auf den Geist seiner Philosophie. Wie wenig das literarische Eigentum des Cusanus geschützt war, geht am sichtbarsten daraus hervor, daß größere Teile seiner Schrift "De sapientia" allen alten Gesamtausgaben des Petrarca unter dessen Namen einverleibt werden konnten.
Fragt man nach den Ursachen, die das Mißverhältnis zwischen der Bedeutung der Cusanischen Philosophie und ihrer Anerkennung bewirkten, so wird man mit Bruno vor allem die Schwierigkeiten des Verständnisses bedenken müssen: Cusanus kämpfte mit den geistigen Waffen des neuen Humanismus für die tausend Jahre alte Kultur des Mittelalters, aber gegen die wuchtende Trägheit seines eigenen, in den Niedergang bereits unrettbar verstrickten Jahrhunderts. Mathematische Denkformen waren ihm Symbole, um Glaubenswahrheiten erkennbar zu machen. Angesichts des Absoluten verneinte er das Sein der Relativität, aber nur, um es als Relation zum Absoluten zu bejahen. Und ebenso schwer zugänglich wie seine Gedanken war die Sprache, in die er sie kleidete. Sein Lateinisch ist nicht nur der Form nach barbarisch, sondern es wird häufig erst dann verständlich, wenn man sich für Wortwahl und Satzbau den Gedanken [266] in deutscher Fassung vergegenwärtigt. Wie seine Philosophie auf der schöpferischen Übernahme hellenischer Denkerkenntnis in christliches Glaubensleben beruhte, so beruhte sie andererseits auf der Vereinung romanischer Wissenschaftskultur und deutscher Mystik. Es mutet wie eine symbolische Handlung an, daß Cusanus seinen Leichnam in seiner römischen Kardinalskirche beisetzen, sein Herz aber nach seinem Geburtsort Cues überführen ließ. In seinem großen Geiste war vereint, was Kleinere nur getrennt ergreifen können. Der Teilhabe an der Ganzheit und Einheit war seine Lehre und sein Leben gewidmet. Uns ist sie erhalten im Vermächtnis seiner Schriften.
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