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Bd. 1: Teil 1: Die
wirtschaftlichen Folgen des Versailler Vertrages
II. Die Lahmlegung des deutschen
Außenhandels
Hartmann Freiherr von Richthofen
Die Gestaltung des deutschen Außenhandels ist das sichtbarste Merkmal der
politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung unseres Vaterlandes im
Zeitraum des vergangenen Jahrhunderts gewesen. Das andauernde Steigen der
Bevölkerungszahl erforderte ständiges Anwachsen der Einfuhr
fremder und der Ausfuhr eigener Waren. Staatliche Geschlossenheit und Macht
schufen die hierfür unumgänglichen wirtschaftlichen
Vorbedingungen. 41 Millionen Menschen wohnten im Jahre 1871 innerhalb der
Grenzen des Deutschen Reichs. 1914 waren es rund 68 Millionen. Von seiner
Wiederaufrichtung bis zum
Kriegsausbruch - also in einem Zeitraum von etwas über vier
Jahrzehnten - hatte das Deutsche Reich seine Bevölkerungszahl um
rund 27 Millionen oder 65,3 v. H. erhöht. Für das Jahr 1830, etwa vier
Jahrzehnte vor der Reichsgründung, wird der Stand der Bevölkerung
mit rund 30 Millionen geschätzt. Die Zunahme der Bevölkerung
betrug in diesem Zeitraum daher nur 11 Millionen oder 37 v. H.
Wie war es möglich, daß die schnell wachsende Bevölkerung
des Deutschen Reiches - der jährliche Zuwachs betrug kurz
vor dem Krieg ungefähr 850 000
Seelen - innerhalb derselben Grenzen sich ernähren und auf
ausreichender Kulturhöhe erhalten konnte? Diese Entwicklung ist bekannt
und bedarf keiner eingehenden Schilderung. Aber die Tatsache der Intensivierung
der deutschen Wirtschaft und des Übergangs vom reinen
Agrar- zum überwiegenden Industriestaat, unter gleichzeitiger
unvermeidlicher Aufgabe seiner wirtschaftlichen Unabhängigkeit,
muß man sich bei jeder Würdigung der Bedeutung des deutschen
Außenhandels vor Augen halten. Die Ausführung eigener
Industrieerzeugnisse war damit zu einer wirtschaftlichen und staatlichen
Notwendigkeit geworden, um dem Zwange zur Einführung von
Nahrungsmitteln für die dauernd wachsende Bevölkerung und der
Rohstoffe für die Industrie Genüge zu tun. Die Erfüllung dieser
nationalen Aufgabe mußte zur dauernden Ausgestaltung des
Außenhandels des neuen Deutschen Reiches führen. Nicht eine Folge
impe- [226] rialistischer Politik ist
seine Zunahme, sondern das durch innere Notwendigkeit bedingte Steigen der
Ein- und Ausfuhrziffern wurde automatisch zu einem Faktor internationaler Politik
und verlangte als eine Existenzfrage unseres Volkes ein ausreichendes Maß
an Weltgeltung für unseren Staat.
So selbstverständlich uns Deutschen das erscheint, eine Betrachtung der
Auswirkungen des Diktats von Versailles auf den deutschen Außenhandel
verlangt diesen Hinweis. Und er bedarf für die Beurteilung der
entscheidenden wirtschaftlichen Motive der verantwortlichen Urheber dieses
Friedens der Feststellung, daß auch die anderen Länder Europas eine
ähnliche Entwicklung wie Deutschland durchgemacht haben. Die
Bevölkerung Europas wurde für das Jahr 1800 auf 187 Millionen
geschätzt; sie war bis 1910 nach den Berechnungen des "Ständigen
Büros des Internationalen Statistischen Instituts" auf 447 Millionen
angewachsen. Diese Vermehrung war in den einzelnen Staaten zeitlich verschieden
groß, aber für Europa als Ganzes betrachtet wird doch das gelten
müssen, was für Deutschland gesagt worden ist. Dieser
Bevölkerungszuwachs war auch nur möglich durch die Umstellung
der wirtschaftlichen Struktur der Hauptstaaten. Aus selbstgenügsamen
Agrarstaaten waren untereinander und mit der neuen Welt eng verflochtene
Industriestaaten geworden mit dem unabänderlichen Zwang zu einem
starken Außenhandel.
Der deutsche Außenhandel zeigte in den Jahren vor dem Weltkrieg im
Vergleich zur Entwicklung des Welthandels das Bild einer durchaus gesunden
Entwicklung der Volkswirtschaft. Der Wert des gesamten deutschen
Außenhandels (Einfuhr und Ausfuhr) betrug im Jahre 1901 rund 10
Milliarden Mark (Einfuhr 5,7, Ausfuhr 4,5 Milliarden); er war bis zum Jahre 1913
auf rund 21 Milliarden Mark (Einfuhr 10,7, Ausfuhr 10 Milliarden) angewachsen
und hatte sich somit verdoppelt. Der Wert des statistisch erfaßbaren
Welthandels war in den gleichen zwölf Jahren von 90 Milliarden auf 175
Milliarden Mark gestiegen, hatte sich also nicht ganz verdoppelt. Der deutsche
Außenhandel war daher in diesen Jahren verhältnismäßig
mehr gestiegen als der gesamte Welthandel, während z. B. die
Entwicklung des Außenhandels Englands und Frankreichs mit der
Entwicklung des Gesamtwelthandels nicht hatte Schritt halten können und
der Umfang des Außenhandels der Vereinigten Staaten von Amerika im
gleichen Verhältnis wie der Umfang des Gesamtwelthandels gewachsen war,
obwohl der Außenhandel aller dieser Länder absolut ungeheuer
zugenommen hatte.
Betrachtet man den deutschen Außenhandel nach seiner Richtung und nach
seiner Verflechtung mit anderen Staaten, so ergibt sich für das Vorkriegsjahr
1913 folgendes Bild:
[227] Haupteinfuhrländer
(Gesamteinfuhr ohne Gold und Silber 10,7 Milliarden Mark) waren: Vereinigte
Staaten von Amerika (1,7 Milliarden Mark), Rußland (1,5 Milliarden
Mark), Großbritannien (876 Millionen Mark),
Österreich-Ungarn (827 Millionen Mark), Frankreich (584 Millionen
Mark);
Hauptausfuhrländer (Gesamtausfuhr ohne Gold und Silber 10
Milliarden Mark) waren: Großbritannien (1,4 Milliarden Mark),
Österreich-Ungarn (1,1 Milliarden Mark), Rußland (977 Millionen
Mark), Frankreich (789 Millionen Mark), Vereinigte Staaten von Amerika (713
Millionen Mark).
Deutschland war der beste Kunde Rußlands, Norwegens, Hollands, Belgiens,
der Schweiz, Italiens und
Österreich-Ungarns, der zweitbeste Großbritanniens, Schwedens und
Dänemarks und der drittbeste Frankreichs; es war der erste Lieferant
für Rußland, Norwegen, Schweden, Dänemark, Holland, die
Schweiz, Italien, Österreich-Ungarn, Rumänien und Bulgarien
und der zweite für Großbritannien, Belgien und Frankreich.
Nach der Gruppeneinteilung des Internationalen (Brüsseler)
Warenverzeichnisses für die Handelsstatistik ergibt sich folgende
Gliederung des deutschen Außenhandels im Jahre 1913:
|
Einfuhr |
|
Ausfuhr |
|
Wert in
Mill. Mk. |
v. H. |
Wert in
Mill. Mk. |
v. H. |
I. Lebende Tiere |
289,7 |
2,6 |
7,4 |
0,1 |
II. Lebensmittel und Getränke |
2796,5 |
25,9 |
1068,7 |
10,5 |
III. a) Rohstoffe |
4997,1 |
44,6 |
1300,7 |
72,7 |
b) Halbfertige Waren |
1263,3 |
11,3 |
939,8 |
9,2 |
IV. Fertige Waren |
1422,1 |
12,7 |
6778,3 |
66,5 |
V. Gold und Silber |
437,4 |
3,9 |
103,7 |
1,0 |
|
|
|
11206,1 |
100,0 |
10198,6 |
100,0 |
Mehr als ⅔ der Gesamteinfuhr bestand aus
Lebensmitteln und Rohstoffen, etwa ⅔ der
Gesamtausfuhr aus Fertigwaren der deutschen Industrie. Der deutsche
Außenhandel war immer im wesentlichen Einfuhr von Lebensmitteln und
Rohstoffen und Ausfuhr von Fertigerzeugnissen. Und diese Gliederung des
deutschen Außenhandels zeigt, was in der Einleitung aus den
Bevölkerungszahlen abgeleitet wurde. Deutschland war, wie J. M. Keynes in
seinem Werk über die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages so
ausgezeichnet sagt, zu einer ungeheueren, zusammengesetzten Industriemaschine
geworden, deren Arbeit von dem Gleichgewicht vieler Faktoren außerhalb
wie innerhalb des Landes abhing. Nur wenn diese Maschine ständig mit
Volldampf arbeitete, konnte Deutschland daheim [228] Beschäftigung für seine wachsende
Bevölkerung und die Mittel zur Beschaffung ihres Unterhalts aus dem
Auslande finden.
Die deutsche Handelsbilanz ist bekanntlich in den Jahren seit der
Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Weltkrieges stets passiv gewesen, ohne
daß sich daraus für die deutsche Volkswirtschaft schädliche
Folgen ergeben hätten. Der bilanzmäßige Ausgleich wurde
geschaffen durch die sogen. "unsichtbare
Ausfuhr" - Dienste als Frachtführer, Bankier und
Gastgeber - und aus den Zinsen und Gewinnen der auswärtigen
Anlagen und Beteiligungen. Man muß annehmen, daß diese Posten der
Zahlungsbilanz, auf die weiter unten noch zurückzukommen sein wird, die
Bilanz nicht nur ausgeglichen, sondern sogar aktiv gestaltet haben, so daß
von Jahr zu Jahr ein Überschuß blieb, der wieder im Auslande oder in
den deutschen Kolonien angelegt wurde.
Das dichte Flechtwerk der internationalen wirtschaftlichen Beziehungen und
Abhängigkeiten wurde jäh durch den Ausbruch des Weltkrieges
zerrissen, und zwar so plötzlich, daß es dem unvorbereiteten
Deutschland nicht mehr möglich war, rechtzeitig vermeidbaren
Schädigungen vorzubeugen. Die wirtschaftlichen Beziehungen zu den
Gegnern, also gerade zu den wichtigsten Kontrahenten des deutschen
Außenhandels, hörten sofort auf. Der Wirtschaftsverkehr zu den
Neutralen kam um so mehr zum Erliegen, als der Wirtschaftskrieg, der zum
erstenmal in der Geschichte in so durchgreifender Weise organisiert wurde, an
Schärfe zunahm. Mit dem Eintritt der Vereinigten Staaten von Amerika war
die weltwirtschaftliche Isolierung Deutschlands und seiner Verbündeten
vollkommen. Der noch verbleibende Verkehr mit den neutralen Mächten
und den Verbündeten mußte, wie die ganze Volkswirtschaft, die aus
einer freien Verkehrswirtschaft in eine Bedarfsdeckungswirtschaft überging,
den Zwecken des Krieges dienstbar gemacht werden. Der Krieg endete mit dem
wirtschaftlichen Zusammenbruch und der Hungersnot des deutschen Volkes, mit
dem Sieg des Weltwirtschaftskriegs der alliierten und assoziierten Mächte.
Er endete mit der klaren
Erkenntnis - ein jeder hat es körperlich fühlen
müssen -, daß die deutsche Volkswirtschaft auf die Dauer ohne
den Außenhandel nicht bestehen kann.
Das deutsche Volk ist an den Tisch der Friedensverhandlungen mit dem Vertrauen
herangetreten, daß der Inhalt des endgültigen Friedensvertrags durch
seine Vorgeschichte in seinen Grundzügen bestimmt sei. Aus dem
Notenwechsel, der am 11. November 1918 zum Waffenstillstand geführt
hatte, geht hervor, daß Deutschland als Grundlage für den Frieden
ausschließlich die
"14 Punkte" des Präsidenten Wilson und seine
späteren Kundgebungen angenommen hat. Andere Forderungen waren
weder von dem Präsidenten Wilson noch von irgendeiner der alliierten
Regierungen nachträglich erhoben
wor- [229] den. Soweit sie sich auf
wirtschaftliche Fragen beziehen, lauten diese Grundlagen:1
A. Aus den 14 Punkten der Kongreßrede vom 8. Januar
1918: |
I. |
Es sollen keine geheimen internationalen Vereinbarungen irgendwelcher
Art mehr getroffen werden. |
II. |
Vollkommene Freiheit der Schiffahrt auf den Meeren außerhalb der
Küstengewässer. |
III. |
Beseitigung aller wirtschaftlichen Schranken, soweit möglich, und
Errichtung gleicher Handelsbedingungen unter allen Nationen, die dem Frieden
zustimmen und sich zu seiner Aufrechterhaltung zusammenschließen. |
B. Aus den 4 Punkten der Mount
Vernon-Rede vom 4. Juli 1918: |
II. |
Die Regelung aller Fragen, mögen sie Staatsgebiet,
Souveränität oder wirtschaftliche Vereinbarungen betreffen, auf der
Grundlage der freien Annahme dieser Regelung seitens des dadurch betroffenen
Volkes und nicht auf der Grundlage des materiellen Interesses oder Vorteiles
irgendeiner anderen Nation oder irgendeines anderen Volkes, das um seines
äußeren Einflusses oder seiner Vorherrschaft willen eine andere
Regelung wünschen könnte. |
C. Aus der Rede in Neuyork vom 27. September 1918: |
II. |
Kein besonderes, abgesondertes Interesse irgendeiner einzelnen Nation oder
irgendeiner Gruppe von Nationen kann zur Grundlage irgendeines Teiles des
Abkommens dienen. |
III. |
In der gemeinsamen Familie des Völkerbundes kann es keine
Bünde oder Bündnisse oder spezielle Verträge und
Vereinbarungen geben. |
IV. |
Es kann innerhalb des Völkerbundes keine besonderen selbstischen
wirtschaftlichen Kombinationen geben und keine Anwendung irgendwelcher Form
von wirtschaftlichem Boykott oder Ausschließung, außer insoweit, als
die wirtschaftliche Strafgewalt dem Völkerbund selbst als Mittel der
Disziplin und Kontrolle erteilt wird. |
V. |
Wirtschaftliche Rivalitäten und Feindseligkeiten sind in der modernen
Welt eine ergiebige Quelle für Pläne und Leidenschaften gewesen, die
Krieg erzeugen. Ein Friede, der sie nicht in bestimmten und bindenden
Ausdrücken ausschlösse, würde sowohl ein unaufrichtiger als
auch ein ungerechter Friede sein. |
So schien nach der furchtbaren Not des Weltkrieges eine neue Epoche der
Weltwirtschaft zu beginnen. Die Regelung aller wirtschaftlichen Fragen sollte
durch die freie Annahme durch das betroffene Volk und nicht auf der Grundlage
des materiellen Interesses oder Vorteils eines anderen Volkes erfolgen, das um
seines äußeren Einflusses oder seiner Vorherrschaft willen eine andere
Regelung wünschen könnte; wirtschaftliche Rivalitäten und
Feindseligkeiten sollten künftig durch die bestimmten und bindenden
Vereinbarungen des Friedensvertrags ausgeschlossen sein; durchdrungen von dem
[230] Bewußtsein ihrer weltwirtschaftlichen
Zusammengehörigkeit und gegenseitigen Abhängigkeit wollten die
Nationen an die Wiederherstellung ihrer wirtschaftlichen Beziehungen gehen. Die
unerhörten Opfer der an der Katastrophe des Weltkrieges beteiligten
Völker schienen nicht völlig nutzlos gebracht zu sein. Die aus den
Erfahrungen des Krieges geborene menschliche Idee sollte aus dem
wirtschaftlichen Chaos, das der Krieg hinterlassen hatte, aus der Hungersnot von
Millionen zivilisierter Menschen ein neues Weltwirtschaftsgebäude
aufführen, getragen von den Fundamenten des gegenseitigen Vertrauens, der
gegenseitigen Hilfe und der Gerechtigkeit. Voller Hoffnung sah die gequälte
Menschheit auf den Mann, der aus der neuen Welt kam, um in Paris seine
großen Gedanken in die Tat, in die Wirklichkeit umzusetzen.
Es kam ein Mann, der dem gewiegten Verhandlungsgeschick eines Clemenceau
nicht gewachsen war, ein Mann, "der über jedes einzelne seiner Gebote eine
Predigt hätte halten können, ihre konkrete Anwendung auf den
augenblicklichen Zustand Europas aber nicht gestalten konnte",2 es kam der "Rat
der Vier", es kam der Kampf der deutschen Friedensdelegation um den
"Rechtsfrieden", es kam das bittere
Ende - der
Friedensvertrag von Versailles -, dessen wirtschaftliche Folgen von der
überwältigenden Mehrheit des deutschen Volkes und seinen
Vertretern in ihrer Furchtbarkeit sofort richtig erkannt wurden.
Der vergebliche Kampf Deutschlands um die Wiederaufrichtung des
Wilson-Programms und das Ringen der Gegner in Paris ist an anderer Stelle dieses
Werkes dargestellt worden. Hier ist nur zu fragen, ob es für die den
deutschen Außenhandel treffenden wirtschaftlichen Bestimmungen des
Friedensvertrags eine Erklärung aus den weltwirtschaftlichen
Interessengegensätzen gibt.
Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß die Entwicklung des
Außenhandels Englands und Frankreichs mit der Jahrhundertwende mit der
Entwicklung des Gesamtwelthandels nicht hatte Schritt halten können, und
daß der Umfang des Außenhandels der Vereinigten Staaten von
Amerika nur im gleichen Verhältnis wie der Umfang des
Gesamtwelthandels gewachsen war, während sich die Ziffern für den
deutschen Außenhandel in dieser Zeit wesentlich günstiger stellen; es
ist aber auch hervorgehoben worden, daß Deutschland der zweitbeste Kunde
Großbritanniens und der drittbeste Frankreichs und der zweite Lieferant
für Großbritannien und Frankreich war. Sowohl Frankreichs als auch
Englands Volkswirtschaft können ein als Lieferant leistungsfähiges
und als Konsument kaufkräftiges Deutschland [231] nicht entbehren. Die weltwirtschaftlichen Ziele
Englands waren mit der Sicherung des Seewegs nach
Indien - Besitznahme Palästinas und Mesopotamiens, Festigung
seiner Stellung in Ägypten - und der Verminderung der deutschen Handelsflotte im
wesentlichen erreicht. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren ohne
weltwirtschaftliche Zielsetzung in den Weltkrieg gegangen. Aus den
weltwirtschaftlichen Interessengegensätzen der großen Kriegsgegner
kann somit eine Erklärung der wirtschaftlichen Bestimmungen des
Friedensdiktates nicht gewonnen werden. Als Erklärung auch dieser
Bestimmungen des Vertrags bleibt nur übrig der politische Wille
Frankreichs, die deutsche Wirtschaftskraft zu schwächen, um die
Vitalität der deutschen Bevölkerung zu brechen, gemäß
dem Satze Clemenceaus, daß Deutschland 20 Millionen Menschen zuviel
hat.
Der deutsche Außenhandel wurde durch die Bestimmungen des Vertrags in
dreifacher Weise getroffen: durch die Schwächung der
Produktionsgrundlage der deutschen Volkswirtschaft durch Gebietsabtretungen,
durch die Wegnahme wichtiger Aktivposten der deutschen Zahlungsbilanz und
durch die Knebelung der deutschen Außenhandelspolitik.
Die beiden ersteren Vertragsbestimmungen stellen den deutschen
Außenhandel mit dem Tage ihres Inkrafttretens auf eine andere
wirtschaftliche Grundlage. Sie sind bewußt auf die Verminderung der
deutschen Wirtschaftskraft gerichtet und sind als solche an anderer Stelle dieses
Werkes behandelt,3 und es genügt, sie in Erinnerung zu
rufen. Die ausschließlich und ausdrücklich gegen den deutschen
Außenhandel gerichteten Artikel des Friedensvertrages geben dem deutschen
Außenhandel eine von den sonst üblichen abweichende
Rechtsgrundlage für eine bestimmte Zeit, sie werden hier näher zu
untersuchen sein.
a) Die sofortigen
Gebietsabtretungen und die Gebietsverluste, die durch die
späteren Abstimmungen eingetreten sind, schwächen die deutsche
Ausfuhrfähigkeit durch Verlust von wichtigen Rohstoffvorkommen und von
blühenden Industrien, während die Abtretung landwirtschaftlicher
Überschußgebiete und der Kolonien zu erhöhter Einfuhr von
Rohstoffen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen nötigt. Folgende
Aufzählung, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit macht, mag hier
genügen:
- Verlust von etwa ¾ der Eisenerzlager (lothringisches Minetterevier),
- Verlust zahlreicher Hütten- und Walzwerke durch Abtretung des
elsaß-lothringischen Eisenindustriebezirks und Ostoberschlesiens [232] und durch Ausscheiden von Luxemburg und
dem Saargebiet aus dem deutschen Zoll- und Wirtschaftsgebiete,
- Verlust von 43% der nachgewiesenen Kohlenvorräte (Oberschlesien
und Saargebiet),
- Durchbrechung des deutschen Kalimonopols (Verlust der elsässischen
Kaliwerke),
- Verlust der hauptsächlichen Zinkvorkommen (Oberschlesien),
- Verlust landwirtschaftlicher Überschußgebiete (auf die Provinzen
Posen und Westpreußen, deren Bevölkerung den siebzehnten Teil der
Reichsbevölkerung ausmachte, entfiel bei Roggen und Kartoffeln der
sechste Teil, bei Sommergerste etwas weniger als der siebente Teil und bei Weizen
und Hafer der dreizehnte Teil der gesamten Ernte Deutschlands).4
b) Es ist bereits angedeutet worden, daß der bilanzmäßige
Ausgleich des deutschen Außenhandels in der Vorkriegszeit nicht durch den
reinen Warenhandel, sondern durch die sog. "unsichtbare Ausfuhr" geschaffen
wurde. Die Posten der Zahlungsbilanz, auf denen dieser Ausgleich beruhte, wurden
so durch den Vertrag im wesentlichen fortgenommen.
Die deutschen Auslandsguthaben sind von dem zweiten
Sachverständigenkomitee, dem sog.
McKenna-Ausschuß, für das Jahr 1914 auf 28 Milliarden Goldmark,
der Verlust an Auslandsguthaben während des Krieges infolge von
Wertverminderung,
Beschlagnahmungs- und Liquidationsmaßnahmen auf annähernd
16,1 Milliarden Goldmark geschätzt worden. Die deutsche Handelsflotte
schrumpfte durch Kriegsverluste, Beschlagnahmen in den feindlichen
Ländern und die Ablieferung aller Schiffe über 1600 t, der
Hälfte aller Schiffe von
1000 - 1600 t und einem Viertel der Fischereiflotte von etwa
5 000 000 t auf 419 000 t
im Jahre 1920 zusammen. In den Kolonien gingen die sehr erheblichen
Aufwendungen, die für die wirtschaftliche Erschließung dieser
Gebiete von Deutschland gemacht worden waren, auf die Mandatarmächte
über, ohne daß diese einen Teil des Schuldendienstes des Reiches oder
der deutschen Staaten für diese Aufwendungen übernahmen (Art.
257).
c) Die zeitweiligen Bindungen, die der Vertrag für die deutsche
Handelspolitik brachte, stehen im schroffsten Gegensatz zu den von Wilson
aufgestellten und im Waffenstillstandsabkommen zur Grundlage für die
Friedensverhandlungen gemachten Grundsätzen. In
be- [233] wußter Einseitigkeit sind sie nur
zugunsten der Sieger und ihrer Gefolgschaft und zuungunsten Deutschlands
aufgestellt, um den Wirtschaftskrieg auf einer aufgezwungenen Rechtsgrundlage
gegen Deutschland weiterführen zu können.
Die Bestimmungen, die den Wirtschaftsverkehr mit den abgetretenen und aus dem
deutschen Zollgebiet ausgeschiedenen Gebieten für eine von vornherein fest
begrenzte Übergangszeit regeln sollten, brauchen hier, obwohl auch sie
durchaus einseitig zugunsten dieser Gebiete aufgestellt sind, nicht näher
behandelt zu werden, weil eine besondere Übergangsregelung dieser
Beziehungen nun einmal nicht zu umgehen war. Die anderen, in dem Abschnitt 1 in
Teil X des Vertrags aufgeführten Bestimmungen lassen sich wie folgt
zusammenfassen:
1. Zollbindungen. Während einer Zeit von sechs Monaten nach
Inkrafttreten des Vertrags dürfen die deutschen Zölle auf die Einfuhr
der Gegner nicht höher sein als die vorteilhaftesten Sätze, die
für die Einfuhr nach Deutschland am 31. Juli 1914 in Anwendung waren.
Für bestimmte Waren (Erzeugnisse des
Acker-, Garten- und Wiesenbaus, soweit bei Kriegsausbruch Vertragszölle
bestanden, Wein, Pflanzenöle, Kunstseide und gewaschene oder entfettete
Wolle) gilt diese Bestimmung für insgesamt drei Jahre nach Inkrafttreten des
Vertrags (Art.
269).
2. Unbeschränkte Meistbegünstigung für den
Warenverkehr. Die Meistbegünstigung erstreckt sich auf alle
Gebühren und Abgaben bei der Einfuhr von Erzeugnissen aller
Vertragsgegner (27!), auf
Ein- und Ausfuhrbeschränkungen, auf die Durchfuhr und auf die
Zollverwaltungs- und Zollabfertigungsvorschriften und tritt "gleichzeitig und
bedingungslos ohne besonderen Antrag und ohne Gegenleistung für
sämtliche alliierten oder assoziierten Staaten in Geltung" (Art.
264-267). Die Dauer dieser Bestimmungen ist zunächst nicht begrenzt,
jedoch bedarf es, wenn sie länger als fünf Jahre nach Inkrafttreten des
Vertrags Geltung behalten sollen, eines Beschlusses des Völkerbundsrats
(Art.
280).
3. Unbeschränkte Meistbegünstigung und teilweise
Inländerbehandlung für die Staatsangehörigen der
gegnerischen Mächte. Meistbegünstigung ist zu gewähren
hinsichtlich der Ausübung von Handwerk, Beruf, Handel und Gewerbe,
Inländerbehandlung in bezug auf Gebühren, Abgaben oder Steuern
(Art. 276).
Hier ist die zeitliche Geltung in bestimmter Weise geregelt; sie darf
insgesamt 10 Jahre nicht überschreiten (Art.
280).
4. Repressalienklausel. "Die Maßnahmen, zu denen die alliierten
und assoziierten Regierungen, falls Deutschland vorsätzlich seinen
Verpflichtungen nicht nachkommt, berechtigt sind und die [234] Deutschland sich verpflichtet, nicht als
feindselige Handlungen zu betrachten, können in wirtschaftlichen und
finanziellen Sperr- und Vergeltungsmaßregeln, überhaupt in solchen
Maßnahmen bestehen, welche die genannten Regierungen als durch die
Umstände geboten erachten" (§ 18 Anlage
II zu Abschnitt
I im Teil VIII). Eine zeitliche Begrenzung dieser Klausel ist nicht vorgesehen.
5. Vorbehalt, in dem besetzten Gebiet eine eigene Zollordnung
sowohl für die Einfuhr als auch für die Ausfuhr in Kraft zu setzen,
sofern den alliierten und assoziierten Mächten eine solche Maßnahme
erforderlich erscheint, "um die wirtschaftlichen Interessen der Bevölkerung
dieser Gebiete zu wahren" (Art.
270). In welcher Weise diese Bestimmung in Kraft
gesetzt worden ist, wird weiter unten zu behandeln sein.
6. Einseitige Meistbegünstigung und teilweise Gleichstellung mit
Inländern in bezug auf die Schiffahrt (Art. 271,
273,
323 und
327).
Die verheerende Wirkung dieser Vertragsbestimmungen auf den deutschen
Außenhandel kann man nur ermessen, wenn man sich ihre Einseitigkeit
nochmals vergegenwärtigt. Der deutsche Zolltarif ist zunächst ganz,
dann für längere Zeit bei wichtigen Waren gebunden, und zwar mit
Zollsätzen, die eine durchaus gesunde und blühende Wirtschaft zur
Voraussetzung hatten, während der deutsche Außenhandel bei seinen
Vertragsgegnern auf Zollsätze stößt, die eine Einfuhr deutscher
Waren großenteils unmöglich macht. Deutschland muß den
Gegnern für den Warenverkehr die uneingeschränkte
Meistbegünstigung einräumen, während der deutsche
Außenhandel eine gesicherte Rechtsgrundlage nur bei den neutralen
Ländern findet und in den 27 Signatarstaaten zunächst rechtlos ist.
Dasselbe Bild ergibt sich für den
Personen- und Schiffahrtsverkehr. Die wirtschaftliche Einheit des deutschen
Zollgebiets, die nach den Gebietsabtretungen erst wieder neu zu gestalten war,
kann nach dem Ermessen der Vertragsgegner durch Einführung einer
Zollinie zwischen besetztem und unbesetztem Gebiet jederzeit zerrissen werden.
Verblieben war der deutschen Handelspolitik nur noch eine Waffe: den
auswärtigen Warenhandel durch
Ein- und Ausfuhrverbote in die gewünschten Bahnen zu lenken. Doch auch
diese Waffe, die sich zunächst als sehr wichtig erwies, sollte stumpf werden,
als das "Loch im Westen" nicht mehr zu stopfen war.
Daß diese geschilderten Vertragsbestimmungen mit den Grundsätzen
Wilsons schlechterdings nicht in Einklang zu bringen sind, ist auch in den
Siegerstaaten eigentlich nicht bestritten. Bezeichnend in dieser und anderer
Hinsicht ist die Antwort, die der deutschen Friedensdelegation, als sie, um es
gelinde auszudrücken, auf diese Abweichung von den vereinbarten
Grundlagen für die
Friedens- [235] verhandlungen hinwies
(Note vom 29. Mai 1919), zuteil wurde. Sie sei daher in ihren wichtigsten Punkten
hier wiedergegeben:5
"Es leuchtet ein, daß die Kundgebungen des
Präsidenten Wilson, bezüglich der Gleichheit der
Handelsbeziehungen im Hinblick auf eine dauernde Ordnung der Welt verstanden
werden müssen, und daß sie nur auf einen Zeitpunkt als anwendbar
betrachtet werden können, wo der Völkerbund vollständig
errichtet und die Welt zu normalen Handelsverhältnissen
zurückgekehrt ist. In der Zwischenzeit ist die Errichtung einer reinen
Übergangsordnung notwendig, die allerdings von dem abweicht, was bei der
endgültigen Ordnung bezweckt ist, aber in keiner Weise mit deren
Grundsätzen im Widerspruch steht.
Während dieser Übergangszeit verlangt es die
»billige Behandlung des Handels aller Mitglieder des Völkerbundes«,
daß Deutschland zeitweilig das von ihm geforderte Recht, auf dem
Fuße völliger Gleichberechtigung mit den anderen Nationen behandelt
zu werden, entzogen wird.
Die gesetzwidrigen Handlungen des Feindes haben viele
der verbündeten Staaten in eine Lage wirtschaftlicher Unterlegenheit
gegenüber Deutschland gebracht, dessen Gebiet nicht verwüstet
worden ist, und dessen Betriebe in einem Zustand sind, daß Fabrikation und
Handel sofort nach dem Kriege wieder aufgenommen werden können.
Für diese Länder ist eine gewisse Bewegungsfreiheit während
der Übergangszeit lebensnotwendig. Aber es ist auch nicht weniger notwendig,
daß die Alliierten Staaten in dieser Zwischenzeit gegen die Wirkung
besonderer Vergünstigungen oder verschiedener Behandlung, die seitens
Deutschlands an ein alliiertes oder assoziiertes Land oder an irgendein anderes
Land gewährt werden, gesichert sind. Während der Übergangszeit ist
daher eine formelle Gegenseitigkeit nicht durchführbar, und es ist nur billig,
daß die Alliierten und Assoziierten Mächte für diese Periode
eine größere Freiheit haben, ihren wirtschaftlichen Verkehr zu ordnen,
als dies den Urhebern des Angriffs zugestanden wird. Wäre es anders, so
würde Deutschland in den Gebieten, die es mit der Absicht besetzt hat, seine
Gegner in eine wirtschaftlich unterlegene Lage zu bringen, den Vorteil seiner
verbrecherischen Handlungen ernten.
Es ist daher eine Erwägung der Gerechtigkeit, die
die Alliierten und Assoziierten Mächte bewogen hat, Deutschland für
eine Mindestzeit von 5 Jahren Bedingungen ohne Gegenseitigkeit im
Handelsverkehr aufzuerlegen."
Auch heute sind diese Zeilen nicht ohne Bitterkeit zu lesen und mit Gerechtigkeit
hatte diese Ablehnung einer Würdigung der Lage der deutschen
Volkswirtschaft, die so furchtbar durch den Krieg gelitten hatte und durch den
Friedensvertrag noch zu weiterem Leiden verurteilt wurde, gewiß nichts zu
tun.
Das Bild, das wir von dem deutschen Außenhandel für die Zeit kurz
nach Inkrafttreten des Versailler
Vertrages zu entwerfen versuchen, wäre
unvollkommen, wenn nicht einige weltwirtschaftliche Vorgänge
erwähnt würden, die man unter dem Schlagwort "Strukturwandlung
der Weltwirtschaft" zusammenfassen kann. Diese
Vor- [236] gänge
berühren den deutschen Außenhandel allerdings in der gleichen Weise
wie den Außenhandel der anderen Industriestaaten der alten Welt. Die
Industriewirtschaft aller dieser Länder beruht auf der Voraussetzung,
daß Industriefertigerzeugnisse nach den überseeischen Ländern
in großem Umfang ausgeführt und Rohstoffe und Nahrungsmittel aus
Übersee eingeführt werden können. Etwa seit Anfang des
zwanzigsten Jahrhunderts aber konnte man einen neuen weltwirtschaftlichen
Abschnitt herannahen sehen, in dem auch die außereuropäischen
Länder auf eigenem Gebiet eine eigene Industrie aufbauen würden.
Der Weltkrieg hat diese Entwicklung in ungeahnter Weise beschleunigt.6 In einer
vom Völkerbund im Jahre 1926 veröffentlichten Denkschrift
"über Handels- und Zahlungsbilanzen 1911/1925" ist der Zustand, der sich
während des Weltkriegs herausgebildet hat, treffend geschildert! "Die
Vereinigten Staaten und Indien kaufen jetzt weniger in Europa und mehr in Asien;
China und Japan kaufen weniger in Europa und mehr in Nordamerika; Australien
kauft weniger in Europa und mehr in Nordamerika und Japan. Andererseits
exportiert Indien einen größeren Teil seiner Waren nach Nordamerika
und Asien, und der Prozentsatz der Ausfuhr Chinas nach Nordamerika hat sich
gleichfalls gehoben. Die Ausfuhr Japans nach Europa ist von 23,3 v. H. auf nur 6,6
v. H. seiner Gesamtausfuhr gefallen, während diejenige nach Nordamerika
von 30 auf 44,5 v. H. gestiegen ist. Die Einfuhr Australiens aus Europa ist gefallen
von 70 auf 54 v. H. seiner Gesamtausfuhr, jene Argentiniens von 80 auf 64 v. H.
Der Handel verschiebt sich vom Atlantischen nach dem Stillen Ozean."
Hinzu kommt, daß in Mittel- und Osteuropa eine ganze Anzahl neuer Staaten
mit eigenen Zollgesetzen entsteht, von denen jeder einzelne seine
Wirtschaftsbeziehungen zu anderen Staaten so einzurichten versucht, daß die
Entwicklung der "Schlüsselindustrien" gewahrt bleibt. Das Riesenreich
Rußland, die Kornkammer Europas, fällt für die nächsten
Jahre nach Abschluß des Friedens für den internationalen
Warenverkehr fast völlig aus.
So muß man zusammenfassend sagen: geschwächt an eigener
Wirtschaftskraft, wichtiger Stützen im Auslande beraubt, handelspolitisch
geknebelt, umgeben von durchaus protektionistisch eingestellten Staaten, einer
veränderten weltwirtschaftlichen Struktur gegenübergestellt, das ist
die Situation des deutschen Außenhandels nach dem Krieg und nach dem
Friedensschluß.
[237] Aus verschiedenen Gründen ist es nicht
möglich, die Schrumpfung des deutschen Außenhandels für die
Jahre unmittelbar nach Inkrafttreten des Vertrags im Vergleich zur Vorkriegszeit
statistisch genau wiederzugeben. Einen im ganzen richtigen Eindruck dürfte
aber ein Vergleich geben, bei dem man die Werte für 1913 in Goldmark,
für 1920 bis 1922 unter Zugrundelegung der Einheitswerte von 1913 in
Rechnung stellt (gewogener Volumenvergleich). Es ergibt sich dann das folgende
Bild:
|
1913 |
1920 |
1921 |
1922 |
Einfuhr |
11206 |
3947 |
5750 |
6311 |
Ausfuhr |
10198 |
3724 |
3002 |
6199 |
Die wechselvolle Geschichte des Reparationsproblems vom Inkrafttreten des
Versailler Vertrags am 10. Januar 1920 bis zum Londoner Abkommen vom 30.
August 1924, die Deutschlands Wirtschaft und damit den deutschen
Außenhandel sehr stark beeinflußt hat, wird an anderer Stelle dieses
Werkes geschildert.7 Nur die markantesten Ereignisse seien hier
hervorgehoben.
Die Politik der "Sanktionen" und die Durchführung von Poincarés
"Pfänderprogramm" führte tatsächlich zur Loslösung des
besetzten Gebiets vom deutschen Zollgebiet; erstmals vorübergehend in der
Zeit vom 20. April bis zum 30. November 1921, dann aber für
längere Dauer mit Beginn des Ruhreinbruchs. Am 25. März 1923 trat
für das besetzte Gebiet ein selbständiger Zolltarif, der sogenannte
"Interalliierte Zolltarif", in Kraft, der bei etwa 250 von 946 Positionen erhebliche
Zollherabsetzungen brachte. Das unbesetzte Gebiet wurde vom besetzten Gebiete
durch eine Zolllinie getrennt: für den Warenverkehr vom unbesetzten in das
besetzte Gebiet "Einfuhr"zölle von zunächst 25 v. H., ab 31. Januar
1924 in voller Höhe der Sätze des "Interalliierten Zolltarifs". So
entstand das "Loch im Westen", das nun der deutschen Handelspolitik auch die
letzte Waffe aus der Hand wand, die
Ein- und Ausfuhrverbote. Die Folge des Ruhreinbruchs war der Zusammenbruch
der deutschen Währung. Am 30. August 1924 wurde das Londoner
Schlußprotokoll unterzeichnet, in der Nacht vom 8. zum 9. September 1924
fiel die Binnenzollgrenze zwischen besetztem und unbesetztem Gebiet, die
deutsche Währung war inzwischen durch das "Rentenmarkwunder"
wiederhergestellt worden. Am 10. Januar 1925 endlich fielen, nachdem der Rat des
Völkerbundes von dem ihm nach Art.
280 zustehenden Rechte der
Ver- [238] längerung der
handelspolitischen Bestimmungen des Vertrags keinen Gebrauch gemacht hatte,
die oben gekennzeichneten Fesseln für die deutsche Handelspolitik, der
nunmehr die ungeheuere Aufgabe zufiel, den rechtlichen Unterbau für den
deutschen Außenhandel der Zukunft neu aufzuführen.
Es ist überflüssig, die Zahlen der deutschen
Außenhandelsstatistik für die Jahre 1923 und 1924 hier
wiederzugeben. In den amtlichen Veröffentlichungen des Statistischen
Reichsamts findet sich in dieser Zeit der immer wiederkehrende Bericht: "Die
Zuverlässigkeit der... veröffentlichten Ergebnisse ist infolge des
Einbruchs in das Ruhrgebiet erheblich beeinträchtigt, da das seit Februar
1923 angefallene handelsstatistische Material infolge der Besetzung der Zollstellen
und der Ausweisung der Beamten zum größten Teil nicht hat an das
Statistische Reichsamt gelangen können und seither die dort
ein- und ausgeführten Güter von deutscher Seite überhaupt
nicht mehr handelsstatistisch erfaßt werden."
Wie groß die der deutschen Handelspolitik gestellte Aufgabe war, geht allein
schon daraus hervor, daß am 10. Januar 1925 nur noch mit 14 Staaten
Handelsabkommen aus der Vorkriegszeit in Kraft waren, und zwar, sieht man von
Argentinien, Chile, Dänemark, den Niederlanden und der Schweiz ab, nur
mit Staaten mit relativ geringer weltwirtschaftlicher Bedeutung.
Es mußte zunächst aus der veränderten weltwirtschaftlichen
Konstellation die Konsequenz für den deutschen Zolltarif gezogen werden.
Es geschah dies etwas verspätet durch die sogenannte "Kleine
Zolltarifnovelle" vom 12. August 1925. Zu einer großen,
grundsätzlichen Reform des Zolltarifs, die dringend notwendig gewesen
wäre, hatte man leider nicht kommen können. So nahm man seine
Zuflucht zu einer "vorläufigen Regelung", in der alle grundsätzlichen
handelspolitischen Fragen ungeklärt blieben, mit der ausgesprochenen
Absicht, ein Instrument für die künftigen
Handelsvertragsverhandlungen zu schaffen.
Ziel der deutschen Handelspolitik mußte sein, den Grundsatz der
allgemeinen Meistbegünstigung in allen Verträgen wieder
durchzusetzen und zugleich das Zollniveau der Vertragsstaaten in einer Weise zu
senken, daß deutsche Waren konkurrierend auf dem Markte des jeweiligen
Vertragsgegners auftreten konnten. Unendliche politische und wirtschaftliche
Schwierigkeiten standen der Durchführung dieses Zieles entgegen. Wichtige
Wirtschaftsmächte lehnten zunächst den Grundsatz der
Meistbegünstigung rundweg ab: Die Vereinigten Staaten von Amerika,
Spanien und besonders Frankreich. Die protektionistischen Bestrebungen waren in
allen Ländern durch die allgemeine Wirtschaftsnot gestärkt worden,
und erst die große
Welt- [239] wirtschaftskonferenz,
die vom 4. bis zum 23. Mai 1927 in Genf getagt hat, schien in dieser Beziehung
eine Wandlung der Geister anzubahnen.
Versuchen wir, das bis heute Erreichte uns kurz zu vergegenwärtigen!
Deutschland hat in einer überraschend kurzen
Zeit - in der Vorkriegszeit haben Handelsvertragsverhandlungen nicht selten
jahrzehntelang gedauert - seine Wirtschaftsbeziehungen zu den wichtigsten
Weltwirtschaftsmächten in einer im allgemeinen befriedigenden Weise
regeln können.
Von besonderer politischer und wirtschaftlicher Bedeutung war es, daß es
am 17. August 1927 gelang, mit Frankreich ein umfangreiches Handelsabkommen
abzuschließen. In fast allen in der Nachkriegszeit abgeschlossenen
Verträgen gelang es, den Grundsatz der uneingeschränkten
Meistbegünstigung durchzusetzen, selbst gegen Frankreich, das sich fast bis
zur letzten Minute vor Abschluß des Handelsvertrags weigerte, die
Meistbegünstigung zur Grundlage der beiderseitigen
Wirtschaftsbeziehungen zu machen. Das andere Ziel der deutschen Handelspolitik,
die ausreichende Senkung des Zollniveaus der Vertragsgegner, ist nicht ganz in
demselben Umfang erreicht worden. Auch die Genfer Weltwirtschaftskonferenz
von 1927, die in mancher Hinsicht so überaus erfolgreich war, hat in dieser
Beziehung zu greifbaren Ergebnissen noch nicht geführt; mußte sich
doch der Präsident des beratenden Wirtschaftsrats des Völkerbundes
noch in der Tagung am 6. Mai 1929 über die mangelhafte
Durchführung der von der Weltwirtschaftskonferenz verlangten neuen
Handelspolitik beklagen. Daß die Wirtschaftsbeziehungen zu Polen, mit dem
sich Deutschland seit Juni 1925 im Zollkrieg befindet, bisher nicht haben geregelt
werden können, hat seinen Grund in außerhalb der
Handels- und Wirtschaftspolitik liegenden Faktoren. Die allgemeinen politischen
Spannungen und die internationale
Agrar- und Kohlenkrise haben diese Verständigung bisher erheblich
erschwert.
Die Repressalienklausel aus § 18 Anlage
II zu Abschnitt
I von Teil VIII des
Friedensvertrags, die für die Entwicklung des deutschen
Außenhandels leicht von verhängnisvoller Bedeutung hätte
werden können, gilt heute nur noch in einigen wenigen Staaten. Die meisten
der Signatarmächte des Versailler Vertrags haben auf ihre Anwendung
ausdrücklich verzichtet, so besonders Frankreich, Großbritannien,
Belgien und Italien.
Die amtliche Statistik des deutschen Außenhandels vermittelt uns [240] über die
Warenein- und ausfuhr in den Jahren 1925 bis 1928 folgendes Bild:
|
1925 |
1926 |
1927 |
1928 |
Einfuhr |
12362 |
10002 |
14228 |
13995 |
Ausfuhr (einschließl.
Reparationssachlieferungen) |
9291 |
10415 |
10801 |
12299 |
Vergleicht man die Entwicklung des deutschen Außenhandels in diesen
Jahren mit der Entwicklung des Außenhandels der wichtigsten
Wirtschaftsstaaten, so ergibt sich, daß der deutsche Außenhandel im
Verhältnis mehr an Umfang zugenommen hat als der Außenhandel
aller anderen Länder zusammen.8
Deutschland ist so wieder eine Welthandelsmacht erster Ordnung geworden und
die Lahmlegung des deutschen Außenhandels ist doch eine Episode
geblieben. Die Bestimmungen des Friedensvertrages von Versailles hatten sich
auch mit den Interessen der Siegerstaaten, die von Deutschland
Reparationszahlungen wünschen, als nicht vereinbar erwiesen. Und wie bei
manchen anderen Teilen dieses Vertrages hat sich durch die Entwicklung des
deutschen Außenhandels in einem verhältnismäßig
kurzen Zeitraum die Unwirksamkeit und praktische Undurchführbarkeit der
gegen unser Volk und seine politische, wie wirtschaftliche Kraft gerichteten
Bestimmungen herausgestellt.
Wir hatten in unseren einleitenden Worten dargelegt, daß vor dem Kriege die
Schaffung von Erwerbsmöglichkeiten für das deutsche Volk und die
Sicherstellung seiner Ernährung die große Aufgabe des deutschen
Außenhandels sein mußte. Auch heute noch bilden diese Ziele seine
Haupttriebkraft. Aber für das mit dem Friedensvertrag von Versailles
belastete deutsche Volk muß sein Außenhandel jetzt noch mehr
bedeuten. Die internationale Diskussion der Reparationsfrage hat
ergeben - auch das Dawes-Komitee hat das in seinem Berichte
betont -, daß die Reparationszahlungen endgültig nur aus
Ausfuhrüberschüssen geleistet werden können. Eine
Transferierung der von Deutschlands Wirtschaft aufgebrachten
Reparationsleistungen in fremde Währungen ist nur möglich, wenn
die deutsche Ausfuhr - bei der vereinfachten Zahlungsbilanz des
Nachkriegsdeutschlands wird man richtig von Warenausfuhr sprechen
können - die Devisen zuvor verdient hat. So ist dem deutschen
Außenhandel der Nachkriegszeit die schwere Pflicht zugefallen,
über [241] die zur Erhaltung der physischen, sozialen und
kulturellen Lebensgrundlage unseres Volkes verlangten Leistungen hinaus die
Erfüllung der in dem Friedensvertrag begründeten
Reparationszahlungen zu ermöglichen.
Und damit noch nicht genug. Die
"Ankurbelung" der deutschen Wirtschaft nach Kriegsende war nur möglich
durch eine ungeheure große Verschuldung an das Ausland. Man hat die
deutschen Auslandsschulden Ende 1928 auf rund 13 Milliarden Reichsmark, die
jährliche Zinsenlast auf 1 Milliarde Reichsmark geschätzt. Und die
Auslandsverschuldung Deutschlands wird künftig, wenn die Gesamtsumme
der deutschen Reparationsverpflichtungen einmal feststehen wird, noch sehr
erheblich zunehmen. Der Zinsendienst für diese Schulden und ihre Tilgung,
auch sie beruhen auf einem Überschuß der deutschen
Warenausfuhr.
Ob es dem deutschen Außenhandel trotz des Kriegsverlustes, des
Verschwindens der deutschen Vermögen im Auslande, der verminderten
eigenen Wirtschaftskraft und vieler anderer ungünstig wirkender Faktoren
gelingen wird, diese gewaltige Aufgabe für unser Vaterland zu
bewältigen, wird niemand mit Sicherheit voraussagen können.
Manche Ereignisse gerade der letzten Zeit legen eine ungünstige Prognose
nahe. Hierzu gehört insbesondere die Tatsache, daß nicht nur
Deutschland infolge des Friedensvertrages von Versailles anderen Ländern
verschuldet ist, sondern daß wir es mit einer internationalen Verschuldung zu
tun haben, wie sie in einem solchen gewaltigen Ausmaße die Weltgeschichte
noch nie gekannt hat. Die alten europäischen Industriestaaten sind
überwiegend durch Kriegsschulden und Reparationsverpflichtungen
gegenseitig Schuldner geworden; vor allem aber Schuldner der Vereinigten Staaten
von Amerika. Auch für diese Schulden gilt das für Deutschlands
Reparationsverpflichtungen Gesagte. Sie können endgültig nur durch
Warenausfuhr getilgt und verzinst werden. Das Land aber, dem letzten Endes diese
Waren zufließen müssen, die Vereinigten Staaten von Amerika,
schicken sich an, in unvereinbarem Gegensatz zu der Genfer Wirtschaftskonferenz,
ein neues Zolltarifgesetz zu schaffen, das die protektorische Tendenz des Zolltarifs
von 1922 in verstärktem Maße zum Ausdruck bringen soll. Schutz des
inneren Marktes und damit nach Möglichkeit Unterbindung
ausländischer Konkurrenz ist bereits der Grundgedanke des jetzigen
amerikanischen Zolltarifs gewesen. Noch mehr Schutz und noch mehr
Unterbindung der Einfuhr ausländischer Ware ist die Forderung für
den neuen Zolltarif. Man kann sich schwer denken, daß auf diese Weise das
große wirtschaftliche Problem der internationalen Verschuldung
überhaupt gelöst werden kann. Und es ist ohne weiteres einleuchtend,
daß bei der Zunahme solcher protektorischen Tendenzen in der Welt der
deutsche Außenhandel dauernd von Gefahren bedroht ist.
[242] Es ist dem deutschen Volke aber gelungen, trotz
der Bestimmungen des Friedensvertrages von Versailles seinen Außenhandel
wieder auf eine hohe Stufe zu führen und von neuem einen ersten Platz unter
den Welthandelsmächten dieser Erde einzunehmen. Was so in den schwersten
Jahren des Bestandes des Deutschen Reichs geschaffen werden konnte, sollte sich
in kommenden Zeiten, die uns doch immer weiter vom Weltkrieg und vom
Versailler Frieden entfernen, nicht nur erhalten, sondern allmählich aber
dauernd fester und widerstandsfähiger gestalten lassen.
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