[51]
Bd. 1: A. Der Rechtsanspruch
auf Revision
II. Die moralische Ächtung des deutschen Volkes
als Mittel zur Unterhöhlung der
Rechtsgrundlage (Teil 3)
b) Die Kriegsschuldlüge (Teil 2)
2) Die internationale Erörterung der
Kriegsschuldfrage
Dr. phil. h. c. Hans Draeger
Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Arbeitsausschusses Deutscher
Verbände
I.
(1) Die Kriegsschuldfrage
ist - das muß zunächst festgestellt
werden - in ihrer bekannten Formulierung eine politische Frage. Politisch ist
sie auf Grund ihrer Entstehung als Kriegsmittel; politisch ist sie in ihrer
völkerrechtlichen Versailler Prägung als Mittel des "unsauberen
Friedens"; politisch ist sie in der nachkriegszeitlichen Anwendung und Auswertung
dieser Versailler Formulierung. Der Historiker fragt nach den Ursachen, nach den
Gründen eines geschichtlichen Ereignisses. Er kann mit der Frage: Wie ist es
gewesen? einfache Tatsachenfeststellung betreiben; er kann je nach Blickrichtung
und Einstellung ein Ereignis aus den Handlungen der beteiligten Personen
erklären; er kann es in weitere unpersönlichere
Zusammenhänge soziologischer und entwicklungsgeschichtlicher Art
hineinstellen. Die erste Voraussetzung seiner Arbeit als einer wissenschaftlichen
ist jedoch immer die Unvoreingenommenheit der Urteilsbildung. Er kann und darf
sich ein Urteil über die Zusammenhänge erst nach gewissenhafter
Erforschung aller zugänglichen Quellen und Umstände erlauben. Die
wissenschaftliche Einstellung ist leidenschaftslos, unvoreingenommen. Wenn auch
selbstverständlich die historische Urteilsbildung beeinflußt wird von
der Weltanschauung, der nationalen Gebundenheit, dem Temperament, der
Menschlichkeit des Geschichtsforschers, wenn also subjektive Faktoren niemals
ganz auszuschalten sind, so muß doch der Wille auf Objektivität, auf
allseitige Berücksichtigung der Umstände gerichtet sein, um dem
Ziele der Erforschung der wirklichen Zusammenhänge zu dienen.
Etwas ganz anderes ist die Frage nach der
sittlich-moralischen Beurteilung historischer Ereignisse. Hier gilt die Frage: Durfte
das sein? Ist diese oder jene Handlung vom Standpunkt des Rechts und der
Gerechtigkeit zu billigen gewesen? Die Geschichte ist voller Taten, die die Moral,
die die Sittlichkeit nicht billigen kann, die sie sogar verurteilen muß. Immer
haben menschliche Gier und Leidenschaften sich über die Rechte
anderer - Einzelpersonen oder
Völker - hinweggesetzt. Immer sind die Normen, die sittliches
Bewußtsein, die rechtliches Streben innerhalb der Staaten wie für das
Verhältnis [52] der Staaten untereinander aufgestellt haben,
durchbrochen und verletzt worden. Das ändert jedoch an der
Gültigkeit solcher Gesetze nichts. Das berührt die Berechtigung nicht,
vom ethischen Standpunkt aus historische Ereignisse zu beurteilen und sie an
sittlichen Maßstäben zu messen. Es erhellt jedoch ohne weiteres,
daß ein gerechtes sittliches Urteil nur auf Grund der Kenntnis der wahren
Zusammenhänge gefällt werden kann, daß es notwendigerweise
falsch sein muß, wenn es auf Unkenntnis wichtiger Umstände beruht,
daß somit auch für die ethische Beurteilung geschichtlicher Ereignisse
der Historiker Vorarbeit geleistet haben muß.
Ganz anders aber ist der Politiker eingestellt. In der Politik gilt zunächst und
vor allem das Gesetz des Handelns. Der Politiker, der Staatsmann greift handelnd
in die Ereignisse ein. Er kann sich nicht betrachtend und beurteilend wie der
Historiker oder der Ethiker verhalten. Die Politik bildet vielmehr umgekehrt erst
den Stoff der Geschichte und unterliegt erst nach dem Geschehen der Beurteilung
durch die Ethik. Ohne Kenntnis der hauptsächlich treibenden
geschichtlichen Kräfte ist die Beurteilung und Erkenntnis einer
augenblicklichen politischen Lage nicht möglich. Im Augenblick der
Entscheidung jedoch muß der Politiker handeln. Seine Aufgabe ist es, zum
Vorteil des Landes, des Volkes, des Staates zu handeln, die seiner Verantwortung
anvertraut sind. Die Verantwortung für den Staat, den er vertritt, muß
für den Staatsmann die oberste sittliche Norm sein. Erst darüber
hinaus erhebt sich die schwere, kaum lösbare Frage, ob im Namen des
Staates Handlungen begangen werden dürfen, die dem Einzelnen verboten
sind. Ohne dieser in tiefste Probleme hineinführenden Frage an dieser Stelle
weiter nachgehen zu können, müssen wir hier feststellen, daß
sehr häufig Staatsmoral und private Moral in Widerspruch zueinander
geraten sind, daß die Politik oft Mittel benutzt und Wege geht, die der
Ethiker verurteilen muß.
Der Politik kann alles zum Mittel werden. Sie muß auf allen Saiten der
menschlichen Seele spielen; sie wendet alle Mittel der Beeinflussung an, um ihre
Ziele zu erreichen. Je schwieriger die Entscheidungen, je folgenschwerer sie
für den Staat sind und je tiefer sie das ganze Volk in allen seinen Schichten
in Mitleidenschaft ziehen, desto notwendiger ist es, alle psychologisch wirksamen
Mittel anzuwenden, um das Volk zur Anteilnahme, zur Zustimmung zu der
getroffenen Entscheidung zu veranlassen. Insbesondere trifft dies auf den Krieg zu.
Solange der Krieg als letztes Mittel der Politik gilt, solange ist er auch nur dann als
gerechtfertigt, als sittlich erlaubt angesehen worden, als seine Notwendigkeit eben
als letzter Ausweg zu erweisen war. Hier stoßen wir jedoch an die
mannigfachen Möglichkeiten der Politik, dieses ethische Empfinden der
Völker als Mittel [53] zu benutzen und unter Umständen zu
mißbrauchen, sie durch falsche Angaben, durch falsche Darstellung der
Zusammenhänge zu Handlungen mitzureißen, zur Teilnahme an
einem Krieg zu bringen, zu dem die Völker bei Kenntnis der wahren Motive
vielleicht die Gefolgschaft verweigert hätten.
(2) In einem bisher nicht
vorgekommenen Ausmaß wurden nun im Weltkrieg
die Grundsätze von Recht und Moral als Mittel in den Dienst der Politik
gestellt. Dieser Krieg war ein Krieg nicht nur der bewaffneten Heere; er war ein
Krieg der Völker schlechthin. Er griff tiefer in das Leben jedes einzelnen
hinein als je ein Krieg zuvor. Wenn eine solche Katastrophe über die Welt
hereinbrach, so lag das Suchen nach einem "Schuldigen" besonders nahe.
Daß die Kriegsschuldfrage im Weltkrieg in so starkem Maße eine
Rolle gespielt hat, ist in gewisser Weise aus der Gesamtlage erklärlich.
Entstanden aus der politischen Gesamtkonstellation, aus dem Mechanismus der
Bündnisse, schon lange drohend aus den politischen Spannungen, war das
Bedürfnis nach der moralischen Rechtfertigung des Weltkrieges um so
größer, je schwerer die Folgen waren, die er über die
Menschheit brachte.
Deutschland stand in diesem Krieg von vornherein auch geistig gegen eine
Übermacht. Politisch und militärisch eingekreist, wurde es auch sofort
in die ungünstige Lage des moralisch Angeklagten versetzt. Die
Umstände des Kriegsausbruches, die von deutscher Seite ausgegangenen
Kriegserklärungen, der Einmarsch in Belgien u. a. erleichterten es
geschickter Darstellung, Deutschland die Rolle des Angreifers zuzuschieben.
Inmitten der Ereignisse stehend, der historischen Forschung vorgreifend, die allein
von dem nötigen Abstand aus die Zusammenhänge übersehen
kann, wurde zu politischen Zwecken der Welt die Behauptung
eingehämmert, daß Deutschland der Urheber des Krieges sei. Zugleich
wurde damit ein moralisches Verdammungsurteil gesprochen, wurde
Deutschland als der Weltfeind hingestellt. Das setzte sofort nach Kriegsausbruch
ein. Die Kriegsschuldfrage entstand sogleich mit dem Weltkrieg und sie wurde
sofort in den Reden der Ententestaatsmänner, in der Propaganda behandelt,
jedoch nicht als Frage, sondern als feststehende Tatsache. Es wurde als bereits
erwiesen, als beantwortet hingestellt, wer der Urheber dieses Krieges war:
Deutschland. Der Britische Ministerpräsident H. A. Asquith
äußerte sich schon im September 1914 wie folgt:
"Wer ist verantwortlich für die
unermeßlichen Leiden, denen die
Welt entgegengeht? Eine Macht ist verantwortlich, eine allein, und diese Macht ist
Deutschland."
Dem gegenüber wurde der Krieg der Entente schon in den gleichen Reden in
den Dienst der höchsten Ideale, der Grundsätze von
Mo- [54] ral und Recht gestellt.
Die "Gerechtigkeit" der Sache der Entente wurde nicht nur aus dem angeblichen
"Angriff" Deutschlands hergeleitet; sie wurde darüber hinaus in einen
Prinzipienstreit gestellt, in einen Kampf des "Guten" mit dem "Bösen".
Deutschland wurde in diesem geistigen Kampf das "böse" Prinzip der
"Gewalt" zugesprochen. Die Entente dagegen vertrat in der Kriegspropaganda das
"gute" Prinzip des "Rechtes"; sie war nicht in den Krieg eingetreten um
selbstsüchtiger Ziele wegen, sondern zum Kampf um diese hohen
moralischen Grundsätze.
Mit solchen Gedankengängen wurde insbesondere die amerikanische
Volksseele vergiftet und gegen Deutschland aufgewiegelt. Deutschland wurde als
der Verächter von Freiheit, Recht und Gerechtigkeit hingestellt. Der Krieg
wurde dem amerikanischen Volk als Kreuzzug gepredigt. Demgemäß
wurden die Deutschen als "Barbaren" und "Hunnen", ihre politischen
Einrichtungen als rückständig, ihre Moralität als minderwertig,
ihre kulturellen Leistungen als geringfügig und nicht eigenartig hingestellt.
Ihre Kriegführung wurde als grausam und verbrecherisch bezeichnet.
Und noch eine andere psychologische Quelle muß dargestellt werden. Es gab
natürlich in den Ententeländern auch Widerstände der
mannigfachsten Art zu überwinden. In England waren es beispielsweise
namentlich die liberalen Kreise und Zeitungen, die bis zuletzt die Notwendigkeit
für England bestritten, am Krieg teilzunehmen. Wie jedoch Irene Cooper
Willis in ihrem Buche England's Holy War sehr aufschlußreich gezeigt hat,
ist unmittelbar nach dem Eintritt Englands in den Krieg diese Idee des "heiligen
Krieges" entstanden. Und gerade die englischen Liberalen waren die Träger
dieser Idee. Aus dem Gefühl "nun wir im Krieg sind, müssen wir ihn
gewinnen" und aus dem Gefühl, ihn eigentlich nicht gewollt zu haben, im
Grunde widerwillig an ihm teilzunehmen, ist die "Heiligsprechung" des Krieges
entstanden, "aus einer erzwungenen Union zwischen Verabscheuung und
Unterwerfung unter den Krieg". Da die Existenz des Krieges aber nicht geleugnet
werden konnte, mußte seine Natur geändert werden, und so wurde der
Kriegsgedanke gesteigert: "Der Sieg Deutschlands würde die dauernde
Erhebung des Kriegsgottes über alle menschlichen Dinge bedeuten. Die
Niederlage Deutschlands wird den Weg zur Abrüstung und zum Frieden auf
Erden eröffnen, niemals gab es einen gerechteren Krieg als den gegen
Deutschland."
Also nicht nur als der politische Feind, sondern als der Feind der Menschheit
schlechthin wurde Deutschland bekämpft. Über die politischen
Gründe zum Krieg hinaus wurde eine moralische Rechtfertigung des Krieges
gesucht. Und diese wurde in der moralischen Verleumdung und Verfemung
Deutschlands und des deutschen Volkes [55] gefunden. Wir dürfen diese
psychologischen Gründe, aus denen heraus die Kriegsschuldfrage zu der den
geistigen Kampf des Weltkrieges beherrschenden Rolle kam, nicht
übersehen. Die Überzeugung von der deutschen Kriegsschuld ist
einerseits aus diesen spontan wirkenden psychologischen Gründen
entstanden. Andrerseits muß eine bewußte Handhabung der Begriffe
von Moral und Recht im Dienste politischer Zwecke durch alle Mittel der
Propaganda in Rechnung gezogen werden. Die Kriegsschuldfrage wurde so die
wichtigste politische Waffe des Krieges; sie war es, die ein ganzes und
später den Krieg endgültig entscheidendes Volk, die Amerikaner, in
den Weltbrand hineintrieb.
(3) Sie wurde aber auch die
politische Waffe der Gegner für den
Friedensschluß. Der Gedanke eines Friedens auf der Grundlage des "Rechtes
und der Gerechtigkeit" wurde als erhabenstes Kriegsziel mit allen Mitteln der
Propaganda der Welt hingestellt. Indem aber die Antithese "Recht und Gewalt" auf
den Krieg übertragen und dadurch die Idee des "Rechtsfriedens"
willkürlich und zweckbestimmt mit der moralischen Verfemung
Deutschlands verkoppelt wurde, verbog und verfälschte man den positiven
Inhalt dieser Gedanken. Die möglichst gründliche Niederlage
Deutschlands galt als die Voraussetzung des "Friedens der Gerechtigkeit". Ein
Friede auf dem status quo wurde als nicht genügend erachtet. Die Gestaltung
des Versailler Friedens ist nicht zu verstehen, wenn man nicht diese Verkuppelung
in Rechnung zieht. Und auch Wilson, der Verkünder der 14 Punkte, der
Wortführer des "Rechtfriedens", machte sich die Kreuzzugsidee gegen
Deutschland zu eigen. In einer Rede vom 6. April 1918 forderte er:
"Gewalt, Gewalt bis zum äußersten,
Gewalt ohne
Einschränkung oder Schranke, die gerechte oder triumphierende Gewalt, die
das Recht zum Gesetz der Welt macht und jede selbstsüchtige Herrschaft in
den Staub niederwerfen wird."
Frühzeitig wurde auch der Gedanke der Wiedergutmachung erörtert
und mit der deutschen Schuld am Kriege und im Kriege begründet. So stellte
schon 1917 die 1887 gegründete französische Vereinigung "La paix
par le droit" als 6. Punkt ihres Programms für den "Rechtsfrieden" auf:
"In wirtschaftlicher Beziehung ist es gerecht, den
Mittelmächten, da
sie verantwortlich für den Krieg sind, den größten Teil der
Lasten aufzuerlegen, welche dieser den Kriegführenden bringt."
Präsident Wilson hatte in seiner Kongreßbotschaft vom 2. April 1917
zum ersten Male den Gedanken einer moralischen Unrechthaftung aus Krieg
formuliert, als er verkündete,
[56] "daß wir
am Anfang eines Zeitalters stehen, in dem die gleichen Grundsätze von
Schuld und Verantwortung für begangenes Unrecht unter den Völkern
ebenso beobachtet und angewendet werden müssen, wie unter den einzelnen
Angehörigen zivilisierter Staaten."
Und die Entente zeichnete in ihrer Antwort vom 12. Januar 1917 auf die
Wilsonsche Friedensnote vom 21. Dezember 1916 die Grundsätze des
künftigen Friedens in folgender Weise:
"Die Alliierten empfinden ebenso tief wie die
Regierung der Vereinigten Staaten den Wunsch, möglichst bald diesen Krieg
beendet zu sehen, für den die Mittelmächte verantwortlich sind und
der der Menschheit grausame Leiden auferlegt. Aber sie sind der Ansicht,
daß es unmöglich ist, bereits heute einen Frieden zu erzielen, der
ihnen die Wiedergutmachungen, Rückerstattungen und Bürgschaften
sichert, auf die sie ein Recht haben infolge des Angriffes, für den die
Mittelmächte die Verantwortung tragen und der im Ursprung gerade darauf
abzielte, die Sicherheit Europas zugrunde zu richten."
So wurde die angebliche Kriegsschuld Deutschlands zur moralischen Basis und zu
einem Bestandteil des Friedensvertrages. Die unerhörten Härten der
Friedensbedingungen konnten der Welt nur mit der propagierten Idee des
"Rechtsfriedens" begreiflich gemacht werden. Wenn das Völkerrecht durch
Versailles den schwersten Stoß erhalten hat, wenn die bisher übliche
Friedens- und Amnestieklausel in der Versailler Urkunde fehlt, so ist das den
Verwirrungen zuzuschreiben, die die zügellose Verfemung des Gegners im
Rechts- und Billigkeitsgefühl angerichtet hatte. Wie sollte ein unterlegener
Feind anständig behandelt werden, der vier Jahre lang der Welt als die
Verkörperung des Bösen hingestellt worden war?
Der milde Klang des Wortes "Gerechtigkeit" wandelte sich durch den Gedanken
der "Abrechnung", den Clemenceau in die Debatte schleuderte, zur unbilligen
Härte. Wilson schloß sich diesem Gedankengang an, wenn er am 3.
Juni 1919 äußerte:
"Die Frage, die mich beschäftigt, lautet: Wo
haben sie mit ihren Behauptungen recht, wo haben sie gezeigt, daß die
Vereinbarungen des Friedensvertrages in wesentlicher Hinsicht ungerecht sind?
Denn sie sind hart, aber die Deutschen verdienen das, und ich glaube, es ist
natürlich, daß eine Nation ein für allemal lernt, was ein
ungerechter Krieg an sich bedeutet."
So konnten die schon im Krieg verfolgten machtpolitischen Kriegsziele und die
ihnen entsprechenden Friedensbedingungen nur durch Aufrechterhaltung der
Verfemung Deutschlands zum Schein gerechtfertigt werden, wie sie
während des Weltkrieges unter dem Nebel der Propaganda für den
"Rechtsfrieden" verhüllt wurden. Die Moral blieb weiter im Dienste der
Politik, wurde nicht ihr Leitstern für einen Zustand höherer sittlicher
Entwicklung, diese wurde vielmehr im Gegenteil durch eine solche politische
Ausnützung weiter zurückgeschleudert.
Die 14 Punkte Wilsons hatten, allgemein als
völkerrechtlicher Fort- [57] schritt gewertet, den
"Verzicht" auf Kriegsentschädigung verkündet. Es wurde dafür
der "Schadenersatz" eingeführt, der jedoch in seiner Anwendung und
Begründung nicht zu einer Begrenzung dessen, was man vom besiegten
Feind forderte, sondern zu der zur Genüge bekannten Maßlosigkeit der
Reparationsansprüche führte. Harold Temperley gibt in seinem
großen Werk History of the Peace Conference London 1920, im 2. Band
beachtliche Aufschlüsse über die Genesis der Reparationsfrage:
"Die moralische Basis des Anspruchs der Alliierten
auf Reparation braucht nicht erörtert zu werden. Für seine eigenen
ungerechten Ziele hatte Deutschland einen Krieg hervorgerufen, der
unerhörte Verluste und Leiden über die Welt brachte. Es war gerecht,
daß es, wie jeder Rechtsbrecher, vollen Ersatz nach seinen Kräften
leisten mußte. Freilich konnte es nicht für alle Verluste von Leben und
für das menschliche Elend, welches es verursacht hatte, büßen.
Aber materieller Schaden konnte wiedergutgemacht werden, und soweit diese
Aufgabe auf Deutschlands Schultern gelegt werden konnte, war es sowohl Pflicht
wie Interesse der Alliierten, darauf zu halten, daß es geschah...
Eine lange internationale Praxis hatte das Recht des
Siegers geheiligt, die Kosten des Krieges von dem besiegten Feind zu fordern.
Jedoch war diese Basis durch die Waffenstillstandsverhandlungen geändert.
Die 14 Punkte sahen weder Entschädigung, noch
Kriegsentschädigung vor, sondern nur (!) Schadenersatz für erlittene
Verluste...
Aus Artikel
231/2 geht
hervor, daß die Alliierten
sich entschieden, zwischen ihren moralischen und materiellen Ansprüchen
zu unterscheiden. Während sie Deutschland ein allgemeines
Schuldbekenntnis, den Krieg durch seinen Angriff verursacht zu haben,
auferlegten, hatten sie sich entschieden, ihre Ansprüche auf den durch die
Note vom 5. November 1918 bezeichneten Schaden zu beschränken...
Der erste
Artikel der Bestimmungen über
Reparationen besagt, daß Deutschland und seine Verbündeten
für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die seine Gegner
infolge des Krieges erlitten haben. Diese Verantwortung ist eine moralische und
nicht eine finanzielle. Artikel
232 erkennt an, daß die Hilfsmittel
Deutschlands nicht ausreichten für den Ersatz aller
Kriegsschäden...
Die logische Struktur des Vertrages hinsichtlich der
Finanzen und Reparationen kann wie folgt zusammengefaßt werden:
1. Deutschland erkennt die moralische Verantwortung an,
alle Schäden verursacht zu haben, die infolge des Krieges eingetreten
sind.
2. Der Vertrag bestimmt, welcher Teil dieser
Schäden eine finanzielle Verpflichtung Deutschlands ist."
So wurden die finanziellen Forderungen der Entente an Deutschland nicht auf
Grund des verlorenen, sondern vielmehr des "verschuldeten" Krieges erhoben. So
konnte man scheinbar einem völkerrechtlichen Fortschritt huldigen, der mit
der früheren Praxis des Siegerrechtes auf Kriegsentschädigung brach.
Man konnte aber die Ansprüche auf die vollen Kriegskosten
heraufschrauben und, indem man die sehr dehnbar und schwer zu bestimmende
"Grenze" der deutschen Leistungsfähigkeit einführte, immer noch als
enthaltsam dastehen, da man ja eigentlich noch mehr hätte fordern
können. [58] So hat die "moralische Basis" des Friedens,
indem sie als Beschuldigung auftrat, in Wirklichkeit nicht zu einer
Mäßigung der Friedensbedingungen, nicht zu wirklicher und weiser
Gerechtigkeit geführt, sondern zu unmenschlicher und grausamer
Härte. Der Fall jeglicher Hemmungen in der Ausnutzung der durch die
Niederlage Deutschlands der Entente zugefallenen Macht ist so ganz wesentlich
auf diese Fälschung der Politik durch eine Moralordnung
zurückzuführen.
(4) Außer dem
Ultimatum vom
16. Juni 1919, der Mantelnote und dem
Artikel
231 ist die Antwort, die die Entente auf die einzelnen deutschen
Einwände zu den Friedensbedingungen am 16. Juni 1919 gab, ein weiterer
Beweis für die enge Verkoppelung des Begriffs der Gerechtigkeit mit der
Beschuldigung Deutschlands sowie für die moralische Bemäntelung
politischer Zwecke.
Die deutschen Einwände vom 29. Mai 1919 zu den Friedensbedingungen
stützten sich vor allem auf die Widersprüche zu dem
Friedensprogramm Wilsons und zu den im Waffenstillstand getroffenen
Vereinbarungen. Die Antwort der Entente suchte trotzdem den Nachweis des
"Rechtsfriedens" zu führen unter Zuhilfenahme immer neuer
Beschuldigungen. Die deutsche Delegation protestierte gegen die Einverleibung
Elsaß-Lothringens ohne Volksabstimmung, deren Unterlassung ein noch
größeres Unrecht bedeute als das angebliche von 1871. Die Entente
erwiderte, in allen seinen Bestimmungen habe der Vertrag nur den Zweck,
Personen und Sachen wieder in den Rechtszustand zu versetzen, in dem sie sich
1871 befanden. Die Verpflichtung, das damals begangene Unrecht wieder gut zu
machen, lasse keine andere Möglichkeit zu, und Deutschland habe diese
Verpflichtung übernommen, als es den 14 Punkten zustimmte. Deutschland
habe somit keinen Anspruch, eine Volksabstimmung zu verlangen.
Eupen-Malmedy sei
Angriffsbasis für den preußischen Militarismus
gewesen; im Saargebiet
würden die Einwohner zum erstenmal seit der
"Annexion" dieses Gebiets durch Preußen und Bayern, die eine gewaltsame
gewesen sei, "eine Regierung an Ort und Stelle haben, die keine andere Sorge und
Interessen hat, außer dem für das Wohlbefinden der
Bevölkerung". Wenn die deutsche Delegation hinsichtlich der Ausbeutung
der Kohlengruben es ablehne, eine Wiedergutmachung zu leisten, "die den
Charakter der Strafe haben würde", so scheine "der deutsche Begriff von
Gerechtigkeit eine Vorstellung auszuschließen, die für jede gerechte
Regelung wesentlich ist". Dem Hinweis auf die Widersprüche zum
Wilson-Programm bei der Grenzziehung im Osten begegnet die Antwort mit
Vorwürfen gegen die Teilung
Polens, mit der Behauptung des vorwiegend
polnischen Charakters von Westpreußen und Posen, mit Beschuldigungen
gegen die deutsche Polenpolitik. Ostpreußen sei seinen "Ureinwohnern"
ent- [59] rissen, Danzig "durch Gewalt und wider den
Willen seiner Bewohner dem preußischen Staat einverleibt" worden.
Hinsichtlich Oberschlesiens wird zwar zugegeben, daß man die
Behauptung
aufstellen könne, daß Polen keinen rechtlichen Anspruch auf die
Abtretung Oberschlesiens habe, daß aber feierlich erklärt werden
müsse, daß die Behauptung, es hätte keine Rechte darauf, die
durch die Grundsätze des Präsidenten Wilson gestützt
würden, nicht der Wahrheit entspräche. Die Wegnahme der Kolonien
wurde mit den schwersten Vorwürfen gegen die deutsche
Kolonialbetätigung begründet; mit moralischem Augenaufschlag
wurde erklärt, Deutschlands Versagen auf dem Gebiete der kolonialen
Zivilisation sei zu deutlich zutage getreten, als daß die alliierten und
assoziierten Mächte die Verantwortung dafür übernehmen
könnten, 13 bis 14 Millionen Eingeborener von neuem einem Schicksal zu
überlassen, von dem sie durch den Krieg befreit worden seien. Die einseitige
Entwaffnung Deutschlands solle dessen kriegerische Angriffspolitik
unmöglich machen. Deutschland solle eine Probezeit ablegen, bis es
würdig sei, in den Völkerbund aufgenommen zu werden. Auch
hinsichtlich der Beschlagnahme des
deutschen Privateigentums im Auslande als
Vorleistung für die Reparationen ist eine Anspielung auf den Gedanken des
Artikels
231 in dem Hinweis zu erblicken, daß die alliierten Mächte
während des Krieges selbst auswärtige Kapitalanlagen ihrer
Staatsangehörigen in Anspruch nehmen mußten: "Jetzt ist die Zeit
gekommen, wo Deutschland dasselbe tun muß, wozu es seine Gegner
gezwungen hat." Sogar für die Bestimmungen über die
Handelsbeziehungen wird zur Begründung herangezogen, daß
Deutschland zeitweilig das Recht, auf dem Fuße völliger
Gleichberechtigung mit den anderen Nationen behandelt zu werden, entzogen
werde:
"Die gesetzwidrigen Handlungen des Feindes haben
viele der verbündeten Staaten in eine Art wirtschaftlicher Unterlegenheit
gegenüber Deutschland gebracht... und es ist nur recht und billig, daß
die alliierten und assoziierten Mächte für diese Periode eine
größere Freiheit haben, ihren wirtschaftlichen Verkehr zu ordnen, als
dies den Urhebern des Angriffs zugestanden wird."
Und ganz zum Schluß wird zu Teil XIV
(Bürgschaften) bemerkt:
"Nach 4½ jähriger Dauer des Krieges,
den die Verleugnung dieser Grundsätze (von Moral und Kultur) durch
Deutschland heraufbeschworen hat, können die alliierten und assoziierten
Mächte nur die Worte des Präsidenten Wilson vom 27. September
1918 wiederholen: »Darum muß der Frieden Bürgschaften erhalten,
weil an ihm Vertragschließende teilnehmen, auf deren Versprechungen, wie
man gesehen hat, kein Verlaß ist«."
(5) Das Versailler
Kriegsschuldurteil bezieht sich also nicht nur auf Teil VIII,
sondern, wie deutlich aus der Antwort der Entente zu den deutschen
Einwänden hervorgeht, will sie auch zahlreiche andere Bestimmungen mit
deutschen Verfehlungen begründen.
So- [60] mit ist die Behauptung von der deutschen
Kriegsschuld nicht nur das Fundament der Reparationen; sie bezieht sich vielmehr
auf den ganzen Vertrag. Daß die Entente die Beschuldigung Deutschlands
brauchte zur Rechtfertigung der Friedensbedingungen, die, ohne daß die
Welt an die besondere Schuld Deutschlands geglaubt hätte, doch vor der
öffentlichen Meinung und dem einfachen Rechtsgefühl nicht
hätten bestehen können, erhellt unzweideutig aus diesen Antworten,
die von den unerhörten Beschuldigungen der bekannten Mantelnote
umrahmt werden.
Und in diesem Sinne wurde der Vertrag auch den Völkern empfohlen. So
sagte Lloyd George am 3. Juli 1919 vor dem House of Commons über den
Vertrag: "Es ist kein Zweifel, daß sie (die Friedensbedingungen) streng sind.
Sind sie gerecht?" Er geht darauf die territorialen Bestimmungen des Versailler
Diktates durch und rechtfertigt sie. Danach fährt er fort:
"Ich komme nun zu den Reparationen. Sind die
Bedingungen, die wir auferlegt haben, ungerecht für Deutschland? Wenn die
gesamten Kosten des Krieges, alle die Kosten, die jedes Land, das in den Krieg
durch die Handlungen Deutschlands gezwungen wurde, gehabt hat, Deutschland
auferlegt worden wären, so würde das mit dem Grundsatz der
Gerechtigkeit in der zivilisierten Welt übereinstimmen. Es gab nur eine
Grenze für die Gerechtigkeit und den Verstand für die Reparationen,
und das war die Grenze der Fähigkeit Deutschlands zu zahlen... Ist bei den
Zahlungen etwas ungerecht für Deutschland? Ich glaube nicht, daß
jemand das ungerecht nennen könnte. Sicher wird niemand das ungerecht
finden, außer er glaubt, daß das Recht des Krieges auf der Seite
Deutschlands war.
Ich komme zu einem anderen Punkt, der Entwaffnung. Ist
in Anbetracht des Gebrauches, den Deutschland von seiner Armee gemacht hat,
etwas Unrechtes darin, daß diese Armee zerstreut wird, wenn es entwaffnet
und unfähig gemacht wird, das Unrecht, das es über die Welt gebracht
hat, zu wiederholen?" Nachdem Lloyd George sodann auch die Wegnahme der
Kolonien mit der kolonialen
Schuldlüge begründete, ging er
über zu der geforderten Bestrafung des Kaisers und der "Kriegsverbrecher"
und fährt dann fort: "Was war das Verbrechen? Deutschland provozierte
nicht nur, sondern plante den vernichtendsten Krieg, den die Welt je gesehen hat.
Es plante und bereitete ihn jahrelang vor. Die Nation ist mitschuldig. Deutschland
ist nicht gegen den Willen der Bevölkerung in den Krieg gezogen."
(Temperley a.a.O. Band III, Seite 83 ff.)
(6) Bekannt ist auch das
Wort von Lloyd George vom 3. März 1921,
daß die deutsche Verantwortung für den Krieg für die Alliierten
grundlegend und die Basis sei, auf der der Bau errichtet wurde. Weniger bekannt
ist, daß auch Briand bei einer aktuellen, kaum weniger schwerwiegenden und
an sich dem Rechtsgefühl ins Gesicht schlagenden Entscheidung,
nämlich bei der über Oberschlesien, auf die Anschuldigung
zurückgriff, indem er am 17. August 1921 sagte:
"Ich durfte nicht zugeben, daß der Geist, in
dem der Friedensvertrag niedergeschrieben ist, dahin führt, Deutschland, das
von den Verbands- [61] mächten feierlichst
für verantwortlich für den Krieg erklärt worden ist, eine
ungeheure Mehrheit polnischer Stimmen zuzuteilen, während Polen nur eine
kleine deutsche Minderheit erhalten soll, und das alles nur aus dem Grunde, weil
Deutschland schon seit 50 Jahren, gleich nach dem Kriege von 1870/71, mit den
Milliarden, die es Frankreich erpreßt hat, seine Industriegegenden aufgebaut
hat, die in völkischer Hinsicht durchaus polnisch sind."
Hier finden wir klar die politische Nutzanwendung der Kriegsschuldfrage auf
Grund ihrer völkerrechtlichen Formulierung im Versailler Vertrag. Ihre
große Gefahr
liegt - über den Rahmen ihrer fundamentalen Bedeutung für die
Versailler Urkunde
hinaus - eben in der drohenden Möglichkeit, zu jedem passenden
Zeitpunkt von der Gegenseite für akute außenpolitische Interessen
nutzbar gemacht zu werden. Es ließen sich hierfür eine Fülle
von Beispielen anführen. Nur auf eine, die uns im Augenblick besonders
berührt, sei hier noch kurz hingewiesen. Als die Verhandlungen über
Einsetzung des Young-Komitees schwebten, hielt es der Temps für
zweckmäßig, in den ersten Januartagen 1929 zu schreiben:
"Den Bericht von Parker Gilbert kann man als eine
Stütze für die Behauptung derjenigen ansehen, die dafür sind,
daß Deutschland, imstande seine Verpflichtungen zu erfüllen, auch in
vollem Maße bezahlen muß, was die Billigkeit fordert. Es würde
jedem Sinn der elementarsten Gerechtigkeit widersprechen, wenn man den
Nationen, die die beklagenswerten Opfer des Krieges waren, neue Lasten
auferlegen würde, während die für den Weltkrieg
Verantwortlichen zugleich eine Begünstigung erfahren würden, die in
den natürlichen Bedürfnissen ihrer Wirtschaft nicht gerechtfertigt ist.
Wenn Deutschland, wie das jetzt klar ist, die vollen Jahreszahlungen des
Dawes-Planes ohne seine eigenen Existenzmittel oder die Entwicklung seines
Wohlstandes zu gefährden, bezahlen kann, liegt kein Grund vor, nicht von
ihm die pünktliche Erfüllung seiner Verpflichtungen zu
fordern."
Und einen Monat später schrieb dasselbe Blatt:
"Die Regelung der Reparationen muß, um
dauerhaft zu sein, ein Werk der Gerechtigkeit und Billigkeit sein. Wenn es richtig
ist, daß die Sachverständigen ihre Aufgabe in einer Atmosphäre
der Versöhnung erledigen, so muß man doch daran erinnern,
daß es eine Grenze gibt, die die Nationen, die die beklagenswerten Opfer des
Krieges waren, nicht überschreiten können. Der schlimmste Irrtum,
den man begehen könne, sei, zu glauben, daß angesichts der
Notwendigkeit abzugrenzen, die Mächte, denen der Krieg
aufgezwungen wurde, die die härtesten Opfer gebracht haben, und die
10 Jahre lang aus eigenen Mitteln die Wiederherstellung der zerstörten
Gebiete gefördert haben, die Selbstvergessenheit bis zu den
Zugeständnissen treiben könnten, daß ihnen die geschuldeten
Reparationen nicht die Verpflichtungen decken, die sie anderen Nationen
gegenüber eingehen mußten, um den Streit bis zum gemeinsamen Sieg
durchzuhalten, sowie die Wiederherstellung ihrer Ruinen, die sie aus eigenen
Mitteln sichern mußten."
Man mag das für die Meinung einer unverantwortlichen Zeitung halten.
Diese Meinung erhält ihre wirkliche Färbung erst, wenn man sieht,
wie der verantwortliche Leiter der französischen Politik, der
Ministerpräsident Poincaré, in den gleichen Gedankengängen
wandelt. [62] Am 20. Mai 1929, als die Pariser
Reparationsverhandlungen den Anschein eines Fortschritts erweckten,
erklärte er in einer Rede in Douaumont:
"Sie (die Bevölkerung von Douaumont) hat
das Recht, von uns im Namen der Gerechtigkeit zu verlangen, daß wir immer
an ihr Schicksal denken, wenn sich vor der Welt diese großen Fragen der
Schäden und der Reparationen erheben, in denen die Parteinahme und die
Leidenschaft nicht den Glanz der Wahrheit verdunkeln sollen. Welche
Lügen man auch immer über den Ausbruch des Krieges 1914 zu
verbreiten suchte; das französische Volk und die französische
Regierung waren 1914 wie vorher dem Frieden zugeneigt, und sie taten alles, was
in ihrer Macht stand, um ihn zu erhalten. Unsere Gegner haben sich nicht damit
begnügt, uns den Krieg zu erklären und durch diese Erklärung
jeden Verständigungsversuch zu hindern. Sie haben ein unleugbares
Verbrechen begangen. Sie haben die belgische Neutralität verletzt. Dieser
Angriff auf das Menschenrecht hat allein den Einbruch in neutrales Gebiet
ermöglicht, und durch diesen Einbruch in neutrales Gebiet ist der in unseres
erfolgt. Der Feind, der auf unsere östlichen Befestigungen gestoßen
wäre, konnte mit Leichtigkeit eine Grenze überschreiten, die mangels
dauernder Befestigungen durch das gegebene Wort hätte geschützt
sein sollen. Angenommen, daß entgegen dem Zeugnis der offenkundigen
Tatsachen und Akten die Zentralmächte nicht absichtlich die Initiative und
Verantwortung für den Krieg übernommen hätten, so
würden sie dennoch, da sie durch ihren Gewaltstreich gegen Belgien diesem
und Frankreich unberechenbaren Schaden zugefügt haben, uns beiden vollen
Ersatz schulden.
Viele wahrhaftige
Deutsche - so verblendet sie auch durch eine teilweise und
unvollständige Beweisführung sein mögen, der man
entscheidende Beweise, die in Berlin selbst gleich nach dem Waffenstillstand
veröffentlicht wurden,
vorenthält - gestehen zu, daß durch einen solchen in Verletzung
der Verträge und ohne Schonung der Bevölkerung
durchgeführten Einfall ein Rechtsanspruch auf Entschädigung
für allen Schaden an Personen und Sachen entsteht.
Eine angemessene Reparation sollte Frankreich keine der
Kosten zur Last legen, die es auf sich nehmen mußte, sei es zur
Wiederherstellung der zerstörten Gebiete, sei es für die Pensionen der
zivilen und militärischen Opfer. Seit langem haben wir auf die Hoffnung
einer so günstigen Regelung verzichten müssen und jedesmal, wenn
Verhandlungen mit unseren Schuldnern stattfanden, haben wir uns zu
Zugeständnissen hergegeben, getrieben durch den Wunsch nach
Versöhnung und unserer eingewurzelten Friedensliebe. Obwohl wir
wußten, daß wir nicht in dem Maße entschädigt
würden, wie wir es verdienten, haben wir uns nicht entmutigen
lassen...
Die Regierung wünscht zur wirtschaftlichen
Erholung der Welt eine endgültige Regelung. Aber es wäre ungerecht
und unannehmbar, wenn Frankreich, das mißhandelte und verwüstete
Frankreich, die Kosten tragen sollte. Wir haben nicht das Recht, die Toten zu
vergessen, die unsere Gemeinden beweinen, wir haben nicht das Recht zu
vergessen, daß mehrere unter ihnen, wie Douaumont, sogar untergegangen
sind und zum einzigen Erinnerungszeichen eine Grabsäule hinterlassen
haben. Heute wie gestern, morgen wie heute, sind unsere Toten, sind unsere
Verwundeten, ist unsere heimgesuchte Bevölkerung die beste Sicherung
für das Recht Frankreichs."
Und keinen anderen Zweck als diese französischen Äußerungen
hat die Ende des vorigen und im Verlauf dieses Jahres von belgischer [63] Seite betriebene Propaganda über die
angeblichen deutschen Verwüstungen, die massenweise Versendung von
Propagandapamphleten über Dinant, Löwen usw. Die Versailler
Schuldanklage sollte für die politischen und wirtschaftlichen Interessen der
beiden Länder ausgenutzt werden.
II.
(1) Zwei Gesichtspunkte
beherrschen die gesamte Erörterung der
Kriegsschuldfrage. Der eine ist der, der in Versailles in so verhängnisvoller
Weise mißbraucht wurde, der gesunde und von allen Völkern freudig
und aufrichtig begrüßte Gedanke, durch eine sorgfältige
Analyse der Ursachen des
großen Weltkrieges zu einer Verminderung, ja
vielleicht zu einer Verhinderung, zu einer Ächtung von Kriegen zu
gelangen. Es erlangte durch die Fixierung in einem Friedensvertrag eine
Anschauung völkerrechtliche Geltung, die bisher für die Praxis der
Kriege und der Friedensschlüsse nicht maßgebend war: die
Anschauung vom Krieg als Verbrechen, während der Krieg bisher als letztes
Mittel der Politik völkerrechtlich erlaubt war. Wir haben hier nicht den
tatsächlichen oder vermeintlichen völkerrechtlichen Fortschritt an
sich zu werten, sondern können nur betonen, daß die fortschrittlichen
Möglichkeiten in verhängnisvoller Weise dadurch entwertet wurden,
daß diese Anschauung mit einem Urteilsspruch verbunden wurde, der
jeglicher Rechtspraxis widersprach, indem die Partei, die als Ankläger und
Richter zugleich auftrat, ihn fällte. Der Angeklagte wurde nicht
gehört. Die Politik war maßgebend für den Urteilsspruch. Sie
griff auch der historischen Forschung nach den Kriegsursachen vor. Als eine cause
jugée wollte sie behandelt wissen, was unmöglich einwandfrei festgestellt
sein konnte. Und so tritt der andere, für uns Deutsche lebensnotwendige,
für die soeben dargestellte Anschauung und damit für alle
Völker aber sich zwangsläufig ergebende und für ihre
Verfolgung und Durchsetzung notwendige Gesichtspunkt hinzu, das
Kriegsschuldurteil des Versailler Vertrages nachzuprüfen. In treffender
Weise hat die deutsche Reichsregierung in ihrem Antrage vom 29. November 1918
auf Einsetzung einer Untersuchungskommission die Aufklärung aller
Einzelheiten der Vorgänge, die zum Kriege führten, als notwendig
hingestellt für die Herbeiführung des Weltfriedens, für die
Schaffung dauernder Sicherheit gegen künftige Kriege und für die
Wiederherstellung des Vertrauens der Völker untereinander. Eine gerechte
Würdigung der Hergänge bei Freund und Feind ist die Vorbedingung
für die künftige Versöhnung der Völker, ist die einzige
mögliche Grundlage für einen dauernden Frieden und für den
Bund der Völker. Die Gegenseite verhielt sich ablehnend. So antwortete die
britische Regierung in ihrer Note vom 7. März 1919:
[64] "Ich habe die Ehre
Sie zu benachrichtigen, daß die Regierung Seiner Majestät der
Meinung ist, daß es unnötig sei, auf den deutschen Vorschlag
irgendeine Antwort zu geben, da nach Meinung der verbündeten
Regierungen die
Verantwortlichkeit Deutschlands für den Krieg
längst unzweifelhaft festgestellt worden ist."
Die Regierungen der anderen Mächte nahmen zu der deutschen Anregung
überhaupt nicht Stellung.
(2) Die Bemühungen der
deutschen Delegation unter Graf
Brockdorff-Rantzau und der deutschen Reichsregierung, aus der Versailler
Urkunde namentlich diese Bedingungen zu entfernen, die, "ohne eine materielle
Bedeutung zu besitzen, lediglich den Zweck verfolgen, dem deutschen Volke seine
Ehre zu nehmen", scheiterten. "Übermächtiger Gewalt weichend"
mußten auch diese Bedingungen mitunterzeichnet werden. So gelang es
nicht, die politische Fixierung der Behauptung von der deutschen
Kriegsurheberschaft im Versailler Vertrag abzuschlagen. Für Deutschland
konnte die Angelegenheit damit jedoch niemals als "abgeurteilt" gelten. Der
Protest gegen die "unerhörte Ungerechtigkeit" der Friedensbedingungen, der
Protest gegen die falsche moralische Begründung mußte eine
Bewegung hervorrufen, die sich auf die Revision von Versailles richtete, die die
Anfechtung des Versailler Urteils, die Wiederaufnahme des Verfahrens erstrebte.
Der Weg dafür war durch die Gegenseite vorgeschrieben. Die Anklage von
Versailles mußte sachlich widerlegt werden. Dies konnte nur mit den Mitteln
der historischen Forschung geschehen. Indem auf die Einleitung dieses Beitrages
verwiesen wird, soll nochmals ausdrücklich festgestellt werden, daß
die Fragestellung des Versailler Urteils von deutscher Seite als unzulässig
und unhistorisch angesehen wird. Wenn die deutsche
Forschungs- und Aufklärungsarbeit aber in den jetzt abgelaufenen zehn
Jahren diese Fragestellung im wesentlichen übernommen hat, so erfolgte
dies, weil wir es eben mit einer ausgesprochen politischen Frage zu tun haben. Die
historische Frage nach den Gründen des Weltkrieges kann überhaupt
erst erörtert werden, wenn die mit politischen Zweckabsichten verbundene
Versailler Anklage beseitigt ist. Wir kommen auf diesen Gedanken noch einmal
ausführlicher zurück. An dieser Stelle soll nur gesagt werden,
daß die advokatorische Form der internationalen Erörterung der
Kriegsschuldfrage, die Form, die sich mit den Begriffen "Anklage" und
"Widerlegung" umschreibt, von der Gegenseite bewirkt worden ist. Aus ihr
ergeben sich die vom Historiker festzustellenden Mängel an der Bewegung.
Es kann aber nicht geleugnet werden, daß die Widerlegung der Versailler
Anklage von deutscher Seite aus mit allen Mitteln und nach den Methoden der
historischen Forschung betrieben worden ist.
[65] (3) Hierfür
galt es zunächst den Stoff für die historische
Urteilsbildung auf objektiver Grundlage bereitzustellen. Schon 1919 war der
Anfang gemacht worden mit dem Deutschen Weißbuch über die
Schuld am Kriege, der sogenannten
Professoren-Denkschrift, und der Herausgabe der Deutschen Dokumente zum
Kriegsausbruch, der sogenannten
Kautsky-Akten. Der stärkste Beitrag zur geschichtlichen Forschungsarbeit
ist aber durch die Aktenpublikation des Auswärtigen Amtes Die
Große Politik der Europäischen Kabinette 1871 bis 1914 geliefert
worden, die 1921 begonnen und im Frühjahr 1927 nach dem Ende 1926
erfolgten Abschluß der Öffentlichkeit in 40 Bänden zu 54
Teilen übergeben wurde. Das Motto für diese ebenso schwierige wie
verantwortungsvolle Arbeit lautete nach der Formulierung, die der damalige
Reichsaußenminister Dr. Rathenau 1922 beim Erscheinen der ersten
Bände prägte: "Im Dienste der Wahrheit." Den leichtfertigen und
böswilligen Behauptungen der Kriegspropaganda und ihrer
willkürlichen Fixierung im Friedensvertrag sollte das unanfechtbare
Rüstzeug der wissenschaftlichen Forschung durch die lückenlose
Offenlegung aller, auch der geheimsten Vorgänge der deutschen Politik seit
1871 entgegengestellt werden. Niemals ist der Wahrheitsmut dieser
Veröffentlichung hinter dem ursprünglichen Zweck, der Widerlegung
des Versailler Urteils, zurückgewichen. Auch die zahlreichen Fehler und
Irrtümer der deutschen Vorkriegspolitik liegen vor aller Augen zur
Beurteilung dar. Nur das ist nicht in den Akten zu finden, weil es nicht in ihnen zu
finden war: eine Stütze für die Anklage, daß Deutschland im
frevlerischen Streben nach Weltherrschaft, nach Unterjochung freier Völker
bewußt den Krieg vorbereitet und bei Gelegenheit willentlich und
wissentlich entfesselt habe. Die Erhaltung des Friedens ist, auch wenn dieses Ziel
nicht zu jeder Zeit mit glücklichen Mitteln verfolgt wurde, immer Leitstern
der deutschen Politik gewesen. Der Weltkrieg, aus einer Konstellation der
Mächtegruppierung entstanden, die sich in den Jahren vor dem Kriege
immer ungünstiger für Deutschland entwickelt hatte, konnte
deutscherseits nicht verhindert werden, und es dürfte müßig
sein, sich mit den vielen
"Wenn"-Fragen aufzuhalten, die sich bei jedem Ergebnis, bei jedem Schritt stellen
lassen.
Wie wir gesehen haben, hat Deutschland durch Veröffentlichung seiner
Akten alle seine Geheimnisse offengelegt. Das Bild über die internationale
Politik von 1871-1914 konnte ergänzt werden durch die teilweise
Veröffentlichung österreichischer Akten, sowie durch Publikationen
der Sowjetregierung über die russische Vorkriegspolitik. Dem deutschen
Vorgehen, der moralischen Wirkung der deutschen Aktenpublikation haben sich
auch die anderen Regierungen auf die Dauer nicht verschließen
können. So hat England bisher von seiner auf 11 Bände berechneten
Ausgabe der Bri- [66] tischen amtlichen
Dokumente über den Ursprung des Weltkrieges
1898-1914 den 11., den Kriegsausbruch betreffenden Band, sowie den
1.-5. Band über die Zeit von
1898-1909 veröffentlicht. Amerika hat gleichfalls schon einen Band seiner
Aktenpublikation der Öffentlichkeit übergeben. In Frankreich liegen
zwar schon seit langem die Beschlüsse auf Öffnung der Archive vor,
jedoch sind bisher Akten noch nicht herausgegeben worden. Das für Anfang
dieses Jahres geplante Erscheinen der ersten drei Bände ist nach neueren
Mitteilungen doch wieder hinausgeschoben worden.
In wissenschaftlich-systematischer Weise sind von deutscher Seite alle
Einzelheiten des gesamten Fragenkomplexes untersucht worden. Die 1921
gegründete "Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen" hat in
gründlicher und umfassender Weise alles einschlägige Material
gesammelt, gesichtet und verarbeitet. Zahlreiche deutsche Wissenschaftler und
Schriftsteller aller politischen Richtungen sind unermüdlich um die
Klärung des Tatbestandes bemüht gewesen. Der
Arbeitsausschuß Deutscher Verbände hat bei seiner auf
überparteilicher Grundlage im
In- und Auslande geleisteten Aufklärungsarbeit immer nur wissenschaftlich
fundierte Darstellungen und Angaben verbreitet.
(4) In immer steigendem
Maße hat sich auch die historische Forschung des
Auslandes an der Klärung der Kriegsschuldfrage beteiligt. Die
wissenschaftliche Literatur darüber ist allmählich fast
unübersehbar geworden, und eine Übersicht hierüber zu geben,
würde an dieser Stelle zu weit führen. Wie Pierre Renouvin vor
kurzem in einem im Aprilheft der Zeitschrift L'Esprit International erschienenen
längeren Aufsatz, auf den wir in anderem Zusammenhang noch
zurückkommen werden, sich ausdrückte, ist die Forschung des
Auslandes der deutschen "Propaganda" und dem Einfluß der deutschen
Protestbewegung "erlegen", indem sie die Forderungen der deutschen Historiker
angenommen hat. Wir können deutscherseits diese widerwillig gegebene
Feststellung nur begrüßen, da wir wissen, daß ein großer
Teil dieser Forscher bei Beginn ihrer Arbeit durchaus nicht auf dem Standpunkt
der "deutschen These" stand, aber nach einem gewissenhaften und eindringlichen
Studium der zur Verfügung stehenden Quellen zur Revision des in
Versailles gefällten Urteils kam und seiner Meinung offen Ausdruck gab.
Wahrheitsuchende Männer in allen Ländern der Welt haben mit
großem Eifer und wissenschaftlicher Gründlichkeit das
einschlägige Aktenmaterial, die zahlreichen Memoirenwerke,
Sonder- und Spezialstudien verarbeitet und ihre Auffassungen in grundlegenden
Werken veröffentlicht. In Amerika sind es Männer wie H. E. Barnes,
F. Bausman, Becker, Bright, Blakeslee, St. E. Bruce, Buell, J. W. Burgess, E.
Davis, [67] J. S. J. Ewart, S. B. Fay, J. Gaffney, W. L.
Langer, A. J. Nock, Salmon, F. Schevill, Bernadotte Schmitt, Ch. Seymour, Ch. C.
Tansill und andere, die sich in dieser Richtung bemühen. Die
Engländer, von denen der leider verstorbene E. D. Morel schon
frühzeitig den Kampf gegen das "zerstörende Gift" aufgenommen
hatte, beteiligen sich durch R. Beazley, W. H. Dawson, G. L. Dickinson, Edith
Durham, G. P. Gooch, C. H. Herford, Haedlam Morley, Harold Temperley, A.
Ponsonby und anderen. Von Italienern seien Barbagallo, Torre, Salandra, Nitti,
Cadorna, Palamenghi-Crispi und Lumbroso genannt. Selbst in Frankreich mehrt sich die
Zahl derjenigen, die der Wahrheit die Ehre geben. Georges Demartial, Alcide
Ebray, Alfred Fabre-Luce, Gouttenoire de Toury, Louis Guétant,
Victor Margueritte, Matthias
Morhardt, der ehemalige Botschafter Paléologue, Alfred Pevet, Ernest Renauld,
Pierre Renouvin seien erwähnt. In Japan, in Rußland, in den neutralen
Staaten sind überall Männer in der gleichen Richtung am Werk.
Als das Ergebnis ihrer Untersuchungen läßt sich feststellen, daß
die Unhaltbarkeit des Artikels
231 von der wissenschaftlichen Forschung in der
ganzen Welt anerkannt ist. Aus der Fülle der Untersuchungsergebnisse sei
hier nur auf die Zusammenfassung hingewiesen, die der amerikanische Professor
Sidney B. Fay in seinem zweibändigen Werk: The Origins of the World
War Ende vorigen Jahres gab:
"Das Urteil des Versailler Vertrages, daß
Deutschland und seine Verbündeten allein verantwortlich sind,
müssen wir fallen lassen. Es gründet sich auf unvollständige
und nicht immer vernünftige Beweise. Es wird allmählich von den
besten Historikern aller Welt anerkannt, daß es nicht mehr zu halten und zu
verteidigen sei. Es beruht auf historisch ungesunder Grundlage und sollte daher
revidiert werden."
Und erwähnt sei auch das Urteil des Historikers an der Pariser Sorbonne
Pierre Renouvin:
"Der Artikel
231 des Versailler
Diktates spricht ein
Urteil aus: Mit unvollständigen Beweisen haben die Staatsmänner es
unternommen, eine offizielle Überzeugung festzunageln, eine historische Wahrheit
niederzulegen, die schon durch ihren Charakter der wissenschaftlichen Genauigkeit
entbehrt."
(5) Die wissenschaftliche
Forschung hat somit die stärkste Bresche in das
Urteil von Versailles gelegt. Wissenschaftlich ist es als widerlegt zu betrachten,
wenn auch für Einzelfragen noch Stoff für eine jahrzehntelange
Arbeit vorliegt. Wie steht es aber mit der Anerkennung dieses wissenschaftlich
erforschten Tatbestandes? Die Lösung der Kriegsschuldfrage im Sinne des
Versailler Vertrages kann nicht die Wissenschaft allein bringen. Eine noch so
eindringliche wissenschaftliche Erforschung der Kriegsursachen wird der
moralisch-psychologisch-politischen Seite des Problems nicht nachkommen
können. [68] Das Versailler Kriegsschuldurteil entsprach einer
in vier Jahren Weltkrieg erzeugten Weltmeinung. An der Entstehung dieser
Weltmeinung wirkten die verwickeltsten völkerpsychologischen
Vorgänge mit. Mit allen Mitteln der Propaganda wurde sie gefördert.
So reicht sie tief ins Moralische hinein. Es hängen auch so viele politische
Interessen daran, daß die Widerstände, die sich noch allenthalben der
Anerkennung der Wahrheit entgegenstämmen, vielfach noch sehr stark sind.
Das gilt sogar noch für die wissenschaftlichen Kreise. Noch 1928 hat der 6.
Internationale Historikerkongreß in Oslo die Kriegsschuldfrage von der
Erörterung ausgeschlossen. Eine Aufforderung an die Mitglieder der
Versailler Kriegsschuldkommission von 1919 sich zu äußern, wie sie
heute angesichts der durch die Dokumentenveröffentlichungen
geklärteren Sachlage sich zu ihrer damaligen Auffassung über die
deutsche Kriegsschuld stellten, die Dr. von Wegerer, der Leiter der Zentralstelle
für Erforschung der Kriegsursachen, im Juliheft 1928 der Current History
ergehen ließ, wurde von den meisten abgelehnt, von einem Teil sogar noch
im Sinne der Versailler Behauptung beantwortet. Noch 1923 hatte der
Internationale Historikertag unter Ausschluß Deutschlands stattgefunden,
wie es unter dem Druck des internationalen Boykotts gegen deutsches Wesen
überhaupt ja sehr lange gedauert hat, bis die internationalen
wissenschaftlichen Fäden wieder geknüpft wurden. Der geistige Krieg
gegen Deutschland beschränkte sich nicht nur auf die Vorwürfe gegen
die deutsche Politik; der deutsche Charakter an sich wurde beschimpft. Einen
Niederschlag dieser Kriegspsychose haben wir zum Beispiel in einem Buch, das,
abgeschlossen im Dezember 1919, mit der Jahreszahl 1925 unter dem Titel Créer
bei Payot, Paris, erschien und keinen Geringeren als Edouard Herriot zum
Verfasser hat. Grausamkeit, Überheblichkeit, Lüge sind hiernach die
Grundzüge des preußischen Charakters, einem "der
widerwärtigsten, dem man begegnen kann". Deutschland fühle sich in
der Schlechtigkeit wohl. Neben diesen Vorwürfen gegen den
preußisch-deutschen Charakter fallen herabsetzende Bemerkungen gegen die
deutsche Wissenschaft und die deutsche Technik. Deutschland habe selbst fast
nichts erfunden, aber von den Erfindungen anderer immer Nutzen gezogen. [Scriptorium merkt an: den Bestohlenen des Diebstahls
bezichtigen - das ist nach wie vor das beste Deckmäntelchen für die eigenen
Vergehen!] Wenn
auch solche allgemeinen Beschimpfungen im Laufe der Jahre zurückgetreten
sind, so sind die in die Kriegsschuldbehauptung im engeren Sinne gruppierten
Anschauungen durchaus noch nicht in der öffentlichen Meinung der anderen
Länder geschwunden. Die Schulbücher sind weder in Amerika, noch
namentlich in Frankreich trotz dankenswertester Bemühungen auch in
diesen Ländern noch keineswegs von dem Gift gereinigt. Ende des letzten
Jahres ist bei dem Militärverlag Charles Lavauzelle in Paris ein kleines
Lehrbuch für die militärische Jugenderziehung
herausgekom- [69] men, das zweifellos mit
Zustimmung des französischen Kriegsministeriums veröffentlicht
worden ist. Es beginnt mit der Feststellung der deutschen Kriegsschuld. "Ursachen
des Krieges" lautet die Überschrift, worauf es heißt:
"Der im August 1914 durch Deutschland und
Österreich Rußland und Frankreich erklärte Krieg war die
gewollte Folge einer Politik, die auf die Sicherung der Hegemonie der
germanischen Macht in der Welt hinzielte. Die Schwierigkeiten, die Deutschland
in Marokko machte, die Konferenz von Algeziras im Jahre 1906 und der
Panthersprung von Agadir im Juli 1911 waren die ersten charakteristischen
Symptome des Konfliktes, der Europa bedrohte. Seit 1911 verschärften sich
die kriegerischen Tendenzen Deutschlands. Seine aktive Heeresstärke stieg
in drei Jahren von 650 000 auf 900 000 Mann. Deutschlands Verbündeter
Österreich hielt seinerseits die Mobilisierung eines Teiles seiner
Streitkräfte dauernd aufrecht. Die Ermordung des österreichischen
Thronfolgers in Sarajewo am 28. Juni 1914 gab für den durch die
preußische Militärkaste und die Alldeutschen gewünschten
Krieg den Vorwand ab."
Darauf folgen unter der Überschrift "Die
Kriegserklärung" die weiteren Ausführungen:
"Österreich
erklärt am 18. Juli an Serbien im Anschluß an ein absichtlich
kategorisch und verletzend gehaltenes Ultimatum, auf das das Kabinett von Belgrad
trotzdem eine versöhnliche Antwort gegeben hatte, den Krieg. Als Antwort
auf die österreichische Mobilisierung mobilisierte Rußland am 31.
Juli. Deutschland ordnet die allgemeine Mobilmachung am 1. August
an - allerdings hatte es im geheimen seit dem 25. Juli
mobilisiert - und erklärt Rußland den Krieg. Während
der Periode politischer Spannung hat Deutschland alle
Vermittlungsvorschläge, die in der Absicht, den Konflikt zu vermeiden,
durch Frankreich oder England gemacht worden waren, vereitelt. Frankreich
verfügt treu seinem Bündnisvertrag seinerseits die allgemeine
Mobilmachung am 1. August. Am 3. August erklärt Deutschland unter
anerkanntermaßen nichtigen Vorwänden, die zudem inzwischen
dementiert worden sind, Frankreich den Krieg, und schließlich stellt sich
England, während Italien uns seine Neutralität versichert, am 4.
August angesichts der Verletzung Belgiens und Luxemburgs an unsere Seite. So
war in wenigen Tagen zwischen Deutschland und Österreich einerseits,
Frankreich, Rußland, England, Belgien und Serbien andererseits der Krieg
ausgebrochen. Japan trat am 15. August auf die Seite der Alliierten.
Was auch Deutschland behaupten möge, heute ist in
aller Form bewiesen und festgestellt:
daß es den Krieg gewollt hat;
daß es ihn zu dem ihm genehmen Augenblick mit
den tadelnswertesten Mitteln entfesselt hat;
daß es mit Voreingenommenheit alle zu seiner
Verhinderung gemachten Anstrengungen vereitelt hat;
daß es französisches Gebiet vor der
Kriegserklärung verletzt hat.
Deutschland bleibt deshalb auf alle Zeit vor der Geschichte
für diesen Krieg verantwortlich, den es gewollt, vorbereitet, provoziert und
aufgezwungen hat."
Das ist der Geist, in dem die französische Jugend über die
Kriegsschuldfrage unterrichtet wird.
Vor allem ist es jedoch die Presse, in der die Beschuldigungssucht gegen
Deutschland bei jeder Gelegenheit wieder hervorbricht und dabei immer wieder
auf Argumente hinsichtlich der
Kriegs- [70] schuldfrage
zurückgreift. Ohne ihren Standpunkt in der Angelegenheit
zurückgenommen zu haben, ist in der englischen Presse ein
Zurücktreten, eine gewisse Gleichgültigkeit der Kriegsschuldfrage
gegenüber zu beobachten. Anders steht es mit der französischen
Presse. Die deutsch-französischen politischen Spannungen, die
Rheinlandräumung, die Sicherheitsfrage, die Reparationsfrage geben den
französischen Zeitungen immer wieder Anlaß, spontan mit
Beschuldigungen und Verdächtigungen zu arbeiten. Der "deutsche Angriff"
ist stehendes Argument, wenn von der "bedrohten" französischen Sicherheit
die Rede ist. Die deutsche Vertragstreue wird immer wieder angezweifelt und die
restlose Erfüllung der Verträge von Deutschland gefordert. Es wurde
schon gezeigt, daß der enge Zusammenhang der Kriegsschuldfrage mit der
Reparationsfrage auch jetzt wieder stark hervorgetreten ist.
Oft genug wird zwar der beliebte Unterschied zwischen den "zwei Deutschland"
gemacht. Es wird die bereits in der Kriegspropaganda angewandte Gleichung
republikanisch = friedlich, monarchistisch = kriegerisch
angewendet, was auf das
Ausspielen der Unterscheidung Regierung und Volk hinauskommt. Für
diese Vergleiche sind jedoch vorwiegend taktische Gründe
maßgebend, um dadurch einen Zwiespalt in das deutsche Volk zu treiben.
Wenn es darauf ankommt, wird doch, wie schon in der Antwort der Entente vom
16. Juni 1919, die Last und Schuld auf das ganze deutsche Volk gelegt.
(6) So ist es die Gegenseite,
die immer wieder auf die angebliche Kriegsschuld
Deutschlands zurückkommt und zu keinerlei Entgegenkommen, zu keinerlei
Abstrich bereit ist. Die Bindung an das Versailler Kriegsschuldurteil steht immer
noch hemmend zwischen der Aussöhnung der Völker, bildet ein
psychologisch-moralisch-politisches Friedenshindernis. So deutlich das zu
spüren ist, so wenig ist bisher die Gegenseite bereit gewesen, es hinweg zu
räumen. In der Diskussion der Staatsmänner, somit in der hohen
Politik steht die Kriegsschuldfrage im wesentlichen noch da, wo sie 1919 stand.
Das Urteil gilt noch immer, und die Gegenseite hält zähe daran
fest.
Zur Unterzeichnung gezwungen, ist für Deutschland, so lange das Versailler
Kriegsschuldurteil besteht, die Haltung ihm gegenüber fest bestimmt. Alle
Gruppen des deutschen Volkes haben sich in eindrucksvoller Weise gegen das
Urteil des Artikels
231 ausgesprochen. Die deutsche Bewegung gegen die falsche
Behauptung wird bestehen, so lange der Artikel
231 in Geltung ist. So illusionsfrei
das deutsche Volk auch den gegenwärtig noch bestehenden
Machtverhältnissen ins Auge sehen muß, es wird das Streben, die
Fesseln zu lockern, niemals aufgeben; es wird sich mit dem Urteil des Artikels
231 nicht abfinden. Die deutsche Reichsregierung, die nicht [71] nur bei der Unterzeichnung protestiert und nicht
nur in zahlreichen Erklärungen sich auf diesen Protest berufen hat, benutzte
denn auch wichtige außenpolitische Entscheidungen, wie 1924 die Annahme
des Dawesplanes,
1925 die Verhandlungen in Locarno, 1926 den Eintritt in den
Völkerbund, um immer wiederholt der Auffassung Ausdruck zu verleihen,
daß diese politischen Schritte nicht als ein stillschweigendes Sichabfinden
mit dem Versailler Schuldspruch gedeutet werden dürften. Es ist freilich
trotz allen Entgegenkommens, das die deutsche Politik bewies, nicht gelungen, die
Gegenseite zu einer Aufgabe ihres Standpunktes zu bewegen. Die
Vorstöße der deutschen Reichsregierung sind ohne Erfolg geblieben,
und Deutschland hat kein Mittel, die Gegenseite zur Aufgabe ihres Standpunktes
zu zwingen, so lange die Gegenseite dies nicht will. Für die politische
Lösung der Kriegsschuldfrage ist sie keine Frage der Erkenntnis, sondern
eine solche des Willens.
Auf der anderen Seite darf natürlich auch ein reiner
Opportunitäts-Standpunkt in der Kriegsschuldfrage nicht ausschlaggebend
sein. Es ist wohl richtig, daß viele Schritte der Reichsregierung, daß
zum Beispiel auch die bekannte Tannenbergrede des Reichspräsidenten von
Hindenburg die Gegenseite zur Versteifung ihres Standpunktes in der
Kriegsschuldfrage veranlaßt hat. Die
sittlich-moralische Bedeutung der Kriegsschuldfrage muß aber für das
deutsche Volk über solchen Tagesaufregungen stehen. Trotz aller Bedenken,
die sich bei einer Beobachtung der Auswirkungen derartiger
Regierungserklärungen im Ausland auslösen mögen, ist doch
festzustellen, daß sie mit dazu beigetragen haben, das Urteil der weiten
Massen des Auslandes ins Schwanken zu bringen. Die Existenz der
Kriegsschuldfrage ist für die Entente unbequem. Es ist für sie
ärgerlich, daß das deutsche Volk das Recht, sie als cause jugée zu
behandeln, in Frage stellt. Das deutsche Volk darf jedoch um seiner Selbstachtung,
seiner sittlichen Existenz willen nicht auf sein Recht verzichten, den Protest gegen
die falsche Anschuldigung aufrecht zu erhalten. Das Ziel der Befreiung von einer
die Nation schwer schädigenden Verleumdung steht noch immer vor ihm;
ihm nachzustreben, darf ihm nicht verwehrt werden. Freilich werden Mittel und
Wege, die angewandt werden, immer sorgfältig geprüft werden
müssen.
(7) Ohne irgendwie von
Deutschland dazu veranlaßt zu sein, haben es
andererseits die Staatsmänner der Gegenseite nicht an Gelegenheiten fehlen
lassen, ihrerseits die alten Beschuldigungen zu wiederholen und in immer neuer
Form vorzubringen. Poincaré, dessen Sonntagsreden aus den ersten Jahren der
Nachkriegszeit fortwährend die Kriegsschuldfrage behandelten, hat auch bis
in die jüngste Zeit hinein von dieser Gewohnheit nicht gelassen. Es sei
[72] nur an seine Reden von Lunéville, Laeken,
Orchies, Bar-le-Duc im Jahre 1927, an seine Reden in Straßburg, Carcassone,
Chambery im Jahre 1928 erinnert. Das Ableben des Botschafters der Vereinigten
Staaten in Paris, Myron T. Herrick, benutzte er, um den Verstorbenen als treuen
Freund Frankreichs zu feiern, der 1914 gewußt habe, daß Frankreich
keinerlei Schuld an dem Konflikt und an der Katastrophe habe. Herrick habe sich
zum Verteidiger der französischen Sache gemacht, und wenn Amerika mit
der Überreichung der Medaille an die Stadt Verdun 1922 "diese kleine und
ruhmreiche Stadt ehren wollte, so, weil es wußte, daß die Schlacht und
der Sieg von Verdun die Schlacht und der Sieg des Rechtes und der Freiheit
waren". Auch die schon erwähnte Rede in Douaumont vom 20. Mai dieses
Jahres bewegt sich, wie wir gesehen haben, in denselben
Gedankengängen.
Auch Briand hat in der letzten Zeit nicht weniger als dreimal anläßlich
des Kellog-Paktes es nicht unterlassen können, Anspielungen auf die
Kriegsschuldfrage zu machen, indem er mit einem gewissen Mitleid von
den Bemühungen und den Ängsten des deutschen Volkes sprach, die
Verantwortung für den Weltkrieg von sich abzuwälzen, ohne im
geringsten in Frage zu stellen, daß die Verantwortlichkeit dieses Volkes
bestehe.
In dem Vorwort zu der neuen Auflage seines Buches 25 Jahre
1892-1916 lehnt es Lord Grey ab die Frage zu erörtern, ob der Artikel
231 der Wahrheit entspricht oder nicht. Er bedauert nur, daß man ihn in den
Friedensvertrag hineingenommen habe. Eine Aufhebung des Artikels würde
als ein gewisses Zugeständnis der Alliierten aufgefaßt werden, als
würde damit die Unschuld Deutschlands zugegeben und als ein
Zugeständnis eines gewissen Bewußtseins von Kriegsschuld seitens
der Alliierten. Wenn auch das Bedauern über die Aufnahme des Artikels
eine gewisse Unterhöhlung desselben bedeutet, so will doch Lord Grey auch
nicht die Konsequenzen ziehen, ihn wirklich zu beseitigen.
Dieselben politischen Motive sind es auch, die den langen Widerstand
erklären, der in den Ententeländern sich der Öffnung der
Archive widersetzte. Schließlich hat aber, wie schon erwähnt, doch
das Beispiel Deutschlands gewirkt, und die Veröffentlichung der deutschen
Dokumente hat so entschieden einen starken
moralisch-politischen Einfluß ausgeübt. Der Entschluß, die
englischen Akten zu veröffentlichen, wurde 1924 auf Grund eines
Briefwechsels zwischen Seaton-Watson
und Chamberlain gefaßt. In Frankreich war der Widerstand gegen die
Öffnung der Archive besonders stark. Seit 1923 erhob Ferdinand Bouisson,
der Präsident der Liga für Menschenrechte, die Forderung nach
Öffnung der Archive; mehrmals, nämlich 1923 von Poincaré und im
November 1924 von Herriot
wur- [73] den seine Anträge
von der Regierung abgelehnt. Im November 1925 und im September 1926 wurde
die Antwort erteilt, daß man noch mit der notwendigen Vorordnung der
Dokumente beschäftigt sei. Endlich in der Kammersitzung vom 10. Februar
1927 erteilte Poincaré auf eine Anfrage des Abgeordneten Fontanier die Antwort,
daß jetzt, nachdem die anderen Länder mit ihren
Veröffentlichungen vorangegangen seien, auch für Frankreich der
Zeitpunkt zur Veröffentlichung gekommen sei. Aber erst nach einem Jahre,
im Februar 1928, wurde endlich die Zusammensetzung des 44köpfigen
Ausschusses bekanntgegeben, der mit der Herausgabe betraut wurde. Er
unterscheidet sich grundsätzlich von dem kleinen Gremium von zwei bis
drei Gelehrten, denen in Deutschland und England die Arbeiten übertragen
wurden dadurch, daß zahlreiche Diplomaten und Politiker in diesem
Ausschuß vertreten sind.
(8) Diese Darstellung
würde nicht vollständig sein, wenn in ihr nicht
auch einiger Bewegungen gedacht würde, die doch Zeugnis davon ablegen,
daß auch in den Ländern der Gegenseite neben der wissenschaftlichen
Erörterung eine politische Diskussion über die Kriegsschuldfrage
einherläuft. Schon 1922 fand in der französischen Kammer eine
tagelange Debatte über die Kriegsschuldfrage statt. Angeregt durch
Interpellationen der Abgeordneten Villenaut, Lafont, Marcel Cachin und Vaillant
kam es zu dramatischen Szenen. Zwar erfolgte keine gründliche
Erörterung der Angelegenheit; auch war das gegen Poincaré gerichtete
Anklagematerial zu improvisiert. Immerhin bedurfte es aber doch des Eingreifens
von Poincaré und von Viviani, von denen besonders der letztere in
glänzender Beredsamkeit die Situation zugunsten Poincarés herumriß.
In der Zwischenzeit ist die Frage noch mehrfach im französischen Parlament
behandelt worden. Aber wie in Frankreich noch immer gegen unbequeme
Wahrheiten vorgegangen wird, zeigt der Fall Demartial, dem im letzten Jahr das
Recht entzogen wurde, den Orden der Ehrenlegion in den nächsten
fünf Jahren zu tragen. Anlaß dazu war ein Aufsatz, den Demartial in
einer amerikanischen Zeitschrift gegen den Artikel 231
veröffentlicht hatte.
"Der Aufruf an die Gewissen", den am 9. Juli 1925 unter Führung von
Victor Margueritte 100 Franzosen unterzeichneten, wendet sich gegen die
Erpressung der Unterschrift unter den Artikel 231.
Ein englischer gleichnamiger
Aufruf Ende des Jahres 1926 wendet sich, ohne zu dem Inhalt des Artikels
Stellung zu nehmen, gegen den Präzedensfall, daß der Sieger auf
solche Weise ein Urteil gesprochen hat. Er ersucht die Regierungen, entweder
diesen Artikel zu ändern oder einzeln entsprechende Absichten kund zu tun.
Bezugnehmend auf den vorher erwähnten Aufruf hat Victor Margueritte
Ende des letzten Jahres noch [74] einen mit 131 Unterschriften versehenen "Appell
an den gesunden Menschenverstand" veröffentlicht. Auf das bereits
erwähnte Urteil von Renouvin, des hervorragendsten französischen
Kenners der Materie sei hier noch einmal hingewiesen. So fehlt es an
Vorstößen von privater Seite auch in den fremden Ländern
sicher nicht. Doch so lange die offizielle Politik ihnen nicht Rechnung trägt,
kann von einer wirklichen Lösung nicht die Rede sein. In diesem
Zusammenhang sei noch auf die verschiedenen Debatten hingewiesen, die im
amerikanischen Senat und in der amerikanischen Kammer stattfanden. Der Senat
lehnte 1924 einen Antrag des Senators Owen, die Kammer einen solchen des
Abgeordneten Victor Berger, in denen die Einsetzung eines
Untersuchungsausschusses gefordert wurde, ab. Senator Owen hatte erst mit seiner
6. Resolution Erfolg, indem der Senat den Auftrag gab, eine bibliographische
Zusammenstellung über die gedruckten Unterlagen über den Ursprung
des Weltkrieges anzufertigen. Wie jedoch der ehemalige amerikanische
Generalkonsul Gaffney 1927 mitteilte, ist dieser Bericht "aus Gründen
diplomatischen guten Einvernehmens" nicht als Regierungsdrucksache
herausgekommen, vermutlich, weil er für Deutschland zu günstig
ausgefallen war. Eine außerordentlich starke Bewegung hat sich in Amerika
namentlich in den Kreisen der
Deutsch-Amerikaner und, unterstützt von den im National Weekly
Syndicate zusammengeschlossenen Zeitungen, für die Resolution entfacht,
die Senator Shipstead am 3. Mai 1928 eingebracht und am 7. Januar 1929
wiederholt hatte. Diese Resolution geht davon aus, daß der Artikel 231
auf dem Gutachten der von der Entente 1919 eingesetzten Kommission beruht. Da
Amerika in dieser Kommission durch Staatssekretär Lansing und Professor
Scott vertreten war, ein derartiges Urteil jedoch nur von einem unparteiischen
Gerichtshof hätte gefällt werden dürfen, wird der Senat ersucht
zu entscheiden, ob nicht für die amerikanische Regierung der Zeitpunkt
gekommen sei, den alliierten Mächten zu empfehlen, diesen Artikel
abzuändern oder die Absicht kundzutun, ihn nicht mehr zu beachten. Die
Entscheidung über diese Resolution ist noch nicht gefallen.
(9) So wichtig und
begrüßenswert diese Bewegungen in den einzelnen
Ländern für die Lösung der Schuldfrage sind, so sind ihre
politischen Auswirkungen doch noch nicht endgültig zu bewerten. In der
Fülle der Ereignisse und Vorgänge ist eine Erklärung jedoch
von ganz unübersehbarer Bedeutung geworden. Es gibt eine einzige
einheitliche Stellungnahme von Vertretern aller Länder, die hier daher
besonders hervorgehoben werden muß. Sie knüpft an den Versuch an,
seitens der Weltkirchenkonferenz zu einer Lösung der Kriegsschuldfrage
beizutragen. Auf der Tagung dieser Konferenz in Stockholm im Jahre 1925 hatte
die deutsche Delegation darauf verzichtet [75] die Kriegsschuldfrage zu erörtern, um eine
Störung der Harmonie zu vermeiden. Nach Schluß der Konferenz
richtete jedoch der Präsident des Deutschen Evangelischen
Kirchenausschusses, D. Kapler, seinen seitdem berühmt gewordenen Brief
an den Fortsetzungsausschuß der Weltkonferenz, in dem er die
Klärung der Schuldfrage als eine moralische Aufgabe ersten Ranges
bezeichnete und den Antrag stellte, sie auf der Tagung des
Fortsetzungsausschusses zu behandeln. Dieser Brief hat eine sehr lebhafte
Diskussion ausgelöst. Es gelang aber schließlich trotz vieler
Widerstände den deutschen Antrag auf die Tagesordnung der Sitzung des
Fortsetzungsausschusses in Bern zu bringen, und hier kam es dann in der Tat auch
im August 1926 zu einer Entschließung, die als die erste wirkliche
internationale Stellungnahme zur Kriegsschuldfrage anzusehen ist; denn ihr
stimmten die Delegationen der ganzen Welt zu. Die Erklärung hebt die
Frage dem unpolitischen Charakter der Kirche gemäß aus der
politischen Sphäre heraus und gibt ihr einen rein religiösen und
moralischen Charakter. Von dieser Plattform aus wird festgestellt,
"daß unmöglich durch Krieg festgesetzt
werden kann, was Recht ist; daß politische Urkunden durchaus nicht mit
Notwendigkeit geeignet sind, ein endgültiges moralisches Urteil zu
fällen, daß ein jedes erzwungenes Bekenntnis, wo immer es auch
abgelegt sein mag, moralisch wertlos und religiös kraftlos ist."
Diese Entschließung, die weiten Widerhall in der Kirche, namentlich auch in
Amerika, gefunden hat, hält sich innerhalb der Grenzen, die der
unpolitische Charakter der Kirche zieht. Sie stellt dagegen die große
moralische Bedeutung, die das Problem für die Versöhnung der
Völker hat, heraus.
III.
(1) Die Behauptung, daß Deutschland
vorsätzlich und bewußt den Weltkrieg als
Angriffs-, Eroberungs- und Unterjochungskrieg vorbereitet und entfesselt hat,
muß durch die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung als widerlegt
angesehen werden. Es wird daher auch in Deutschland von ihr schlechthin nur
noch als von der "Kriegsschuldlüge" gesprochen. Gegen sie kämpft
das deutsche Volk aus zwei Gründen. Der eine geht von dem
völkerpsychologischen Inhalt der Kriegsschuldfrage aus, von der
Ächtung des deutschen Namens, von den Auswirkungen der
Kriegspropaganda, von der dadurch gebildeten internationalen politischen
"Atmosphäre". Der zweite bezieht sich auf die völkerrechtliche
Verankerung des Inhaltes dieser Kriegspropaganda im Versailler Vertrag. Es ist
nicht zu verkennen, daß im Hinblick auf die Einstellung der Weltmeinung
gegenüber der Zeit um 1918 und den folgenden Jahren gewaltige
Fortschritte gemacht worden sind. Die wissenschaftliche Arbeit [76] hat erhebliche Einbruchstellen geschaffen. In
dieser Begrenzung gilt sicher die so oft zu hörende Redensart, daß im
Auslande kein verständiger Mensch mehr an die deutsche Kriegsschuld
glaube. Die durch die Kriegspropaganda ausgelösten Vorstellungen
beginnen sich allmählich zu zersetzen. Immer weitere Kreise der
ausländischen Wissenschaft, der Publizistik, der Politik nähern sich in
ihren Auffassungen den Ergebnissen der deutschen Forschungsarbeit. In immer
stärkerem Maße beginnen auch die breiteren Massen der
ausländischen Bevölkerung das zu vergessen, was ihnen im Kriege
durch eine hemmungslose
Propaganda eingehämmert wurde. Den einzigen
Zusammenhalt des auseinanderbrechenden Lügengebäudes
bildet heute eigentlich nur noch die darum gelegte politische Klammer, das aus
machtpolitischen Gesichtspunkten geborene Bestreben, die durch die Behauptung
von der deutschen Kriegsschuld ausgelösten Empfindungen zu erhalten und
weiter zu verkrampfen.
An diesem Punkte schneiden sich nun die beiden Seiten der deutschen
Kriegsschuldbewegung; denn diese politische Klammer wird in der Hauptsache
durch das Urteil des Versailler
Vertrages gebildet; sie stützt zum mindesten
das eben gekennzeichnete politische Bestreben. Wir haben gesehen, wie zu
bestimmten ihr erwünschten Augenblicken von der Gegenseite, namentlich
von seiten der Franzosen das Versailler Diktat immer wieder als
Begründung für politische Ziele und Zwecke herangezogen wird. Die
wichtigste Voraussetzung für die endgültige Zersetzung der
Weltmeinung ist daher die Tilgung der Lüge von der deutschen
Kriegsschuld in der Versailler Urkunde.
(2) Die Kriegsschuldfrage
muß aber in einen viel weiteren Raum gestellt
werden. Sie ist über den Rahmen ihrer nationalen Bedeutung für
Deutschland hinaus ein allgemeines, ein internationales, ein europäisches
Problem. Wenn heute in Genf völkerrechtliche Vereinbarungen über
die Ächtung des Angriffskrieges gesucht werden, wenn der
Kellogg-Pakt diese Gedanken in eine straffere Form brachte, so ist die
ideenmäßige Verbindung zwischen diesen Versuchen und der
möglichen idealen Auffassung klar erkennbar, die in einem solchen
Schuldurteil enthalten sein kann. Deutschland hat hervorragend an der Gestaltung
dieser neuen Gedanken mitgewirkt. Es hat als erster Staat vorbehaltlos dem
Kellogg-Pakt zugestimmt. Deutschland hat bewiesen, daß es sich zu solchen
hohen sittlichen Gedanken zu bekennen gewillt ist. Wie aber soll es ein Volk
ertragen können, daß es, wenn einmal die in Versailles
mißbrauchte Anschauung allgemein völkerrechtliche Gültigkeit
erlangt hat, urkundlich zum Verbrecher an der Menschheit gestempelt wurde? Weit
über den Zeitraum der Wirksamkeit des Versailler Vertrages hinaus wird
für [77] alle späteren Zeiten fortentwickelten
Völkerrechtes diese unter ganz anderen als dann maßgebenden
Voraussetzungen zustande gekommene, dabei den historischen Tatsachen nicht
entsprechende Behauptung auf dem deutschen Volke lasten. Die neue Anschauung
wird so von vornherein so stark belastet, daß jede wünschenswerte
Entwicklung gehemmt sein muß. Die Herbeiführung eines in
einwandfreier historischer und juristischer Form zustande gekommenen Urteils ist
somit unerläßliche Voraussetzung für diese
völkerrechtliche Entwicklung.
(3) Eine aktuelle
Bedeutung besitzt die Kriegsschuldfrage für die
europäische Versöhnungspolitik. Es ist ein unmögliches
Verlangen, daß Deutschland sich mit dem Versailler Urteil als cause jugée
abfinden soll. Die Bewegung gegen sie, die die notwendige politische und sittliche
Folge ihrer Fixierung im Versailler Diktat ist, bildet allerdings einen Herd der
Unruhe. Der französische Senator Henri de Jouvenel hat in einem Artikel
"Zur Kriegsschuldfrage", der am 14. April 1929 in der Neuen Zürcher
Zeitung erschien, sich darüber folgendermaßen
geäußert:
"So sehr ich persönlich überzeugt bin,
daß die Regierungen und Generalstäbe Deutschlands und
Österreichs ihre Verantwortung am Kriegsausbruch im Juli 1914 tragen
(was, wie mir scheint, die deutschen und österreichischen Dokumente selbst
zur Genüge beweisen), so sehr finde ich es bedauerlich, daß man
Deutschland die unnötige Demütigung zugefügt hat, die es im
Jahre 1919 nicht imstande war zu verhindern.
Die Demütigung war der Verbündeten
unwürdig. Dieses zwangsweise auferlegte Eingeständnis der Schuld
am Kriege hat das Recht der Verbündeten auf Reparationen in keiner Weise
verstärkt. Man hat zwei ganz wesensverschiedene Dinge miteinander
vermengt. Man kann sehr schön von Kriegen sprechen und vom Sieg der
Gerechtigkeit; aber der Sieg an sich ist noch keineswegs eine Gewähr
für Gerechtigkeit, sondern ein Beweis der Übermacht. Der Sieg
verschafft materielle Vorteile. Es ist aber nicht gerecht, andere von ihm zu fordern,
denn das ist ein Eingriff der äußeren Gewalt in die Gedankenfreiheit
und wirft gerade die Grundsätze um, die man in Frankreich, England,
Amerika und ihren verbündeten Ländern so stolz als Kampfziele
verkündet hatte.
Ein freiwilliges Bekenntnis hätte
weltgeschichtlichen Wert gehabt, aber man hat es unmöglich gemacht,
indem man den Makel auf das ganze Volk übertragen hat. Da wurden denn
die geistigen Führer, die Geschichtsforscher und alle Gelehrten aufgeboten,
um der Nation ihre eigene Unschuld zu beweisen. Und diese opferten ihren
kritischen Sinn ihrer Vaterlandsliebe. Es gehört ein seltsamer Mut dazu,
ihnen daraus einen Vorwurf zu machen.
Aber umgekehrt wirken nun ihre Beweisgründe und
Gegenanklagen verhetzend und wecken auf unserer Seite neuen Zorn. So geht der
Zwist hin und her. Statt die Gemüter zu beruhigen, wird der geistige und
moralische Kampf zwischen den beiden Rassen immer von neuem aufgestachelt.
Das ist fürwahr ein ungeeignete Vorbereitung für eine friedliche
Auseinandersetzung und eine Verhütung späterer Kriege.
Hier aber liegt das ganze Problem. Es ist vor allem
nötig, geduldig und [78] unparteiisch alle Ursachen des Weltkrieges zu
studieren, um darin das Mittel zu finden, einen neuen zu verhindern.
Sämtliche Völker haben die Pflicht, an diesem internationalen Werk
des Friedens mit allen Kräften mitzuarbeiten. Das ist die erste Aufgabe des
geistigen Austausches. Nur unter dieser Bedingung kann die Geschichte eine
für die Politik nutzlose Wissenschaft lehren."
In ähnlicher Weise hat sich Pierre Renouvin über die politischen
Auswirkungen des Versailler Urteils und der dadurch zwangsläufig
hervorgerufenen Bewegung geäußert. Auch der Direktor des
Internationalen Arbeitsamtes in Genf Albert Thomas hat gelegentlich eines
Vortrages in Berlin auf die schwere Beeinträchtigung der
Verständigungspolitik durch die Kriegsschuldfrage hingewiesen. Zwar sei
die Überzeugung des deutschen Volkes in dieser Frage, der des
französischen diametral entgegengesetzt. Dennoch müsse der Versuch
gemacht werden, die Fragen entrückt von aller Politik und in voller
Objektivität zu prüfen.
(4) Von jedem Betracht aus
wird daher die Lösung der Kriegsschuldfrage zu
einer politischen Angelegenheit, zu einer Aufgabe der Außenpolitik.
Lebenswichtige Interessen des deutschen Volkes erfordern diese Lösung;
die Fortbildung des Völkerrechtes erheischt sie gebieterisch; die
endgültige Liquidierung des Krieges, die Politik der Versöhnung und
der Verständigung verlangt sie.
Aber auch vom Standpunkt der historischen Erforschung der Kriegsursachen aus
muß eine politische Lösung der Kriegsschuldfrage als notwendig
bezeichnet werden. Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden, daß
das Versailler Urteil die Untersuchung dieser Frage in eine bestimmte Richtung
politischer und nicht wissenschaftlicher Art gedrängt hat. Die Erforschung
der Kriegsursachen kann erst dann wissenschaftlichen Forderungen voll
entsprechen, wenn die Untersuchung von der falschen Fragestellung, von der
falschen Blickrichtung der Versailler Anklage befreit ist. Verständige
Menschen in der ganzen Welt wollen eine objektive Untersuchung der
Kriegsursachen, eine Untersuchung, die frei von jeder politischen Bindung ist. Sie
wollen das Hin und Her der Anklagen und Gegenanklagen, das ja nur verhetzend
und beunruhigend wirken kann, beseitigen. Das Versailler Urteil aber verbietet ein
geduldiges und unparteiisches Studium der Kriegsursachen. Seine Beseitigung ist
daher die Voraussetzung für jede wirkliche historische Forschung.
Viel und lebhaft diskutiert worden ist daher die Forderung nach der Einsetzung
eines Untersuchungsausschusses. Deutschland hat diese Forderung zuerst erhoben.
Es hat durch den Mund seiner führenden Männer, zuletzt durch die
Erklärung des Reichspräsidenten
von Hindenburg seine
Bereitwilligkeit kund getan, den Nachweis für seinen Standpunkt vor
unparteiischen Richtern zu führen. Allmählich haben sich einzelne
Vertreter anderer Länder diesem deutschen
Ver- [79] langen angeschlossen, so
insbesondere die Amerikaner Harry Elmer Barnes und Sidney Fay und der
Engländer Wickham Stead. Es sind von neutraler Seite sogar positive
Versuche in dieser Richtung unternommen worden, so von dem
Niederländischen Komitee zur Untersuchung der Ursachen des Weltkrieges
unter der Leitung Japikses, so die Umfrage, die der norwegische
Völkerrechtslehrer Aall veranstaltet hat. Im amerikanischen Senat ist die
Frage in den Anträgen der Senatoren Owen und Shipstead, in der
amerikanischen Kammer durch den entsprechenden Antrag des Abgeordneten
Victor Berger angeschnitten worden. Zu positiven Ergebnissen haben aber alle
diese Bemühungen nicht geführt. Albert Thomas hat dann angeregt,
zunächst einen
deutsch-französischen Ausschuß für die Erörterung der
Kriegsschuldfrage einzusetzen. Der Gedanke ist von französischer Seite
nicht weiter verfolgt worden.
(5) Gegen die Einsetzung
eines solchen internationalen Untersuchungsausschusses
sprechen eine Reihe von Gesichtspunkten. Ende 1927 richtete die
französische Zeitschrift L'Observateur Européen eine Rundfrage an die
französische Presse: "Soll man einem internationalen Gerichtshof die Akten
der Verantwortlichkeit für den Krieg unterbreiten?" Neun von den
eingegangenen zehn Antworten verneinten die Notwendigkeit dieses Schrittes.
Jede dieser Antworten ging von der Voraussetzung aus, daß es sich dabei nur
um die Feststellung der deutschen Verantwortlichkeit handeln könnte. Sie
hielten in der Zukunft ein allmähliches Vergessen, nicht aber eine
Zurücknahme des Kriegsschuldurteils für möglich. Das ist aber
gerade die Auffassung, gegen die mit aller Energie angekämpft werden
muß. Die historische Untersuchung der Kriegsursachen darf nicht von einem
voreingenommenen Standpunkt ausgehen. Sie hat sich nicht in den Dienst eines
politischen Zweckes zu stellen. Es muß eben durch eine zielbewußte
entschiedene Bewegung ein politischer Wille ausgelöst werden, der den
politischen Bedürfnissen der Kriegsliquidation, den rechtlichen
Bedürfnissen der Völkerrechtsentwicklung, den wissenschaftlichen
Bedürfnissen der Geschichtsforschung Rechnung trägt. Wenn, wie
Jouvenel dies in dem schon erwähnten Aufsatz vorschlägt, bis zu dem
Tage, an dem das Komitee dem Völkerbund seinen einstimmigen Bericht
unterbreiten würde, alle Parteien sich verpflichten müßten, die
Debatten über die Kriegsschuld ruhen zu lassen, so ist das vom deutschen
Standpunkt aus natürlich nur möglich, wenn zuvor auch die
urkundliche Feststellung seiner Verantwortlichkeit beseitigt würde. Das
sieht der Historiker Renouvin ganz deutlich, indem er seinerseits das als die
Voraussetzung für eine gründliche wissenschaftliche Forschung
bezeichnet. Er hält das allerdings nach Lage der politischen
Verhältnisse nicht für möglich. Er will daher lediglich die
[80] ausschließliche wissenschaftliche
Erörterung, also gleichfalls die Einstellung der politischen Arbeit gegen das
Versailler Urteil. Vom Standpunkt französischer Auffassung aus mag man
solche Gesichtspunkte als begründet anerkennen; es spricht aus solchen
Zumutungen ja letztlich nur die Angst vor den Wirkungen der deutschen
Forschungs- und Aufklärungsarbeit. Den Erfordernissen, die für
Deutschland maßgebend sind, wird damit aber keine Rechnung getragen.
Wir können uns weder damit abfinden, daß die Verschiebung eines
Urteils auf unbestimmte Zeit geplant wird, noch damit, daß die
Angelegenheit lediglich zu einer solchen der Gelehrtenstuben wird. Für
Deutschland ist aus allen in diesem Beitrag hervorgehobenen Gründen die
restlose Befreiung von dem Urteil in Versailles dringend notwendig. So sehr wir
bereit sind, uns für eine objektive und lediglich nach historischen
Gesichtspunkten betriebene Forschung zur Verfügung zu stellen, so sehr
müssen wir jedoch unbedingt die Voraussetzungen hierfür gegeben
sehen. Wir erblicken sie nur in einer Verbindung der Gedanken, die der Politiker
(Jouvenel) und der Historiker (Renouvin) geäußert haben.
Deutschland muß daher eine internationale Vereinbarung fordern, die den
Artikel 231
ablöst durch die Einsetzung eines internationalen unparteiischen
Ausschusses zur Erforschung der Kriegsursachen.
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