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Bd. 1: A. Der Rechtsanspruch auf Revision

II. Die moralische Ächtung des deutschen Volkes
als Mittel zur Unterhöhlung der Rechtsgrundlage
  (Teil 2)

b) Die Kriegsschuldlüge   (Teil 1)

1) Deutsche und europäische Politik von 1871 bis 1914

Dr. Karl Schwendemann

[Anm. d. Scriptorium:
eine in Einzelheiten gehende Untersuchung
zum Thema Vorgeschichte des Krieges
finden Sie hier.]
Als die deutsche Regierung nach dem Zusammenbruch von 1918 unter dem Druck des in Versailles aufgezwungenen Schuldbekenntnisses und der alle bedrängenden Frage, wie es zu soviel Not und Erniedrigung habe kommen können, die deutschen Geheimarchive öffnete, um vor den Augen des eigenen Volkes und der ganzen Welt die inneren Triebkräfte der deutschen Vorkriegspolitik klarzulegen, war sie entschlossen, ihr Material für den ganzen seit Gründung des Reiches verflossenen Zeitraum zu veröffentlichen. Damit wurde die Erkenntnis zum Ausdruck gebracht, daß die Ursachen des Krieges sich teilweise von der durch den Frankfurter Frieden in Europa geschaffenen Lage herleiten. In der Tat wird jede Erforschung der Ursachen des Weltkrieges mit dem Deutsch-französischen Kriege von 1870/71 beginnen müssen. Denn er hatte jene Veränderung im politischen Status Europas zur Folge, deren Wirkungen in vielerlei Hinsicht direkt oder indirekt die Situation hervorriefen, aus der der Weltkrieg entstand.

Bismarck schenkte, indem er die politische Einheit der deutschen Nation nach dem kleindeutschen, Österreich ausschließenden Programm durchsetzte, dem deutschen Volke eine späte und nur teilweise Verwirklichung seines nationalen Gedankens. Sie war nur ein Glied in jener welthistorischen Reihe von Erfüllungen des Nationalitätenprinzips in der modernen Geschichte, die mit dem Ausgang des Mittelalters im Westen begann, infolge des Weltkrieges im Osten und am Balkan sich fortsetzte und weder innerhalb noch außerhalb Europas zum Abschluß gekommen ist. Keines der Glieder dieser Kette von Verwirklichungen des nationalen Gedankens war nur eine Angelegenheit des betreffenden Volkes, sondern immer zugleich eine Europas und der Welt. Auch die Gründung des Deutschen Reiches, so sehr sie dem innersten Lebenswillen der deutschen Nation entsprang, war keineswegs nur eine deutsche Angelegenheit. Indem sie der Mitte Europas eine neue Form gab, änderte sie die Struktur Europas grundlegend: Das geeinte Deutschland trat als neue, an Umfang des Territoriums und nach Zahl und Bedeutung seiner Bewohner den alten Mächten Europas ebenbürtige, wenn nicht überlegene Groß- [30] macht in die Geschichte ein. Die seit Jahrhunderten zersplitterte, politisch amorphe Mitte Europas war plötzlich ein fester Kern geworden, der anstatt überwiegend das Objekt der Politik der umliegenden Welt wie bisher zu sein, als Staatssubjekt sein Recht behauptete. Das europäische Konzert ward um ein kräftig tönendes Instrument reicher; in die europäische Staatengesellschaft trat das Deutsche Reich kraftvoll als neuer Partner ein.

Wie würde diese neue Großmacht, deren militärische Kraft sich soeben in einem gewaltigen Waffengang mit der bisher stärksten Militärmacht des Kontinents so deutlich offenbart hatte, sich in den Rahmen Europas einfügen, und wie würde die Umwelt auf diese neue Erscheinung reagieren und sich mit ihr auseinandersetzen? Das war, im gröbsten Umriß gesehen, das Problem, das sich nun stellte.

Die Antwort auf diese Frage, die der Gründer und Lenker des Reiches während der folgenden zwei Jahrzehnte, Bismarck, gab, hat für über ein Menschenalter das Geschick Europas ausschlaggebend bestimmt. Er hat den Namen des "Eisernen Kanzlers" erhalten, und zu seinem Bilde gehören die schweren Kürassierstiefel und der blinkende Helm. Feindselige Propaganda hat dies Bild Bismarcks vergröbert und böswillig ausgedeutet. Erst die Veröffentlichung der diplomatischen Geheimakten der Bismarck-Zeit im ersten Teil des Aktenwerkes Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1870-1914 hat endgültig Bismarcks Bild als Außenpolitiker festgelegt und gezeigt, wie er sich des neuen Deutschland Verhältnis zum alten Europa dachte, und wie er seinen Gedanken Wirklichkeit gab. Überall, auch außerhalb Deutschlands ist es heute anerkannt, daß Bismarck nach der Gründung des Reiches nur noch ein Ziel hatte, die Erhaltung des Friedens, die Sicherung und innere Fortentwicklung des von ihm begründeten Reiches. Nie hat sein Herz die Versuchung verspürt, dem Waffenruhm von 1870/71 neuen hinzuzufügen. Nie hat er daran gedacht, irgendeinem von Deutschlands Nachbarn Gebiet zu nehmen, nie danach gestrebt, einen von ihnen unter Deutschlands Botmäßigkeit zu bringen. Für ihn war Deutschland saturiert, und nur Erhaltung und Sicherung des Besitzes war sein Ziel.

Wie er dies Ziel verfolgte, ist der Inhalt seiner und damit Deutschlands Politik von 1871-1890. Bismarck ging dabei von der tiefen Überzeugung aus, daß eine der Großmächte Europas, das 1870 geschlagene Frankreich, sich mit der neuen Lage nie zufrieden geben werde, nicht nur, weil es den Verlust Elsaß-Lothringens und die Niederlage nicht verschmerzen könne, sondern weil es mit der Strukturwandlung in der europäischen Politik, mit dem Verlust seiner jahrhundertelangen Hegemoniestellung sich nicht werde abfinden wollen. So rechnete Bismarck mit Frankreich als Feind für alle Fälle, als natürlichen Bundesgenossen jedes möglichen Feindes. Daß Frank- [31] reich aus innerstem Trieb, aus der ganzen Tradition seiner Geschichte die Existenz seines Werkes, sobald sich dazu eine Gelegenheit böte, in Frage zu stellen willens sei, war Bismarcks feste Überzeugung. Sie trieb ihn dazu, Vorsorge zu treffen, daß sich eine solche Gelegenheit für Frankreich nicht bieten könne, ihm vielmehr jede Möglichkeit genommen werde, seine Absichten in die Tat umzusetzen. Daraus ergaben sich für Bismarck zwei Ziele; das eine war die Sicherung Deutschlands durch möglichst viele Bündnisse, das andere die Isolierung Frankreichs. Beide hat Bismarck mit nie erlahmender Energie, mit unerschütterlicher Konsequenz und mit der ganzen Genialität seines politischen und diplomatischen Könnens verfolgt und durchaus erreicht.

Er griff dabei ebensosehr auf frühere Formen politischer Konstellationen Europas zurück, wie er neue aus den Umständen heraus zu schaffen bestrebt war. Die erste Form der Gruppierung der Mächte Europas, die er zustande brachte, das sogenannte Dreikaiserbündnis von 1873, war eine Wiederbelebung der heiligen Allianz, nur daß an Stelle Preußens nun Deutschland stand, aber der Gegner war jetzt wie früher Frankreich, gegen das der neue Zustand Europas gesichert werden sollte. Bald allerdings zeigte sich, daß die Gegensätze zwischen den beiden anderen Partnern, zwischen Rußland und Österreich, am Balkan stärker geworden waren und daß andererseits die alte Weltmacht Rußland sich nicht daran gewöhnen konnte, dem jungen Deutschen Reiche gleich zu gleich gegenüberzutreten. So sah sich Bismarck vor die Frage der Option für den einen Bundesgenossen gegen den anderen gestellt. Er entschied sich für Österreich-Ungarn, mit dem er 1879 ein auf Dauer berechnetes Bündnis einging, aus dem dann 1882 durch den Anschluß Italiens der Dreibund und damit jene Bündnisform hervorging, die die Grundlage für Deutschlands Verhältnis zu Europa bis zum Weltkrieg wurde. Das Bündnis mit Österreich schloß Bismarck im Bewußtsein, von Rußland bedroht zu sein, weil sich in Rußland, das sich auf dem Berliner Kongreß von 1878 von Deutschland im Stich gelassen fühlte, eine Welle der Feindseligkeit gegen Deutschland erhob. Bismarck war jedoch nicht gewillt, Rußland ganz fahren zu lassen. Er war vielmehr bestrebt, mit dem Weltreich im Osten, zu dem Preußen ja seit einem Jahrhundert in engen Beziehungen gestanden hatte, baldmöglichst wieder eine vertragsmäßige Bindung herzustellen. Sie gelang denn auch mit der Erneuerung des Dreikaiserbündnisses im Jahre 1881, wurde freilich von Rußland wegen des Gegensatzes mit Österreich auf dem Balkan 1887 nicht mehr erneuert. Aber auch dann ließ Bismarck Rußland nicht frei, sondern stellte mit ihm durch den sogenannten Rückversicherungsvertrag schon im gleichen Jahre eine neue Bindung her. Da 1883 auch noch Rumänien dem Dreibund beigetreten war, konnte Bismarck [32] seinen Nachfolgern ein politisches System hinterlassen, das das Höchstmaß des Möglichen an Sicherung darstellte. Der Dreibund verband Deutschland mit Österreich, Italien und Rumänien. Mit Rußland hatte es den Rückversicherungsvertrag, und England war durch das sogenannte Mittelmeerabkommen von 1887 mit Italien und Österreich liiert. Demgegenüber stand ein Frankreich ohne Bündnisse, das nicht daran denken konnte, eine Änderung der politischen Lage Europas herbeizuführen und die Position des Deutschen Reiches irgendwie in Frage zu stellen.

Der Ausgang des Weltkrieges, seine Entstehung aus dem österreichisch-russischen Gegensatz auf dem Balkan, die Auflösung der Donaumonarchie und auf der anderen Seite die entscheidende Rolle Englands als Deutschlands Gegner im Weltkriege haben dazu geführt, daß die Grundgedanken von Bismarcks Außenpolitik stark diskutiert und ihre Richtigkeit bezweifelt wurden. Sie wurden dabei recht verschieden ausgelegt, Interpretationen, die sich aus den Zwangsläufigkeiten von Deutschlands geographischer Lage in Europa mitten zwischen den beiden alten, allein echten und traditionellen Weltmächten, Rußland und England, ergeben. Da wir mit beiden im Weltkrieg zusammenstießen, da beide durch säkulare Gegensätze und Interessenkonflikte getrennt waren, bis sie sich im Jahre 1907 gegen uns vereinigten, da unsere Politik sich abwechselnd der einen oder der anderen dieser beiden Mächte zuwandte, ist es nur natürlich, sich zu überlegen, was geworden wäre, wenn wir uns der einen oder der anderen fest angeschlossen hätten. Die Frage der westlichen oder der östlichen Orientierung ist es, die hier aufgeworfen wird, und von ihr aus prüft und interpretiert man die Grundgedanken von Bismarcks Politik. Die einen machen ihm zum Vorwurf, daß er 1879 durch das enge Bündnis mit Österreich der deutschen Politik jene Orientierung gegeben habe, die allmählich zur Trennung von Rußland und zur Feindschaft mit ihm habe führen müssen. Die Verfechter dieser These sehen hier den Grundfehler von Bismarcks Politik und meinen, es wäre richtiger gewesen, wenn er sich für Rußland entschieden und Österreich geopfert hätte. Die Anhänger der westlichen Orientierung, von den öfter wiederholten Versuchen Bismarcks mit England zu einer vertragsmäßigen Bindung zu kommen ausgehend, glauben, Bismarck habe letzten Endes in einem deutsch-englischen Bündnis die endgültige und sicherste Lösung des europäischen Friedensproblems gesehen und gesucht. Beide Interpretierungen von Bismarcks Politik sind wohl gleich unrichtig. Daß das Ziel Bismarcks die Sicherung des Friedens im Sinne der Erhaltung des Status quo gewesen ist, daß er vor allem kriegerische Verwicklungen vermeiden wollte, an denen Deutschland beteiligt war, oder in die es hätte hineingezogen werden können, daß er jeden Krieg, auch einen sieg- [33] reichen, als eine große Kalamität betrachtete, weil das saturierte Deutschland dabei kein Kriegsziel gehabt hätte, das ist in Bismarcks Werk vielfach schriftlich belegt. Von hier aus muß man auch sein Bündnissystem verstehen, und von hier aus zeigt sich sofort, daß Bismarck weder Anhänger einer westlichen noch einer östlichen Orientierung sein konnte, sondern daß er darauf aus sein mußte, möglichst viele Mächte durch vertragliche Bindungen an Deutschland zu fesseln. Gelang das, dann saß Bismarck im Mittelpunkt eines ganzen Systems von vertraglich festgelegten Kraftlinien, mit Hilfe deren er entstehende Gegensätze und Spannungen jederzeit durch Anziehen oder Nachlassen der Zügel ausbalancieren konnte. Darauf kam es ihm gerade an. Der überragenden Kraft und Autorität seiner Persönlichkeit bewußt, verlangte und schuf er sich die Stellung dessen, der an dem Punkte stand, wo die Hebel der europäischen Politik zusammenliefen. Von hier aus gab er je nach Bedarf einen Hebeldruck nach der einen oder andern Seite, bis die Maschine wieder ruhig lief und die Räder nicht mehr kreischten. Nur wenn solche Stellung nicht mehr möglich gewesen wäre, nur wenn Bismarck zur Überzeugung gekommen wäre, daß der Ausbruch eines europäischen Krieges nicht mehr zu verhindern sei, daß die Kräfte, deren friedliche Koordination für ihn Ziel und Aufgabe war, zusammenprallen würden, nur in diesem Falle hätte er sich westlich oder östlich orientiert und auch nur dann, wenn es ihm nicht mehr gelungen wäre, in der Hinterhand zu bleiben, d. h. Deutschland selbst aus dem Konflikt herauszuhalten. Ob er sich dann westlich oder östlich eingestellt hätte, würde er ganz unideologisch nur auf Grund der gerade vorhandenen Interessenlage Deutschlands entschieden haben.

So begriffen, zeigt sich die Genialität der Bismarckschen Politik. Diejenigen, die ihre Fehler aufzeigen wollen, begehen selbst den Irrtum, die Fehler, die Bismarcks Nachfolger begangen haben, diesem selbst aufzurechnen. Ist die angedeutete Auffassung vom Wesen der Politik Bismarcks richtig, so erhellt daraus allerdings, daß diese Politik vielleicht nur von dem Meister selbst geführt werden konnte, der sie erdacht hatte. Es ist nicht so sehr verwunderlich, daß sie nach Bismarcks Abgang keine Fortsetzung fand. Glück und Tragik der großen Persönlichkeit in ihrer Bedeutung für das Volk, dem sie angehört, kommen hier zutage. Daß das deutsche Volk nach Jahrhunderten der Uneinigkeit die geniale Persönlichkeit erzeugte, die ihm die Einheit gab, und daß dieser Führer ihm zwanzig Jahre lang erhalten blieb, um ihm inmitten von Gefahren und lauernder Feindschaft den Weg durch das neue politische Dasein zu weisen, war sein Glück; seine Tragik war, daß der Meister ein politisches System der Sicherungen und der Ausbalancierung der Kräfte schuf, das die Nachfolger weder verstanden, noch zu handhaben wußten. Es war ein ungeheurer Verlust an An- [34] sehen und Fähigkeiten, dazu der einzigen außenpolitischen Tradition des jungen deutschen Reiches, die die Persönlichkeit des ersten Kanzlers darstellte, als Bismarck plötzlich und ohne Not von der politischen Leitung des Reichs verschwand und zur Nachfolge Männer wie Caprivi und Freiherr von Marschall berufen wurden, die in außenpolitischen Dingen keine Erfahrung hatten.

Der sogenannte neue Kurs, der von Bismarcks Abgang datiert, bemühte sich, die friedliche Grundtendenz seiner Politik festzuhalten. Freilich begann er gleich am Anfang einen entscheidenden Fehler zu machen. Er lehnte die von Rußland angebotene Erneuerung des Rückversicherungsvertrages ab und ließ damit den Draht nach Rußland abbrechen, nicht etwa, weil eine antirussische (westliche) Orientierung der deutschen Politik geplant gewesen wäre, sondern weil man sich nicht für fähig hielt, das komplizierte System Bismarcks fortzuführen. Nunmehr trat bald das ein, was Bismarck zuerst durch das Dreikaiserbündnis, dann mit dem Rückversicherungsvertrag verhindert hatte: Rußland und Frankreich fanden sich; damit hörte die Isolierung Frankreichs auf und dem Dreibund wurde eine ziemlich gleichwertige politische Kombination entgegengesetzt. Das geschah durch den Abschluß des Bündnisses zwischen Frankreich und Rußland, das im August 1891 und 1892 formuliert und schließlich im Dezember bzw. Januar 1893/94 perfekt wurde. Die politische Lage Europas erhielt so ein ganz neues Gesicht; das Verhältnis der Mächte zueinander und die Lage Deutschlands erfuhren eine grundlegende Änderung. Während am Ende der Bismarck-Zeit Deutschland, an der Spitze des noch durch Rumänien verstärkten Dreibundes, mit Rußland in einem vertraglichen Freundschaftsverhältnis stand und die andere Weltmacht England durch das Mittelmeerabkommen von 1887 mit Österreich und Italien liiert war, Frankreich dagegen allein abseits stand, gab es nun zwei Bündnissysteme von ähnlichem Schwergewicht, den Zweibund und den Dreibund, d. h. Europa zerfiel in zwei Mächtekombinationen, deren Gegensätze die Tendenz der Verschärfung sichtbar in sich trugen. Auf der einen Seite trennte die elsaß-lothringische Frage und der französische Revanchegeist Deutschland und Frankreich, auf der anderen Seite standen sich Österreich und Rußland am Balkan mißgünstig und konkurrierend gegenüber. Das Verhältnis Deutschlands zur russisch-österreichischen Rivalität und das Rußlands zum deutsch-französischen Gegensatz hatte sich völlig verändert. Während im Bismarckischen System Deutschland zu den beiden Balkanrivalen im Bundes- oder wenigstens im Vertragsverhältnis stand, deshalb stets in der Hinterhand bleiben und nach beiden Seiten hin als unverdächtiger Vermittler auftreten konnte, wurde es nun, nur noch mit Österreich verbündet, von Rußland aber durch die Tatsache des französisch-russischen Bündnisses getrennt, [35] naturnotwendig aus der Stellung des Arbiters in den Balkanfragen in die der Parteinahme für Österreich hineingedrängt. Rußland, das bisher vom Boden der alten preußisch-russischen Freundschaft aus mit Deutschland einen Freundschaftsvertrag hatte und dadurch in dem deutsch-französischen Gegensatz notwendigerweise mehr auf der deutschen Seite stand, wurde durch das Bündnis mit Frankreich nun auf die andere Seite hinübergezogen. So änderte also die Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages und der Abschluß der französisch-russischen Allianz Deutschlands Verhältnis zu den beiden Gefahrenpunkten des europäischen Friedens, der elsaß-lothringischen und der Balkanfrage grundlegend und zweifellos in einem außerordentlich ungünstigen, schwächenden Sinne. In der Balkanfrage sank es vom unabhängigen Mittler zwischen Rußland und Österreich zum Parteigenossen Österreichs herab, in der elsaß-lothringischen wurde es dadurch schwächer, daß der Gegner Frankreich künftig nicht mehr allein, sondern mit Rußland verbündet war. Aber auch Deutschlands Verhältnis zu England wurde völlig verändert, weil Englands Verhältnis zu Europa eine gründliche Wandlung erfuhr. Das Bismarckische System ließ England für seine traditionelle Politik der balance of power keinen Raum. Diese traditionelle englische Politik war nur möglich einem Europa gegenüber, in dem es einigermaßen gleichwertige Kräftekombinationen gab. Bei einem Europa, in dem außer Frankreich, zu dem England im Gegensatz stand, alle anderen Mächte mit Deutschland vertragliche Bindungen hatten, gab es keine Möglichkeit, die Politik des Gleichgewichts der Kräfte, d. h. des Ausspielens der einen Gruppe gegen die andere anzuwenden. Nun aber, wo dem Dreibund der französisch-russische Zweibund gegenüberstand, gewann England wieder die Rolle des Züngleins an der Waage. Es gab den Ausschlag zugunsten derjenigen Gruppe, der es sich zuwandte. Daraus erwuchs für Deutschland ein unter Bismarck nicht vorhanden gewesenes Gefahrenmoment, eine neue Abhängigkeit von der Politik des Inselreiches. Man sieht, wie gründlich die Lage Deutschlands nun verändert war, und wie weitgehend diese Änderung eine Schwächung bedeutete. Die europäische Hegemonie, die Bismarck durch sein politisches System de facto ausübte, war verloren gegangen, und seine Nachfolger, denen sein System zu schwierig vorgekommen war, als daß sie sich getraut hätten, es fortzusetzen, mußten bald gewahr werden, daß die neue Lage nun erst recht schwierig war. Denn jetzt wurde stets von neuem die Frage der westlichen oder östlichen Orientierung akut, und stellte der österreichisch-russische Gegensatz auf dem Balkan die deutsche Politik notwendigerweise immer wieder vor die Wahl, die Politik des Bundesgenossen zu unterstützen oder ihn eventuell zu verlieren.

Für diese Tatsachen und Gefahren der neuen Lage hatte man da- [36] mals noch nicht die rechte Erkenntnis. Die Stellung Deutschlands war äußerlich kaum verändert, und erst im Laufe der Zeit kamen die Schäden der neuen Situation zum Vorschein. Gleich zu Beginn des "neuen Kurses" konnte dieser durch das Abkommen mit England über Helgoland und die afrikanischen Kolonien vom 1. Juni 1890 einen sichtbaren diplomatischen Erfolg davon tragen. Zudem entwickelte sich von der Mitte der 90iger Jahre an die weltpolitische Konstellation in einem Sinne, der der Verschlechterung von Deutschlands Lage, wie sie eben gekennzeichnet wurde, entgegenwirkte. Das Bündnis zwischen Rußland und Frankreich, das am Anfang zweifellos defensiven Charakter hatte, entwickelte sich zunächst nicht in dem bedrohlichen Sinne, den es erhalten mußte und später auch wirklich erhielt, als die beiden Gefahrenpunkte des europäischen Friedens, die elsaß-lothringische Frage einerseits und die Balkanfrage andererseits, seinen Sinn und seine diplomatische Tätigkeit bestimmten. Nach dem Regierungsantritt Nikolaus II. im Jahre 1896 wandte sich die russische Politik, von Deutschland dazu eifrig ermuntert, dem fernen Osten zu. Dort war durch das Emporkommen Japans und die allmähliche Einbeziehung Chinas in die wirtschaftliche und politische Expansion der europäischen Mächte ein neues Kraftfeld weltpolitischer Spannungen entstanden. Es schien als ob die Aufteilung der Welt unter die Großmächte, die seit einigen Jahrzehnten immer lebhafter fortschritt, nun auf das alte Riesenreich der Mitte übergreifen würde: Jeder versuchte Fuß zu fassen, Interessenssphären für sich abzugrenzen, d. h. sich für die künftige Aufteilung Chinas einen möglichst großen Anteil zu sichern. Die russische Politik stellte sich darauf mit aller Energie ein und drang von Norden in das neue weltpolitische Kraftfeld vor. Die historische Meerengenfrage und die Balkanpolitik bekamen deshalb für Rußland sekundäre Bedeutung. Der Druck des russischen Weltreiches richtete sich nach dem fernen Osten, und am Balkan trat demgemäß eine Entspannung ein. Hier stellte sich Rußland konservativ ein, und durch das sogenannte Mürzsteger Programm von 1897 einigten sich die beiden Rivalen auf die Erhaltung des Status quo am Balkan. Sie taten also freiwillig das, wozu Bismarck sie zu veranlassen stets bestrebt gewesen war. Es liegt auf der Hand, daß dieser Gang der Entwicklung für Deutschland außerordentlich günstig war. Wenn Österreich und Rußland sich am Balkan freundschaftlich auf den Status quo einigten, verringerte sich, ja verschwand die Gefahr, daß Deutschland als Bundesgenosse Österreichs und in einem Rußland feindlichen Sinne in die Balkanhändel hineingezogen wurde und daß durch die Verschärfung des russisch-deutschen Gegensatzes Rußland ein Interesse daran bekam, sein Bündnis mit Frankreich zu aktivieren. Man hat das in Paris deutlich empfunden, und als es schien, als ob infolge [37] der Mittelmeerfragen Italien sich allmählich vom Dreibund lösen könnte, hat der französische Außenminister Delcassé durch einen Schriftwechsel mit dem russischen Außenminister Muravieff vom 28. Juli bis 9. August 1899 eine bemerkenswerte Änderung des Bündnisses herbeigeführt. Während die das Bündnis ergänzende Militärkonvention ursprünglich nur für die Dauer der Existenz des Dreibundes geschlossen wurde, ward nunmehr ausgemacht, sie solle so lange in Kraft bleiben "wie das zur Sicherung der gemeinsamen und dauernden Interessen der beiden Länder geschlossene diplomatische Übereinkommen", d. h. die in ihrem Wortlaut eindeutig gegen Deutschland gerichtete Militärkonvention sollte nun auch in Geltung bleiben für den Fall, daß der Dreibund sich auflöste. Rußland war zu dieser Erweiterung des Bündnisses hauptsächlich deswegen bereit, weil sie ihm für seine fernöstlichen Unternehmungen Deutschland gegenüber eine verstärkte Rückendeckung schuf. Hier nahm das russisch-französische Verhältnis zum ersten Male den Sinn der Erwerbsgesellschaft an, indem Frankreich für die Expansion des Bundesgenossen im fernen Osten ihm gegen Deutschland den Rücken deckte. Es war nur natürlich, wenn Frankreich später, als es in Marokko selbst zu Erwerbungen schritt, vom russischen Bundesgenossen die gleiche Unterstützung verlangte. Damit wandelte sich der Charakter des Zweibunds vom defensiven zum offensiven, vom konservativen zum dynamischen. Freilich der Verlauf der Ereignisse im fernen Osten war Rußland nicht lange günstig. Es stieß dort bald auf das seit 1902 mit England verbündete Japan, erlitt im russisch-japanischen Kriege 1904/5 eine schwere Niederlage und sah sich genötigt, seine fernöstliche Politik zu liquidieren. Aber dies gerade sollte dazu führen, die Verschlechterung von Deutschlands Lage in Europa, die oben in ihrer Tendenz gekennzeichnet wurde, nun akut werden zu lassen. Rußland wandte sich vom fernen Osten wieder dem Balkan zu und warf die durch die Niederlage gegen Japan und die Revolution im Innern nur vorübergehend geschwächte Expansionskraft nunmehr wieder auf den vorderen Orient und den Balkan. Dadurch erst wurden die schon von Bismarck gefürchteten Gefahren eines französisch-russischen Zusammengehens ganz lebendig. Nun erst drohte sich der Druck des russischen Weltreiches gegen die deutsche Ostgrenze zu legen, und wurde die Gefahr des Zweifrontenkrieges in faßbare Nähe gerückt.

Wir eilen damit der weltpolitischen Entwicklung aber voraus. Wie Englands Stellung sich inzwischen entwickelt hatte, wie der italienische Faktor sich geltend machte und wie die kolonialen Fragen das Bild beeinflußten, ist zuvor noch aufzuzeigen. Das Zeitalter zwischen dem deutsch-französischen und dem Weltkriege hat den Namen des imperialistischen bekommen. Dieser Name gilt vor allem für die [38] wirtschaftlichen und kolonialen Bestrebungen der europäischen Völker. Zwar hatten schon früher Spanier, Portugiesen, Holländer, Engländer und Franzosen sich ausgedehnte Länderstrecken über See angeeignet, und hatten die Macht- und Interessenkonflikte, die sich aus der Rivalität der Mächte auf kolonialem Gebiet ergaben, auch in die europäische Politik hineingewirkt. Aber die europäische Politik war doch in erster Linie eine kontinentale gewesen, und Unternehmungen in Übersee hatten sie nur mäßig beeinflußt. Das änderte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Der Wettlauf um den Erwerb der noch freien Gebiete auf der Welt bzw. um die Aufteilung schwach gewordener alter Staaten wie des Scherifenreiches in Marokko, der Türkei, Persiens oder Chinas wurde immer lebhafter, nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Erwägungen, weil man sich die Rohstoffquellen und die Absatzgebiete für die wachsende Industrie streitig machte. In diesen Wettlauf trat natürlicherweise auch das junge Deutsche Reich ein, obwohl sein Gründer Bismarck, von Hause aus rein kontinental eingestellt, sich nur widerwillig zum Erwerb von Kolonien drängen ließ. Seine Nachfolger beschritten den Weg des kolonialen und Interessenssphären-Wettbewerbs viel bedenkenloser, freilich ohne ein wirkliches Programm. Ihre Politik auf diesem Gebiete bestand hauptsächlich darin, fortwährend die weltpolitische Situation danach zu prüfen, ob sich nicht irgendwo eine Kohlenstation, ein Stützpunkt oder ein Inselgruppe oder auch einmal ein größeres Landgebiet erwerben lasse, und ihre Zustimmung zu den Plänen und Wünschen anderer Mächte, ja das Gesamtverhältnis Deutschlands zu ihnen danach zu orientieren. Nur zu sehr ließen sie dabei einen der Grundgedanken Bismarcks außer acht, daß die deutsche Politik sich in erster Linie von der Frage der Sicherung des Besitzes in Europa, d. h. eben Deutschlands selbst aus orientieren müsse, und daß Aussichten auf Landerwerb über See keinesfalls zu politischen Aktionen führen dürften, die die Sicherheit Deutschlands gefährden konnten. Man sagt kaum zuviel, wenn man ausspricht, daß die sogenannte Weltpolitik, die besonders seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts in Deutschland proklamiert wurde, ein fortgesetzter Verstoß gegen diese Maxime nicht bloß der Politik Bismarcks, sondern jeder gesunden deutschen Politik überhaupt war. Die Frage, wie wirkt dies oder das auf Deutschlands Lage in Europa zurück, wurde viel zu wenig gestellt, und aus dieser Tatsache erklärt sich in erheblichem Maße manche gefährliche Situation, in die Deutschland hineinkam.

In koloniale Konflikte geriet Deutschland, wie übrigens schon zu Zeiten Bismarcks, der bekanntlich fast alle kolonialen Erwerbungen gemacht hat, die Deutschland überhaupt besaß, in der nachbismarckischen Zeit zunächst mehrfach mit England und am schärfsten nicht einmal, weil das nötig gewesen wäre, um wesentliche deutsche In- [39] teressen zu verteidigen, durch das sogenannte Krügertelegramm von 1896, dann 1899 wegen Samoa und noch aus manchen anderen Anlässen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Entfremdung zwischen England und Deutschland besonders auch, was die Volksstimmung angeht, durch solche Ereignisse, die natürlich keineswegs nur auf deutsches Schuldkonto zu schreiben sind, wesentlich gewachsen, ja sogar entstanden ist. Später wirkte die Bagdadbahn-Unternehmung in ähnlichem Sinne, und die deutsch-englische Flottenrivalität hat dann die Gegensätzlichkeit vollständig gemacht. Mit Frankreich führten die kolonialpolitischen Reibungen 1905 und 1911 zu den beiden Marokkokrisen, über deren Bedeutung für die Entwicklung der europäischen Politik noch zu reden sein wird. So sehr man der deutschen Politik in diesen Fragen heute Fehler und Mißgriffe nachrechnen kann, so wenig darf man vergessen zu betonen, daß das junge Deutsche Reich natürlich ebenso sehr das Recht hatte, nach Kolonialerwerb und nach Interessensphären zu streben, wie die älteren Kolonialmächte, ja, daß die für die rasch wachsende Bevölkerung und die erstaunlich schnell sich entfaltende Industrie verhältnismäßig schmale wirtschaftliche Basis des heimischen Bodens ein Hinausgreifen nach Übersee für Deutschland besonders notwendig machte. Es war eine ganz natürliche Entwicklung, der man sich gar nicht entziehen konnte. Daß dem so war, zeigt schon allein die Tatsache, daß die Großmächte in den verschiedensten Teilen der Welt miteinander zusammenstießen, und daß dabei Deutschland bald auf der einen, bald auf der anderen Seite stand. Nichts ist einleuchtender, als daß die weltpolitischen Reibungen des imperialistischen Zeitalters sich auf die Politik derjenigen Macht, die Vorbild und vornehmste Trägerin des Imperialismus war, England, am stärksten auswirken mußten. England hatte am meisten von allen weltweite Interessen, es saß mit seinen Kolonien, Stützpunkten und Interessensphären auf allen Weltteilen und an allen Schnittpunkten des Weltverkehrs. Wer sich ausbreiten wollte, stieß ganz von selbst irgendwo auf England. Wenn Rußland nach den Meerengen strebte oder in Persien, Afghanistan, Tibet oder im fernen Osten den Vormarsch antrat, rührte es an englische Interessen. Wenn Frankreich seine Besitzungen in Hinterindien ausdehnte oder in Marokko oder in Zentralafrika auf Erwerbungen ausgehen wollte, sah es sich ebenfalls an all diesen Punkten England gegenüber, mit dem es überdies seit langem in Ägypten um Macht und Einfluß rang. Die englische Geschichte dieser Jahrzehnte ist denn auch voll von Reibungen und Konflikten, die mehr als einmal bis knapp vor den Ausbruch von Kriegen führten, so 1883 mit Frankreich wegen Siam und 1898 mit demselben Frankreich in Faschoda am oberen Nil. Mit den beiden Burenrepubliken in Südafrika kam England 1899/1901 in einen langen und opferreichen Krieg. All das hat die englische [40] Politik zu einer grundsätzlichen Schwenkung veranlaßt, deren Einfluß auf die weltpolitische Lage nicht minder folgenschwer gewesen ist, als die Lockerung des Bismarckischen Bündnissystems durch die Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrags und der damit ermöglichte Abschluß der französisch-russischen Entente: England vollzog die Wendung von der Politik der Isolierung zu der der Bündnisse, weil ihm die Isolierung gefährlich zu werden schien. Man erinnert sich der verschiedenen Versuche Bismarcks mit England in ein Vertragsverhältnis zu kommen, die immer dann einsetzten, wenn er mit Rußland Reibungen hatte, und wie alle diese Versuche ergebnislos verliefen, da England lieber allein blieb. Während des Burenkriegs und auch schon vorher lagen Ideen von der Bildung eines kontinentalen Blocks gegen England in der Luft, Gedanken wie sie auch von Wilhelm II. viel ventiliert wurden. Da England draußen in der Welt abwechselnd mit allen Mächten zusammenstieß, war die Besorgnis, durch die Aufrechterhaltung der Politik der Isolierung sich einmal einer Einheitsfront der anderen Mächte gegenüber zu sehen, keineswegs abwegig. Jedenfalls aber mußte es den Engländern angezeigt erscheinen, die Zahl der Reibungsflächen und Gefahrenpunkte draußen in der Welt zu verringern bzw. sich auf dem Festlande eine Macht zu suchen, auf die man sich stützen konnte.

Diese neue Politik hat sich in England nur langsam durchgesetzt. Der führende Staatsmann in der Zeit des Ausgangs des 19. Jahrhunderts, Salisbury, widerstrebte ihr, ein anderer von Englands Staatsmännern und zugleich der Wortführer des Imperialismus, Joseph Chamberlain, war ihr eigentlicher Anwalt. Er ergriff im Jahre 1898 die Initiative zu jenen mit Pausen bis 1901 fortgesetzten Besprechungen, die unter dem Namen "deutsch-englische Bündnisverhandlungen" bekannt sind. Ihre Bedeutung wird allerdings durch das neuerdings in der englischen Aktenpublikation veröffentlichte englische Material abgeschwächt. Soviel bleibt von ihnen jedenfalls, daß führende englische Politiker damals die deutsche Regierung über die Möglichkeit einer deutsch-englischen Verständigung auf breiter Basis sondierten, daß eine Anzahl jener englischen Staatsmänner, die die Politik der Isolierung aufgeben wollten, zunächst versuchten, ob die geplante neue Politik des Eingehens vertraglicher Bindungen sich mit Deutschland verwirklichen ließe. Wenn man sich die damalige Lage Englands vergegenwärtigt, wird es deutlich, daß jene englischen Politiker, die Anschluß an eine andere Macht suchten, in erster Linie an Deutschland denken mußten. Denn Englands Gegensätze zu ihm waren trotzdem, was bisher an Reibungen und Streitigkeiten vorgekommen war, und trotz der offensichtlichen Handelskonkurrenz erheblich geringer als die mit Frankreich oder mit Rußland, die dazu noch miteinander verbündet waren. Es war also ganz natürlich, daß [41] man zuerst bei Deutschland anklopfte, und die in diesem Sinne gehaltenen Äußerungen Chamberlains, mit denen er die Besprechungen von 1898 einleitete, entsprachen sicher seiner Überzeugung. Von deutscher Seite begegneten die bis 1901 von englischer Seite mehrfach wiederholten Versuche einem starken Mißtrauen. Obwohl der deutsche Botschafter in London, Graf Hatzfeld, einer der besten Diplomaten aus Bismarcks Schule, mehrfach riet, auf die englischen Anregungen einzugehen, konnte man sich dazu in Berlin, hauptsächlich unter dem Einfluß Holsteins, der den englischen Bemühungen seine Kastanientheorie entgegensetzte, d. h. mit dem Argument operierte, die Engländer wollten uns nur dazu bringen, für sie, besonders Rußland gegenüber, die Kastanien aus dem Feuer zu holen, nicht entschließen. Die Verhandlungen scheiterten schließlich daran, daß die Engländer nur mit Deutschland allein ein Abkommen wünschten, während Berlin ein solches mit dem Dreibund als Ganzem wollte. Letzten Endes war die Haltung der deutschen Politik dabei aber durch die Auffassung bedingt, daß es für Deutschland besser und vorteilhafter sei, wenn es keine Bindungen eingehe. Man besaß ja den Dreibund, Rußland hatte sich im fernen Osten festgelegt und sich von Europa abgewandt, zwischen Frankreich und England war es über Faschoda soeben beinahe zum Krieg gekommen, und während des größten Teiles der deutsch-englischen Verhandlungen stand England im Burenkriege. Deutschlands Lage schien deshalb außerordentlich gesichert. Wohl bestand der französisch-russische Zweibund, aber er war durch Rußlands Ostasienpolitik inaktiviert, und seine beiden Partner befanden sich zu England in scharfem Gegensatz. So erschien Deutschland in der Lage desjenigen, der zwei streitenden Parteien ohne Besorgnis zusehen kann und keinen Grund hat, sich der einen oder der anderen zuzugesellen. Damals prägte der Reichskanzler Bülow das stolze Wort vom deutschen Kaiser als dem Arbiter mundi. Es war ein oberflächliches Wort! War Deutschland wirklich in der Lage, in der Bülow es wähnte? Das hätte bedeutet, daß es sich nötigenfalls jeder der beiden Mächte bzw. Mächtegruppen hätte anschließen können, deren Gegensätze ihm eine so glückliche Position zu verschaffen schien, d. h. sowohl England wie dem Zweibund. Aber sobald dazu hinsichtlich des Zweibunds auch nur der erste Schritt gemacht wurde, zeigte sich die Unmöglichkeit: Frankreich war keineswegs zu einer Verständigung mit Deutschland auf der für Deutschland allein möglichen Grundlage der Anerkennung des Status quo, d. h. Frankreichs Verzicht auf Elsaß-Lothringen bereit. Wenn man aber gegenüber zwei sich streitenden Parteien nicht in der Lage ist, sich sowohl der einen wie der anderen anschließen zu können, ist man eben nicht der Arbiter der Situation. Einen zweiten ebenso großen Irrtum begingen die deutschen Staatsmänner. Sie wähnten [42] mit den Gegensätzen England-Frankreich und England-Rußland als einem Dauerzustand rechnen zu können, d. h. sie glaubten nicht an die Möglichkeit einer Verständigung zwischen diesen Mächten, erwarteten vielmehr, daß diese Gegensätze sich notwendigerweise immer noch mehr zuspitzen würden, die Situation Englands sich dadurch verschlechtern und England gezwungen sein würde, sein Angebot später unter für es selbst viel ungünstigeren, d. h. für Deutschland wesentlich günstigeren Bedingungen zu erneuern.

Dies geschah nicht. England schritt vielmehr entschlossen in eine andere Richtung. Dem Vordrängen Rußlands im fernen Osten begegnete es durch den Abschluß eines Bündnisses mit Japan am 30. Januar 1902. Japan gewann so die Rückendeckung für seine Auseinandersetzung mit Rußland im russisch-japanischen Krieg, der durch den Zusammenbruch der russischen Politik im fernen Osten England an dieser Stelle der Welt von seinem größten Gegner befreite und diesen infolge der bei ihm ausbrechenden Wirren auch im ganzen fürs erste mattsetzte. Sodann bereinigte England seine zahlreichen und alten Streitigkeiten mit Frankreich durch die Entente vom 8. April 1904, die nach außen hin sich als eine Liquidierung aller vorhandenen Differenzpunkte darstellte, aber durch ein Geheimabkommen ergänzt wurde, durch das sich die beiden Regierungen dahin einigten, daß England Frankreich in Marokko und Frankreich England in Ägypten freie Hand ließ. Es war mehr als eine diplomatische Flurbereinigung. Bald sollte sich zeigen, daß die Bestimmungen von Artikel 9 des Hauptvertrages, der bestimmte, die beiden Regierungen sollten einander bei der Durchführung des Abkommens diplomatisch unterstützen, keine leere Redensart war. Als Deutschland, das in Marokko nicht unerhebliche wirtschaftliche Interessen hatte, gegen die englisch-französischen Abmachungen Stellung nahm, weil es sich nicht einfach beiseite schieben lassen wollte und konnte, sah es sich einer französisch-englischen Front gegenüber: Das Abkommen zwischen diesen beiden Mächten kehrte seine antideutsche Spitze sofort heraus. Zweifellos hat die deutsche Politik in der Art, wie sie in dieser Frage ihre Interessen vertrat, Fehler begangen. Aber man muß daran festhalten, daß das englisch-französische Abkommen, das im Grunde eine Aufteilung der nördlichen Hälfte Afrikas zwischen den beiden größten Kolonialmächten darstellte und den Zweck hatte, diesen weite und wertvolle Ländergebiete zu unterwerfen, die bisher unabhängig waren bzw. einem anderen Reiche angehörten, ein Erwerbsvertrag mit dem gleichzeitigen Ziel des Ausschlusses von Deutschlands politischem und wirtschaftlichen Einfluß aus eben diesen Gebieten gewesen ist. Deutschland war bei der ganzen Angelegenheit in der Defensive. Und es ist die Umkehrung der historischen Tatsachen, wenn heute [43] vielfach behauptet wird, die französisch-englische Entente sei die Antwort auf eine deutsche Bedrohung gewesen.

Mit dieser Entente begann, indem sich England, das bisher ohne Bindung nach der einen oder der anderen Seite dem Dreibund und dem französisch-russischen Zweibund gegenüber gestanden hatte, nunmehr an Frankreich band, sich jene grundlegende Verschlechterung der politischen Lage Deutschlands und Gesamteuropas herauszubilden, die später so verhängnisvoll geworden ist. Hatte die Entstehung des französisch-russischen Bündnisses als einer Gegenkombination gegen den Dreibund Europa in zwei sich gegenüberstehende Mächtegruppen geteilt, bei der jedoch der prinzipiell auf die Erhaltung des Bestehenden eingestellte Dreibund noch immer ein Übergewicht besaß, so erhielt jetzt der Zweibund durch den Anschluß Englands an Frankreich eine deutliche Überlegenheit, und es begann das, was man in Deutschland als die englische Politik der Einkreisung empfand. Für Europa bedeutete dies, daß der Gleichgewichtszustand, in dem es zuerst durch das politische System Bismarcks, dann durch das Gegenüber zweier einigermaßen gleichwertiger Bündnisgruppen mit leichter Überlegenheit der auf Erhaltung des Bestehenden gerichteten gehalten worden war, nunmehr drohte unstabil zu werden, weil diejenige Mächtegruppe zu überwiegen begann, bei der deutliche Tendenzen auf Änderung des Status quo in Europa vorhanden waren. Die europäische Politik der nächsten 10 Jahre bis zum Ausbruch des Weltkrieges war im ganzen gesehen nichts anderes als der Ausdruck dieser Unstabilität. Sie war gekennzeichnet durch das fortwährende diplomatische Ringen der beiden Mächtekombinationen um die Präponderanz, wobei die Entfesselung der auf Erwerb, d. h. auf Änderung des Bestehenden gerichteten Tendenzen immer deutlicher wurde. Das führte dazu, daß die einzelnen Mächte ihre Rüstungen immer weiter steigerten, um an sich möglichst stark zu sein, es führte weiter dazu, daß die Mitglieder der einzelnen Gruppen eifrig bemüht waren, das Gruppenbewußtsein zu stärken, ihre Politik anzugleichen und den Zusammenhalt ihrer Gruppe durch Abmachungen und Besprechungen möglichst zu stärken. Ganz natürlich wurde das Gegenüber der beiden Gruppen dadurch immer ausgesprochener, auch von weitesten Volkskreisen viel mehr gefühlt, kurz, die Spannung in Europa wuchs fortwährend. In immer schnellerer Folge kam es zu politischen Krisen, während deren der Kriegsausbruch in deutliche Nähe rückte. Er wurde immer wieder vermieden, bis es dann schließlich einmal nicht mehr gelang, die den Frieden rettende Formel zu finden, weil der Organismus der Bündnissysteme den einmal ausgebrochenen Konflikt überallhin weiterleitete, und weil an verschiedenen verantwortlichen Stellen [44] Männer standen, die der schweren Aufgabe, den Frieden zu erhalten, entweder nicht gewachsen oder dazu nicht willens waren.

Wenn dies bei der ersten Marokkokrisis von 1905 gelang, so enthüllte die sie beendigende Konferenz von Algeciras vor aller Augen die Verschlechterung von Deutschlands politischer Situation, verglichen mit der doch nur wenige Jahre zurückliegenden Zeit, in der Bülow das Wort vom deutschen Kaiser als Arbiter mundi zu prägen wagte. Nur die Tatsache, daß Rußland fürs erste nicht in der Lage war, eine Expansionspolitik zu machen, d. h. sie nötigenfalls mit Waffengewalt durchzusetzen, bedeutete eine Erleichterung für Deutschland. Aber aus der Niederlage heraus entwickelte Rußland eine neue Politik, die diesen Lichtpunkt in Deutschlands Lage bald auslöschen sollte. Rußland liquidierte nicht nur seine fernöstliche Politik, sondern bald darauf auch seine Differenzen mit England auf der ganzen ungeheuren Front von China bis zum vorderen Orient durch die russisch-englische Konvention vom 31. August 1907, die einen Interessenausgleich zwischen beiden Mächten in Persien, Afghanistan und Tibet herbeiführte. Es tat dies, um an all diesen Stellen der Welt die Hände frei zu bekommen, und weil der neue Leiter der russischen Außenpolitik Iswolski der Überzeugung war, daß Rußland mit England und Frankreich zusammengehen müsse, um mit ihnen seine historischen Ziele an den Meerengen und die Verwirklichung der panslawistischen Ideale am Balkan herbeizuführen. Rußland wandte sich wieder dem Westen zu, und die Erleichterung von Deutschlands Lage, die sich aus Rußlands Hinwendung zum Osten ergeben hatte, kam zu ihrem Ende. Freilich war Rußland zunächst militärisch schwach und konnte nicht daran denken, einen Waffengang herbeizuführen. Wie sehr die Leiter der russischen Politik diese Tatsache bedauerten, zeigen die diplomatischen Dokumente über die sogenannte Bosnische Krisis von 1908/9, in denen immer wieder von russischer Seite mit Schmerz festgestellt wird, Rußland sei nicht zum Kriege bereit. Rußland und nicht minder sein Bundesgenosse Frankreich zogen daraus aber den Schluß, daß es so nicht bleiben könne, und mit Hilfe französischer Milliarden baute Rußland in den nächsten Jahren seine Rüstungen mit aller Energie aus, für welche Ziele, erfahren wir aus den russischen Geheimdokumenten mit aller wünschenswerten Deutlichkeit. So drückte denn von Jahr zu Jahr Rußlands politische Energie in steigendem Maße gegen die Meerengen, den Balkan und Deutschlands Ostgrenze. Sie tat es vor allem auch indirekt, indem sie die politischen Energien der Balkanvölker aufrüttelte und stärkte und sie auf dem Wege zur Verwirklichung ihres nationalen Ideales, d. h. zur Sammlung aller ihrer Volksgenossen im Nationalstaat vorwärts drängte. Dies bedeutete eine grundsätzliche Bekämpfung des Status quo am Balkan, d. h. der Mächte, die [45] an ihm am stärksten interessiert waren, der Türkei und Österreich-Ungarns. Die Verwirklichung der nationalen Ideale der Balkanvölker war nur auf Kosten dieser beiden Mächte möglich, deren Existenz dabei auf dem Spiele stand. Die Spannung am Balkan mußte somit zur kriegerischen Entladung drängen. Nach langen Bemühungen gelang es Rußland 1912 den Balkanbund zustande zu bringen, den auch Poincaré, als er zu seiner Kenntnis gelangte, sofort als ein Kriegsinstrument bezeichnete. Als solches wirkte er denn auch rasch und führte zu den Balkankriegen von 1912/13, die den europäischen Besitzstand der Türkei stark verminderten und Serbien, dem stärksten und aktivsten Hebel der russischen Balkanpolitik, eine Verdoppelung seines Gebietes und eine gewaltige Verstärkung seines gegen die Habsburger Monarchie gerichteten nationalen Willens brachte. Es war klar, daß Serbien, nachdem es seine Ziele nach der türkischen Seite verwirklicht hatte, seine Blicke nach der österreichischen richten würde. Von Rußland wurde es dazu ermuntert, und über die bald erwartete große Stunde der Abrechnung unterhielt man sich gegenseitig, wie wir aus den Akten wissen, ganz offen.

Schon vor diesen Ereignissen am Balkan hatten sich an einer anderen Stelle die zum Sturz des Bestehenden drängenden Kräfte in Bewegung gesetzt. Auch Italien, das gleichzeitig mit Deutschland seine nationale Einheit gefunden hatte, war in die Reihe der imperialistischen Mächte eingetreten und forderte seinen Platz an der Sonne. Wie Deutschland kam es erst relativ spät dazu, in den Wettbewerb um Kolonien und Interessensphären einzutreten, und stieß dabei ebenfalls mit denen zusammen, die sich schon früher auf den Weg zu imperialistischen Zielen hatten begeben können. Für Italien gab es dazu zwei Möglichkeiten, die eine an der Süditalien und Sizilien gegenüber liegenden afrikanischen Küste, die andere am Balkan und in den italienischen Gebieten, die noch zu Österreich gehörten. In südlicher Richtung stieß es hauptsächlich auf Frankreich, das die italienischen Bestrebungen geschickt benutzte, um der lateinischen Schwester so lange alle nur denkbaren Schwierigkeiten zu machen, als diese am Dreibund festhielt, und eine Gewährung ihrer Wünsche als Kaufpreis für ein Abschwenken vom Dreibund lockend zeigte. Schließlich fand sich Italien dazu bereit und durch zwei Notenwechsel vom 14./16. Dezember 1900 und 1. November 1902 kam zwischen beiden Mächten ein Mittelmeerabkommen zustande, das eine Aufteilung der Nordküste Afrikas bedeutete, insofern Italien Frankreichs "Rechte" auf Marokko und Frankreich die Italiens hinsichtlich Tripolis und der Cyrenaika anerkannte. Der Notenwechsel vom 1. November 1902 war eine Durchlöcherung des Dreibundvertrages, da Italien sich zur Neutralität verpflichtete, nicht nur im Falle, daß Frankreich Gegenstand eines unmittelbaren oder mittelbaren Angriffs von seiten einer oder [46] mehrerer Mächte sein sollte, sondern auch für den Fall, "daß Frankreich infolge einer unmittelbaren Herausforderung sich gezwungen sähe, zur Verteidigung seiner Ehre oder seiner Sicherheit von sich aus den Krieg zu erklären". Dieses Abkommen machte Italien als Bundesgenossen für Deutschland wertlos und zugleich für Frankreich im Kriegsfall ungefährlich, bedeutete also für Frankreich eine Stärkung. Ein neuer Stein war aus dem stolzen Bau von Bismarcks Sicherungssystem herausgenommen, und nun blieb nur noch Österreich-Ungarn als sicherer Bundesgenosse übrig. Italien, das einst dem Dreibund beigetreten war, um in der Anlehnung an Bismarcks Bündnissystem Sicherheit gegen Frankreich und für seine eigene junge Entwicklung zu finden, wandte sich vom Dreibund ab, der nicht mehr das alte Übergewicht zu besitzen schien, und der zudem seinem ganzen Wesen nach kein Erwerbsvertrag war und nach dem Willen des stärksten Partners Deutschland, auch nicht werden sollte, und näherte sich der Gegengruppe, in der die Erwerbstendenzen offenkundig waren. Die Annäherung geschah auf Grund von Abmachungen, die ebenso wie die französisch-englische Entente von 1904 und die englisch-russische von 1907 auf großen Landerwerb zuungunsten einer anderen Macht, in diesem Falle der Türkei, zielten. Es dauerte freilich noch beinahe ein Jahrzehnt, bis Italien die Zeit für gekommen hielt, um die praktische Nutzanwendung aus den Abmachungen mit Frankreich zu ziehen. Als Frankreich im Jahre 1911 zur endgültigen Besitzergreifung Marokkos schritt, andererseits die Türkei durch die jungtürkische Revolution im Innersten erschüttert war, erklärte Italien der Türkei den Krieg und besetzte Tripolis. Die Nöte, in die die Türkei dadurch geriet, ermunterten dann die Balkanstaaten im Jahre 1912, sich ihrerseits auf die Türkei zu stürzen.

Frankreich hatte inzwischen in zwei Etappen die Früchte der Entente mit England in Nordafrika gepflückt. Beide Male war es dabei zu einer europäischen Krisis gekommen, deren Beilegung nicht zuletzt dem Friedenswillen Deutschlands zu verdanken war. Wenn Deutschland bei beiden Marokkokrisen 1905 und 1911 nicht ohne weiteres zusehen wollte, wie Frankreich sich große Ländergebiete aneignete, in denen Deutschland ebenfalls bedeutende und vielversprechende wirtschaftliche Interessen besaß, bzw. dafür Kompensationen forderte, so war es dabei durchaus in seinem Recht. Freilich dürfte es außer Zweifel stehen, daß es beide Male wenig glücklich operierte und den Gegnern es nur zu sehr erleichterte, Deutschland als Störenfried in Europa hinzustellen. Die beiden Marokkokrisen haben auch die für Deutschland und für die politische Lage in Europa schädliche Folge gehabt, die Entente zwischen Frankreich und England zu stärken und wenn nicht durch Abmachungen der Regierungen, so doch durch militärische Besprechungen der Generalstäbe [47] und durch den bekannten Schriftwechsel von 1912 zwischen dem englischen Außenminister Grey und dem französischen Botschafter in London, Paul Cambon, auszubauen und zu präzisieren. Die Marokkokrisen wurden so zwei wichtige Etappen in jener Entwicklung, während der das feindliche Gegenüber der beiden europäischen Bündnissysteme sich immer mehr akzentuierte.

Die Verschärfung des englisch-deutschen Gegensatzes, der seit dem Ende der neunziger Jahre besonders stark hervortrat, war dabei entscheidend. Zweifellos waren seine Wurzeln die englisch-deutsche Wirtschaftsrivalität, die machtvolle Konkurrenz des neuen Industriestaates in der Mitte Europas mit der alten Industrie des Inselreiches, die Rivalität der deutschen Handelsflagge mit der englischen auf allen Meeren, die Versuche Deutschlands, sich überall, wo es ging, Stützpunkte und Interessensphären zu schaffen. Aber all diese vielfältige Rivalität, bei der doch England, dessen größter und stets leistungsfähigerer Abnehmer Deutschland wurde, ebenfalls auf seine Kosten kam, hätte nicht zu der Gegnerschaft führen müssen, die sich hernach entwickelte. Daß dies geschah, ist wesentlich darauf zurückzuführen, daß Deutschland von 1900 an auch auf dem ureigensten Lebensgebiete Englands, dem der Seeherrschaft, als Mitbewerber auftrat. Auch dies ergab sich ganz natürlich aus dem Anwachsen des deutschen Handels und der deutschen Überseeinteressen. Wenn Deutschlands Handelsflotte an die zweite Stelle in der Welt rückte, war es nur natürlich, daß auch die zu ihrem Schutz bestimmte Seerüstung eine Verstärkung erfuhr. Freilich mußte man sich überlegen, welche politischen Wirkungen diese Seerüstungen haben konnten oder mußten, und ob das Maß von militärischer Sicherung und Stärkung, das Deutschland damit gewann, so groß war, daß es eventuelle politische Wirkungen zuungunsten des Reiches aufwog, die sich aus ihnen ergaben. Nicht darum handelte es sich und handelt es sich heute, wenn wir rückschauend die deutsche Flottenpolitik beurteilen, ob Deutschland ein Recht zu einer starken Flotte hatte und ob eine solche notwendig war, sondern um die eben formulierte Frage, ob der militärische Nutzen dieser Flottenpolitik größer war als der politische Schaden, den sie in den Beziehungen zu England zur Folge hatte. Ohne Zweifel war das letztere der Fall. Der Gedanke der Risikoflotte war falsch, denn einmal war England fest entschlossen, sich beim Wettrüsten zur See von Deutschland auf keinen Fall in eine Position drängen zu lassen, die eine Gefährdung seiner Suprematie zur See hätte bringen können, zum andern näherte es sich immer mehr Frankreich und Rußland, um für den Fall eines Konfliktes dieser Mächte völlig sicher zu sein. Dadurch verstärkte es andererseits wieder den Druck dieser Mächte auf Deutschland, da sie aus dem Bewußtsein, im Ernstfalle Englands sicher sein zu [48] können, für ihre eigene Politik Deutschland bzw. Österreich-Ungarn gegenüber den Schluß zogen, sicherer und energischer aufzutreten als dies ohne die Voraussicht auf englische Unterstützung der Fall gewesen wäre. Die deutsche Risikoflotte verminderte also das Risiko von Deutschlands Lage nicht, sondern vermehrte es.

So hatte sich denn, als das Attentat von Serajevo sich ereignete, in Europa folgende Lage entwickelt: Deutschland stand, nur mit Österreich-Ungarn als sicherem Bundesgenossen, isoliert da. Die Entente hatte sich mit jeder der Krisen von 1905, 1908, 1911 und 1912/13 verstärkt und konsolidiert. Alle Versuche der deutschen Politik, durch diplomatische Verhandlungen und politische Abkommen wie 1905 in Björkoe oder 1910 in Potsdam, den Ring zu sprengen, waren vergeblich geblieben. Dieser hatte sich vielmehr durch Militärbesprechungen, Marineabkommen und politische Absprachen der Ententemächte untereinander immer mehr geschlossen, und die Führer der Entente waren bemüht, ihre Interessen überall möglichst auszugleichen und die Aktionen ihrer Diplomatie in jedem Falle, wo es sich um Reibungen mit den Zentralmächten handelte, möglichst zu koordinieren. Besonders verhängnisvoll war dabei die Tätigkeit des russischen Botschafters in Paris Iswolski und Poincarés. Welche Entwicklung des französisch-russischen Bündnisses seit seiner Entstehung, bei der Rußland ängstlich bemüht war, sich von Frankreich nicht für Elsaß-Lothringen ausnützen zu lassen, und Frankreich dasselbe hinsichtlich der Meerengen gegenüber Rußland zu vermeiden trachtete, zu dem Auftreten beider Mächte in den Balkanfragen von 1912/13, wo die französische Politik Rußland immer wieder die vollste Unterstützung und Bereitschaft zum casus foederis zusicherte! Frankreich sah jetzt in einer Gebietsvergrößerung Österreichs auf dem Balkan eine Verschiebung des europäischen Gleichgewichts, der es zum Kriege nötigte! So weit hatte Frankreich Rußlands Interessen am Balkan sich zu eigen gemacht. Wer möchte behaupten, daß das ohne Hintergedanken hinsichtlich Elsaß-Lothringens geschehen sei? Frankreich hatte durch ungeheure Milliardenanleihen Rußland, das dazu aus eigenen Kräften nicht in der Lage gewesen wäre, in den Stand gesetzt, sich von der militärischen Schwäche nach 1905 rasch zu erholen und durch die Vergrößerung des stehenden Heeres, die Vervollkommnung der Ausrüstung und den Bau strategischer Bahnen gegen die deutsche und österreichisch-ungarische Grenze wieder ein höchst bedrohlicher militärischer Faktor zu werden und dadurch in die Lage zu kommen, eine aggressive Politik gegenüber den Meerengen und auf dem Balkan zu führen, für die Frankreich seinerseits ihm wieder seine volle diplomatische Unterstützung lieh.

Bismarcks konservatives, auf die Erhaltung des Bestehenden zielendes politisches System war 1914 durch eine völlig andere Situation [49] ersetzt, welche die schon vor der Jahrhundertwende in steigendem Maße fortschreitende Dynamisierung der politischen Kräfte Europas und der Welt zum Ausdruck brachte. Überall waren seit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts diese Kräfte im Vormarsch. Der englische Imperialismus hatte den Burenkrieg siegreich beendet, sich Ägypten und den Sudan gesichert und das südliche Persien unter seinen Einfluß genommen. Der französische hatte Marokko unterworfen und dabei zwei europäische Krisen provoziert, der italienische hatte einen Krieg mit der Türkei geführt und sich Tripolis angeeignet, der russische war im fernen Osten mit dem japanischen zusammengestoßen und in einem großen Kriege unterlegen, hatte sich darauf den nördlichen Teil Persiens gesichert, schmiedete unentwegt Pläne zur Besitzergreifung der Meerengen und wühlte auf dem Balkan, brachte dadurch die Annexionskrise von 1908 in Gang, führte 1912 den Balkanbund herbei, der sofort zu den Balkankriegen führte, und rüstete sich für die große Auseinandersetzung, bei der er seine historischen Ziele an den Meerengen und am Balkan zu erreichen hoffte. Deutschland hatte in all dieser Zeit eine schwankende, oft undurchsichtige und unklare Politik gemacht, die ebenso wie die der anderen auf Gewinn gestellt war, aber Landbesitz nirgends in erheblichem Maße eintrug und dabei immer mehr in die Defensive gedrängt wurde. Sein Bundesgenosse Österreich wurde durch die nationalen Aspirationen seiner Nachbarn ebenfalls immer stärker bedroht. Die beiden Zentralmächte, die im großen ganzen das konservative Element in der europäischen Politik darstellten, d. h. jenes, das auf Erhaltung des bestehenden Zustandes in Europa gerichtet war, gerieten gegenüber der anderen Gruppe, in der das Dynamische, das auch in Europa auf Änderung des Bestehenden, auf Ländergewinn gestellte vorherrschend war, immer mehr ins Gedränge. Es war dieses Bewußtsein, das die Leiter der österreichischen Politik nach Serajevo dazu bestimmte, auf die Ermordung des Thronfolgers mit einer energischen Politik gegenüber Serbien zu antworten. Weil man sich in Wien durch Serbien nicht bloß in seinem Besitzstand, sondern durch den stürmischen Vormarsch des nationalen Gedankens auf dem Balkan als Nationalitätenstaat in seinem Dasein bedroht fühlte, war man entschlossen, Gewalt zu gebrauchen. Wie sich das Bündnissystem in Europa entwickelt hatte, mußte der Brand am Balkan sich automatisch über ganz Europa verbreiten, wenn Rußland sich militärisch genügend stark und von der Niederlage von 1905 erholt fühlte. Daß die Leiter der deutschen Politik das nicht rechtzeitig erkannten, bzw. in Rechnung stellten, ist ihr großer Fehler. Aber man muß die Frage aufwerfen, ob, wenn es gelungen wäre, nach Serajevo noch einmal den Frieden zu erhalten, der Krieg nicht bei der nächsten Gelegenheit ausgebrochen wäre. So lange die Lagerung der politi- [50] schen Kräfte Europas so blieb, wie sie sich bis 1914 entwickelt hatte, mußte sich die Gefahr einer Explosion von Jahr zu Jahr steigern, da Europa stets mehr einem Heerlager glich, jeder den andern mit Neid und Mißtrauen beobachtete und die beiden sich gegenüberstehenden Mächtegruppen, eifrig bemüht sich zu konsolidieren und zu stärken, bei jeder Gelegenheit sich als geschlossene Gruppen gegenübertraten, so daß die Völker langsam das Gefühl bekamen, der Krieg sei auf die Dauer unvermeidlich.

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Zehn Jahre Versailles
in 3 Bänden herausgegeben von
Dr. Dr. h. c. Heinrich Schnee und Dr. h. c. Hans Draeger