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Bd. 1: A. Der Rechtsanspruch
auf Revision
II. Die moralische Ächtung des deutschen Volkes
als Mittel zur Unterhöhlung der
Rechtsgrundlage (Teil 2)
b) Die Kriegsschuldlüge (Teil 1)
1) Deutsche und europäische Politik von 1871 bis
1914
Dr. Karl Schwendemann
[Anm. d. Scriptorium:
eine in Einzelheiten gehende Untersuchung
zum Thema Vorgeschichte des Krieges
finden Sie hier.] |
Als die deutsche Regierung nach dem Zusammenbruch von 1918 unter dem Druck
des in Versailles aufgezwungenen Schuldbekenntnisses und der alle
bedrängenden Frage, wie es zu soviel Not und Erniedrigung habe kommen
können, die deutschen Geheimarchive öffnete, um vor den Augen des
eigenen Volkes und der ganzen Welt die inneren Triebkräfte der deutschen
Vorkriegspolitik klarzulegen, war sie entschlossen, ihr Material für den
ganzen seit Gründung des Reiches verflossenen Zeitraum zu
veröffentlichen. Damit wurde die Erkenntnis zum Ausdruck gebracht,
daß die Ursachen des Krieges sich teilweise von der durch den Frankfurter
Frieden in Europa geschaffenen Lage herleiten. In der Tat wird jede Erforschung
der Ursachen des Weltkrieges mit dem
Deutsch-französischen Kriege von 1870/71 beginnen müssen. Denn er
hatte jene Veränderung im politischen Status Europas zur Folge, deren
Wirkungen in vielerlei Hinsicht direkt oder indirekt die Situation hervorriefen, aus
der der Weltkrieg entstand.
Bismarck
schenkte, indem er die politische Einheit der deutschen Nation nach dem
kleindeutschen, Österreich ausschließenden Programm durchsetzte,
dem deutschen Volke eine späte und nur teilweise Verwirklichung seines
nationalen Gedankens. Sie war nur ein Glied in jener welthistorischen Reihe von
Erfüllungen des Nationalitätenprinzips in der modernen Geschichte,
die mit dem Ausgang des Mittelalters im Westen begann, infolge des Weltkrieges
im Osten und am Balkan sich fortsetzte und weder innerhalb noch außerhalb
Europas zum Abschluß gekommen ist. Keines der Glieder dieser Kette von
Verwirklichungen des nationalen Gedankens war nur eine Angelegenheit des
betreffenden Volkes, sondern immer zugleich eine Europas und der Welt. Auch die
Gründung des Deutschen Reiches, so sehr sie dem innersten Lebenswillen
der deutschen Nation entsprang, war keineswegs nur eine deutsche Angelegenheit.
Indem sie der Mitte Europas eine neue Form gab, änderte sie die Struktur
Europas grundlegend: Das geeinte Deutschland trat als neue, an Umfang des
Territoriums und nach Zahl und Bedeutung seiner Bewohner den alten
Mächten Europas ebenbürtige, wenn nicht überlegene
Groß- [30] macht in die Geschichte ein. Die seit
Jahrhunderten zersplitterte, politisch amorphe Mitte Europas war plötzlich
ein fester Kern geworden, der anstatt überwiegend das Objekt der Politik der
umliegenden Welt wie bisher zu sein, als Staatssubjekt sein Recht behauptete. Das
europäische Konzert ward um ein kräftig tönendes Instrument
reicher; in die europäische Staatengesellschaft trat das Deutsche Reich
kraftvoll als neuer Partner ein.
Wie würde diese neue Großmacht, deren militärische Kraft sich
soeben in einem gewaltigen Waffengang mit der bisher stärksten
Militärmacht des Kontinents so deutlich offenbart hatte, sich in den Rahmen
Europas einfügen, und wie würde die Umwelt auf diese neue
Erscheinung reagieren und sich mit ihr auseinandersetzen? Das war, im
gröbsten Umriß gesehen, das Problem, das sich nun stellte.
Die Antwort auf diese Frage, die der Gründer und Lenker des Reiches
während der folgenden zwei Jahrzehnte, Bismarck, gab, hat für
über ein Menschenalter das Geschick Europas ausschlaggebend bestimmt.
Er hat den Namen des "Eisernen Kanzlers" erhalten, und zu seinem Bilde
gehören die schweren Kürassierstiefel und der blinkende Helm.
Feindselige Propaganda hat dies Bild Bismarcks vergröbert und
böswillig ausgedeutet. Erst die Veröffentlichung der diplomatischen
Geheimakten der
Bismarck-Zeit im ersten Teil des Aktenwerkes Die Große Politik der
Europäischen Kabinette
1870-1914 hat endgültig Bismarcks Bild als Außenpolitiker
festgelegt und gezeigt, wie er sich des neuen Deutschland Verhältnis zum
alten Europa dachte, und wie er seinen Gedanken Wirklichkeit gab. Überall,
auch außerhalb Deutschlands ist es heute anerkannt, daß Bismarck
nach der Gründung des Reiches nur noch ein Ziel hatte, die Erhaltung des
Friedens, die Sicherung und innere Fortentwicklung des von ihm
begründeten Reiches. Nie hat sein Herz die Versuchung verspürt, dem
Waffenruhm von 1870/71 neuen hinzuzufügen. Nie hat er daran gedacht,
irgendeinem von Deutschlands Nachbarn Gebiet zu nehmen, nie danach gestrebt,
einen von ihnen unter Deutschlands Botmäßigkeit zu bringen.
Für ihn war Deutschland saturiert, und nur Erhaltung und Sicherung des
Besitzes war sein Ziel.
Wie er dies Ziel verfolgte, ist der Inhalt seiner und damit Deutschlands Politik von
1871-1890. Bismarck ging dabei von der tiefen Überzeugung aus, daß
eine der Großmächte Europas, das 1870 geschlagene Frankreich, sich
mit der neuen Lage nie zufrieden geben werde, nicht nur, weil es den Verlust
Elsaß-Lothringens und die Niederlage nicht verschmerzen könne,
sondern weil es mit der Strukturwandlung in der europäischen Politik, mit
dem Verlust seiner jahrhundertelangen Hegemoniestellung sich nicht werde
abfinden wollen. So rechnete Bismarck mit Frankreich als Feind für alle
Fälle, als natürlichen Bundesgenossen jedes möglichen
Feindes. Daß
Frank- [31] reich aus innerstem Trieb, aus der ganzen
Tradition seiner Geschichte die Existenz seines Werkes, sobald sich dazu eine
Gelegenheit böte, in Frage zu stellen willens sei, war Bismarcks feste
Überzeugung. Sie trieb ihn dazu, Vorsorge zu treffen, daß sich eine
solche Gelegenheit für Frankreich nicht bieten könne, ihm vielmehr
jede Möglichkeit genommen werde, seine Absichten in die Tat umzusetzen.
Daraus ergaben sich für Bismarck zwei Ziele; das eine war die Sicherung
Deutschlands durch möglichst viele Bündnisse, das andere die
Isolierung Frankreichs. Beide hat Bismarck mit nie erlahmender Energie, mit
unerschütterlicher Konsequenz und mit der ganzen Genialität seines
politischen und diplomatischen Könnens verfolgt und durchaus erreicht.
Er griff dabei ebensosehr auf frühere Formen politischer Konstellationen
Europas zurück, wie er neue aus den Umständen heraus zu schaffen
bestrebt war. Die erste Form der Gruppierung der Mächte Europas, die er
zustande brachte, das sogenannte Dreikaiserbündnis von 1873, war eine
Wiederbelebung der heiligen Allianz, nur daß an Stelle Preußens nun
Deutschland stand, aber der Gegner war jetzt wie früher Frankreich, gegen
das der neue Zustand Europas gesichert werden sollte. Bald allerdings zeigte sich,
daß die Gegensätze zwischen den beiden anderen Partnern, zwischen
Rußland und Österreich, am Balkan stärker geworden waren
und daß andererseits die alte Weltmacht Rußland sich nicht daran
gewöhnen konnte, dem jungen Deutschen Reiche gleich zu gleich
gegenüberzutreten. So sah sich Bismarck vor die Frage der Option für
den einen Bundesgenossen gegen den anderen gestellt. Er entschied sich für
Österreich-Ungarn, mit dem er 1879 ein auf Dauer berechnetes
Bündnis einging, aus dem dann 1882 durch den Anschluß Italiens der
Dreibund und damit jene Bündnisform hervorging, die die Grundlage
für Deutschlands Verhältnis zu Europa bis zum Weltkrieg wurde. Das
Bündnis mit Österreich schloß Bismarck im Bewußtsein,
von Rußland bedroht zu sein, weil sich in Rußland, das sich auf dem
Berliner Kongreß von 1878 von Deutschland im Stich gelassen fühlte,
eine Welle der Feindseligkeit gegen Deutschland erhob. Bismarck war jedoch nicht
gewillt, Rußland ganz fahren zu lassen. Er war vielmehr bestrebt, mit dem
Weltreich im Osten, zu dem Preußen ja seit einem Jahrhundert in engen
Beziehungen gestanden hatte, baldmöglichst wieder eine
vertragsmäßige Bindung herzustellen. Sie gelang denn auch mit der
Erneuerung des Dreikaiserbündnisses im Jahre 1881, wurde freilich von
Rußland wegen des Gegensatzes mit Österreich auf dem Balkan 1887
nicht mehr erneuert. Aber auch dann ließ Bismarck Rußland nicht frei,
sondern stellte mit ihm durch den sogenannten Rückversicherungsvertrag
schon im gleichen Jahre eine neue Bindung her. Da 1883 auch noch
Rumänien dem Dreibund beigetreten war, konnte Bismarck [32] seinen Nachfolgern ein politisches System
hinterlassen, das das Höchstmaß des Möglichen an Sicherung
darstellte. Der Dreibund verband Deutschland mit Österreich, Italien und
Rumänien. Mit Rußland hatte es den Rückversicherungsvertrag,
und England war durch das sogenannte Mittelmeerabkommen von 1887 mit Italien
und Österreich liiert. Demgegenüber stand ein Frankreich ohne
Bündnisse, das nicht daran denken konnte, eine Änderung der
politischen Lage Europas herbeizuführen und die Position des Deutschen
Reiches irgendwie in Frage zu stellen.
Der Ausgang des Weltkrieges, seine Entstehung aus dem
österreichisch-russischen Gegensatz auf dem Balkan, die Auflösung
der Donaumonarchie und auf der anderen Seite die entscheidende Rolle Englands
als Deutschlands Gegner im Weltkriege haben dazu geführt, daß die
Grundgedanken von Bismarcks Außenpolitik stark diskutiert und ihre
Richtigkeit bezweifelt wurden. Sie wurden dabei recht verschieden ausgelegt,
Interpretationen, die sich aus den Zwangsläufigkeiten von Deutschlands
geographischer Lage in Europa mitten zwischen den beiden alten, allein echten und
traditionellen Weltmächten, Rußland und England, ergeben. Da wir
mit beiden im Weltkrieg zusammenstießen, da beide durch säkulare
Gegensätze und Interessenkonflikte getrennt waren, bis sie sich im Jahre
1907 gegen uns vereinigten, da unsere Politik sich abwechselnd der einen oder der
anderen dieser beiden Mächte zuwandte, ist es nur natürlich, sich zu
überlegen, was geworden wäre, wenn wir uns der einen oder der
anderen fest angeschlossen hätten. Die Frage der westlichen oder der
östlichen Orientierung ist es, die hier aufgeworfen wird, und von ihr aus
prüft und interpretiert man die Grundgedanken von Bismarcks Politik. Die
einen machen ihm zum Vorwurf, daß er 1879 durch das enge Bündnis
mit Österreich der deutschen Politik jene Orientierung gegeben habe, die
allmählich zur Trennung von Rußland und zur Feindschaft mit ihm
habe führen müssen. Die Verfechter dieser These sehen hier den
Grundfehler von Bismarcks Politik und meinen, es wäre richtiger gewesen,
wenn er sich für Rußland entschieden und Österreich geopfert
hätte. Die Anhänger der westlichen Orientierung, von den öfter
wiederholten Versuchen Bismarcks mit England zu einer
vertragsmäßigen Bindung zu kommen ausgehend, glauben, Bismarck
habe letzten Endes in einem
deutsch-englischen Bündnis die endgültige und sicherste
Lösung des europäischen Friedensproblems gesehen und gesucht.
Beide Interpretierungen von Bismarcks Politik sind wohl gleich unrichtig.
Daß das Ziel Bismarcks die Sicherung des Friedens im Sinne der Erhaltung
des Status quo gewesen ist, daß er vor allem kriegerische Verwicklungen
vermeiden wollte, an denen Deutschland beteiligt war, oder in die es hätte
hineingezogen werden können, daß er jeden Krieg, auch einen
sieg- [33] reichen, als eine große Kalamität
betrachtete, weil das saturierte Deutschland dabei kein Kriegsziel gehabt
hätte, das ist in Bismarcks Werk vielfach schriftlich belegt. Von hier aus
muß man auch sein Bündnissystem verstehen, und von hier aus zeigt
sich sofort, daß Bismarck weder Anhänger einer westlichen noch einer
östlichen Orientierung sein konnte, sondern daß er darauf aus sein
mußte, möglichst viele Mächte durch vertragliche Bindungen an
Deutschland zu fesseln. Gelang das, dann saß Bismarck im Mittelpunkt eines
ganzen Systems von vertraglich festgelegten Kraftlinien, mit Hilfe deren er
entstehende Gegensätze und Spannungen jederzeit durch Anziehen oder
Nachlassen der Zügel ausbalancieren konnte. Darauf kam es ihm gerade an.
Der überragenden Kraft und Autorität seiner Persönlichkeit
bewußt, verlangte und schuf er sich die Stellung dessen, der an dem Punkte
stand, wo die Hebel der europäischen Politik zusammenliefen. Von hier aus
gab er je nach Bedarf einen Hebeldruck nach der einen oder andern Seite,
bis die Maschine wieder ruhig lief und die Räder nicht mehr kreischten. Nur
wenn solche Stellung nicht mehr möglich gewesen wäre, nur wenn
Bismarck zur Überzeugung gekommen wäre, daß der Ausbruch
eines europäischen Krieges nicht mehr zu verhindern sei, daß die
Kräfte, deren friedliche Koordination für ihn Ziel und Aufgabe war,
zusammenprallen würden, nur in diesem Falle hätte er sich westlich
oder östlich orientiert und auch nur dann, wenn es ihm nicht mehr gelungen
wäre, in der Hinterhand zu bleiben, d. h. Deutschland selbst aus dem
Konflikt herauszuhalten. Ob er sich dann westlich oder östlich eingestellt
hätte, würde er ganz unideologisch nur auf Grund der gerade
vorhandenen Interessenlage Deutschlands entschieden haben.
So begriffen, zeigt sich die Genialität der Bismarckschen Politik.
Diejenigen, die ihre Fehler aufzeigen wollen, begehen selbst den Irrtum, die Fehler,
die Bismarcks Nachfolger begangen haben, diesem selbst aufzurechnen. Ist die
angedeutete Auffassung vom Wesen der Politik Bismarcks richtig, so erhellt
daraus allerdings, daß diese Politik vielleicht nur von dem Meister selbst
geführt werden konnte, der sie erdacht hatte. Es ist nicht so sehr
verwunderlich, daß sie nach Bismarcks Abgang keine Fortsetzung fand.
Glück und Tragik der großen Persönlichkeit in ihrer Bedeutung
für das Volk, dem sie angehört, kommen hier zutage. Daß das
deutsche Volk nach Jahrhunderten der Uneinigkeit die geniale
Persönlichkeit erzeugte, die ihm die Einheit gab, und daß dieser
Führer ihm zwanzig Jahre lang erhalten blieb, um ihm inmitten von
Gefahren und lauernder Feindschaft den Weg durch das neue politische Dasein zu
weisen, war sein Glück; seine Tragik war, daß der Meister ein
politisches System der Sicherungen und der Ausbalancierung der Kräfte
schuf, das die Nachfolger weder verstanden, noch zu handhaben wußten. Es
war ein ungeheurer Verlust an An- [34] sehen und Fähigkeiten, dazu der einzigen
außenpolitischen Tradition des jungen deutschen Reiches, die die
Persönlichkeit des ersten Kanzlers darstellte, als Bismarck plötzlich
und ohne Not von der politischen Leitung des Reichs verschwand und zur
Nachfolge Männer wie Caprivi und Freiherr von Marschall berufen wurden,
die in außenpolitischen Dingen keine Erfahrung hatten.
Der sogenannte neue Kurs, der von Bismarcks Abgang datiert, bemühte sich,
die friedliche Grundtendenz seiner Politik festzuhalten. Freilich begann er gleich
am Anfang einen entscheidenden Fehler zu machen. Er lehnte die von
Rußland angebotene Erneuerung des Rückversicherungsvertrages ab
und ließ damit den Draht nach Rußland abbrechen, nicht etwa, weil
eine antirussische (westliche) Orientierung der deutschen Politik geplant gewesen
wäre, sondern weil man sich nicht für fähig hielt, das
komplizierte System Bismarcks fortzuführen. Nunmehr trat bald das ein,
was Bismarck zuerst durch das Dreikaiserbündnis, dann mit dem
Rückversicherungsvertrag verhindert hatte: Rußland und Frankreich
fanden sich; damit hörte die Isolierung Frankreichs auf und dem Dreibund
wurde eine ziemlich gleichwertige politische Kombination entgegengesetzt. Das
geschah durch den Abschluß des Bündnisses zwischen Frankreich und
Rußland, das im August 1891 und 1892 formuliert und schließlich im
Dezember bzw. Januar 1893/94 perfekt wurde. Die politische Lage Europas erhielt
so ein ganz neues Gesicht; das Verhältnis der Mächte zueinander und
die Lage Deutschlands erfuhren eine grundlegende Änderung.
Während am Ende der
Bismarck-Zeit Deutschland, an der Spitze des noch durch Rumänien
verstärkten Dreibundes, mit Rußland in einem vertraglichen
Freundschaftsverhältnis stand und die andere Weltmacht England durch das
Mittelmeerabkommen von 1887 mit Österreich und Italien liiert war,
Frankreich dagegen allein abseits stand, gab es nun zwei Bündnissysteme
von ähnlichem Schwergewicht, den Zweibund und den Dreibund,
d. h. Europa zerfiel in zwei Mächtekombinationen, deren
Gegensätze die Tendenz der Verschärfung sichtbar in sich trugen. Auf
der einen Seite trennte die
elsaß-lothringische Frage und der französische Revanchegeist
Deutschland und Frankreich, auf der anderen Seite standen sich Österreich
und Rußland am Balkan mißgünstig und konkurrierend
gegenüber. Das Verhältnis Deutschlands zur
russisch-österreichischen Rivalität und das Rußlands zum
deutsch-französischen Gegensatz hatte sich völlig verändert.
Während im Bismarckischen System Deutschland zu den beiden
Balkanrivalen im
Bundes- oder wenigstens im Vertragsverhältnis stand, deshalb stets in der
Hinterhand bleiben und nach beiden Seiten hin als unverdächtiger Vermittler
auftreten konnte, wurde es nun, nur noch mit Österreich verbündet,
von Rußland aber durch die Tatsache des
französisch-russischen Bündnisses getrennt, [35] naturnotwendig aus der Stellung des Arbiters in
den Balkanfragen in die der Parteinahme für Österreich
hineingedrängt. Rußland, das bisher vom Boden der alten
preußisch-russischen Freundschaft aus mit Deutschland einen
Freundschaftsvertrag hatte und dadurch in dem
deutsch-französischen Gegensatz notwendigerweise mehr auf der deutschen
Seite stand, wurde durch das Bündnis mit Frankreich nun auf die andere
Seite hinübergezogen. So änderte also die Nichterneuerung des
Rückversicherungsvertrages und der Abschluß der
französisch-russischen Allianz Deutschlands Verhältnis zu den
beiden Gefahrenpunkten des europäischen Friedens, der
elsaß-lothringischen und der Balkanfrage grundlegend und zweifellos in
einem außerordentlich ungünstigen, schwächenden Sinne. In
der Balkanfrage sank es vom unabhängigen Mittler zwischen Rußland
und Österreich zum Parteigenossen Österreichs herab, in der
elsaß-lothringischen wurde es dadurch schwächer, daß der
Gegner Frankreich künftig nicht mehr allein, sondern mit Rußland
verbündet war. Aber auch Deutschlands Verhältnis zu England wurde
völlig verändert, weil Englands Verhältnis zu Europa eine
gründliche Wandlung erfuhr. Das Bismarckische System ließ England
für seine traditionelle Politik der balance of power keinen Raum. Diese
traditionelle englische Politik war nur möglich einem Europa
gegenüber, in dem es einigermaßen gleichwertige
Kräftekombinationen gab. Bei einem Europa, in dem außer
Frankreich, zu dem England im Gegensatz stand, alle anderen Mächte mit
Deutschland vertragliche Bindungen hatten, gab es keine Möglichkeit, die
Politik des Gleichgewichts der Kräfte, d. h. des Ausspielens der einen
Gruppe gegen die andere anzuwenden. Nun aber, wo dem Dreibund der
französisch-russische Zweibund gegenüberstand, gewann England
wieder die Rolle des Züngleins an der Waage. Es gab den Ausschlag
zugunsten derjenigen Gruppe, der es sich zuwandte. Daraus erwuchs für
Deutschland ein unter Bismarck nicht vorhanden gewesenes Gefahrenmoment,
eine neue Abhängigkeit von der Politik des Inselreiches. Man sieht, wie
gründlich die Lage Deutschlands nun verändert war, und wie
weitgehend diese Änderung eine Schwächung bedeutete. Die
europäische Hegemonie, die Bismarck durch sein politisches System de
facto ausübte, war verloren gegangen, und seine Nachfolger, denen sein
System zu schwierig vorgekommen war, als daß sie sich getraut
hätten, es fortzusetzen, mußten bald gewahr werden, daß die
neue Lage nun erst recht schwierig war. Denn jetzt wurde stets von neuem die
Frage der westlichen oder östlichen Orientierung akut, und stellte der
österreichisch-russische Gegensatz auf dem Balkan die deutsche Politik
notwendigerweise immer wieder vor die Wahl, die Politik des Bundesgenossen zu
unterstützen oder ihn eventuell zu verlieren.
Für diese Tatsachen und Gefahren der neuen Lage hatte man
da- [36] mals noch nicht die rechte Erkenntnis. Die
Stellung Deutschlands war äußerlich kaum verändert, und erst
im Laufe der Zeit kamen die Schäden der neuen Situation zum Vorschein.
Gleich zu Beginn des "neuen Kurses" konnte dieser durch das Abkommen mit
England über Helgoland und die afrikanischen Kolonien vom 1. Juni 1890
einen sichtbaren diplomatischen Erfolg davon tragen. Zudem entwickelte sich von
der Mitte der 90iger Jahre an die weltpolitische Konstellation in einem Sinne, der
der Verschlechterung von Deutschlands Lage, wie sie eben gekennzeichnet wurde,
entgegenwirkte. Das Bündnis zwischen Rußland und Frankreich, das
am Anfang zweifellos defensiven Charakter hatte, entwickelte sich zunächst
nicht in dem bedrohlichen Sinne, den es erhalten mußte und später
auch wirklich erhielt, als die beiden Gefahrenpunkte des europäischen
Friedens, die
elsaß-lothringische Frage einerseits und die Balkanfrage andererseits, seinen
Sinn und seine diplomatische Tätigkeit bestimmten. Nach dem
Regierungsantritt Nikolaus II. im Jahre 1896 wandte sich die russische Politik, von
Deutschland dazu eifrig ermuntert, dem fernen Osten zu. Dort war durch das
Emporkommen Japans und die allmähliche Einbeziehung Chinas in die
wirtschaftliche und politische Expansion der europäischen Mächte ein
neues Kraftfeld weltpolitischer Spannungen entstanden. Es schien als ob die
Aufteilung der Welt unter die Großmächte, die seit einigen
Jahrzehnten immer lebhafter fortschritt, nun auf das alte Riesenreich der Mitte
übergreifen würde: Jeder versuchte Fuß zu fassen,
Interessenssphären für sich abzugrenzen, d. h. sich für
die künftige Aufteilung Chinas einen möglichst großen Anteil
zu sichern. Die russische Politik stellte sich darauf mit aller Energie ein und drang
von Norden in das neue weltpolitische Kraftfeld vor. Die historische
Meerengenfrage und die Balkanpolitik bekamen deshalb für Rußland
sekundäre Bedeutung. Der Druck des russischen Weltreiches richtete sich
nach dem fernen Osten, und am Balkan trat demgemäß eine
Entspannung ein. Hier stellte sich Rußland konservativ ein, und durch das
sogenannte Mürzsteger Programm von 1897 einigten sich die beiden
Rivalen auf die Erhaltung des Status quo am Balkan. Sie taten also freiwillig das,
wozu Bismarck sie zu veranlassen stets bestrebt gewesen war. Es liegt auf der
Hand, daß dieser Gang der Entwicklung für Deutschland
außerordentlich günstig war. Wenn Österreich und
Rußland sich am Balkan freundschaftlich auf den Status quo einigten,
verringerte sich, ja verschwand die Gefahr, daß Deutschland als
Bundesgenosse Österreichs und in einem Rußland feindlichen Sinne
in die Balkanhändel hineingezogen wurde und daß durch die
Verschärfung des
russisch-deutschen Gegensatzes Rußland ein Interesse daran bekam, sein
Bündnis mit Frankreich zu aktivieren. Man hat das in Paris deutlich
empfunden, und als es schien, als ob infolge [37] der Mittelmeerfragen Italien sich
allmählich vom Dreibund lösen könnte, hat der
französische Außenminister Delcassé durch einen Schriftwechsel mit
dem russischen Außenminister Muravieff vom 28. Juli bis 9. August 1899
eine bemerkenswerte Änderung des Bündnisses herbeigeführt.
Während die das Bündnis ergänzende Militärkonvention
ursprünglich nur für die Dauer der Existenz des Dreibundes
geschlossen wurde, ward nunmehr ausgemacht, sie solle so lange in Kraft bleiben
"wie das zur Sicherung der gemeinsamen und dauernden Interessen der beiden
Länder geschlossene diplomatische Übereinkommen", d. h. die in
ihrem Wortlaut eindeutig gegen Deutschland gerichtete Militärkonvention
sollte nun auch in Geltung bleiben für den Fall, daß der Dreibund sich
auflöste. Rußland war zu dieser Erweiterung des Bündnisses
hauptsächlich deswegen bereit, weil sie ihm für seine
fernöstlichen Unternehmungen Deutschland gegenüber eine
verstärkte Rückendeckung schuf. Hier nahm das
russisch-französische Verhältnis zum ersten Male den Sinn der
Erwerbsgesellschaft an, indem Frankreich für die Expansion des
Bundesgenossen im fernen Osten ihm gegen Deutschland den Rücken
deckte. Es war nur natürlich, wenn Frankreich später, als es in
Marokko selbst zu Erwerbungen schritt, vom russischen Bundesgenossen die
gleiche Unterstützung verlangte. Damit wandelte sich der Charakter des
Zweibunds vom defensiven zum offensiven, vom konservativen zum dynamischen.
Freilich der Verlauf der Ereignisse im fernen Osten war Rußland nicht lange
günstig. Es stieß dort bald auf das seit 1902 mit England
verbündete Japan, erlitt im russisch-japanischen Kriege 1904/5 eine schwere
Niederlage und sah sich genötigt, seine fernöstliche Politik zu
liquidieren. Aber dies gerade sollte dazu führen, die Verschlechterung von
Deutschlands Lage in Europa, die oben in ihrer Tendenz gekennzeichnet wurde,
nun akut werden zu lassen. Rußland wandte sich vom fernen Osten wieder
dem Balkan zu und warf die durch die Niederlage gegen Japan und die Revolution
im Innern nur vorübergehend geschwächte Expansionskraft nunmehr
wieder auf den vorderen Orient und den Balkan. Dadurch erst wurden die schon
von Bismarck gefürchteten Gefahren eines
französisch-russischen Zusammengehens ganz lebendig. Nun erst drohte
sich der Druck des russischen Weltreiches gegen die deutsche Ostgrenze zu legen,
und wurde die Gefahr des Zweifrontenkrieges in faßbare Nähe
gerückt.
Wir eilen damit der weltpolitischen Entwicklung aber voraus. Wie Englands
Stellung sich inzwischen entwickelt hatte, wie der italienische Faktor sich geltend
machte und wie die kolonialen Fragen das Bild beeinflußten, ist zuvor noch
aufzuzeigen. Das Zeitalter zwischen dem
deutsch-französischen und dem Weltkriege hat den Namen des
imperialistischen bekommen. Dieser Name gilt vor allem für die [38] wirtschaftlichen und kolonialen Bestrebungen der
europäischen Völker. Zwar hatten schon früher Spanier,
Portugiesen, Holländer, Engländer und Franzosen sich ausgedehnte
Länderstrecken über See angeeignet, und hatten die
Macht- und Interessenkonflikte, die sich aus der Rivalität der Mächte
auf kolonialem Gebiet ergaben, auch in die europäische Politik
hineingewirkt. Aber die europäische Politik war doch in erster Linie eine
kontinentale gewesen, und Unternehmungen in Übersee hatten sie nur
mäßig beeinflußt. Das änderte sich im letzten Drittel des
19. Jahrhunderts. Der Wettlauf um den Erwerb der noch freien Gebiete auf der
Welt bzw. um die Aufteilung schwach gewordener alter Staaten wie des
Scherifenreiches in Marokko, der Türkei, Persiens oder Chinas wurde immer
lebhafter, nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Erwägungen, weil man sich die
Rohstoffquellen und die Absatzgebiete für die wachsende Industrie streitig
machte. In diesen
Wettlauf trat natürlicherweise auch das junge Deutsche
Reich ein, obwohl sein Gründer Bismarck, von Hause aus rein kontinental
eingestellt, sich nur widerwillig zum Erwerb von Kolonien drängen
ließ. Seine Nachfolger beschritten den Weg des kolonialen und
Interessenssphären-Wettbewerbs viel bedenkenloser, freilich ohne ein
wirkliches Programm. Ihre Politik auf diesem Gebiete bestand hauptsächlich
darin, fortwährend die weltpolitische Situation danach zu prüfen, ob
sich nicht irgendwo eine Kohlenstation, ein Stützpunkt oder ein Inselgruppe
oder auch einmal ein größeres Landgebiet erwerben lasse, und ihre
Zustimmung zu den Plänen und Wünschen anderer Mächte, ja
das Gesamtverhältnis Deutschlands zu ihnen danach zu orientieren. Nur zu
sehr ließen sie dabei einen der Grundgedanken Bismarcks außer acht,
daß die deutsche Politik sich in erster Linie von der Frage der Sicherung des
Besitzes in Europa, d. h. eben Deutschlands selbst aus orientieren
müsse, und daß Aussichten auf Landerwerb über See keinesfalls
zu politischen Aktionen führen dürften, die die Sicherheit
Deutschlands gefährden konnten. Man sagt kaum zuviel, wenn man
ausspricht, daß die sogenannte Weltpolitik, die besonders seit dem Ausgang
des 19. Jahrhunderts in Deutschland proklamiert wurde, ein fortgesetzter
Verstoß gegen diese Maxime nicht bloß der Politik Bismarcks,
sondern jeder gesunden deutschen Politik überhaupt war. Die Frage, wie
wirkt dies oder das auf Deutschlands Lage in Europa zurück, wurde viel zu
wenig gestellt, und aus dieser Tatsache erklärt sich in erheblichem
Maße manche gefährliche Situation, in die Deutschland
hineinkam.
In koloniale Konflikte geriet Deutschland, wie übrigens schon zu Zeiten
Bismarcks, der bekanntlich fast alle kolonialen Erwerbungen gemacht hat, die
Deutschland überhaupt besaß, in der nachbismarckischen Zeit
zunächst mehrfach mit England und am schärfsten nicht einmal, weil
das nötig gewesen wäre, um wesentliche deutsche
In- [39] teressen zu verteidigen, durch das sogenannte
Krügertelegramm von 1896, dann 1899 wegen Samoa und noch aus
manchen anderen Anlässen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die
Entfremdung zwischen England und Deutschland besonders auch, was die
Volksstimmung angeht, durch solche Ereignisse, die natürlich keineswegs
nur auf deutsches Schuldkonto zu schreiben sind, wesentlich gewachsen, ja sogar
entstanden ist. Später wirkte die
Bagdadbahn-Unternehmung in ähnlichem Sinne, und die
deutsch-englische Flottenrivalität hat dann die Gegensätzlichkeit
vollständig gemacht. Mit Frankreich führten die kolonialpolitischen
Reibungen 1905 und 1911 zu den beiden Marokkokrisen, über deren
Bedeutung für die Entwicklung der europäischen Politik noch zu
reden sein wird. So sehr man der deutschen Politik in diesen Fragen heute Fehler
und Mißgriffe nachrechnen kann, so wenig darf man vergessen zu betonen,
daß das junge Deutsche Reich natürlich ebenso sehr das Recht hatte,
nach Kolonialerwerb und nach Interessensphären zu streben, wie die
älteren Kolonialmächte, ja, daß die für die rasch
wachsende Bevölkerung und die erstaunlich schnell sich entfaltende
Industrie verhältnismäßig schmale wirtschaftliche Basis des
heimischen Bodens ein Hinausgreifen nach Übersee für Deutschland
besonders notwendig machte. Es war eine ganz natürliche Entwicklung, der
man sich gar nicht entziehen konnte. Daß dem so war, zeigt schon allein die
Tatsache, daß die Großmächte in den verschiedensten Teilen der
Welt miteinander zusammenstießen, und daß dabei Deutschland bald
auf der einen, bald auf der anderen Seite stand. Nichts ist einleuchtender, als
daß die weltpolitischen Reibungen des imperialistischen Zeitalters sich auf
die Politik derjenigen Macht, die Vorbild und vornehmste Trägerin des
Imperialismus war, England, am stärksten auswirken mußten. England
hatte am meisten von allen weltweite Interessen, es saß mit seinen Kolonien,
Stützpunkten und Interessensphären auf allen Weltteilen und an allen
Schnittpunkten des Weltverkehrs. Wer sich ausbreiten wollte, stieß ganz von
selbst irgendwo auf England. Wenn Rußland nach den Meerengen strebte
oder in Persien, Afghanistan, Tibet oder im fernen Osten den Vormarsch antrat,
rührte es an englische Interessen. Wenn Frankreich seine Besitzungen in
Hinterindien ausdehnte oder in Marokko oder in Zentralafrika auf Erwerbungen
ausgehen wollte, sah es sich ebenfalls an all diesen Punkten England
gegenüber, mit dem es überdies seit langem in Ägypten um
Macht und Einfluß rang. Die englische Geschichte dieser Jahrzehnte ist denn
auch voll von Reibungen und Konflikten, die mehr als einmal bis knapp vor den
Ausbruch von Kriegen führten, so 1883 mit Frankreich wegen Siam und
1898 mit demselben Frankreich in Faschoda am oberen Nil. Mit den beiden
Burenrepubliken in Südafrika kam England 1899/1901 in einen langen und
opferreichen Krieg. All das hat die englische [40] Politik zu einer grundsätzlichen
Schwenkung veranlaßt, deren Einfluß auf die weltpolitische Lage nicht
minder folgenschwer gewesen ist, als die Lockerung des Bismarckischen
Bündnissystems durch die Nichterneuerung des
Rückversicherungsvertrags und der damit ermöglichte
Abschluß der
französisch-russischen Entente: England vollzog die Wendung von der
Politik der Isolierung zu der der Bündnisse, weil ihm die Isolierung
gefährlich zu werden schien. Man erinnert sich der verschiedenen Versuche
Bismarcks mit England in ein Vertragsverhältnis zu kommen, die immer
dann einsetzten, wenn er mit Rußland Reibungen hatte, und wie alle diese
Versuche ergebnislos verliefen, da England lieber allein blieb. Während des
Burenkriegs und auch schon vorher lagen Ideen von der Bildung eines
kontinentalen Blocks gegen England in der Luft, Gedanken wie sie auch von
Wilhelm II. viel ventiliert wurden. Da England draußen in der Welt
abwechselnd mit allen Mächten zusammenstieß, war die Besorgnis,
durch die Aufrechterhaltung der Politik der Isolierung sich einmal einer
Einheitsfront der anderen Mächte gegenüber zu sehen, keineswegs
abwegig. Jedenfalls aber mußte es den Engländern angezeigt
erscheinen, die Zahl der Reibungsflächen und Gefahrenpunkte
draußen in der Welt zu verringern bzw. sich auf dem Festlande eine Macht
zu suchen, auf die man sich stützen konnte.
Diese neue Politik hat sich in England nur langsam durchgesetzt. Der
führende Staatsmann in der Zeit des Ausgangs des 19. Jahrhunderts,
Salisbury, widerstrebte ihr, ein anderer von Englands Staatsmännern und
zugleich der Wortführer des Imperialismus, Joseph Chamberlain, war ihr
eigentlicher Anwalt. Er ergriff im Jahre 1898 die Initiative zu jenen mit Pausen bis
1901 fortgesetzten Besprechungen, die unter dem Namen
"deutsch-englische Bündnisverhandlungen" bekannt sind. Ihre Bedeutung
wird allerdings durch das neuerdings in der englischen Aktenpublikation
veröffentlichte englische Material abgeschwächt. Soviel bleibt von
ihnen jedenfalls, daß führende englische Politiker damals die deutsche
Regierung über die Möglichkeit einer
deutsch-englischen Verständigung auf breiter Basis sondierten, daß
eine Anzahl jener englischen Staatsmänner, die die Politik der Isolierung
aufgeben wollten, zunächst versuchten, ob die geplante neue Politik des
Eingehens vertraglicher Bindungen sich mit Deutschland verwirklichen
ließe. Wenn man sich die damalige Lage Englands vergegenwärtigt,
wird es deutlich, daß jene englischen Politiker, die Anschluß an eine
andere Macht suchten, in erster Linie an Deutschland denken mußten. Denn
Englands Gegensätze zu ihm waren trotzdem, was bisher an Reibungen und
Streitigkeiten vorgekommen war, und trotz der offensichtlichen
Handelskonkurrenz erheblich geringer als die mit Frankreich oder mit
Rußland, die dazu noch miteinander verbündet waren. Es war also
ganz natürlich, daß [41] man zuerst bei Deutschland anklopfte, und die in
diesem Sinne gehaltenen Äußerungen Chamberlains, mit denen er die
Besprechungen von 1898 einleitete, entsprachen sicher seiner Überzeugung.
Von deutscher Seite begegneten die bis 1901 von englischer Seite mehrfach
wiederholten Versuche einem starken Mißtrauen. Obwohl der deutsche
Botschafter in London, Graf Hatzfeld, einer der besten Diplomaten aus Bismarcks
Schule, mehrfach riet, auf die englischen Anregungen einzugehen, konnte man sich
dazu in Berlin, hauptsächlich unter dem Einfluß Holsteins, der den
englischen Bemühungen seine Kastanientheorie entgegensetzte, d. h.
mit dem Argument operierte, die Engländer wollten uns nur dazu bringen,
für sie, besonders Rußland gegenüber, die Kastanien aus dem
Feuer zu holen, nicht entschließen. Die Verhandlungen scheiterten
schließlich daran, daß die Engländer nur mit Deutschland allein
ein Abkommen wünschten, während Berlin ein solches mit dem
Dreibund als Ganzem wollte. Letzten Endes war die Haltung der deutschen Politik
dabei aber durch die Auffassung bedingt, daß es für Deutschland
besser und vorteilhafter sei, wenn es keine Bindungen eingehe. Man besaß ja
den Dreibund, Rußland hatte sich im fernen Osten festgelegt und sich von
Europa abgewandt, zwischen Frankreich und England war es über Faschoda
soeben beinahe zum Krieg gekommen, und während des
größten Teiles der
deutsch-englischen Verhandlungen stand England im Burenkriege. Deutschlands
Lage schien deshalb außerordentlich gesichert. Wohl bestand der
französisch-russische Zweibund, aber er war durch Rußlands
Ostasienpolitik inaktiviert, und seine beiden Partner befanden sich zu England in
scharfem Gegensatz. So erschien Deutschland in der Lage desjenigen, der zwei
streitenden Parteien ohne Besorgnis zusehen kann und keinen Grund hat, sich der
einen oder der anderen zuzugesellen. Damals prägte der Reichskanzler
Bülow das stolze Wort vom deutschen Kaiser als dem Arbiter mundi. Es
war ein oberflächliches Wort! War Deutschland wirklich in der Lage, in der
Bülow es wähnte? Das hätte bedeutet, daß es sich
nötigenfalls jeder der beiden Mächte bzw. Mächtegruppen
hätte anschließen können, deren Gegensätze ihm eine so
glückliche Position zu verschaffen schien, d. h. sowohl England wie
dem Zweibund. Aber sobald dazu hinsichtlich des Zweibunds auch nur der erste
Schritt gemacht wurde, zeigte sich die Unmöglichkeit: Frankreich war
keineswegs zu einer Verständigung mit Deutschland auf der für
Deutschland allein möglichen Grundlage der Anerkennung des Status quo,
d. h. Frankreichs Verzicht auf
Elsaß-Lothringen bereit. Wenn man aber gegenüber zwei sich
streitenden Parteien nicht in der Lage ist, sich sowohl der einen wie der anderen
anschließen zu können, ist man eben nicht der Arbiter der Situation.
Einen zweiten ebenso großen Irrtum begingen die deutschen
Staatsmänner. Sie wähnten [42] mit den Gegensätzen
England-Frankreich und England-Rußland als einem Dauerzustand rechnen
zu können, d. h. sie glaubten nicht an die Möglichkeit einer
Verständigung zwischen diesen Mächten, erwarteten vielmehr,
daß diese Gegensätze sich notwendigerweise immer noch mehr
zuspitzen würden, die Situation Englands sich dadurch verschlechtern und
England gezwungen sein würde, sein Angebot später unter für
es selbst viel ungünstigeren, d. h. für Deutschland wesentlich
günstigeren Bedingungen zu erneuern.
Dies geschah nicht. England schritt vielmehr entschlossen in eine andere Richtung.
Dem Vordrängen Rußlands im fernen Osten begegnete es durch den
Abschluß eines Bündnisses mit Japan am 30. Januar 1902. Japan
gewann so die Rückendeckung für seine Auseinandersetzung mit
Rußland im
russisch-japanischen Krieg, der durch den Zusammenbruch der russischen Politik
im fernen Osten England an dieser Stelle der Welt von seinem größten
Gegner befreite und diesen infolge der bei ihm ausbrechenden Wirren auch im
ganzen fürs erste mattsetzte. Sodann bereinigte England seine zahlreichen
und alten Streitigkeiten mit Frankreich durch die Entente vom 8. April 1904, die
nach außen hin sich als eine Liquidierung aller vorhandenen Differenzpunkte
darstellte, aber durch ein Geheimabkommen ergänzt wurde, durch das sich
die beiden Regierungen dahin einigten, daß England Frankreich in Marokko
und Frankreich England in Ägypten freie Hand ließ. Es war mehr als
eine diplomatische Flurbereinigung. Bald sollte sich zeigen, daß die
Bestimmungen von Artikel 9 des Hauptvertrages, der bestimmte, die beiden
Regierungen sollten einander bei der Durchführung des Abkommens
diplomatisch unterstützen, keine leere Redensart war. Als Deutschland, das
in Marokko nicht unerhebliche wirtschaftliche Interessen hatte, gegen die
englisch-französischen Abmachungen Stellung nahm, weil es sich nicht
einfach beiseite schieben lassen wollte und konnte, sah es sich einer
französisch-englischen Front gegenüber: Das Abkommen zwischen
diesen beiden Mächten kehrte seine antideutsche Spitze sofort heraus.
Zweifellos hat die deutsche Politik in der Art, wie sie in dieser Frage ihre
Interessen vertrat, Fehler begangen. Aber man muß daran festhalten,
daß das
englisch-französische Abkommen, das im Grunde eine Aufteilung der
nördlichen Hälfte Afrikas zwischen den beiden größten
Kolonialmächten darstellte und den Zweck hatte, diesen weite und wertvolle
Ländergebiete zu unterwerfen, die bisher unabhängig waren bzw.
einem anderen Reiche angehörten, ein Erwerbsvertrag mit dem
gleichzeitigen Ziel des Ausschlusses von Deutschlands politischem und
wirtschaftlichen Einfluß aus eben diesen Gebieten gewesen ist. Deutschland
war bei der ganzen Angelegenheit in der Defensive. Und es ist die Umkehrung der
historischen Tatsachen, wenn heute [43] vielfach behauptet wird, die
französisch-englische Entente sei die Antwort auf eine deutsche Bedrohung
gewesen.
Mit dieser Entente begann, indem sich England, das bisher ohne Bindung nach der
einen oder der anderen Seite dem Dreibund und dem
französisch-russischen Zweibund gegenüber gestanden hatte,
nunmehr an Frankreich band, sich jene grundlegende Verschlechterung der
politischen Lage Deutschlands und Gesamteuropas herauszubilden, die
später so verhängnisvoll geworden ist. Hatte die Entstehung des
französisch-russischen Bündnisses als einer Gegenkombination gegen den
Dreibund Europa in zwei sich gegenüberstehende Mächtegruppen
geteilt, bei der jedoch der prinzipiell auf die Erhaltung des Bestehenden
eingestellte Dreibund noch immer ein Übergewicht besaß, so erhielt
jetzt der Zweibund durch den Anschluß Englands an Frankreich eine
deutliche Überlegenheit, und es begann das, was man in Deutschland als die
englische Politik der Einkreisung empfand. Für Europa bedeutete dies,
daß der Gleichgewichtszustand, in dem es zuerst durch das politische
System Bismarcks, dann durch das Gegenüber zweier einigermaßen
gleichwertiger Bündnisgruppen mit leichter Überlegenheit der auf
Erhaltung des Bestehenden gerichteten gehalten worden war, nunmehr drohte
unstabil zu werden, weil diejenige Mächtegruppe zu überwiegen
begann, bei der deutliche Tendenzen auf Änderung des Status quo in Europa
vorhanden waren. Die europäische Politik der nächsten 10 Jahre bis
zum Ausbruch des Weltkrieges war im ganzen gesehen nichts anderes als der
Ausdruck dieser Unstabilität. Sie war gekennzeichnet durch das
fortwährende diplomatische Ringen der beiden Mächtekombinationen
um die Präponderanz, wobei die Entfesselung der auf Erwerb, d. h.
auf Änderung des Bestehenden gerichteten Tendenzen immer deutlicher
wurde. Das führte dazu, daß die einzelnen Mächte ihre
Rüstungen immer weiter steigerten, um an sich möglichst stark zu
sein, es führte weiter dazu, daß die Mitglieder der einzelnen Gruppen
eifrig bemüht waren, das Gruppenbewußtsein zu stärken, ihre
Politik anzugleichen und den Zusammenhalt ihrer Gruppe durch Abmachungen
und Besprechungen möglichst zu stärken. Ganz natürlich
wurde das Gegenüber der beiden Gruppen dadurch immer ausgesprochener,
auch von weitesten Volkskreisen viel mehr gefühlt, kurz, die Spannung in
Europa wuchs fortwährend. In immer schnellerer Folge kam es zu
politischen Krisen, während deren der Kriegsausbruch in deutliche
Nähe rückte. Er wurde immer wieder vermieden, bis es dann
schließlich einmal nicht mehr gelang, die den Frieden rettende Formel zu
finden, weil der Organismus der Bündnissysteme den einmal
ausgebrochenen Konflikt überallhin weiterleitete, und weil an verschiedenen
verantwortlichen Stellen [44] Männer standen, die der schweren
Aufgabe, den Frieden zu erhalten, entweder nicht gewachsen oder dazu nicht
willens waren.
Wenn dies bei der ersten Marokkokrisis von 1905 gelang, so enthüllte die
sie beendigende Konferenz von Algeciras vor aller Augen die Verschlechterung
von Deutschlands politischer Situation, verglichen mit der doch nur wenige Jahre
zurückliegenden Zeit, in der Bülow das Wort vom deutschen Kaiser
als Arbiter mundi zu prägen wagte. Nur die Tatsache, daß
Rußland fürs erste nicht in der Lage war, eine Expansionspolitik zu
machen, d. h. sie nötigenfalls mit Waffengewalt durchzusetzen,
bedeutete eine Erleichterung für Deutschland. Aber aus der Niederlage
heraus entwickelte Rußland eine neue Politik, die diesen Lichtpunkt in
Deutschlands Lage bald auslöschen sollte. Rußland liquidierte nicht
nur seine fernöstliche Politik, sondern bald darauf auch seine Differenzen
mit England auf der ganzen ungeheuren Front von China bis zum vorderen Orient
durch die
russisch-englische Konvention vom 31. August 1907, die einen Interessenausgleich
zwischen beiden Mächten in Persien, Afghanistan und Tibet
herbeiführte. Es tat dies, um an all diesen Stellen der Welt die Hände
frei zu bekommen, und weil der neue Leiter der russischen Außenpolitik
Iswolski der Überzeugung war, daß Rußland mit England und
Frankreich zusammengehen müsse, um mit ihnen seine historischen Ziele an
den Meerengen und die Verwirklichung der panslawistischen Ideale am Balkan
herbeizuführen. Rußland wandte sich wieder dem Westen zu, und die
Erleichterung von Deutschlands Lage, die sich aus Rußlands Hinwendung
zum Osten ergeben hatte, kam zu ihrem Ende. Freilich war Rußland
zunächst militärisch schwach und konnte nicht daran denken, einen
Waffengang herbeizuführen. Wie sehr die Leiter der russischen Politik diese
Tatsache bedauerten, zeigen die diplomatischen Dokumente über die
sogenannte Bosnische Krisis von 1908/9, in denen immer wieder von russischer
Seite mit Schmerz festgestellt wird, Rußland sei nicht zum Kriege bereit.
Rußland und nicht minder sein Bundesgenosse Frankreich zogen daraus aber
den Schluß, daß es so nicht bleiben könne, und mit Hilfe
französischer Milliarden baute Rußland in den nächsten Jahren
seine Rüstungen mit aller Energie aus, für welche Ziele, erfahren wir
aus den russischen Geheimdokumenten mit aller wünschenswerten
Deutlichkeit. So drückte denn von Jahr zu Jahr Rußlands politische
Energie in steigendem Maße gegen die Meerengen, den Balkan und
Deutschlands Ostgrenze. Sie tat es vor allem auch indirekt, indem sie die
politischen Energien der Balkanvölker aufrüttelte und stärkte
und sie auf dem Wege zur Verwirklichung ihres nationalen Ideales, d. h. zur
Sammlung aller ihrer Volksgenossen im Nationalstaat vorwärts
drängte. Dies bedeutete eine grundsätzliche Bekämpfung des
Status quo am Balkan, d. h. der Mächte, die [45] an ihm am stärksten interessiert waren, der
Türkei und
Österreich-Ungarns. Die Verwirklichung der nationalen Ideale der
Balkanvölker war nur auf Kosten dieser beiden Mächte
möglich, deren Existenz dabei auf dem Spiele stand. Die Spannung am
Balkan mußte somit zur kriegerischen Entladung drängen. Nach
langen Bemühungen gelang es Rußland 1912 den Balkanbund
zustande zu bringen, den auch Poincaré, als er zu seiner Kenntnis gelangte, sofort
als ein Kriegsinstrument bezeichnete. Als solches wirkte er denn auch rasch und
führte zu den Balkankriegen von 1912/13, die den europäischen
Besitzstand der Türkei stark verminderten und Serbien, dem stärksten
und aktivsten Hebel der russischen Balkanpolitik, eine Verdoppelung seines
Gebietes und eine gewaltige Verstärkung seines gegen die Habsburger
Monarchie gerichteten nationalen Willens brachte. Es war klar, daß Serbien,
nachdem es seine Ziele nach der türkischen Seite verwirklicht hatte, seine
Blicke nach der österreichischen richten würde. Von Rußland
wurde es dazu ermuntert, und über die bald erwartete große Stunde der
Abrechnung unterhielt man sich gegenseitig, wie wir aus den Akten wissen, ganz
offen.
Schon vor diesen Ereignissen am Balkan hatten sich an einer anderen Stelle die
zum Sturz des Bestehenden drängenden Kräfte in Bewegung gesetzt.
Auch Italien, das gleichzeitig mit Deutschland seine nationale Einheit gefunden
hatte, war in die Reihe der imperialistischen Mächte eingetreten und forderte
seinen Platz an der Sonne. Wie Deutschland kam es erst relativ spät dazu, in
den Wettbewerb um Kolonien und Interessensphären einzutreten, und
stieß dabei ebenfalls mit denen zusammen, die sich schon früher auf
den Weg zu imperialistischen Zielen hatten begeben können. Für
Italien gab es dazu zwei Möglichkeiten, die eine an der Süditalien und
Sizilien gegenüber liegenden afrikanischen Küste, die andere am
Balkan und in den italienischen Gebieten, die noch zu Österreich
gehörten. In südlicher Richtung stieß es hauptsächlich auf
Frankreich, das die italienischen Bestrebungen geschickt benutzte, um der
lateinischen Schwester so lange alle nur denkbaren Schwierigkeiten zu machen, als
diese am Dreibund festhielt, und eine Gewährung ihrer Wünsche als
Kaufpreis für ein Abschwenken vom Dreibund lockend zeigte.
Schließlich fand sich Italien dazu bereit und durch zwei Notenwechsel vom
14./16. Dezember 1900 und 1. November 1902 kam zwischen beiden
Mächten ein Mittelmeerabkommen zustande, das eine Aufteilung der
Nordküste Afrikas bedeutete, insofern Italien Frankreichs "Rechte" auf
Marokko und Frankreich die Italiens hinsichtlich Tripolis und der Cyrenaika
anerkannte. Der Notenwechsel vom 1. November 1902 war eine
Durchlöcherung des Dreibundvertrages, da Italien sich zur Neutralität
verpflichtete, nicht nur im Falle, daß Frankreich Gegenstand eines
unmittelbaren oder mittelbaren Angriffs von seiten einer oder [46] mehrerer Mächte sein sollte, sondern auch
für den Fall, "daß Frankreich infolge einer unmittelbaren
Herausforderung sich gezwungen sähe, zur Verteidigung seiner Ehre oder
seiner Sicherheit von sich aus den Krieg zu erklären". Dieses Abkommen
machte Italien als Bundesgenossen für Deutschland wertlos und zugleich
für Frankreich im Kriegsfall ungefährlich, bedeutete also für
Frankreich eine Stärkung. Ein neuer Stein war aus dem stolzen Bau von
Bismarcks Sicherungssystem herausgenommen, und nun blieb nur noch
Österreich-Ungarn als sicherer Bundesgenosse übrig. Italien, das einst
dem Dreibund beigetreten war, um in der Anlehnung an Bismarcks
Bündnissystem Sicherheit gegen Frankreich und für seine eigene
junge Entwicklung zu finden, wandte sich vom Dreibund ab, der nicht mehr das
alte Übergewicht zu besitzen schien, und der zudem seinem ganzen Wesen
nach kein Erwerbsvertrag war und nach dem Willen des stärksten Partners
Deutschland, auch nicht werden sollte, und näherte sich der Gegengruppe, in
der die Erwerbstendenzen offenkundig waren. Die Annäherung geschah auf
Grund von Abmachungen, die ebenso wie die
französisch-englische Entente von 1904 und die
englisch-russische von 1907 auf großen Landerwerb zuungunsten einer
anderen Macht, in diesem Falle der Türkei, zielten. Es dauerte freilich noch
beinahe ein Jahrzehnt, bis Italien die Zeit für gekommen hielt, um die
praktische Nutzanwendung aus den Abmachungen mit Frankreich zu ziehen. Als
Frankreich im Jahre 1911 zur endgültigen Besitzergreifung Marokkos
schritt, andererseits die Türkei durch die jungtürkische Revolution im
Innersten erschüttert war, erklärte Italien der Türkei den Krieg
und besetzte Tripolis. Die Nöte, in die die Türkei dadurch geriet,
ermunterten dann die Balkanstaaten im Jahre 1912, sich ihrerseits auf die
Türkei zu stürzen.
Frankreich hatte inzwischen in zwei Etappen die Früchte der Entente mit
England in Nordafrika gepflückt. Beide Male war es dabei zu einer
europäischen Krisis gekommen, deren Beilegung nicht zuletzt dem
Friedenswillen Deutschlands zu verdanken war. Wenn Deutschland bei beiden
Marokkokrisen 1905 und 1911 nicht ohne weiteres zusehen wollte, wie Frankreich
sich große Ländergebiete aneignete, in denen Deutschland ebenfalls
bedeutende und vielversprechende wirtschaftliche Interessen besaß, bzw.
dafür Kompensationen forderte, so war es dabei durchaus in seinem Recht.
Freilich dürfte es außer Zweifel stehen, daß es beide Male wenig
glücklich operierte und den Gegnern es nur zu sehr erleichterte, Deutschland
als Störenfried in Europa hinzustellen. Die beiden Marokkokrisen haben
auch die für Deutschland und für die politische Lage in Europa
schädliche Folge gehabt, die Entente zwischen Frankreich und England zu
stärken und wenn nicht durch Abmachungen der Regierungen, so doch
durch militärische Besprechungen der Generalstäbe [47] und durch den bekannten Schriftwechsel von
1912 zwischen dem englischen Außenminister Grey und dem
französischen Botschafter in London, Paul Cambon, auszubauen und zu
präzisieren. Die Marokkokrisen wurden so zwei wichtige Etappen in jener
Entwicklung, während der das feindliche Gegenüber der beiden
europäischen Bündnissysteme sich immer mehr akzentuierte.
Die Verschärfung des englisch-deutschen Gegensatzes, der seit dem Ende
der neunziger Jahre besonders stark hervortrat, war dabei entscheidend. Zweifellos
waren seine Wurzeln die
englisch-deutsche Wirtschaftsrivalität, die machtvolle Konkurrenz des neuen
Industriestaates in der Mitte Europas mit der alten Industrie des Inselreiches, die
Rivalität der deutschen Handelsflagge mit der englischen auf allen Meeren,
die Versuche Deutschlands, sich überall, wo es ging, Stützpunkte und
Interessensphären zu schaffen. Aber all diese vielfältige
Rivalität, bei der doch England, dessen größter und stets
leistungsfähigerer Abnehmer Deutschland wurde, ebenfalls auf seine Kosten
kam, hätte nicht zu der Gegnerschaft führen müssen, die sich
hernach entwickelte. Daß dies geschah, ist wesentlich darauf
zurückzuführen, daß Deutschland von 1900 an auch auf dem
ureigensten Lebensgebiete Englands, dem der Seeherrschaft, als Mitbewerber
auftrat. Auch dies ergab sich ganz natürlich aus dem Anwachsen des
deutschen Handels und der deutschen Überseeinteressen. Wenn
Deutschlands Handelsflotte an die zweite Stelle in der Welt rückte, war es
nur natürlich, daß auch die zu ihrem Schutz bestimmte
Seerüstung eine Verstärkung erfuhr. Freilich mußte man sich
überlegen, welche politischen Wirkungen diese Seerüstungen haben
konnten oder mußten, und ob das Maß von militärischer
Sicherung und Stärkung, das Deutschland damit gewann, so groß war,
daß es eventuelle politische Wirkungen zuungunsten des Reiches aufwog,
die sich aus ihnen ergaben. Nicht darum handelte es sich und handelt es sich heute,
wenn wir rückschauend die deutsche Flottenpolitik beurteilen, ob
Deutschland ein Recht zu einer starken Flotte hatte und ob eine solche notwendig
war, sondern um die eben formulierte Frage, ob der militärische Nutzen
dieser Flottenpolitik größer war als der politische Schaden, den sie in
den Beziehungen zu England zur Folge hatte. Ohne Zweifel war das letztere der
Fall. Der Gedanke der Risikoflotte war falsch, denn einmal war England fest
entschlossen, sich beim Wettrüsten zur See von Deutschland auf keinen Fall
in eine Position drängen zu lassen, die eine Gefährdung seiner
Suprematie zur See hätte bringen können, zum andern
näherte es sich immer mehr Frankreich und Rußland, um für
den Fall eines Konfliktes dieser Mächte völlig sicher zu sein. Dadurch
verstärkte es andererseits wieder den Druck dieser Mächte auf
Deutschland, da sie aus dem Bewußtsein, im Ernstfalle Englands sicher sein
zu [48] können, für ihre eigene Politik
Deutschland bzw.
Österreich-Ungarn gegenüber den Schluß zogen, sicherer und
energischer aufzutreten als dies ohne die Voraussicht auf englische
Unterstützung der Fall gewesen wäre. Die deutsche Risikoflotte
verminderte also das Risiko von Deutschlands Lage nicht, sondern vermehrte
es.
So hatte sich denn, als das Attentat von Serajevo sich ereignete, in Europa folgende
Lage entwickelt: Deutschland stand, nur mit
Österreich-Ungarn als sicherem Bundesgenossen, isoliert da. Die Entente
hatte sich mit jeder der Krisen von 1905, 1908, 1911 und 1912/13 verstärkt
und konsolidiert. Alle Versuche der deutschen Politik, durch diplomatische
Verhandlungen und politische Abkommen wie 1905 in Björkoe oder 1910 in
Potsdam, den Ring zu sprengen, waren vergeblich geblieben. Dieser hatte sich
vielmehr durch Militärbesprechungen, Marineabkommen und politische
Absprachen der Ententemächte untereinander immer mehr geschlossen, und
die Führer der Entente waren bemüht, ihre Interessen überall
möglichst auszugleichen und die Aktionen ihrer Diplomatie in jedem Falle,
wo es sich um Reibungen mit den Zentralmächten handelte, möglichst
zu koordinieren. Besonders verhängnisvoll war dabei die Tätigkeit
des russischen Botschafters in Paris Iswolski und Poincarés. Welche Entwicklung
des
französisch-russischen Bündnisses seit seiner Entstehung, bei der
Rußland ängstlich bemüht war, sich von Frankreich nicht
für
Elsaß-Lothringen ausnützen zu lassen, und Frankreich dasselbe
hinsichtlich der Meerengen gegenüber Rußland zu vermeiden
trachtete, zu dem Auftreten beider Mächte in den Balkanfragen von 1912/13,
wo die französische Politik Rußland immer wieder die vollste
Unterstützung und Bereitschaft zum casus foederis zusicherte! Frankreich
sah jetzt in einer Gebietsvergrößerung Österreichs auf dem
Balkan eine Verschiebung des europäischen Gleichgewichts, der es zum
Kriege nötigte! So weit hatte Frankreich Rußlands Interessen am
Balkan sich zu eigen gemacht. Wer möchte behaupten, daß das ohne
Hintergedanken hinsichtlich
Elsaß-Lothringens geschehen sei? Frankreich hatte durch ungeheure
Milliardenanleihen Rußland, das dazu aus eigenen Kräften nicht in der
Lage gewesen wäre, in den Stand gesetzt, sich von der militärischen
Schwäche nach 1905 rasch zu erholen und durch die
Vergrößerung des stehenden Heeres, die Vervollkommnung der
Ausrüstung und den Bau strategischer Bahnen gegen die deutsche und
österreichisch-ungarische Grenze wieder ein höchst bedrohlicher
militärischer Faktor zu werden und dadurch in die Lage zu kommen, eine
aggressive Politik gegenüber den Meerengen und auf dem Balkan zu
führen, für die Frankreich seinerseits ihm wieder seine volle
diplomatische Unterstützung lieh.
Bismarcks
konservatives, auf die Erhaltung des Bestehenden zielendes politisches
System war 1914 durch eine völlig andere Situation [49] ersetzt, welche die schon vor der
Jahrhundertwende in steigendem Maße fortschreitende Dynamisierung der
politischen Kräfte Europas und der Welt zum Ausdruck brachte.
Überall waren seit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts diese
Kräfte im Vormarsch. Der englische Imperialismus hatte den Burenkrieg
siegreich beendet, sich Ägypten und den Sudan gesichert und das
südliche Persien unter seinen Einfluß genommen. Der
französische hatte Marokko unterworfen und dabei zwei europäische
Krisen provoziert, der italienische hatte einen Krieg mit der Türkei
geführt und sich Tripolis angeeignet, der russische war im fernen Osten mit
dem japanischen zusammengestoßen und in einem großen Kriege
unterlegen, hatte sich darauf den nördlichen Teil Persiens gesichert,
schmiedete unentwegt Pläne zur Besitzergreifung der Meerengen und
wühlte auf dem Balkan, brachte dadurch die Annexionskrise von 1908 in
Gang, führte 1912 den Balkanbund herbei, der sofort zu den Balkankriegen
führte, und rüstete sich für die große
Auseinandersetzung, bei der er seine historischen Ziele an den Meerengen und am
Balkan zu erreichen hoffte. Deutschland hatte in all dieser Zeit eine schwankende,
oft undurchsichtige und unklare Politik gemacht, die ebenso wie die der anderen
auf Gewinn gestellt war, aber Landbesitz nirgends in erheblichem Maße
eintrug und dabei immer mehr in die Defensive gedrängt wurde. Sein
Bundesgenosse Österreich wurde durch die nationalen Aspirationen seiner
Nachbarn ebenfalls immer stärker bedroht. Die beiden Zentralmächte,
die im großen ganzen das konservative Element in der europäischen
Politik darstellten, d. h. jenes, das auf Erhaltung des bestehenden Zustandes
in Europa gerichtet war, gerieten gegenüber der anderen Gruppe, in der das
Dynamische, das auch in Europa auf Änderung des Bestehenden, auf
Ländergewinn gestellte vorherrschend war, immer mehr ins
Gedränge. Es war dieses Bewußtsein, das die Leiter der
österreichischen Politik nach Serajevo dazu bestimmte, auf die Ermordung
des Thronfolgers mit einer energischen Politik gegenüber Serbien zu
antworten. Weil man sich in Wien durch Serbien nicht bloß in seinem
Besitzstand, sondern durch den stürmischen Vormarsch des nationalen
Gedankens auf dem Balkan als Nationalitätenstaat in seinem Dasein bedroht
fühlte, war man entschlossen, Gewalt zu gebrauchen. Wie sich das
Bündnissystem in Europa entwickelt hatte, mußte der Brand am
Balkan sich automatisch über ganz Europa verbreiten, wenn Rußland
sich militärisch genügend stark und von der Niederlage von 1905
erholt fühlte. Daß die Leiter der deutschen Politik das nicht rechtzeitig
erkannten, bzw. in Rechnung stellten, ist ihr großer Fehler. Aber man
muß die Frage aufwerfen, ob, wenn es gelungen wäre, nach Serajevo
noch einmal den Frieden zu erhalten, der Krieg nicht bei der nächsten
Gelegenheit ausgebrochen wäre. So lange die Lagerung der
politi- [50] schen Kräfte
Europas so blieb, wie sie sich bis 1914 entwickelt hatte, mußte sich die
Gefahr einer Explosion von Jahr zu Jahr steigern, da Europa stets mehr einem
Heerlager glich, jeder den andern mit Neid und Mißtrauen beobachtete
und die beiden sich gegenüberstehenden Mächtegruppen, eifrig
bemüht sich zu konsolidieren und zu stärken, bei jeder
Gelegenheit sich als geschlossene Gruppen gegenübertraten, so daß
die Völker langsam das Gefühl bekamen, der Krieg sei auf die Dauer
unvermeidlich.
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