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Bd. 1: Teil 1: Die
wirtschaftlichen Folgen des Versailler Vertrages
IV. Das Reparationsproblem (Teil
1)
a) Geschichtliche Entwicklung der Reparationsfrage bis
zum Dawesabkommen
Dr. phil. h. c. Hans Draeger
Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Arbeitsausschusses Deutscher
Verbände
I.
Unter Reparation versteht man eine Gruppe von Verbindlichkeiten, die beim
Abschluß des Weltkrieges den unterlegenen Mittelmächten und ihren
Verbündeten, namentlich aber im Vertrag von Versailles Deutschland von
den alliierten und assoziierten Mächten auferlegt wurden. Es sind die im
Teil VIII
dieses Vertrages und seinen Anlagen
vereinigten Bestimmungen, die von
dem Gedanken der Wiedergutmachung, enthalten im Friedensprogramm Wilsons,
ihren Ausgang nahmen, sich sodann aber in den Friedensverhandlungen zu einer
umfassenden Entschädigungsschuld, zu einer ungeheueren
Tributverpflichtung erweiterten. Innerhalb dieser Reparation im allgemeinen Sinne
lassen sich sachlich besondere Leistungen abgrenzen, die dem unmittelbaren
Zweck der eigens geschaffenen Wiedergutmachung, der Wiederherstellung von
ausgesprochenen Kriegsschäden, dienen und die allein unter den Rechtstitel
fallen, wie er in den Vorfriedensverhandlungen zur Grundlage einer
vollgültigen Vereinbarung gemacht wurde.
Die Reparationsforderung, die wegen der deliktischen Wertung des Krieges bei
dessen Beendigung eine große Rolle spielte, hatte sich in dem Rahmen des
von Wilson verkündeten Systems eines Weltfriedens der absoluten
Gerechtigkeit zu bewegen. Sie fand in materieller wie moralischer Hinsicht
Ausdruck in dem Satze seiner Kongreßbotschaft vom 11. Februar 1918: "Es
soll weder Annexionen, noch Kontributionen, noch einen Straffrieden geben." Zu
diesem System gehörte es, wenn die Kongreßbotschaft vom 8. Januar
1918 klipp und klar in ihrem 7., 8. und 11. Punkte forderte:
"Belgien muß geräumt und
wiederhergestellt werden...
Das ganze französische Gebiet soll geräumt
und die besetzten Teile sollen wiederhergestellt werden...
Rumänien, Serbien und Montenegro sollen
geräumt und deren besetzte Gebiete wiederhergestellt werden..."
Diese Forderung genügte den Alliierten, vor allem den Engländern,
nicht. Sie wollten, ohne sich von den erwähnten Grundgedanken [270] zu entfernen, genau so wie den betroffenen
Einwohnern von Belgien, Nordfrankreich usw. auch den durch den
See- und Luftkrieg geschädigten Zivilisten eine Wiedergutmachung, einen
Schadenersatz sichern. Sie gaben daher der Forderung eine zusätzliche
Erweiterung in folgender Note an Wilson:
"Der Präsident hat in den in seiner Ansprache
an den Kongreß vom 8. Januar 1918 niedergelegten Friedensbedingungen
erklärt, daß die besetzten Gebiete nicht nur geräumt, sondern
auch wiederhergestellt werden müssen. Die alliierten Regierungen sind der
Ansicht, daß über den Sinn dieser Bedingungen kein Zweifel bestehen
darf. Sie verstehen darunter, daß Deutschland für allen durch seine
Angriffe zu Lande, zu Wasser und in der Luft der Zivilbevölkerung der
Alliierten und ihrem Eigentum zugefügten Schaden Ersatz leisten
soll."
Dieser Zusatz wurde von Wilson der deutschen Regierung in der sogenannten
Lansingnote vom 5. November 1918 mitgeteilt. Diese gab damit eine authentische
Auslegung der Schadenersatzforderungen, die Präsident Wilson in seiner
Programmrede vom 8. Januar 1918 aufgestellt hatte. Sie dokumentierte die
bewußte Annahme der Beschränkung, die das Wilsonprogramm im
konkreten Falle wegen der Schadenersatzansprüche des Siegers ausspricht
und schloß damit für die Zukunft die einseitige Ausdehnung der
Ansprüche, namentlich die Forderung auf Ersatz der Kriegskosten aus.
Unter Verzicht auf Ersatz der Kriegskosten wurde der Ersatz aller Schäden
verlangt, die der Zivilbevölkerung der Alliierten entweder durch aktive
Kampfhandlungen Deutschlands und durch deren unmittelbare Abwehr entstanden
waren oder aber aus dem passiven Kriegszustand resultierten. Maßgebend ist
also sowohl für die
Kriegs- wie für die Zivilschäden, daß sie zum Nachteil der
Zivilbevölkerung entstanden sind und daß ihre Entstehung unmittelbar
auf eine Handlung Deutschlands zurückgeht.
II.
In den Waffenstillstandsverhandlungen begannen die Franzosen mit ihren
Versuchen, über diese klaren Auslegungen hinauszugehen. Entscheidend
waren die Verhandlungen im Obersten Rat vom 1. und 2. November 1918.
Über deren Verlauf sind wir genau unterrichtet durch das Buch von
Mermeix: Les négociations secrètes (Paris 1919,
Librairie Ollendorff). Wir
erfahren hier, wie zunächst Clemenceau, an das Mitgefühl für
die Leiden des französischen Volkes appellierend, die Vertreter Englands,
Italiens und Amerikas schließlich zur Annahme der Formel: réparation des
dommages brachte, wie sodann der französische Finanzminister Klotz, die
allgemeine Aufbruchsstimmung am Schluß der Sitzung nutzend, noch
schnell den Vorbehalt: "Sous réserve de toutes revendications et réclamations
ultérieures de la part des Alliés" an die Spitze des Artikels 19 des
Waffenstillstandsabkommens einschmuggelte. Dieser, der ursprünglich nur
aus den [271] drei Worten Clemenceaus bestand, wurde nun
im Laufe der Diskussion zu einem Sammelartikel für Forderungen, die mehr
auf zufällige Anregungen von den verschiedensten Seiten gestellt wurden.
Der Vorbehalt konnte also, wenn überhaupt, nur den Sinn haben, weitere
etwa noch vergessene Einzelforderungen nachzuholen.
An ihn hat sich sehr bald die These geknüpft, er habe alle früheren
Vereinbarungen aufgehoben und gebe den Alliierten in ihren
Schadenersatzforderungen freie Hand. Klotz hat sich später selber
gerühmt, durch den Trick seines Vorbehalts das Wilsonprogramm beiseite
geschoben und die Deutschen zur schriftlichen Anerkennung unbegrenzter
Reparationen verlockt zu haben. Daß dem nicht so ist, erkennt man sofort, wenn
man die Entstehungsgeschichte dieses Artikels 19 verfolgt und dessen Klauseln
nicht isoliert, sondern als Teil des Waffenstillstandes wertet. Mit voller Klarheit
geht aus dieser Entstehungsgeschichte hervor, daß die Reparationsfrage nicht
durch die Waffenstillstandsverhandlungen, sondern nur durch den Friedensvertrag
geregelt werden konnte, und daß die Grundlage dieser Regelung
feststand.
Wie dem auch sei, mit seinen Worten: "Ich will nur des Prinzips Erwähnung
tun", mit denen Clemenceau seinen Antrag begründete, hat er gleichzeitig
die materielle Bedeutung dieses Artikels 19 für den künftigen Frieden
gekennzeichnet. Es mag sein, daß Frankreich damals schon andere Ziele
verfolgte, daß für Frankreich der Artikel 19 den Weg freimachen sollte
zu einem militärischen Machtfrieden. Aber Frankreich war nicht allein
Kontrahent. Die Auslegung, die die Alliierten in Übereinstimmung mit
Clemenceaus Begründung dem Artikel 19 gegeben haben, darf allein nur
maßgebend sein. Danach steht es aber einwandfrei fest, daß die
Reparationsklausel des Artikels 19 rechtliche Bedeutung nur haben sollte im
Rahmen des Wilsonprogramms und der Note vom 5. November 1918. Damit
stimmt auch die Auslegung überein, die deutscherseits der
Reparationsklausel und dem Vorbehalt bei Abschluß des Waffenstillstands
gegeben wurde. Unter ausdrücklicher Zustimmung des Marschalls Foch
erklärte die deutsche Waffenstillstandskommission, sie sehe in Artikel 19
den Vorbehalt, "daß die endgültigen finanziellen Abmachungen im
Friedensvertrage zu treffen sind". Daß diese endgültigen
Abmachungen im Friedensvertrage auf dem Abkommen vom 5. November 1918
basieren mußten, verstand sich von selbst.
III.
Was sich in den Waffenstillstandsbedingungen angebahnt hatte, trat auch bei den
Verhandlungen in der Ende Januar 1919 bei der Friedenskonferenz eingesetzten
interalliierten Reparationskommission zutage: der Gegensatz in der
Rechtsauffassung der amerikanischen [272] Meinung, die in dem Prinzip unbedingter
Rechtsgebundenheit der Siegerstaaten gipfelte, und der französischen
Ideenwelt, die die restlose Ausbeutung des Sieges forderte. Dazu kam noch,
daß das französische Volk die Einlösung dessen forderte, was
man ihm vier Jahre lang versprochen hatte, und was in den wenigen Worten "Le
boche paiera tout" seinen Ausdruck fand. Aber nicht nur das französische,
sondern auch das englische Volk forderte die Einlösung des Scheines, den
ihm sein Ministerpräsident, Lloyd George, zuletzt noch in den
"Khakiwahlen" vom 11. Dezember 1918 versprochen hatte: "Schilling für
Schilling, Tonne für Tonne! Wir werden Deutschland wie eine Zitrone
auspressen!" Und diese Stimmung hatte natürlich auch die übrigen
alliierten Nationen ergriffen.
Die Rücksicht auf Amerika fiel zum großen Teil weg, als der
Waffenstillstand geschlossen und Deutschland entwaffnet war. Diese neue Lage
gab den alliierten Wünschen nach schrankenloser Erweiterung des
Reparationsprogramms einen ganz anderen Boden. Der Ton Clemenceaus in
Versailles, wo er bereits der militärische Herrscher des Kontinents war,
durfte ein anderer sein als im November 1918, als seine Truppen noch einen Teil
des alliierten Heeres darstellten, das siegte, aber schwer und nicht ohne die
transatlantische Hilfe siegte. Das ist die große Wendung. Wenn England und
Frankreich wollten, konnten sie nunmehr einen Frieden schließen, der das
Novemberprogramm über den Haufen warf, Amerika konnte sich
zurückziehen, aber sie nicht mehr daran hindern.
Der Umschwung, der durch die eben erwähnten Umstände erfolgte,
zeigte sich bereits deutlich in den Erörterungen, die vom 3. bis 19. Februar
in der interalliierten Kommission stattfanden, die feststellen sollte
- den Betrag, den Deutschland und seine Verbündeten im Wege der
Reparation zahlen sollten,
- den Betrag, den sie zahlen konnten,
- Zahlungsart, Zahlungsform sowie Zahlungsfrist.
Diesem Reparationsausschuß gehörten u. a. an die Amerikaner
Baruch, Lamont und Dulles, der Australier Hughes, die Briten Lord Summer und
Lord Cunliffe, die Franzosen Klotz und Loucheur, die Italiener Salandra und
d'Amelio, der Belgier van den Heuvel.
Über den Verlauf dieser Verhandlungen sind wir durch das Buch von
Baruch: The making of the Reparation and economic section of the treaty
unterrichtet. Hiernach basierten die amerikanischen Grundsätze als einzige
auf den Vorwaffenstillstandsverhandlungen, während die anderen sich auf
allgemeine Feststellungen des Inhalts beschränkten, daß der Krieg eine
ungerechte Handlung Deutschlands gewesen und daher Deutschland für
allen daraus entstehenden direkten und indirekten Schaden und Verlust
verantwortlich sei.
[273] Da eine Übereinstimmung nicht erzielt
werden konnte, wurde auf Vorschlag der amerikanischen Delegation die
Entscheidung über die Frage des Einschlusses der Kriegskosten dem
Obersten Rat überlassen.
Präsident Wilson befand sich auf seiner Rückreise nach Amerika, als
der Oberste Rat sich mit dem Reparationsproblem befaßte. Die
amerikanische Delegation hatte ihm jedoch einen drahtlosen Bericht über
die Verschiedenheit der Gesichtspunkte übermittelt und Instruktionen
erbeten, ob sie auf ihrem ursprünglichen Standpunkte hinsichtlich der
Kriegskosten beharren sollte. Der Präsident erwiderte, daß die
Delegation - wenn notwendig - öffentlich von einem Verfahren
abrücken solle, welches "unvereinbar ist mit dem, was wir in voller
Überlegung den Feind erhoffen ließen und was wir heute ehrenhalber
nicht abändern können, einfach deswegen, weil wir die Macht dazu
haben".
Hierdurch ermutigt, gelang es der amerikanischen Delegation in vertraulichen
Besprechungen sowohl Lloyd George wie Clemenceau und Orlando zu einer
prinzipiellen Anerkennung des amerikanischen Rechtsstandpunktes zu bringen.
Deutschlands Reparationsverpflichtungen sollten hiernach nach einer loyalen
Auslegung des Vorfriedensvertrages festgestellt werden unter Ausschluß der
Kriegskosten und unter Beschränkung auf den wirklichen Schaden, der nun
noch festgestellt werden mußte.
Aber der Sieg Wilsons hatte im Grunde nur formale Bedeutung. Das zeigte sich bei
der Festsetzung der Schadenersatzkategorien, die man unter dem Titel des Ersatzes
für Zivilschäden fordern wollte, dessen Problematik bei der
Einstellung der Parteien natürlich stark hervortrat. Wie die Forderung auf
den Ersatz aller Kriegskosten leiteten sie (mit Ausnahme der Amerikaner) auch
diejenige der Kriegsschäden aus der Folge des Sieges ab. Und so traten denn
sehr bald Forderungen auf, die ihrem Wesen nach Kriegskosten waren und die
keinen anderen Zweck hatten, als nach Ablehnung der Kriegskostenforderung
legale Titel zur Durchführung einer destruktiven Politik zu geben. Nach
beträchtlichen Erörterungen waren die ursprünglichen 21
Schadenkategorien der Reparationskommission auf 10 ermäßigt
worden. Über die einzelnen Schadenkategorien bestand völliges
Einvernehmen mit Ausnahme über diejenigen der Pensionen und Renten,
deren Einschließung namentlich von Großbritannien und Frankreich
gefordert worden war, da sie ihnen, nachdem die allgemeinen Kriegskosten
gefallen waren, als die einzige verbleibende Grundlage für gewaltige
finanzielle Forderungen erschienen.
Der Kampf um die ⅔ der Gesamtforderung ausmachenden Renten und Pensionen
ist denn auch das traurigste Kapitel des Ringens in Versailles um die
Reparationen.
[274] Die Amerikaner bekämpften den ganzen
Vorschlag aus prinzipiellen Gründen, wenn auch nicht so hartnäckig
wie im Falle der gesamten Kriegskosten.
Die endliche Einigung erfolgte im Rat der Großen Vier, und zwar auf Grund
eines Memorandums des südafrikanischen Generals Smuts (abgedruckt bei
Baruch a. a. O. S.
29-32). Die Logik dieses Memorandums ist die traurigste Winkeladvokatenlogik,
die sich jemals in einem staatsmännischen Akt verirrt hat. Um die Pensionen
als Schäden der Zivilbevölkerung erscheinen zu lassen, argumentiert
das Memorandum folgendermaßen:
- ein entlassener Soldat wird wieder Zivilist;
- eine Wunde, deren Folgen sich für einen solchen Zivilisten noch
bemerkbar machen, ist also ein Schaden, der einer Zivilperson zugefügt
worden ist;
- also sind alle Schäden, die Soldaten zugefügt sind, Schäden,
die eigentlich der Zivilbevölkerung zugefügt worden sind.
Vergebens protestierten die amerikanischen Sachverständigen, weil Smuts
Logik falsch wäre und die Forderung angesichts der Bedingungen des vor
dem Waffenstillstand gegebenen Versprechens nicht zu rechtfertigen sei. Den
zugunsten der Pensionen ausfallenden Ausschlag gab schließlich Wilson,
und wir haben aus der Feder eines amerikanischen Sachverständigen, des
amerikanischen Finanzmannes Lamont, eine Beschreibung des Schlußaktes
dieser Tragödie, die mit dem Umfall Wilsons endigte. Lamont schreibt hier
(siehe das Buch What really happened at Paris, herausgegeben von House and
Seymour, S. 272):
"Ich erinnere mich noch gut des Tages, an welchem
Präsident Wilson den Entschluß faßte, der Einbeziehung von
Pensionen in die Wiedergutmachungsrechnung zuzustimmen. Einige von uns
waren in seiner Bibliothek im Place des Etats Unis versammelt, wohin er uns
gerufen hatte, um diese Frage der Pensionen zu besprechen. Wir erklärten
ihm, daß wir keinen einzigen Juristen in der amerikanischen Delegation
finden könnten, der sein Gutachten zugunsten des Einschlusses von
Pensionen abgeben würde. Die ganze Logik spräche dagegen. »Logik!
Logik!« rief der Präsident, »ich kehre mich den Teufel an die Logik. Ich
werde die Pensionen mit einbeziehen!«"
Die weiteren Verhandlungen über die deutschen Schadenersatzleistungen
waren nicht mehr von grundsätzlicher Bedeutung. Es blieb nur die
Höhe der Entschädigung zu erörtern. Vergebens versuchten die
Amerikaner die Festsetzung einer bestimmten Summe durchzusetzen. England und
Frankreich machten Zugeständnisse in der Reparationsfrage abhängig
von der Regelung der alliierten Schulden an die Vereinigten Staaten. Das aber lag
außerhalb der Befugnisse der amerikanischen Delegation. Zudem
widersprach das [275] amerikanische Schatzamt einer Einbeziehung
dieser Frage in die Friedenskonferenz, und so hatten Frankreich und England in der
Reparationsfrage freie Hand. Schließlich überließ man die
endgültige Festsetzung der Höhe der Reparationsforderung einer
interalliierten Reparationskommission.
IV.
Überblickt man die ganzen Reparationsverhandlungen auf der Pariser
Friedenskonferenz, so ist ohne weiteres ersichtlich, daß auch in der Regelung
dieses Problems ausschließlich der Machtwille den Sieg davontrug. Weil
dies der Fall war, mußte eben jede Erörterung mit Deutschland
über den rechtlichen Charakter der Reparationen abgeschnitten werden. Und
darauf geht es ja auch hinaus, wenn Clemenceau in dem Ultimatum zur Note vom
16. Juni 1919 kurz und bündig erklärte:
"Die alliierten und assoziierten Mächte, getreu
ihrer schon erklärten Politik, lehnen es ab, in eine Diskussion über die
Grundsätze einzutreten, die als Grundlage für die
Wiedergutmachungsbestimmungen der Friedensbedingungen gedient
haben."
Diese Artikel stehen an der Spitze des Teils VIII
des Vertrages, der von der
Reparation handelt. Es sind die Artikel 231 und 232,
letzterer in seinen ersten
beiden Absätzen. Sie lauten:
Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären,
und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten
als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die
alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge
des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner
Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben.
Die alliierten und assoziierten Regierungen erkennen an,
daß die Hilfsmittel Deutschlands unter Berücksichtigung ihrer
dauernden, sich aus den übrigen Bestimmungen des gegenwärtigen
Vertrags ergebenden Verminderung nicht ausreichen, um die volle
Wiedergutmachung aller dieser Verluste und Schäden sicherzustellen.
Immerhin verlangen die alliierten und assoziierten
Regierungen und Deutschland verpflichtet sich dazu, daß alle Schäden
wieder gutgemacht werden, die der Zivilbevölkerung jeder der alliierten und
assoziierten Mächte und ihrem Gut während der Zeit, in der sich die
beteiligte Macht mit Deutschland im Kriegszustand befand, durch diesen Angriff
zu Lande, zur See und in der Luft zugefügt worden sind, sowie
überhaupt alle Schäden, die in der Anlage I
näher bezeichnet
sind.
In dieser Anlage
werden aufgeführt:
- Schäden, die von Zivilpersonen oder den von ihnen versorgten
Hinterbliebenen erlitten worden sind, gleichviel an welchem Ort, wenn nur der
[276] Schaden durch irgendwelche Kriegshandlungen
zu Land, zur See oder in der Luft verursacht worden war, und soweit er die Person
oder das Leben betrifft.
- Schädigungen von Zivilpersonen an Leben und Gesundheit infolge von
Akten der Grausamkeit, Gewalttätigkeit, Mißhandlung
(einschließlich Internierung, Aussetzung auf hoher See, Deportation,
Zwangsarbeit usw.).
- Schädigungen infolge von irgendwelchen gegen die Gesundheit, die
Arbeitsfähigkeit oder Ehre gerichteten Handlungen.
- Schädigungen infolge von schlechter Behandlung von Kriegsgefangenen.
- Alle Lasten, die den Völkern der alliierten und assoziierten Mächte
aus Pensionszahlungen und Entschädigungsleistungen an militärische
Opfer des Krieges (Verstümmelte, Kranke oder Invaliden) und ihre
Hinterbliebenen erwachsen.
- Kosten der von den Regierungen der Verbündeten Mächte
gewährten Unterstützung von Kriegsgefangenen, ihrer Familien oder
von ihnen versorgter Personen.
- Kosten der Unterstützung von Familien der zum Heeresdienst
Einberufenen, sowie der von ihnen versorgten Personen.
- Schädigungen von Zivilpersonen durch Heranziehung zur Arbeit ohne
angemessene Vergütung.
- Schäden an allem Eigentum, gleichviel welchen Ortes, das einer der
Verbündeten Mächte oder ihren Staatsangehörigen zusteht (mit
Ausnahme von
Heeres- und Marine-Anlagen und Material) und das durch feindliche
Maßnahmen weggeführt, beschlagnahmt, beschädigt oder
zerstört worden ist.
- Kontributionen, Geldstrafen usw., die Deutschland den besetzten Gebieten
auferlegt hat.
Diese Aufzählung der einzelnen Schadenersatzkategorien, die den Vergleich
mit den im November 1918 vereinbarten Grundsätzen scheuen muß,
gibt das Motiv, warum die alliierten und assoziierten Mächte es ablehnten,
die Einwendungen der deutschen Delegation zu erörtern und vielmehr die
Schwäche der Rechtslage durch die Brutalität der Geste
verhüllen.
Mit welchen Mitteln hat die deutsche Friedensdelegation diese ganz und gar
grundlosen Überforderungen abzuwehren versucht? Sie erhebt in ihren
Bemerkungen zu den Friedensbedingungen vom 29. Mai noch einmal mit Recht
Einspruch dagegen, daß der feindliche Entwurf der Friedensbedingungen
über das hinausgeht, "was in den feierlichen Kundgebungen und
Abmachungen des Jahres 1918 enthalten ist". Sie wendet sich besonders dagegen,
daß die in Anlage I
aufgezählten Schäden nur zum Teil die
Zivilpersonen in den besetzten Gebieten betreffen, zum anderen Teil aber
1. Schäden von Zivilangehörigen der alliierten und assoziierten
Mächte, die in andern als den besetzten Gebieten verursacht sind;
2. Schäden der alliierten und assoziierten Staaten selbst; 3. Schäden
von Militärpersonen dieser Staaten; 4. Schäden, die nicht durch den
Angriff Deutschlands, sondern durch seine Verbündeten den alliierten und
assoziierten Mächten, [277] ihren Militärpersonen und ihrer
Zivilbevölkerung zugefügt worden sind.
Der Aufzählung wird hinzugefügt, daß diese Abweichungen
"über die vertragsmäßige Vereinbarung" hinausgehen.
Auf diesen Einwand der deutschen Delegation erklärten die alliierten und
assoziierten Regierungen ausdrücklich, die Begründung ihrer
Schadenersatzansprüche liege nicht in deutschen
Völkerrechtsbrüchen, sondern in der deutschen Schuld am
Kriegsausbruch. Damit war die Grundlage gekennzeichnet, auf der nicht nur die
Reparationsansprüche, sondern die Friedensbedingungen überhaupt
aufgebaut werden sollten, und die deutsche Delegation konnte jetzt mit den
alliierten und assoziierten Regierungen in den, wenn auch schließlich
erfolglosen, Notenkampf um die Kriegsschuldfrage
eintreten.
V.
Die Bedeutung des Artikels 231
für das Problem der Reparation und sein
Verhältnis zu den Vorfriedensverhandlungen kann einer rechtlichen
Würdigung nur unterzogen werden bei Kenntnis seiner
Entstehungsgeschichte; denn ihm haftet bei der Kompromißlösung,
die das Problem in den Pariser Verhandlungen fand, der Mangel einer klaren und
eindeutigen Stellungnahme zu diesem Problem an. Aus dieser Unklarheit und
Zweideutigkeit ist es auch nur verständlich, wenn heute die Auffassungen
über Inhalt und Bedeutung dieses Artikels 231
nicht nur in der Meinung des
Auslandes, sondern auch innerhalb Deutschlands selbst auseinandergehen.
Über die Entstehung des Artikels 231
geben die von seinem damaligen
Pressechef Baker herausgegebenen Memoiren Wilsons Aufschluß.
Der Reparationsabschnitt des Vertrages von Versailles ist, wie eben geschildert,
aus einem längeren Kampf hervorgegangen, der gegen Ende März zu
einer offfenen Krisis zu führen drohte. Man mußte entweder eine
Kompromißformel finden oder konnte nach Hause gehen. Da (am 29.
März) trat Lloyd George mit einem neuen "vagen" Vorschlag auf den Plan,
der nun in den Mittelpunkt der Diskussion rückte. Nach längeren
Debatten kam es zwischen den englischen und amerikanischen Delegierten zu der
Vereinbarung, daß Lloyd Georges Plan "im wesentlichen" angenommen
(dies ist Ziff. 1 der bei Baker III doc. 57 S. 342 abgedruckten Vereinbarung),
wonach "Deutschland gezwungen werden solle, seine finanzielle Haftbarkeit
anzuerkennen (admit her financial liability), für allen der
Zivilbevölkerung der alliierten und assoziierten Mächte und ihrem
Eigentum durch den Angriff der feindlichen Staaten zu Land, zur See und aus der
Luft zugefügten Schaden und ebenso für den Schaden, der aus ihren
Handlungen unter Verletzung förmlicher Verpflichtungen [278] und des Völkerrechts herrührt".
Zugleich aber wurde vereinbart, daß die Ersatzforderungen, die auf Grund
des aufgestellten Prinzips erhoben werden könnten, in einem
interpretierenden Dokument spezialisiert werden sollten. Diese Interpretation (vom
2. April 1919) liegt ebenfalls bei Baker S. 346 vor.
Ihr Inhalt ist wörtlich oder fast wörtlich in den Versailler Vertrag als
Anlage I zu Teil
VIII übernommen worden. Dadurch nun aber, daß
diese Aufzählung der einzelnen Haftungsfälle erschöpfende
Bedeutung haben sollte und anderweite Ersatzforderungen nicht sollten erhoben
werden können, wurde offenbar das angeführte allgemeine Prinzip
jeder rechtlichen Bedeutung entkleidet, und das haben die an der Abfassung der
Vereinbarung Beteiligten auch klar erkannt. Sie ließen gleichwohl das
Prinzip nicht fallen, aber sie brachten in dem Text, den sie der Gesamtkonferenz
vorlegten, einige unscheinbare, aber sehr wichtige Veränderungen an. An die
Stelle der "financial liability" Lloyd Georges setzten sie das farblose Wort
"responsibility", um zum Ausdruck zu bringen, daß aus dem Prinzip,
abgesehen von den in der Interpretation spezialisierten Haftungen, keinerlei
finanzielle Konsequenzen gezogen werden dürften. Aus der juristischen
Haftbarkeit für alle Kriegsfolgen, die Lloyd George Deutschland auferlegen
wollte, wurde so gewolltermaßen eine bloße moralische
Verantwortlichkeit: a moral, not a financial responsibility, wie der amerikanische
Delegierte Baruch mit dürren Worten sagt. Aber diese erste
Abänderung zog eine verhängnisvolle zweite nach sich. Die
Auferlegung einer finanziellen Haftung bedurfte für den Sieger keiner
anderen Rechtfertigung, als daß er eben den Krieg gewonnen hatte. Die
moralische Verantwortlichkeit dagegen mußte begründet und die
Begründung konnte nur darin gefunden werden, daß die
Zentralmächte ihren Gegnern den Krieg aufgezwungen hätten. So
erhielt der der Gesamtkonferenz vorgeschlagene Text die Fassung:
"Die alliierten und assoziierten Regierungen
erklären (affirm) die Verantwortlichkeit der Feindstaaten für alle
Verluste und allen Schaden, die die alliierten und assoziierten Regierungen und
ihre Staatsangehörigen als Folge des Krieges erlitten haben, der ihnen durch
den Angriff der Feindstaaten aufgezwungen wurde (as a consequence of the war
imposed upon them by the aggression etc.)."
Dieser Text wurde schließlich (Baker S. 343) angenommen und kam als
Artikel 231
fast wörtlich in den Versailler Vertrag mit der
Abänderung, daß das Wort "Feindstaaten" durch das Wort
"Deutschland und seine Verbündeten" ersetzt wurde, "um so die
Verantwortlichkeit Deutschlands für alle Kriegsfolgen anzukündigen"
(Baker S. 348). Nun konnte es hier natürlich nicht mehr bei der einseitigen
Erklärung unserer Gegner bleiben, die als solche ganz bedeutungslos, ja
lächerlich gewesen wäre. Man schob daher bei der Redaktion [279] des Vertragsinstruments hinter "affirm" die
Worte ein: "and Germany accepts"; die Gegner "erklären" und Deutschland
"akzeptiert" die Verantwortlichkeit. Der deutsche Text schließt sich leider
nicht an den englischen, sondern an den französischen an und lautet noch
übler: "und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine
Verbündeten als Urheber...... verantwortlich sind".
Wir wissen heute, daß gerade die Amerikaner es waren, die sich für
die Heraushebung der deutschen Schuld am Kriege energisch einsetzten, allerdings
nicht in dem Bestreben, hieraus ungerechte Forderungen herzuleiten, sondern im
Dienst der Gerechtigkeit.
Der Ton der Rede Clemenceaus bei Überreichung des Vertragsentwurfs an
die deutsche Delegation entsprang dem krankhaften Bestreben, die Vertragsnormen
erneut auf den Sieg, auf die Macht zu basieren. Wenn er am 20. Mai den
Einwendungen der deutschen Delegation gegen Artikel 231
und dem Hinweis auf
die Note vom 5. November 1918 entgegensetzte, Deutschland habe damals
"implicite mais clairement" seinen Angriff und seine Verantwortlichkeit anerkannt,
so geht die ganze Verdrehtheit und Unaufrichtigkeit dieser Argumentation aus dem
vorstehend dargelegten Verlauf der Pariser Reparationsverhandlungen klar hervor.
Graf Brockdorff-Rantzau ist ihm darauf die Antwort nicht schuldig geblieben. Leider
ohne Erfolg. Artikel 231
des Vertragsentwurfs fand trotz aller deutschen
Gegenvorstellungen in unveränderter Fassung Aufnahme in den
endgültigen Vertrag.
Mit der Kriegsschuldfrage sind also die auf dem Prinzip der Vergeltung
aufgebauten Reparationsforderungen unlöslich verknüpft. Der
doppelsinnige Artikel 231,
der die Reparationsforderung als Teil der Strafe
erscheinen läßt, ist sorgsam überlegt worden. Wie Baker a. a. O.
ausführt, konnten die Amerikaner ihn als Erklärung auffassen,
daß Deutschland seine sittliche Verantwortlichkeit für den Ausbruch
des Krieges zugeben wolle, wie die Alliierten ihn als Anerkenntnis finanzieller
Haftung für die allgemeinen Kriegskosten auszulegen vermochten.
VI.
Der Streit um die juristische Bedeutung des Artikels 231
hat eine ganze Reihe
deutscher und ausländischer Juristen auf den Plan gerufen. Zu den
extremsten Auffassungen gehören diejenigen, die auf der einen Seite von
dem Nachweis der Unrichtigkeit der Behauptung des Artikels 231
auf eine Ungültigkeit des Versailler Vertrages schlechthin schließen, auf der
anderen diesem Artikel jede juristische Relevanz überhaupt absprechen.
Eine dritte Theorie steuert darauf hinaus, daß der Artikel 231
ein Schuldbekenntnis überhaupt nicht enthalte, daß vielmehr das deutsche
Volk einer einzigartigen Autosuggestion zum Opfer gefallen sei, indem es
hart- [280] näckig ein
Schuldbekenntnis an Stelle einer nur zivilrechtlichen Ersatzpflicht erblicke. Diese
Auffassung wird namentlich von amerikanischer Seite vertreten. Man könnte ihr
vielleicht beipflichten, wenn sich diese Ersatzpflicht nicht weit über ihren
Rahmen hinaus zu einer reinen Tributleistung entwickelt hätte.
Wenn es mir auch nicht zukommt, in eine juristische Erörterung des
Schuldproblems einzutreten, so möchte ich doch zu obigen Theorien neben
dem bereits über die Entstehung des Artikels 231
Gesagten noch folgendes
bemerken:
Ganz abgesehen davon, daß ein Völkerrechtsvertrag doch
schließlich kein nur politisches, finanzielles oder gar historisches oder
moralisches Traktat ist, daher Artikel 231
in Verbindung mit der Präambel
zum Vertrag von Versailles sowie mit der Mantelnote zum Ultimatum vom 16.
Juni 1919 nicht nur unter diesen Gesichtspunkten gewertet werden kann, so
sprechen vor allen Dingen für die erste der drei erwähnten Theorien
einmal die gewichtigen Aussagen eines der Väter des Vertrages, Lloyd
George. In seinem Memorandum an die Pariser Friedenskonferenz vom 26.
März 1919 verlieh er dem Gedanken der Vergeltung und Satisfaktion mit
folgenden Worten Ausdruck:
"Vor allem muß der Vertrag den Alliierten
Gerechtigkeit widerfahren lassen, indem er Deutschlands Verantwortung für
den Ausbruch des Krieges und für die Art, in der er geführt wurde, in
Rechnung stellt."
In der Sitzung der Londoner Konferenz vom 3. März 1921 gab er dem
deutschen Vertreter Dr. Simons gegenüber bekanntlich die Erklärung
ab:
"Für die Alliierten ist die deutsche
Verantwortlichkeit für den Krieg grundlegend. Sie ist die Basis, auf der das
Gebäude des Vertrages errichtet worden ist. Wenn dieses Anerkenntnis
verweigert oder aufgegeben wird, so ist der Vertrag zerstört."
Auch für das offizielle Frankreich war dieses Prinzip des Artikels 231
stets ein Axiom für die Auslegung des Versailler Vertrages und namentlich seiner
Reparationsforderungen. Ich erinnere nur an die Rede von Barthou, die dieser als
Berichterstatter der Kammer am 2. Oktober 1919 hielt. Ihr erster Teil befaßt
sich mit der "Schuld und Sühne" und stellt gleich zu Anfang fest:
"In einer kapitalen Tatsache haben die
Verhandlungen keinen Zweifel gelassen. Die Konferenz hat, indem sie die Schuld
Deutschlands am Ausbruch des Krieges und an seiner Führung festgelegt
hat, zugleich die stärksten moralischen und rechtlichen Grundlagen gegeben
für die Bedingungen, die sie Deutschland auferlegte. Wenn auch Artikel 231
sich nur auf die Reparation bezieht, bildet er doch das allgemeine Prinzip, in dem
sich alle seine Bestimmungen vereinigen, welcher Art sie auch sind. Er stellt fest,
daß der Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten den alliierten
und assoziierten Regierungen den Krieg aufgezwungen hat."
(Barthou, Le traité de Paix. Paris
1919. Bibliothèque Charpentier.)
[281] In dem Bericht, den der Berichterstatter des
Senats, Léon Bourgeois diesem am 3. Oktober 1919 vorlegte und auf Grund dessen
am 9. Oktober der Senat seine Zustimmung zum Vertrag gab, heißt es:
"Der Vertrag vom 28. Juni 1919 unterscheidet sich
von allen bisherigen Verträgen der Geschichte...
Er will nicht die Auswirkungen des Sieges feststellen und
die Besiegten dem Recht der Sieger unterwerfen, sondern vielmehr den einen wie
den anderen geben, was Recht und Gerechtigkeit ihnen zugewiesen hat...
Da der Vertrag vom 28. Juni in der Hauptsache die
Herstellung der Gerechtigkeit zum Gegenstande hat, muß er auch der Welt
einen eklatanten Beweis dafür geben, indem er gegen diejenigen, welche
Gesetze verletzt haben, die feierliche Verurteilung ausspricht, die ihre Verbrechen
verdient haben. In jedem Akte der Gerechtigkeit gibt es eine Reparation des dem
Opfer zugefügten Unrechts und eine dem Urheber dieses Unrechts auferlegte
Strafe...
Der Friedensvertrag belastet Deutschland mit zwei
Kategorien begangener Verbrechen, die eine Sühne fordern. Diese
Verbrechen sind in den Artikeln
227/231 näher bezeichnet. Zunächst
wird Deutschland als für den Krieg verantwortlich erklärt und Artikel
231 stellt fest, daß Deutschland dieses selbst anerkennt.
Kapitel 1 handelt sodann von der »Sühne für
die Vergangenheit«, und zwar unter Hinblick auf die Reparation. Es beginnt mit
folgender Einleitung:
Das Recht, die Reparation der Verluste und
Schäden, welche die alliierten und assoziierten Mächte durch den
Krieg erlitten haben, ist im Artikel 231
feierlich anerkannt worden.
Der Wortlaut dieses Artikels enthält zugleich eine
prinzipielle Erklärung und ein Eingeständnis der Schuld."
(L. Bourgeois, Le traité de Paix de Versailles. Paris 1919.
Librairie Felix Alcan.)
Der Vertreter der französischen Regierung bei den Gemischten
Schiedsgerichtshöfen, Jaudon, stellt im Vorwort zu dem Werk von
Gide-Barrault: Le traité de Paix avec l'Allemagne du 28. juin 1919 et les
intérêts
privés (Paris 1921) Seite IX die These auf, die "responsabilité absolue et
incontestée de l'Allemagne" habe den Charakter eines Axioms. Diese These ist
denn auch bald in die Praxis der Gemischten Schiedsgerichtshöfe
eingedrungen, indem hier mehrfach von der "responsabilité initiale de la guerre,
reconnue par l'Allemagne" gesprochen und daraus der Schluß gezogen wird,
daß "l'Allemagne ayant fait de déclaration de l'art. 231 assume ipso facto les
responsabilités juridiques résultant de cette reconnaissance" (Recueil des
décisions
des tribunaux arbitraux mixtes institués par les traités de paix. Band I Paris
1922, Band III Paris 1924).
In der Abwehr dieser Auffassung sind dann die Verfechter der zweiten Theorie mit
ihrer Verneinung jeder juristischen Bedeutung des Artikels 231
übers Ziel hinausgeschossen.
Im Kampf um die "exécution intégrale du traité de Versailles"
(Tardieu: La Paix S. 477), d. h. um die Durchführung in ihrem ideellen
Bestandteile, der
Wiedergutmachung, ist in der Folgezeit namentlich von Frankreich in den
zahlreichen Konferenzen und
Be- [282] sprechungen über die Reparation neben
der gelegentlichen Einschaltung des Sicherheitsproblems mit aller Konsequenz
wesentlich die These von der Begründung der Reparation auf die absolute
Schuld Deutschlands am Kriege aufgestellt worden. Auf dieser
"responsabilité générale", die mit ihrer Absolutheit der
deutschen Schuld ohne weiteres geeignet war, die Voraussetzung für
Repressalien zu bilden, beruhten rechtlich auch die sogenannten Sanktionen. Das
Dogma des Artikels 231
hatte als Prinzip Geltung für alle Rechtsfragen, die
sich aus dem Versailler Vertrage ergaben.
Schließlich noch ein Letztes. Der Aufbau der Reparation auf der Grundlage
der Leistungsfähigkeit Deutschlands war eine jener Forderungen, mit denen
die deutsche Regierung seit dem Abschluß des Vertrages von Versailles den
Kampf gegen das Dogma von der absoluten Schuld Deutschlands geführt
hat. In dem bewußten Gegensatz zu der absoluten Schuldthese bedeutet der
Gedanke der Leistungsfähigkeit die Ablehnung des moralischen Elements in
der Reparation und damit ihre Beschränkung auf eine Schadenersatzpflicht
Deutschlands. Das hatten die Alliierten auch erkannt und hatten den Forderungen
Deutschlands in ebenso bewußtem Gegensatz die res judicata des Artikels
231 entgegengehalten, dessen Auslegung durch die These der
"responsabilité
générale" sie als Kampfmittel übernommen hatten. Die Folge ist jener
Kampf gewesen, der in der Besetzung des Ruhrgebietes seinen folgerichtigen
Höhepunkt erreichte, zugleich aber der Welt mit erschreckender
Deutlichkeit zeigte, wohin das Dogma von der absoluten deutschen Schuld
führte. Es war das erste Mal in dem jahrelangen Ringen um den Geist der
Reparationen, daß die englische Regierung in dem Schreiben Curzons an den
französischen, italienischen, belgischen und japanischen Botschafter in
London vom 20. Juli 1923 und in der Note vom 11. August 1923 offiziell
erklärte, die Grundlage der Reparationsforderungen könne nur die
Leistungsfähigkeit Deutschlands sein. Diese Erklärung bezog sich
jedoch vorwiegend auf den Zahlungsplan und nicht etwa auf das Prinzip der
Reparation. Dasselbe gilt auch von dem
Dawes-Plan, denn
auch hier flackert noch als Prinzip der Reparation wieder "die
moralische Verpflichtung Deutschlands" auf "gegenüber den Nationen, die
seine Herausforderung angenommen und seine Absichten vereitelt haben" (Rufus
Dawes: Wie der Dawes-Plan entstand).
VII.
Es ist bereits angedeutet, wie die Reparation sich zu einer förmlichen, die
Entschädigungsverpflichtung im engeren Sinne übertreffenden
Tributleistung erweiterte, die an sich schon Deutschlands
Leistungsvermögen überstieg und seine tatsächliche
Leistungsfähigkeit bis zum äußersten belasten mußte. Es
zeigte sich schon in
deut- [283] lichen Umrissen,
daß sich bei der Gestaltung der Reparation Wünsche finanzieller
Ergiebigkeit mit wirtschaftlichen Methoden des Konkurrenzkampfes und dem
hartnäckigen imperialistischen Willen dauernder gewaltsamer Niederhaltung
eines lebenskräftigen staatlichen Rivalen mischten. Im Vertrage wird denn
auch an mehreren Stellen hervorgehoben, daß Deutschland nicht mehr
behalten solle, als das für seine wirtschaftliche und soziale Existenz sowie
für die Erfüllung seiner Reparationsverpflichtungen Notwendige.
Diese Häufung widerstreitender Interessen und Absichten geht schon allein
aus einer reinen Aufzählung der Entschädigungsverpflichtungen
hervor, die neben der "engeren" Reparation aus Teil VIII
und seinen
Anlagen in
der extensiven Auslegung dieses Begriffs noch aus folgenden Titeln des Vertrages
erwachsen:
- Restitutionen und Substitutionen.
- Besatzungskosten und Kosten der Kommissionen.
- Liquidation deutschen Eigentums und die der deutschen Regierung auferlegte
Verpflichtung zur Entschädigung der Eigentümer.
- Entschädigungen an Ausländer auf Grund Art. 297e
und auf Grund der Urteile der gemischten Schiedsgerichte.
- Zahlungen im Ausgleichsverfahren.
- Ablieferung von Wertpapieren.
- Abtretung von Reichs- und Staatseigentum.
- Ablieferung des nichtmilitärischen Rücklasses.
- Ablieferung von Kriegsschiffen.
- Abbau und Umstellung der Rüstungsindustrie.
- Wiederherstellung der Universität Löwen.
- Rückübertragung der auf Grund der Verträge von
Brest-Litowsk und Bukarest erlangten Vorteile.
- Entschädigung der Donaukommission.
- Abtretung der Staatskabel.
- Bereitstellung von Hafenplätzen für die Tschechoslowakei.
- Sogenannte Kaffeeschuld an Brasilien.
- Französische Entschädigungsansprüche für Kamerun
und Äquatorialafrika.
- Übernahme einer Reihe von Einzellasten, z. B. bezüglich
der abgetretenen Gebiete, wie Verwaltungsschulden, Kriegsausgaben, Pensionen,
Übertragung der Versicherungsreserven, der Sozialversicherung
usw.
Durch all dieses Neben- und Durcheinander von Forderungen wurden
wirtschaftlicher Aufbau, damit aber auch Erfüllung der Reparation in ihrer
folgerichtigen Anlage von vornherein zerstört. Verpflichtungen in solchem
Ausmaße setzten natürlich die Fortbildung [284] der deutschen Volkswirtschaft auf
uneingeschränkter, unbehinderter überlieferter Grundlage voraus.
Der zahlenmäßige Betrag der Reparationssumme wurde, wie wir
gesehen, im Vertrag nicht festgesetzt. Sie sollte vielmehr bis zum 1. Mai 1921
durch einen interalliierten Ausschuß, die Reparationskommission, auf der
Grundlage der Bewertung und Berechnung der in Anlage I zu
Artikel 232
aufgezählten Schadenersatzkategorien erfolgen und sodann der deutschen
Regierung mitgeteilt werden. Gleichzeitig sollte diese Kommission einen
Zahlungsplan aufstellen und angeben, in welcher Weise Deutschland vom 1. Mai
1921 ab seine Gesamtschuld in einem Zeitraum von 30 Jahren zu tilgen habe. Die
Kommission erhielt das Recht, nach Prüfung der Zahlungsfähigkeit
Deutschlands und nach Anhörung seiner Vertreter die Fristen des
Zahlungsplanes zu ändern und zu verlängern. Aber sie durfte ohne
Ermächtigung der verschiedenen in der Kommission vertretenen
Regierungen keine Zahlung erlassen (Artikel 233,
234). Im
übrigen wurde
diese Reparationskommission in der Anlage II zu
Artikel 233
mit weitgehendsten,
ja diktatorischen Befugnissen sowohl in Auslegung wie Durchführung der
Reparationsbestimmungen ausgestattet. Deutschland hat darin keinen Sitz. Der
Verkehr mit ihm erfolgt durch die
"Kriegslasten-Kommission", die in Paris gebildet wurde.
Nachdem die Vereinigten Staaten bereits am 18. Februar 1921 den amerikanischen
Vertreter aus der Reparationskommission abberufen hatten, glitt diese entgegen
den ursprünglichen Absichten des Vertrages vollständig in
französische Führung hinein, da sie statt aus fünf Mitgliedern
sich nunmehr nur aus je einem englischen, französischen, belgischen und
italienischen Mitglied zusammensetzte, von denen das französische als
Vorsitzender bei Stimmengleichheit den Ausschlag zu geben hatte. Die
Reparationskommission wurde nun, wie die obenerwähnte
Curzon-Note vom 11. August 1923, die sich gegen den Ruhreinbruch richtete,
ohne Umschweife erklärte, "in der Praxis nur zu einem Werkzeug
französisch-belgischer Politik".
Vor der endgültigen Festsetzung der Reparationssumme hatten jedoch die
einzelnen Tilgungsmaßnahmen trotzdem sofort einzusetzen. In Artikel 235
sowie §12c der Anlage II
legte man sich bereits auf eine Summe von 100
Milliarden Goldmark fest, zu deren Sicherheit sofort Schuldverschreibungen
übergeben werden sollten. 20 Milliarden sollten bereits bis 1. Mai 1921 in
Gold, Waren, Wertpapieren u. a. abgetragen werden. Abgesehen von
Barzahlungen sollten auch die wirtschaftlichen Hilfsquellen Deutschlands
unmittelbar herangezogen werden in Form der heute unter dem Namen
"Sachlieferungen" bekannten Leistungen, deren erste Spuren sich bereits in
gewissen Leistungen aus dem Waffenstillstandsvertrage gezeigt hatten (Artikel
236). Sie sind in den Anlagen
III-VI zu [285] Teil VIII
geregelt und betreffen: Schiffe, Tiere
und Materialien, Kohle und Kohlennebenprodukte, chemische Erzeugnisse. Die
ganze Art und Weise, in der die Leistung dieser Zwangslieferungen nach Form,
Inhalt, Wertberechnung und Preisfestsetzung geregelt wurde, zeigt klar die
Tendenz, nicht nur die Substanz des deutschen Volksvermögens zu
schwächen, sondern auch die laufende Produktion mit drückenden
Tributen zu belasten und dabei gleichzeitig möglichst wenig davon auf
Reparationskonto anzurechnen.
Nicht anrechnungsfähig war der Wert der sogenannten Restitution, der
schon im Waffenstillstandsvertrag angeordneten Rücklieferung der von
Deutschland im Kriege weggeführten, beschlagnahmten Tiere,
Gegenstände aller Art und Wertpapiere (Artikel 238,
243 letzter
Absatz). An die Stelle der Restitution traten nach besonderen Abmachungen mit einzelnen
Ländern später Ersatzleistungen, Substitutionen, wenn die
Rückerstattung des individuellen Gegenstandes nicht mehr
durchführbar war. Nicht erstattungspflichtig war ferner der Wert des an
Frankreich und Belgien abgetretenen
Reichs- und Staatseigentums in Elsaß-Lothringen und Moresnet,
Eupen-Malmedy, wodurch sich diese eine Sonderreparation im Werte von
mehreren Milliarden im voraus sicherten, sowie endlich der Wert der geraubten
Kolonien.
Es gab aber auch Forderungsansprüche Deutschlands, die aus irgendwelchen
Maßnahmen des Friedensvertrages hervorgingen und eigentlich
selbständige Zahlungsverbindlichkeiten zugunsten Deutschlands bedeuteten.
Es wurde nun zu einem Grundsatz des Vertrages erhoben, daß keinem dieser
Ansprüche durch wirkliche Zahlung genügt, sondern daß
einfach im Aufrechnungsverfahren ein gleicher Betrag von der Gesamtsumme der
Reparationen abgeschrieben wird. Es war dies ein Mittel, um bei der
imaginären Höhe der Reparationsschuld die Gegenforderung
Deutschlands jedes tatsächlichen Inhalts zu berauben. Die Fälle, aus
denen Anlässe zu deutschen Gutschriften auf Reparationskonto sich ergeben
können, sind im Artikel 243
summarisch geordnet und über
zahlreiche Teile des Vertrages verstreut (Teil III, IV, IX, XII, Artikel 45,
145, 156,
250, 254, 256, 260, 296, 297, 306, 339, 357). Es
handelt sich dabei bald um die
Übernahme von Vorkriegsschulden des Reiches und der Länder durch
die Staaten, denen ehemaliges deutsches Gebiet zufällt oder um das Entgelt
für die Abtretung öffentlichen Eigentums von Reich und
Ländern, das mit dem Gebiet in die Gewalt eines anderen Staates kommt;
bald um den Liquidationserlös deutschen Eigentums im Auslande oder um
das Äquivalent für die Ausübung des Optionsrechtes
gegenüber deutscher Kapitalanlage im Auslande. In diesem Zusammenhange
erscheinen auch diese Fälle [als] Sachlieferungen als Tilgungsmittel für
die Reparation.
[286] Im weiteren Verlauf trat dann noch eine im
Vertrag nicht vorgesehene Leistung hinzu, die Erhebung einer Abgabe von der
deutschen Einfuhr durch die sogenannte Reparation Recovery Act, die vom 5. Mai
1921 seitens Englands, vom 1. Oktober 1924 ab seitens Frankreichs in Höhe
von 26% erhoben wurde.
Neben den Reparationen im "engeren" Sinne liefen nun, wie bereits
aufgezählt, eine ganze Reihe von anderen, schweren und unbestimmten
Verbindlichkeiten, die weder untereinander noch mit der Reparation in Verbindung
stehen, noch der Aufsicht der Reparationskommission unterstellt sind. Sie
mußten die deutsche Schuld, deren Höhe ohnehin nicht abzusehen
war, ins Ungemessene vermehren, wobei das Schlimmste war, daß sie die
deutsche Leistungskraft schwer beeinträchtigten. Das gilt besonders von den
Besatzungskosten seit Beginn des Waffenstillstandes, den Kosten für die
vielen Kontrollkommissionen und Durchführungsorgane, die von den
Leistungen zuerst in Abzug gebracht wurden, weil ihnen noch eine vorzugsweise
Befriedigung eingeräumt wurde (Artikel 249,
251). Daher
kam es auch, daß von den gesamten Leistungen, die Deutschland bis zum 1. Mai 1921
tatsächlich abführte, für die eigentliche Reparation
überhaupt nichts übrigblieb.
Die Reparationskommission hat offiziell festgestellt, daß der ihr bis zum 1.
Mai 1921 wirklich zugeflossene Gegenwert für alle deutschen Zahlungen,
Lieferungen und Abtretungen sich auf etwa 2,6 Milliarden Goldmark belief. Gegen
diesen Betrag waren zunächst die Besatzungskosten zu verrechnen. Letztere
erreichten für die französische, belgische und englische Armee
zusammen am 1. Mai 1921 den Betrag von 2,1 Milliarden und für die kleine
amerikanische Besatzungsarmee allein über 1 Milliarde Goldmark. Da gegen
die gutgeschriebenen 2,6 Milliarden auch noch die 360 Millionen Goldmark der
Kohlenvorschüsse von Spa und die Kosten der alliierten
Kontrollkommission verrechnet werden mußten, so waren die
Eingänge auf Reparationskonto nicht hinreichend, um die Kosten der
Besatzungstruppen Frankreichs, Belgiens und Englands zu decken. Die Kosten der
amerikanischen Besatzung sind noch heute unbezahlt; sie werden
gemäß den Beschlüssen der interalliierten Finanzkonferenz vom
14. Januar 1925 zu Paris aus den Jahresleistungen Deutschlands unter dem
Dawes-Plane
allmählich abgetragen.
Der Vertrag von Versailles verlangt seltsamerweise keinerlei direkte
Arbeitsleistung für den Wiederaufbau, trotzdem diese eigentlich an erster
Stelle stehen müßte, angesichts der Forderung, die wirtschaftlichen
Hilfsmittel Deutschlands unmittelbar der materiellen Wiederherstellung der
zerstörten Gebiete dienstbar zu machen. Eine gewaltige Vorarbeit ist
allerdings durch die widerrechtlich zurückgehaltenen Kriegsgefangenen
geleistet worden, ohne daß hierfür [287] etwas in Anrechnung gebracht wurde. Alle
weiteren Angebote, die Deutschland in Versailles wie später machte,
erinnert sei an die Angebote der deutschen Gewerkschaften vom Mai, Juni,
September und November 1919, der deutschen Regierung in Spa, Anfang Juli,
1920 und in London Anfang März 1921, an das Wiesbadener Abkommen
vom 6. und 7. Oktober 1921, die
Cuntze-Bemelmans Abkommen vom 28. Februar 1922 und 2. Juni 1922, die
Ruppel-Gillet-Abkommen vom 15. März 1922 und 6. bis 9. April 1922, an
die Note vom 28. Januar 1922 - sie alle und selbst die noch weitergehenden
französischen Pläne von Seydoux und Le Troquer wurden entweder
zurückgewiesen oder so behandelt, daß sie ohne praktisches Ergebnis
blieben. Die Gründe hierfür lagen einmal darin, daß man die
Konkurrenz der deutschen Arbeitsbetätigung und die Berührung von
deutschen Arbeitern mit der Bevölkerung fürchtete. Sodann aber
wollte man die verwüsteten Gebiete möglichst lange als "Dokumente
deutscher Barbarei" erhalten. Nur daraus ist es erklärlich, daß
Frankreich von der Materialbeschaffung und Bestellung für
Wiederaufbauzwecke durchaus unzureichenden Gebrauch machte. So entfiel die
Hauptmasse der deutschen Sachleistungen auf die Lieferung von Kohle, Schiffen
und chemischen Erzeugnissen.
Namentlich die Kohlenlieferungen, auf denen die Gläubiger mit Nachdruck
bestanden, überstiegen die Mengen, die Deutschland mit Rücksicht
auf den eigenen Bedarf abtreten konnte, ganz erheblich, so daß zum Nachteil
für den Stand seiner Währung mehrfach ausländische Kohle
eingeführt werden mußte, während Frankreich zeitweise
überschüssige Kohle mit Gewinn auf dem Weltmarkt anbot und sich
hierdurch eine Sonderreparation verschaffte. Trotzdem forderte die
Reparationskommission auf Drängen der französischen Regierung
immer wieder die Einhaltung des Lieferungssolls, was zeitweilig zu scharfen
Auseinandersetzungen, namentlich auf der Konferenz von Spa, führte. Der
ganze Streit um die Kohlenlieferungen und später der Holzlieferungen zeigt
deutlich die Rolle, die Frankreich ihnen in der Verfolgung seines politischen Zieles
der Besetzung und Abtrennung weiterer deutscher Gebiete, namentlich des
Ruhrgebietes, zumaß, sowie den vorherrschenden Einfluß, den es
hierbei in der Reparationskommission ausübte, in der es den Vorsitz
führte.
VIII.
Die Hauptbemühungen der zahlreichen von den Alliierten allein oder mit
Deutschland gemeinsam nach Inkrafttreten des Versailler Vertrages am 10. Januar
1920 einberufenen Konferenzen, Vorkonferenzen und Besprechungen galten bis
zum Mai 1921 der Festsetzung einer Gesamtsumme für die
Reparationsverpflichtungen, nachher dem [288] Kampf um die Erfüllung mit seinen
Verhandlungen über die deutschen Moratorien und Stundungsgesuche.
Sie gehören heute der
Vergangenheit - allerdings der trübsten und
verhängnisvollsten - an. Dieser "Leidensweg der Reparation", der von
der französischen Katastrophenpolitik beherrscht, schließlich am
11. Januar 1923 in der Besetzung und Ausbeutung des Ruhrgebietes endete, zum
Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft, Währung und Finanzen
führte und ganz Europa an den Rand des Abgrundes brachte, kann hier im
einzelnen nicht geschildert werden. Schon die rein ziffernmäßige
Aufzählung dieser Konferenzen usw. gibt ein anschauliches Bild von der
heillosen und verhängnisvollen Verwirrung, die der gar nicht durchdachte,
auf ganz unmöglichen wirtschaftlichen und finanziellen Anschauungen von
der Leistungsfähigkeit eines Landes aufgebaute und daher machtpolitischen
Tendenzen zum Opfer fallende Vertrag von Versailles hinterlassen hatte: San
Remo (16. bis 26. April 1920), Hythe (15. bis 19. Mai 1920), Hythe (20. Juli
1920), Boulogne (21. bis 22. Juni 1920), Brüssel (2. bis 3. Juli 1920), Spa
(5. bis 16. Juli 1920), Boulogne (27. Juli 1920), Hythe (8. August 1920), Luzern
(22. bis 24. August 1920),
Aix-les-Baines (12. bis 13. September 1920), Brüssel (24. September bis 7.
Oktober 1920), London (26. November bis 4. Dezember 1920), Brüssel (16.
bis 22. Dezember 1920), Paris (24. bis 29. Januar 1921), London (21. Februar bis
7. März 1921), Hythe (23. bis 24. April 1921), London (29. April bis 5. Mai
1921), Wiesbaden (12. Juni 1921), Paris (18. Juni 1921), Paris (2. August 1921),
Paris (8. bis 13. August 1921), Wiesbaden (26. August 1921), London (9.
September 1921), Brüssel (5. bis 8. Oktober 1921), London (19. bis 22.
Dezember 1921), Paris (26. Dezember 1921), Cannes (6. bis 12. Januar 1922),
Boulogne (25. Februar 1922), Paris (8. bis 11. März 1922), Paris (6. April
1922), Genua (10. April bis 19. Mai 1922), Paris (22. Mai bis 10. Juni 1922),
London (19. Juni 1922), Haag (19. Juni bis 19. Juli 1922), Paris (9. Juli 1922),
London (7. bis 15. August 1922), London (9. bis 12. Dezember 1922), endlich
Paris (2. bis 4. Januar 1923).
Um diesen "Tanz um das goldene Kalb" oder nach einem späteren
Ausspruche von Lloyd George, um "die Kuh, die gleichzeitig Milch und
Beefsteaks liefern soll", richtig zu verstehen, ist es von Interesse, sich noch einmal
in die Vorstellungswelt der Verfasser des Vertrags von Versailles
zurückzuversetzen. Die Summen, die damals als deutsche
Reparationsverpflichtung in Aussicht genommen wurden, schwanken zwischen
126 Milliarden, dem Minimum der Amerikaner, und 480 Milliarden, dem
Maximum der Engländer und Franzosen.
Für die Versuche, zu einer Gesamtsumme zu kommen, sind namentlich
bedeutsam gewesen: die Zusammenkunft der alliierten Ministerpräsidenten
in Boulogne am 20. Juni 1920 sowie die Pariser
Kon- [289] ferenz des Obersten
Rats mit ihren Beschlüssen vom 29. Januar 1921. Aber auch sie rechneten
noch mit Jahresleistungen von 2 bis 7 Milliarden Goldmark. Endlich legten die
Londoner Konferenzen vom März und Mai 1921 am 5. Mai 1921 einen
Zahlungsplan fest, dessen Annahme in ultimativer
Form - unter Androhung von Blockade und Weiterbesetzung namentlich des
Ruhrgebiets - gefordert wurde.1
Dieser sogenannte Londoner Zahlungsplan hat kurz folgenden Inhalt:
1. Deutschland behändigt der Reparationskommission an Stelle der unter
dem Versailler Vertrage ausgelieferten Schuldverschreibungen:
am 1. Juli 1921 |
12 Milliarden Goldmark A-Bonds |
am 1. November 1921 |
38 Milliarden Goldmark B-Bonds |
am 1. November 1921 |
82 Milliarden Goldmark C-Bonds. |
Die Kommission kann die A- und B-Bonds jederzeit ausgeben, die
C-Bonds aber erst dann, wenn sie überzeugt ist, daß die deutschen
Leistungen unter dem Zahlungsplan ausreichen, um Zinsen und Tilgung für
die
C-Bonds zu zahlen. Die Verzinsung aller Bonds ist mit 5 Prozent, die Tilgung mit 1
Prozent jährlich vorgesehen.
2. Deutschland zahlt jährlich bis zur Tilgung der gesamten Bonds
- 2 Milliarden Goldmark,
- 26% des Wertes der deutschen Ausfuhr vom 1. Mai 1921 an gerechnet oder
einen gleichwertigen Betrag auf Grund eines zu vereinbarenden Index.
3. Als feste Leistung für das erste Halbjahr zahlt Deutschland sogleich eine
Milliarde Goldmark in Gold, Devisen oder dreimonatigen
Reichsschatzanweisungen, die von deutschen Banken indossiert sind.
4. Die Reparationskommission errichtet ein Garantiekomitee in Berlin, das
mit der Aufsicht über die Ausführung des Zahlungsplanes betraut ist.
Als besondere Sicherheit für die deutschen Zahlungen werden bestellt: die
deutschen See- und Landzölle und eine Abgabe von 26% auf die deutsche Ausfuhr
sowie die Eingänge aus direkten oder indirekten Steuern oder sonstigen
Abgaben, die zwischen der deutschen Regierung und dem Garantiekomitee
vereinbart werden. Bei der Aufsicht über die deutsche Finanzgebarung hat
sich das Komitee nicht in die deutsche Verwaltung zu mischen.
5. Deutschland soll auf Verlangen einer alliierten Macht vorbehaltlich der
Zustimmung der Kommission Material und Arbeiten [290] nicht allein für den Wiederaufbau der
zerstörten Gebiete, sondern auch zur Förderung der Wirtschaft der
alliierten Macht liefern.
6. Deutschland unterstützt die Durchführung des englischen
Reparations Recovery Act oder gleichartiger Gesetze einer anderen alliierten
Macht. Abgaben von der deutschen Ausfuhr auf Grund solcher Gesetze werden
Deutschland auf die geschuldete Zahlung von 26% seiner Ausfuhr angerechnet.
Das Reich hat dem deutschen Exporteur den Abzug zu vergüten.
Zu den 132 Milliarden Goldmark tritt noch die belgische Kriegsschuld in
Höhe von 5 bis 6 Milliarden, zu deren Übernahme sich Deutschland
auf Grund Artikel 232 Absatz
3 verpflichtet hat.
Es ist in Deutschland viel zu wenig beachtet worden, daß dieser Londoner
Zahlungsplan eine weitere Verletzung enthielt. Und zwar nicht nur der
Vorwaffenstillstandsvereinbarungen, sondern des Versailler Vertrages selbst.
Während sich bislang immerhin die Verpflichtung Deutschlands auf die
Forderung des Wiederaufbaus der zerstörten Gebiete beschränkte,
änderte die in obiger Ziffer 5 genannte Forderung den § 19 der Anlage II
zum Teil VIII willkürlich ab.
Das Zustandekommen der ersten Rate des Zahlungsplanes in Höhe von 12
Milliarden Goldmark hängt mit den 20 Milliarden zusammen, die
Deutschland nach dem Vertrag bis zum 1. Mai 1921 zu zahlen hatte. Schon in Spa
war eine deutsche Aufstellung der gemachten Zahlungen, Lieferungen und
Abtretungen vorgelegt worden, die darauf hinaus lief, daß Deutschland
bereits mehr als 20 Milliarden geleistet habe. Auf eine weitere Mitteilung der
deutschen Regierung vom 20. Januar 1921, die etwa zu dem gleichen Ergebnis
kam, antwortete die Reparationskommission am 26. Februar 1921, daß sie
noch nicht in der Lage sei, endgültig festzustellen, wieviel von den
bisherigen deutschen Leistungen auf die 20 Milliarden anzurechnen seien. Schon
jetzt aber könne sie erklären, daß höchstens 8 Milliarden
für die Anrechnung in Betracht kämen. Deshalb seien noch
12 Milliarden bis zum 1. Mai 1921 zu zahlen. Deutschland solle sich
äußern, wie es diesen Betrag begleichen wolle. Als die deutsche
Regierung dabei beharrte, daß sie schon mehr als 20 Milliarden gezahlt habe,
verlangte die Reparationskommission am 15. März kategorisch die Zahlung
von 12 Milliarden, und zwar als erste Anzahlung 1 Milliarde bis zum 23.
März. Bis zum 1. April seien Vorschläge zur Bezahlung der restlichen
11 Milliarden einzureichen. Schließlich verlangte die
Reparationskommission die Auslieferung von 1 Milliarde bis zum 30. April und
stellte, nachdem dies nicht erfolgte, fest, daß Deutschland seine
Verpflichtung zur Zahlung von 20 Milliarden nicht erfüllt habe und mit
mindestens 12 Milliarden im Verzuge sei.
[291] Von den 132 Milliarden sollten in Abzug
gebracht werden:
- die bereits für die Reparation geleisteten Beträge,
- die Beträge, die nach und nach als Gegenwert des in den abgetretenen
Gebieten liegenden Eigentums des Reiches und der Länder auf
Reparationskonto gutzuschreiben seien,
- alle Beträge, die etwa noch von den früheren Bundesgenossen
Deutschlands eingehen und auf Reparationskonto gutgebracht würden.
Es ist bereits dargelegt worden, wie die anzurechnenden Beträge unter a) in
Höhe von 2,6 Milliarden von den Besatzungskosten restlos verschlungen
wurden. Als anrechnungsfähig unter b) wurden nur 2,5 Milliarden seitens
der Reparationskommission angesehen. Insgesamt wurden also Deutschland
für alle seine Leistungen und Abtretungen bis 1. Mai 1921 etwas über
5,1 Milliarden Goldmark als Reparation gutgeschrieben. Nach deutscher
Auffassung ist diese Summe viel zu niedrig.
Der Streit um die Anrechnung, namentlich aber um die Bewertung der deutschen
Leistungen hat eine ganze Literatur hervorgerufen und auch heute noch gehen die
Schätzungen Deutschlands, seiner Gläubiger wie solche von neutraler
Seite weit auseinander.
Immerhin zeigt es schon die sinnlose wirtschaftliche Verwüstung und
Verschwendung, welche die Ausführung des Vertrags von Versailles mit
sich gebracht hat, wenn man bedenkt, daß die schon im
Waffenstillstandsvertrag und seinen Erneuerungen geforderte Abtretung beinahe
der gesamten deutschen Handelsflotte, eines großen Teiles der deutschen
Binnenschiffahrt, die Lieferung ungeheurer Mengen an Kohle und
Kohlennebenprodukten, an Farbstoffen, an Vieh, an landwirtschaftlichen
Maschinen, Geräten und Erzeugnissen an rollendem Eisenbahnmaterial,
sowie alle sonstigen und späteren Leistungen sämtlich von den
Besatzungskosten verschlungen wurden.
Demselben Schicksal verfiel auch die eine Milliarde Goldmark, die Deutschland
im Sommer 1921 auf Grund des Londoner Zahlungsplanes zahlen mußte und
deren Aufbringung zum Ruin des deutschen Devisenmarktes führte. Sie
wurde bekanntlich am 31. August 1921 voll bezahlt. Nach dem Pariser
Finanzabkommen vom 13. August 1921 über die Verteilung erhielt
Frankreich so gut wie nichts. 500 Millionen gingen an England für
ungedeckte Besatzungskosten aus der Zeit vor dem 1. Mai 1921, der Rest an
Belgien als Zahlung auf die belgische Priorität.
Hier ein Wort über die Verteilung der Reparationsleistungen, um die der
Streit unter den Alliierten schon mit den ersten Zahlungen aus dem Versailler
Vertrage begann. Erst auf der Konferenz von Spa erzielten sie eine
Einigung, wie sie das Fell des Bären unter [292] sich verteilen wollten. Der sogenannte
Spa-Schlüssel weist folgende Prozentsätze zu: an Frankreich 52%, an
England 22%, an Italien 10%, an Belgien 8%, an Jugoslawien 5%, der Rest an die
übrigen. Außerdem wurde das Recht Belgiens auf vorzugsweise
Befriedigung aus der Reparation, - die sogenannte belgische
Priorität - das ihm in Versailles grundsätzlich zugestanden
worden war, mit 2 Milliarden Goldmark fest begrenzt. In dieser Periode des
Ringens um die Reparation hat es Deutschland natürlich an eigenen
Vorschlägen und Angeboten nicht fehlen lassen, um das Problem zu
entpolitisieren und einer erträglichen Lösung zuzuführen.
Das erste Angebot erfolgte bekanntlich während der Versailler
Verhandlungen durch die deutsche Friedensdelegation. Sie bot eine deutsche
Reparationszahlung in Höhe von 100 Milliarden Goldmark an, falls seitens
der Entente keine weiteren territorialen Opfer als die Abtretung
Elsaß-Lothringens auf Grund einer freien Volksabstimmung, der
unbestreitbar polnisch besiedelten Gebiete der Provinz Posen nebst der Hauptstadt
(unter Einräumung von Freihäfen in Danzig, Königsberg und
Memel und Gewährung sicheren Zugangs zum Meer unter internationaler
Garantie), der vorwiegend dänisch besiedelten Gebiete Schleswigs auf Grund
einer Volksabstimmung und die Unterstellung der sämtlichen deutschen
Kolonien unter den Völkerbund mit einer Mandatsübertragung an
Deutschland gefordert wurden und Deutschland seine wirtschaftliche
Bewegungsfreiheit nach innen und außen wieder erhielte.
Nachdem die politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Voraussetzungen, auf
denen dieses Angebot basierte, durch den Versailler Vertrag und seine
Durchführung gänzlich erschüttert worden waren,
mußten die späteren Vorschläge sich naturgemäß in
erheblich engeren Grenzen bewegen. Das nächste Angebot erfolgte am
1. März 1921 auf der Londoner Konferenz. Es bezifferte die Gesamtschuld
auf 50 Milliarden Goldmark abzüglich der bereits getätigten
Leistungen in Höhe von 20 Milliarden. Am 21. März und 20. April
1921 rief die deutsche Regierung die Vereinigten Staaten um Vermittlung an. Sie
erklärte sich bereit, bis zur äußersten Grenze der deutschen
Leistungsfähigkeit die Last der Reparation zu tragen, erbat eine Festsetzung
der Summe und verpflichtete sich, den amerikanischen Schiedsspruch anzunehmen
und zu erfüllen. Am 24. April machte sie auf amerikanischen Vorschlag ein
neues Angebot mit einer Gegenwartsschuld von 50 Milliarden, forderte als
Voraussetzung jedoch die Wiederherstellung der durch die Besetzung der
Sanktionsstädte Duisburg, Düsseldorf, Ruhrort beeinträchtigten
wirtschaftlichen Freiheit und den Verbleib Oberschlesiens beim Reiche.
Im 2. Stadium des Reparationskampfes, dem der Erfüllung und
Durchführung des Londoner Zahlungsplanes, setzte die
Reichs- [293] regierung ihre
Bemühungen um die Festsetzung einer Gesamtsumme fort. Der englische
Vorschlag, der auf der Pariser Konferenz im Januar 1923 vorgelegt wurde, lehnte
sich mit seinen 50 Milliarden bereits an die deutschen Vorschläge an.
Aber alle diese Bemühungen, zu einer vernünftigen Lösung zu
gelangen, scheiterten an dem Starrsinn Poincarés. Er hielt den Augenblick für gekommen, um von dem Reparationszweck hinweg die Bahn für
seine dauernden politischen Ziele frei zu machen, indem er immer wieder
Pfänder, Garantien und Finanzkontrollen forderte und schließlich auf
gewaltsames Vorgehen drängte, um das Ruhrgebiet zur hemmungslosen
Ausbeutung in die französische Gewalt zu bringen.
Im Stadium des Ruhrkampfes waren es schließlich die beiden deutschen
Vorschläge vom 2. Mai und 7. Juni 1923, die die Aussprache zwischen den
durch das Ruhrabenteuer uneinig gewordenen Alliierten, Frankreich, Belgien
einerseits und England andererseits, wieder in Fluß brachten. Diese
Uneinigkeit hatte bekanntlich ihren Höhepunkt in der britischen Note vom
11. August 1923 mit ihrer scharfen Verurteilung des Ruhrunternehmens
gefunden.
Zwar konnten sich die Alliierten über die deutschen Vorschläge noch
nicht einigen. Aber die deutsche Bereitwilligkeit, die Entscheidung einer
unparteiischen, internationalen Instanz über Höhe und Art der
Zahlungen anzunehmen, d. h. auf den Boden des Vorschlages zu treten, den
bereits am 29. Dezember 1922 der amerikanische Staatssekretär Hughes in
New Haven gemacht hatte, den ganzen Fragenkomplex auf das ökonomische
Gebiet hinüberzuziehen und einen besonderen Ausschuß von
Sachverständigen verschiedener Nationen anzuvertrauen, fiel namentlich in
England auf fruchtbaren Boden. Als am 27. September 1923 die deutsche
Regierung ihre Angebote wiederholte und gleichzeitig den passiven Widerstand
aufgab, regte am 30. Oktober die britische Regierung, an den Vorschlag von
Hughes anknüpfend, zunächst bei den Vereinigten Staaten die
Einberufung eines sachverständigen Ausschusses an.
Zu gleicher Zeit hatte am 24. Oktober die Reichsregierung bei der
Reparationskommission den Antrag gestellt, gemäß Artikel 232
des Versailler Vertrages eine Untersuchung der wirtschaftlichen Hilfsquellen und der
Zahlungsfähigkeit Deutschlands vorzunehmen. Sie erklärte sich
gleichzeitig bereit, auf der Grundlage der sogenannten "belgischen Studien", eines
von der belgischen Regierung Anfang Juni ausgearbeiteten Reparationsplans in
eine Erörterung der Reparationsfrage einzutreten.
Dieser englisch-amerikanisch-belgischen Front gegenüber, der sich auch
Italien eingliederte, mußte nun Poincaré zurückweichen. Angesichts
des finanziellen Fiaskos des Ruhrunternehmens und vor [294] allem des sich jetzt stärker fühlbar
machenden Absinkens des Franken war auch die Stimmung in einem großen
Teile des französischen Volkes für baldige Liquidierung des
Ruhrabenteuers immer stärker geworden und es begannen auch in der
Kammer scharfe Angriffe gegen Poincaré wegen dieses verfehlten
Unternehmens.
Am 30. November 1923 beschloß dann die Reparationskommission die
Einberufung von zwei sachverständigen Ausschüssen: den einen zur
Untersuchung des deutschen Haushalts und der deutschen Währung, den
zweiten zur Untersuchung der deutschen Kapitalflucht. Der erste Ausschuß,
das sogenannte "Dawes-Komitee" trat am 14. Januar, der zweite, der sogenannte
"MacKenna-Ausschuß", am 21. Januar 1924 in Paris zusammen. Am 9.
April 1924 erstatteten beide Ausschüsse gleichzeitig ihren Bericht an die
Reparationskommission.
Das vierte Stadium des Ringens um eine Lösung des Reparationsproblems
begann.
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