Bd. 1: Der deutsche Landkrieg, Erster Teil:
Vom Kriegsbeginn bis zum Frühjahr 1915
Kapitel 1: Die politischen Grundlagen für die
Entschlüsse
der Obersten Heeresleitung bei Kriegsbeginn (Forts.)
Generalmajor Wilhelm v. Dommes
4. Von der Ermordung des Erzherzogs Franz
Ferdinand bis zur Kriegserklärung Englands.
Am 28. Juni 1914 fielen die beiden Pistolenschüsse, durch die Erzherzog
Franz Ferdinand, der
österreichisch-ungarische Thronfolger, und seine Gemahlin [18] bei einem Besuche der bosnischen Hauptstadt
ermordet wurden. Der Mörder war ein serbischer Student. Dem Morde lag
eine Verschwörung zugrunde, deren Fäden nach Belgrad
führten.11
Österreich-Ungarn war nicht in der Lage, die großserbische
Propaganda, die bis zur Ermordung des Thronfolgers schritt, weiterhin zu dulden,
wollte es nicht auf seine Großmachtstellung nicht nur, sondern auch auf
jedes Ansehen gegenüber der slawischen Bevölkerung innerhalb der
Monarchie verzichten. In fühlbarer Schwüle vergingen der Rest des
Juni und die drei ersten Juliwochen.
Am 5. Juli, als der Gang der Untersuchungen über das Verbrechen einen
klaren Überblick gestattete, überreichte der österreichische
Botschafter dem Deutschen Kaiser in Potsdam ein Handschreiben des Kaisers
Franz Joseph. In dem Schreiben war ausgeführt, daß es weder mit der
Würde noch mit der Selbsterhaltung der Monarchie vereinbar wäre,
dem Treiben jenseits der serbischen Grenze tatenlos zuzusehen. Die
österreichisch-ungarische Regierung werde mit der Forderung nach
weitgehender Genugtuung an Serbien herantreten.
Die Stellungnahme der deutschen Regierung zu dieser Frage, niedergelegt in
einem Bericht des Reichskanzlers an die Bundesregierungen vom 28. Juli
1914,12 sagt: "....Wir waren uns wohl
bewußt, daß Serbien Rußland auf den Plan bringen und uns
hiermit unserer Bundespflicht entsprechend in einen Krieg verwickeln
könnte. Wir konnten aber in der Erkenntnis der vitalen Interessen
Österreich-Ungarns, die auf dem Spiele standen, unserem Bundesgenossen
weder zu einer mit seiner Würde nicht vereinbaren Nachgiebigkeit raten,
noch auch ihm unseren Beistand in diesem schweren Moment versagen. Wir
konnten dies um so weniger, als auch unsere Interessen durch die andauernde
serbische Wühlarbeit auf das empfindlichste bedroht waren. Wenn es den
Serben mit Rußlands und Frankreichs Hilfe noch länger
gestattet geblieben wäre, den Bestand der Nachbarmonarchie zu
gefährden, so würde dies den allmählichen Zusammenbruch
Österreichs und eine Unterwerfung des gesamten Slawentums unter
russisches Zepter zur Folge haben, wodurch die Stellung der germanischen Rasse
in Mitteleuropa unhaltbar würde. Ein moralisch geschwächtes, durch
das Vordringen des russischen Panslawismus zusammenbrechendes
Österreich wäre für uns kein Bundesgenosse mehr, mit dem
wir rechnen könnten, wie wir es angesichts der immer drohender
werdenden Haltung unserer östlichen und westlichen Nachbarn
müssen. Wir ließen daher Österreich völlig freie Hand in
seinen Aktionen gegen Serbien. Wir haben an den Vorbereitungen dazu nicht
teilgenommen....."
[19] Vor Antritt der Nordlandreise hatte der Kaiser
den Kriegsminister sowie die Vertreter der auf Urlaub befindlichen
Staatssekretäre des Auswärtigen Amts und des
Reichs-Marine-Amts, des Generalstabs- und Admiralstabschefs, teils am 5., teils
am 6. Juli nach Potsdam kommen lassen und mit ihnen einzeln über die
Lage gesprochen.13 In diesen Besprechungen stellte sich
der Kaiser auf den vom Reichskanzler vorgetragenen Standpunkt: Es sei kaum zu
erwarten, daß Rußland Serbien unterstützen werde. Auch sei
damit zu rechnen, daß der Wunsch, den europäischen Frieden zu
erhalten, von den anderen Großmächten geteilt werde. Jedenfalls solle
nichts geschehen, was Beunruhigung hervorrufen könne. Die abwesenden
Ressortchefs sollten ihren Urlaub nicht
unterbrechen. - Der Kaiser selbst trat auf dringenden Rat des
Reichskanzlers am 6. Juli die gewohnte Nordlandreise an.
Am 23. Juli nachmittags überreichte der österreichisch-ungarische
Gesandte in Belgrad der serbischen Regierung eine Note, in der Annahme und
Veröffentlichung einer genau vorgeschriebenen Erklärung verlangt
wurde. In ihr sollte ausgesprochen werden, daß die serbische Regierung die
großserbischen Propaganda verurteile und sich verpflichte, sie mit allen
Mitteln zu unterdrücken. Der serbische Volksverein sollte aufgelöst,
gegen die in Serbien zu suchenden Teilnehmer an dem Mordanschlage sollte eine
gerichtliche Untersuchung eingeleitet werden. Österreichisch-ungarische
Organe sollten dabei mitwirken.
Die Note war von außerordentlicher Schärfe. Sie wurde auf zweimal
vierundzwanzig Stunden befristet. Vorbehaltlose Annahme wurde gefordert. Die
europäischen Großmächte wurden von der Note und von den
Gründen, die sie herbeigeführt hatten, verständigt. Groß
wird ihre Überraschung kaum gewesen sein. Am 16. Juli bereits hatte Sir
Edward Grey den Entwurf des Ultimatums an Serbien in Händen.14 Er war durch verräterische
Beamte an die englische Botschaft in Wien verkauft. Vor Rußland gab es in
Wien und in
Ofen-Pest überhaupt kein Geheimnis. Es ist anzunehmen, daß das
Bekanntwerden des Ultimatums bei unseren Feinden den Entschluß
gezeitigt hat, es nunmehr sofort zum Kriege kommen zu lassen.
Serbien wandte sich an Rußland. Von Rußland mußte es
abhängen, ob die Streitfrage zwischen
Österreich-Ungarn und Serbien allein geregelt, oder aber, ob sie
größeren und dann unabsehbaren Umfang annehmen
würde.
Am 24. Juli antwortete Sasonow dem serbischen Gesandten in Petersburg,
daß Rußland keinerlei aggressive Handlungen
Österreich-Ungarns gegen Serbien zulassen werde. Der französische
Botschafter in Petersburg ließ Herrn Sasonow keinen Zweifel
darüber, daß Frankreich nötigenfalls alle durch das
Bündnis bedingten Verpflichtungen erfüllen werde.
[20] Die Rückenstärkung, die es
durch Rußland erfuhr, setzte
Serbien in den Stand, seine Antwort so zu halten, daß
Österreich-Ungarn sie als ungenügend ansah. Am 28. Juli erfolgte
die österreichische Kriegserklärung an Serbien.
Die deutsche Regierung hatte sich seit der Übergabe des
österreichischen Ultimatums bemüht, die Lokalisierung des
österreichisch-serbischen Konflikts sicherzustellen. Sie machte sich dabei
den österreichischen Standpunkt zu eigen, daß es nicht
möglich sei, den Streitfall zum Gegenstand von Verhandlungen und
Kompromissen zu machen.
Die politische Leitung Deutschlands legte größten Wert darauf, alles
zu vermeiden, was nur irgendwie als Kriegsvorbereitung ausgelegt werden
konnte. Sie ging dabei über die Grenzen des Erträglichen hinaus. So
hat zum Beispiel der Kaiser das österreichische Ultimatum an Serbien
zuerst durch den drahtlosen Pressedienst erfahren. Er faßte sogleich den
Entschluß zur Rückkehr. Die Reichsleitung widerriet dem, obgleich
das Fernbleiben des Kaisers in diesem kritischen Augenblick in Deutschland nicht
verstanden wurde, und obwohl die Möglichkeit bestand, daß er im
Kriegsfalle von der englischen Flotte abgeschnitten oder gefangengenommen
würde. Auch die Zurückberufung der zu Übungszwecken an
der norwegischen Küste befindlichen deutschen Flotte geschah gegen den
Willen des Reichskanzlers, obgleich jede Verzögerung die Gefahr
erhöhte, daß ihr von der völlig schlagfertig versammelten,
überlegenen englischen Flotte der Weg verlegt wurde. Deutschland hat
noch im Juli erhebliche Mengen Brotgetreide unter befürwortender
Billigung des Reichskanzlers nach Frankreich ausgeführt. Salpeter, Kupfer,
Nickel und andere kriegsnotwendige Stoffe fehlten; ihre vorschauende
Ergänzung wäre dringend gewesen. Sie wurde unterlassen,
während Deutschlands Feinde jede Möglichkeit zur
Vervollständigung ihrer Rüstung benutzten.
Am 23. Juli war das österreichische Ultimatum in Belgrad
überreicht. Am 25. bereits, am Tage, an dem die der Beantwortung
gesetzten Frist ablief, wurde in Rußland der Befehl zum Beginn der
"Kriegsvorbereitungsperiode" für das ganze Gebiet des europäischen
Rußlands auf den nächsten Tag (26. Juli) beschlossen. Der
ausgesprochene Zweck des Befehls der "Kriegsvorbereitungsperiode" an Stelle
des Mobilmachungsbefehls war, durch geschickte diplomatische
Scheinverhandlungen den Gegner zu täuschen und ihm die Hoffnung zu
lassen, daß der Krieg vermieden werden könne. Inzwischen wollte
man die eigene Rüstung ungestört vollenden.
Am 25. Juli, 3 Uhr nachmittags, machte Serbien mobil. Daraufhin wurde in
Österreich am gleichen Tage abends Teilmobilmachung gegen Serbien
befohlen.
Am 27. Juli kehrte der Kaiser von der Nordlandreise zurück. Die Lage hatte
bereits eine derartige Verschärfung angenommen, daß der
Kriegsausbruch fast unvermeidlich schien. Durch persönlichen
Briefwechsel mit dem Zaren und dem König von England versuchte der
Kaiser die Fäden wieder aufzunehmen. Die [21] Aufzeichnungen des französischen
Botschafters in Petersburg, Paléologue,15 eines Jugendfreundes des Präsidenten Poincaré, die durchweg starken Deutschenhaß
atmen, beweisen, daß der Zar unter dem Eindruck des Telegramms des
Kaisers vom 30. Juli dem Erlaß des Mobilmachungsbefehls abgeneigt war.
Aus dem
Suchomlinow-Prozeß ist weiter bekannt, daß der Zar bereits den
Befehl gegeben hatte, die schon angeordnete Mobilmachung wieder aufzuheben,
und daß es des ganzen Einflusses Sasonows bedurfte, um sie dennoch
durchzusetzen.
Alle Versuche der Kaisers, den Frieden zu erhalten, blieben vergeblich,
mußten vergeblich bleiben, da die Ententemächte den Krieg eben
wollten.
Wie der deutsche Generalstabschef am 28. Juli die Lage beurteilte, geht aus einer
kurzen Denkschrift hervor, die der Generaloberst v. Moltke am 29. Juli dem Reichskanzler übergab. In ihr heißt es unter anderem:
"Österreich hat nur einen Teil seiner
Streitkräfte, 8
Armeekorps, gegen Serbien mobilisiert. Gerade genug, um seine Strafexpedition
durchführen zu können. Demgegenüber trifft Rußland
alle Vorbereitungen, um die Armeekorps der Militärbezirke Kiew und
Odessa und Moskau, in Summa 12 Armeekorps, in kürzester Zeit
mobilisieren zu können, und verfügt ähnliche vorbereitende
Maßnahmen auch im Norden, der deutschen Grenze gegenüber
und an der Ostsee. Es erklärt, mobilisieren zu wollen, wenn
Österreich in Serbien einrückt, da es eine Zertrümmerung
Serbiens durch Österreich nicht zugeben könne, obgleich
Österreich erklärt hat, daß es an eine solche nicht denke.
Was wird und muß die weitere Folge sein?
Österreich wird, wenn es in Serbien einrückt, nicht nur der
serbischen Armee, sondern auch einer starken russischen Überlegenheit
gegenüberstehen, es wird also den Krieg gegen Serbien nicht
durchführen können, ohne sich gegen ein russisches Eingreifen zu
sichern. Das heißt: es wird gezwungen sein, auch die andere Hälfte
seines Heeres mobil zu machen, denn es kann sich unmöglich auf Gnade
und Ungnade einem kriegsbereiten Rußland ausliefern. Mit dem Augenblick
aber, wo Österreich sein ganzes Heer mobil macht, wird der
Zusammenstoß zwischen ihm und Rußland unvermeidlich werden.
Das aber ist für Deutschland der casus foederis. Will Deutschland
nicht wortbrüchig werden und seinen Bundesgenossen der Vernichtung
durch die russische Übermacht verfallen lassen, so muß es auch
seinerseits mobil machen. Das wird auch die Mobilisierung der übrigen
Militärbezirke Rußlands zur Folge haben. Dann aber wird
Rußland sagen können, ich werde von Deutschland angegriffen,
und damit wird es sich die Unterstützung Frankreichs sichern, das
vertragsmäßig verpflichtet ist, an dem Kriege teilzunehmen, wenn
sein Bundesgenosse Rußland angegriffen wird. Das so oft als reines
Defensivbündnis gepriesene
französisch-russische Abkommen, das nur geschlossen sein soll, um
Angriffsplänen Deutschlands begegnen zu können, ist somit [22] wirksam geworden, und die gegenseitige
Zerfleischung der europäischen Kulturstaaten wird beginnen.
Man kann nicht leugnen, daß die Sache von seiten
Rußlands geschickt inszeniert ist. Unter fortwährenden
Versicherungen, daß Rußland noch nicht "mobil" mache, sondern
nur "für alle Fälle" Vorbereitungen treffe, daß es
"bisher" keine Reservisten einberufen habe, macht es sich so weit kriegsbereit,
daß es, wenn es die Mobilmachung wirklich ausspricht, in wenigen
Tagen zum Vormarsch fertig sein kann. Damit bringt es
Österreich in eine verzweifelte Lage und schiebt ihm die Verantwortung zu, indem es doch
Österreich zwingt, sich gegen eine russische Übermacht zu
sichern. Es wird sagen: "Du, Österreich, machst gegen uns mobil, du
willst also den Krieg mit uns." Gegen Deutschland versichert Rußland
nichts unternehmen zu wollen, es weiß aber ganz genau, daß
Deutschland einem kriegerischen Zusammenstoß zwischen seinem
Bundesgenossen und Rußland nicht untätig zusehen kann. Auch
Deutschland wird gezwungen werden, mobil zu machen, und wiederum wird
Rußland der Welt gegenüber sagen können: "Ich habe den
Krieg nicht gewollt, aber Deutschland hat ihn herbeigeführt." So werden
und müssen die Dinge sich entwickeln, wenn nicht, fast möchte man
sagen, ein Wunder geschieht, um noch in letzter Stunde einen Krieg zu
verhindern, der die Kultur fast des gesamten Europas auf Jahrzehnte hinaus
vernichten wird.
Deutschland will diesen schrecklichen Krieg nicht
herbeiführen. Die deutsche Regierung weiß aber, daß es die
tief gewurzelten Gefühle der Bundestreue, eines der schönsten
Züge deutschen Gemütslebens, in verhängnisvoller Weise
verletzen und sich in Widerspruch mit allen Empfindungen ihres Volkes
setzen würde, wenn sie ihrem Bundesgenossen in einem Augenblick nicht
zu Hilfe kommen wollte, der über dessen Existenz entscheiden
muß.
Nach den vorliegenden Nachrichten scheint auch
Frankreich vorbereitende Maßnahmen für eine eventuelle
spätere Mobilmachung zu treffen. Es ist augenscheinlich, daß
Rußland und Frankreich in ihren Maßnahmen Hand in Hand
gehen.
Deutschland wird also, wenn der Zusammenstoß
zwischen Österreich und Rußland unvermeidlich ist, mobil
machen und bereit sein, den Kampf nach zwei Fronten aufzunehmen.
Für die eintretendenfalls von uns beabsichtigten
militärischen Maßnahmen ist es von größter Wichtigkeit,
bald Klarkeit darüber zu erhalten, ob Rußland und Frankreich gewillt
sind, es auf einen Krieg mit Deutschland ankommen zu lassen. Je weiter die
Vorbereitungen unserer Nachbarn vorschreiten, um so schneller werden sie ihre
Mobilmachung beendigen können: Die militärische Lage wird
dadurch für uns von Tag zu Tag ungünstiger und kann, wenn unsere
voraussichtlichen Gegner sich weiter in aller Ruhe vorbereiten, zu
verhängnisvollen Folgen für uns führen."
[23] Die Dinge entwickelten sich, wie Generaloberst
v. Moltke erwartete.
Die französisch-russische Gesamtkriegshandlung war auf möglichst
gleichzeitige Eröffnung der Operationen eingestellt. Die geringere
Schnelligkeit der russischen Mobilmachung stand dem entgegen. Zwar hatte
Rußland, wie erwähnt, bereits im Frühjahr mit den
Vorbereitungen begonnen. Die Ausnutzung der Kriegsvorbereitungsperiode
ließ weitere Maßnahmen zu, während Deutschland, um jeden
Schein kriegerischer Verwicklungen zu vermeiden, noch untätig zusah.
Die Ausdehnung der russischen Mobilmachung auf das ganze Heer am 30.
Juli - die Frankreich, nach Paléologues Aufzeichnungen,16 anscheinend noch zurückhalten
wollte - machte den Zweifeln ein Ende. Daß die Mobilmachung und
damit automatisch der Aufmarsch des russischen Heeres sich an Deutschlands
Grenze vollzog, konnte die deutsche Regierung nicht ruhig hinnehmen. Der
deutsche Botschafter in Petersburg erhielt demgemäß den Befehl,
Sasonow mitzuteilen, daß Deutschland mobil machen werde, wenn
Rußland seine militärischen Maßnahmen gegen Deutschland
und Österreich nicht einstelle. Die Mitteilung erging am 31. Juli 11 Uhr
abends. Eine Antwort auf sie ist nicht erfolgt.
In einem Telegramm an den Kaiser vom 31. Juli nachmittags suchte der Zar die
Mobilmachung des gesamten russischen Heeres damit zu entschuldigen daß
es "technisch unmöglich sei, die militärischen Vorbereitungen
einzustellen, die durch Österreichs Mobilmachung notwendig geworden
wären. Einen Krieg zu wünschen, sei Rußland weit entfernt."
In einem weiteren Telegramm (1. August nachmittags) sprach der Zar die
Erwartung aus, "der Kaiser möge dieselbe Garantie bieten, wie er es getan.
Daß nämlich die Mobilmachung nicht den Krieg bedeute."17
Es ist ausgeschlossen, daß diese Erwartung aufrichtig gemeint war,
nachdem die deutsche Regierung am 26. Juli in Petersburg unzweideutig hatte
erklären lassen, nach den deutschen Vorbereitungen "bedeute die
Mobilmachung den Krieg". Daß das gar nicht anders möglich war,
wußten die Ententemächte sehr gut. Für sie stellte jeder Tag
der Verzögerung des Beginns der Feindseligkeiten einen Gewinn dar, da er
der Einheitlichkeit der Kriegseröffnung zugute kam. Für
Deutschland, dessen einzige Erfolgsaussicht in der durch sorgfältige
Vorbereitung ermöglichten schnellen Kriegseröffnung nach einer
Seite bestand, wäre Abwarten Selbstmord gewesen.
Da Rußland seine kriegerischen Maßnahmen nicht einstellte, wurde
am 1. August 5.30 Uhr nachmittags auch deutscherseits die Mobilmachung
befohlen. 7 Uhr abends übergab Graf Pourtalès in Petersburg die
deutsche Kriegserklärung.
Bereits am 31. Juli, während des Depeschenwechsels zwischen dem
Kaiser [24] und dem Zaren, hatten russische
Kavallerieabteilungen bei Thorn und im
Kreise Kempen die deutsche Grenze überschritten. Weshalb in dem uns
aufgezwungenen Verteidigungskriege der Reichskanzler den Erlaß der
Kriegserklärung für erforderlich gehalten hat, ist nicht
aufgeklärt. Feststeht, daß der Generalstabschef,18 der Kriegsminister und der
Staatssekretär des
Reichs-Marine-Amts sich gegen eine Kriegserklärung ausgesprochen
haben. Den Reichskanzler kann kaum ein anderer Wunsch geleitet haben als der,
klare Verhältnisse zu schaffen. Für die
Kriegführung - und auf diese konnte es doch nur
ankommen - war aber die Lage durchaus geklärt. Eigenartig ist,
daß Österreich, um dessentwillen der Krieg entbrannte, erst
fünf Tage später an Rußland den Krieg erklärte.
Es besteht kein Zweifel daran, daß für Deutschland die denkbar
ungünstigste Lage eintreten mußte, wenn es seinen Feinden gelang,
möglichst starke Teile des deutschen Heeres an der Ostfront festzulegen.
Frankreich und England war es jederzeit unbenommen, in den Krieg einzutreten.
Sie hatten dann leichtes Spiel. War die von der deutschen Regierung
heißerstrebte Vermeidung des Krieges mit Rußland unmöglich
geworden, so mußten sich nunmehr alle Bemühungen darauf richten,
Frankreich gegenüber möglichst bald volle Klarheit zu schaffen und
ein weiteres Umsichgreifen des Krieges zu verhindern.
Am 26. Juli nachmittags hatte der deutsche Botschafter in Paris dem
stellvertretenden Außenminister
Bienvenu-Martin (Minister Viviani befand sich in Begleitung des
Präsidenten auf der Rückreise von Petersburg) dargelegt, daß
nach Österreichs offizieller Erklärung, den Bestand Serbiens nicht
antasten zu wollen, die Verantwortung für einen Krieg auf Rußland
falle. Deutschland wisse sich eins mit Frankreich in dem Wunsche um die
Erhaltung des Friedens. Es hoffe, daß Frankreich in Petersburg seinen
Einfluß in beruhigendem Sinne geltend machen werde. In seiner Antwort
hatte
Bienvenu-Martin Rußlands Haltung als maßvoll bezeichnet und die
Ausübung eines Einflusses auf die russische Regierung abgelehnt.
Nichtsdestoweniger setzte Deutschland seine Bemühungen fort, einen
Konflikt mit Frankreich zu vermeiden.
Nachdem Rußland (31. Juli abends) das Ersuchen, seine Rüstungen
gegen Deutschland und Österreich einzustellen, unberücksichtigt
gelassen hatte, erhielt der deutsche Botschafter in Paris Weisung, bei der
französischen Regierung offiziell anzufragen, ob Frankreich in dem
drohenden
deutsch-russischen Kriege neutral bleiben werde. Viviani gab die kurze Antwort:
Frankreich werde tun, was seine Interessen ihm geböten. Wenige Stunden
später wurde die Mobilmachung der französischen Streitkräfte
zu Lande und zu Wasser befohlen. Damit war über Frankreichs Absichten
Klarheit geschaffen.
[25] Der Sozialdemokrat Jean Jaurès, der
Führer im Kampfe für eine friedliche Lösung des Konflikts,
wurde am 31. Juli durch Mörderhand aus dem Wege geräumt.
Der Krieg Deutschland-Österreichs gegen Frankreich war zur Tatsache
geworden. Der 2. August war für Deutschland der erste
Mobilmachungstag.
Die deutsche Heeresleitung gedachte die Operationen so zu führen, wie es
vorstehend19 entwickelt worden ist: Angriff mit den
Hauptkräften gegen Frankreich, zunächst Abwehr gegen
Rußland. Da nach den vorliegenden Nachrichten kein Zweifel
darüber bestehen konnte, daß Belgien Anschluß an die
Westmächte suchen würde, kam für den deutschen rechten
Heeresflügel nur der Durchmarsch durch Belgien in Frage.
Über die absolute Neutralität der Niederlande bestand kein Zweifel.
Die deutsche Heeresleitung wollte dementsprechend jedes Betreten
niederländischen Bodens unbedingt vermeiden. Im deutschen
Operationsplan war das Vorgehen starker Kräfte nördlich der
Maaslinie
Lüttich - Namur vorgesehen. Den Marsch dorthin sperrte die
Festung Lüttich. Ein Handstreich auf eine moderne Panzerfestung ist ein
gefährliches Beginnen. Auf Grund sorgfältiger Untersuchungen
glaubte Generaloberst v. Moltke das Wagnis unternehmen zu können.
Vorbedingung war aber, daß die Überraschung glückte und es
dem Angreifer gelang, durch die Fortslinie hindurchzukommen, bevor die Festung
in Verteidigungszustand versetzt, das Zwischengelände ausgebaut war.
Am 30. Juli war in Belgien die Einberufung der drei letzten Jahrgänge der
Reserve verfügt und Befehl erteilt worden, die Truppen, die sich auf
Übungsplätzen befanden, in ihre Standorte
zurückzubefördern. Am 1. August war der Befehl zur allgemeinen
Mobilmachung erlassen. Hand in Hand damit ging die Armierung der Festungen.
Jeder Tag förderte die Kriegsbereitschaft von Lüttich. Jeder Tag der
Verzögerung des Angriffs mußte die Blutopfer, die die Einnahme
kostete, vergrößern. Eine erhebliche Verzögerung konnte das
Gelingen der ganzen Unternehmung, damit aber auch des ganzen
Operationsplanes in Frage stellen.
Für die deutsche Heeresleitung galt es, baldigst über die Haltung der
belgischen Regierung Klarheit zu gewinnen. Der deutsche Gesandte in
Brüssel erhielt den Auftrag, der belgischen Regierung am 2. August abends
eine Note zu überreichen, in der das Ersuchen gestellt war, den Deutschen
den Durchmarsch durch belgisches Gebiet zu gestatten. Im Falle des
Einverständnisses wurden Unabhängigkeit und Besitzstand des
Königreiches ausdrücklich garantiert, sowie die Verpflichtung
für Barvergütung aller Kriegsleistungen übernommen. Im
Falle der Ablehnung dagegen würde Deutschland zu seinem Bedauern
gezwungen sein, Belgien als Feind zu betrachten. Zur Beantwortung war eine
Frist von zwölf Stunden gesetzt.
[26] Die Antwort der belgischen Regierung fiel so
aus, wie es nach ihrer ganzen Haltung zu erwarten war. Sie lehnte ab und
erklärte, daß sie jeder Verletzung der belgischen Neutralität
mit Waffengewalt entgegentreten werde.
Am 3. August erhielt der deutsche Botschafter in Paris den Auftrag, zu
erklären, daß auf Grund zweifelsfreier feindlicher Handlungen
französischer Organe Deutschland sich mit der französischen
Republik in Kriegszustand befände. Wie die Kriegserklärung an
Rußland, so war auch dieser Schritt geeignet, Deutschland als Angreifer
erscheinen zu lassen, was es tatsächlich nicht war. Für die
Erklärung des Kriegszustandes an Frankreich durch den Reichskanzler ist
ebensowenig ein Grund zu erkennen, wie für diejenige an Rußland.
Es kann nur festgestellt werden, daß die militärische Leitung auch in
diesem Falle gegen den Erlaß der Kriegserklärung war.20 Der zuweilen angegebene Grund,
daß man die Kriegserklärung wegen der Sommation an Belgien
gebraucht habe, ist nicht stichhaltig. Man konnte sicher sein, daß die
Ereignisse von selbst den Kriegsfall schaffen würden, bevor die deutschen
Marschsäulen sich der französischen Grenze näherten.
Daß in der Lage, in der sich Deutschland befand, auf die Neutralität
Luxemburgs keine Rücksicht genommen werden konnte, ist
selbstverständlich. Dem Großherzogtum wurden aber alle denkbaren
Garantien für Unabhängigkeit und Entschädigung gegeben. Es
beschränkte sich auf einen feierlichen Protest.
Die Besetzung von Luxemburg durch die 16. Division war für den ersten
Mobilmachungstag vorgesehen. Der Aufmarsch der deutschen Hauptkräfte
konnte sich dann auf der geraden Linie
Aachen - Luxemburg - Metz vollziehen.
Von ausschlaggebender Bedeutung war die Frage, wie England in dem
ausbrechenden Kriege sich stellen werde.
Die Erörterungen setzten ein mit einer Unterredung, die der Reichskanzler
am 29. Juli abends mit dem britischen Botschafter hatte. In ihr machte der
Reichskanzler dem Botschafter Vorschläge für ein
Neutralitätsabkommen. Um dieses Ziel zu erreichen, kam er mit
Angeboten, deren erstes in dem Versprechen bestand, nach einem
glücklichen Kriege keine Gebietserwerbungen auf Kosten Frankreichs
machen zu wollen. Sir Edward Goschen erwiderte, daß England sich nicht
binden könne.
Die Verhandlungen gingen in Berlin und in London weiter. Obwohl die
Parteinahme Englands für Frankreich und Rußland kaum
verhüllt wurde, gelang es Sir Edward Grey, den deutschen Botschafter
Fürsten Lichnowsky davon zu überzeugen, daß England jede
feindselige Absicht fern läge. Auf Lichnowskys Rat wurden England
für die Aufrechterhaltung seiner Neutralität Zusicherungen gemacht,
die bis an die Grenze des Erträglichen gingen. Nachdem das Angebot der
Unverletzlichkeit Frankreichs und seiner Kolonien, sowie der Achtung der
[27] belgischen Neutralität als
ungenügend abgelehnt worden war, sprach Lichnowsky noch den Verzicht
auf militärische Unternehmungen gegen die französische
Nordküste aus. England ging auf nichts ein. Es "behielt sich die
Hände
frei" - um sie gegen Deutschland zu gebrauchen.21
Der Deutsche Kaiser und die deutsche Regierung waren sich nicht im unklaren
darüber, eine wie schwere Belastung für Deutschland das Eingreifen
Englands bedeute. Um es zu vermeiden, ging man bis an die Grenze dessen, was
irgend zu verantworten war, ohne die Kriegführung ernstlich zu
gefährden. Ein bezeichnender Vorgang verdient erwähnt zu
werden.
Der deutsche Botschafter in London drahtete am 1. August: "er sei von Sir
Edward Grey ans Telephon gerufen und gefragt worden, ob er glaube
erklären zu können, daß für den Fall, daß
Frankreich in einem
deutsch-russischen Kriege neutral bliebe, wir die Franzosen nicht angriffen." Er
erhielt die Antwort, daß "auf Grund der russischen Herausforderung die
deutsche Mobilmachung erfolgt sei, bevor die englischen Vorschläge
eintrafen. Infolgedessen sei unser Aufmarsch an der französischen Grenze
nicht mehr zu ändern. Deutschland verbürge sich aber dafür,
daß die französische Grenze bis Montag, den 3. August, abends 7
Uhr, durch unsere Truppen nicht überschritten werde, falls bis dahin die
Zusage Englands erfolgt sei."22
Zur Einleitung der deutschen Operationen gehört, wie schon
erwähnt, die Besetzung von Luxemburg durch die 16. Division am ersten
Mobilmachungstage (2. August). Die Maßnahme war von großer
Wichtigkeit. Sie hinauszuschieben konnte verhängnisvolle Folgen haben.
Die schwache und unwahrscheinliche Möglichkeit einer
Verständigung mit England genügte gleichwohl, um den Kaiser den
Befehl erteilen zu lassen, der die 16. Division anhielt. Glücklicherweise
wurde in einem spät abends eintreffenden Telegramm die Anfrage Sir
Edward Greys als "Mißverständnis" und als "ohne vorherige
Fühlung mit Frankreich und ohne Kenntnis der Mobilmachung erfolgt"
bezeichnet. Der Befehl, der die 16. Division anhielt, konnte infolgedessen wieder
aufgehoben werden, bevor ein Nachteil eingetreten war.
Der Einmarsch der Deutschen in Belgien diente der englischen Regierung als
Vorwand. "...Von der völkerrechtlichen Warte, die es sich durch die
belgische Frage geschaffen hatte, erließ England seine
Kriegserklärung an Deutschland. Sir Edward Grey hatte England in der
Öffentlichkeit durch diese Politik einen unschätzbaren moralischen
Vorteil gesichert. Die "Imponderabilien" kamen ihm zu gut, die ganze
angelsächsische und romantische Welt stand unter dem Eindruck, daß
England "zur Verteidigung Belgiens" das Schwert ziehe. Damit war ein starker,
wenn nicht gar der wirksamste offizielle Kriegsgrund gefunden...."21
[28]
5. Die allgemeine Lage bei Kriegsausbruch nach
den der deutschen Obersten Heeresleitung vorliegenden
Nachrichten.
Rußland: Es war bekannt, daß zur Ergänzung und
Ausrüstung des Heeres außerordentliche Anstrengungen gemacht
waren (vergleiche Seite 16). Über
besondere
Pläne war man nicht unterrichtet.23
Frankreich: Neue Nachrichten lagen nicht vor.
England: Eine "Probemobilmachung" der englischen Flotte hatte im
frühen Frühjahr begonnen. Seit Anfang Juli lag die englische Flotte
in völlig mobilem Zustande bei Portland versammelt.
Über den vermutlichen Einsatz der englischen
Expeditionsarmee waren die Nachrichten widersprechend. Wiesen sie zum Teil
noch auf eine Landung an der jütischen Küste (Esbjerg) hin, so
mußte doch die Überführung des englischen Expeditionskorps
an den französischen Nordflügel und Landung bei
Boulogne - Calais die größere Wahrscheinlichkeit
haben.
Deutscherseits war demgegenüber angeordnet,
daß das in
Schleswig-Holstein aufzustellende IX. Reservekorps zunächst in den
Mobilmachungsorten verbleiben sollte. Als die Annahme von der Landung der
Engländer an der französischen Nordküste sich
bestätigte, wurde seine Nachführung an den rechten deutschen
Heeresflügel in Belgien angeordnet.
Belgien: Der belgischen Regierung wurde auf Veranlassung der
Obersten Heeresleitung mitgeteilt, daß Deutschland jederzeit bereit sei, mit
Belgien ein annehmbares Übereinkommen zu treffen.
Serbien: Die Regierung war aus dem unter den österreichischen
Kanonen liegenden Belgrad in das Innere des Landes, nach Nisch, verlegt worden.
Die [29] serbische Armee bereitete sich vor, den
österreichischen Angriff in einer rückwärtigen Stellung zu
erwarten, um bei günstiger Gelegenheit vorzubrechen.
Österreich-Ungarn: Es ist nicht verständlich, weshalb
Österreich-Ungarn, als es den Konflikt mit Serbien kommen sah, nicht
Maßnahmen getroffen hat, die eine schleunige Durchführung der
für nötig erkannten Strafexpedition gestatteten. Am 23. Juli
ließ die österreichische Regierung in Belgrad das Ultimatum
überreichen. Am 28. Juli folgte die Kriegserklärung. Die
militärische Aktion, die schlagartig hätte einsetzen müssen,
unterblieb. Hätte Österreich sogleich losgeschlagen, so würde
es in den Verhandlungen mit Rußland erheblich günstiger bestanden
haben.
Inzwischen hatte sich herausgestellt, daß der
serbische Feldzug von untergeordneter Bedeutung war, die Entscheidung
für Österreich im Kampf gegen Rußland fallen mußte.
Nichtsdestoweniger sollte an der Durchführung der Operation gegen
Serbien festgehalten werden. Die gegen Serbien bestimmten elf Divisionen
marschierten an der serbischen Grenze auf. Erst nach vollzogenem Aufmarsch
wurde der größere Teil von ihnen auf den nördlichen
Kriegsschauplatz abbefördert, die serbische Grenze nur beobachtet.
Der merkwürdige Umstand, daß
Österreich-Ungarn sich bis zum 6. August mit Rußland noch nicht im
Kriegszustand befand, ist erwähnt worden. Zur Erklärung des
Kriegszustandes mit Frankreich und England war es erst recht noch nicht
gekommen.
Das deutsch-österreichisch-italienische
Marineabkommen sah für den Kriegsfall Vereinigung der im Mittelmeer
befindlichen Seestreitkräfte der drei Mächte in der Straße von
Messina vor.24 Als "Goeben" und "Breslau" nach
erfolgreicher Beschießung algerischer Küstenplätze am 5.
August vor Messina eintrafen, blieben sowohl die Österreicher wie die
Italiener
aus - die Österreicher, weil sie sich mit Frankreich und England noch
im Frieden befanden. Italienischerseits wurde die
Neutralitätserklärung so streng aufgefaßt, daß den
Schiffen kaum die einmalige Kohleneinnahme gestattet
wurde. - Der Energie ihres Führers, Admirals Souchon, ist es zu
danken, daß es den Schiffen am 6. August gelang, durchzubrechen und
Konstantinopel zu erreichen.
Italien: Daß das Verhalten Italiens zu Zweifeln darüber
Anlaß gab, ob es den aus dem Dreibundvertrage25 ihm erwachsenen Pflichten
nachkommen werde, ist erwähnt worden.26 Immerhin mußte nach der
unzweideutigen Haltung des Generals Pollio damit gerechnet werden, daß
Italien, wenn auch nicht, wie verabredet, eine Armee, so doch einen wenn auch
noch so schwachen [30] Truppenkörper schicken würde, um
das unveränderte Bestehen des Dreibundes zu beweisen.
Acht Tage nach dem Mord von Serajewo war General
Pollio eines plötzlichen Todes gestorben. Es scheint kaum zweifelhaft,
daß er als bekannter Anhänger des Dreibundes einem politischen
Attentat zum Opfer gefallen ist. Pollios Nachfolger General Cadorna erweckte
gleichwohl den Eindruck, als werde mit seiner Amtsführung eine
Änderung nicht eintreten.
Es war für Deutschland eine Enttäuschung,
als die italienische Regierung erklären ließ, sie könne den
casus foederis nicht als vorliegend erachten und werde volle
Neutralität beobachten.27 Daß die Franzosen schon bald
nach Kriegsausbruch bezüglich der Haltung Italiens keinerlei Sorge mehr
haben zu müssen glaubten, geht unter anderem daraus hervor, daß
Divisionen der französischen Alpengruppe (d. h. der
Sicherungstruppen an der italienischen Grenze) bereits an der Marne
mitgefochten haben.
An die Möglichkeit, daß der ehemalige
Bundesgenosse auf die Seite des Feindes treten würde, war damals noch
kaum zu denken. Weit näher lag die Wahrscheinlichkeit, daß bei
günstigem Kriegsausgang Italien sich einstellen werde, um seine
Ansprüche an dem zu erhoffenden Siegespreise anzumelden. Immerhin
mußte es vom Beginn des Krieges an die ernste Sorge der
verbündeten Mittelmächte sein, Italien zum mindesten vom
Übertritt zu den Ententestaaten abzuhalten. Besonders die Oberste
Heeresleitung vertrat diesen Standpunkt auf das entschiedenste.
Rumänien: Zwischen Österreich-Ungarn und
Rumänien bestand der Bündnisvertrag vom 5. Februar 1913, dem
unter dem 26. Februar 1913 Deutschland beigetreten war.
Am 3. August 1914 fand in Bukarest unter dem Vorsitz
des Königs ein Kronrat statt, um über die Haltung Rumäniens
Beschluß zu fassen. Der König trat warm dafür ein, den
Vertrag ins Leben zu setzen. Der Kronrat, der schon unter dem Eindruck der
bereits bekannt gewordenen Neutralitätserklärung Italiens stand,
erklärte aber mit allen gegen eine Stimme: Keine Partei könne die
Verantwortung für eine solche Aktion übernehmen. Nachdem
Rumänien über den Schritt
Österreich-Ungarns in Belgrad weder befragt, noch auch von ihm in
Kenntnis gesetzt sei, bestände der casus foederis nicht. Es sollten
jedoch militärische Vorkehrungen zur Sicherung der Grenzen
unternommen werden. Darin [31] bestände ein Vorteil für
Österreich-Ungarn, da seine Grenzen auf mehrere hundert Meilen dadurch
gedeckt würden. Vorausgesezt würde, daß diese Haltung
Rumäniens als den freundschaftlichen Beziehungen entsprechend betrachtet
werde.28 Es blieb für Deutschland und
Österreich-Ungarn nichts übrig, als eine entsprechende
Erklärung zu geben.
Die Betonung freundlicher Haltung hat Rumänien
allerdings nicht gehindert, die für die Türkei bestimmten deutschen
Transporte in jeder Weise zu erschweren oder ganz zu verwehren, die russischen
Transporte nach Serbien aber ungestört durchzulassen.
Türkei: Die große Wichtigkeit eines Bündnisses mit
der Türkei war vom Generalobersten v. Moltke von jeher vertreten. Diese
Auffassung war in zahlreichen Gutachten an den Reichskanzler zum Ausdruck
gekommen.
Es ist klar, daß der ganze Verlauf des Krieges ein
anderer gewesen wäre, wenn das Bündnis der Türkei mit den
Mittelmächten nicht bestanden hätte. Von größter
Wichtigkeit war die Sperrung der Dardanellen. Wenn der Entente eine gesicherte
Verbindung zwischen Mittelländischem Meer und Schwarzem Meer offen
gestanden hätte, so hätte Rußland sich in ganz anderer Weise
der materiellen Unterstützung der Westmächte erfreut. Die
Gründe für seinen schließlichen Zusammenbruch wären
damit beseitigt worden. Nur das Bündnis mit der Türkei endlich
ermöglichte es, die Engländer in Ägypten und auf dem Wege
nach Indien zu bedrohen. Die Engländer wurden gezwungen, an beiden
Stellen
Land- und Seestreitkräfte - zum Teil in ganz erheblicher
Stärke - festzulegen, die naturgemäß an den Stellen der
Hauptentscheidung fehlten. Daß die durch die Balkankriege
geschwächte Türkei andererseits an Deutschland hohe
Anforderungen
stellte - an Bewaffnung, Ausrüstung, Verpflegung, Geld nicht nur,
sondern auch an Führern, schließlich an
Truppen -, mußte demgegenüber in den Kauf genommen
werden.
Die führenden Männer waren dem
Anschluß an die Mittelmächte durchaus geneigt. Schon am 2. August
war ein formeller Bündnisvertrag fertiggestellt worden. Seine Ratifizierung
wurde aber noch abhängig gemacht von dem Beitritt Bulgariens. Es war
von der Türkei schlechterdings nicht zu erwarten, daß sie sich, falls
Bulgarien sich Rußland anschloß, Angriffen von allen Seiten
aussetzte.
Bei den Verhältnissen, die auf dem Balkan
herrschten, war es kein Wunder, wenn die einzelnen Staaten einander nicht
trauten. Sie wurden von beiden
Parteien - der Entente wie den Mittelmächten - umworben.
Von beiden Seiten wurden ihnen Versprechungen gemacht. In dem begreiflichen
Bestreben, auf die richtige Seite zu setzen und ein möglichst geringes
Risiko zu laufen, waren sie geneigt, die Entscheidung hinauszuschieben, bis die
Entwicklung der Lage ein wenig zu übersehen war.
[32] Es konnte von vornherein als feststehend gelten,
daß die Schwäche der Türkei eine längere
Aufrechterhaltung der Neutralität nicht gestattete. Das Gelingen des
Durchbruchs der "Goeben" und "Breslau" nach Konstantinopel gab der Frage eine
schnellere Wendung. Immerhin kam das Oktoberende 1914 heran, bevor das
Bündnis abgeschlossen wurde. Die türkische Regierung dachte
großzügig genug, um die Ansprüche der Bulgaren zu
befriedigen, ihnen den von ihnen heiß ersehnten Gebietsstreifen westlich
der Maritza vorläufig zu überlassen.
Bulgarien: Verhandlungen über ein Bündnis Bulgariens mit
den Mittelmächten waren bereits in den ersten
Augusttagen - gleichzeitig mit den Verhandlungen in
Konstantinopel - eingeleitet. Die vorsichtige Haltung der bulgarischen
Regierung schob die Entscheidung hinaus. Die Mißerfolge der
österreichisch-ungarischen Waffen in Galizien und Serbien, das Festlaufen
der deutschen Angriffsbewegung im Westen durch die Marneschlacht ermutigten
nicht zur Beschleunigung. Erst als im Juli 1915 deutscherseits der Plan
gefaßt wurde, zur Öffnung der Verbindung mit dem Balkan den
längst beabsichtigten serbischen Feldzug durchzuführen, wurde der
Faden wieder aufgenommen. Inzwischen war Bulgarien zu der Einsicht
gekommen, daß es zur Befriedigung seiner auf rumänischem und
serbischem Gebiet liegenden nationalen Ansprüche bei der Entente keine
Unterstützung finden würde. Am 6. September 1915 wurde die
Konvention mit den Mittelmächten abgeschlossen.
Vorläufig bewahrte Bulgarien seine
Neutralität.
Griechenland ließ Anfang August 1914 seine Neutralität
erklären, falls nicht die Haltung Bulgariens zu anderen Maßnahmen
zwänge. Dieser Kriegsgrund trat nicht ein. Griechenlands Neutralität
wurde gebrochen, als Frankreich und England im Jahre 1915 in Saloniki
Fuß faßten, um mit den Serben Verbindung aufzunehmen.
Von besonderer Wichtigkeit für die deutsche Kriegführung war die
Haltung der Niederlande und der Schweiz. Beide Länder
erklärten Anfang August 1914 ihre strikte Neutralität und haben sie
bis zum Kriegsende bewahrt.
Eine Neutralitätserklärung erließen gleichfalls Anfang August
1914 die drei nordischen
Reiche - Dänemark, Schweden und
Norwegen - sowie Spanien. Das unter englischem
Einfluß stehende Portugal schloß sich 1916 an die Entente
an.
Der Krieg, der in kurzer Zeit ganz Europa ergriff, brachte infolge des
englisch-japanischen Bündnisses von außereuropäischen
Staaten als ersten Japan auf den Plan.
Japan erklärte zunächst inoffiziell, es werde
sich neutral verhalten, wenn nicht England auf Grund des Bündnisses
Ansprüche geltend mache. Das trat [33] bald ein. Am 17. August ließ die
japanische Regierung Deutschland eine Note überreichen, in der die
Zurückziehung der deutschen Kriegsschiffe aus den japanischen und
chinesischen Gewässern sowie die bedingungslose Übergabe des
Pachtgebiets von
Kiautschou bis zum 15. September gefordert wurde. Zur
Beantwortung der Note wurde eine Frist von drei Tagen gesetzt. Am 23. August
erhielt der japanische Geschäftsträger in Berlin den Bescheid,
daß die deutsche Regierung auf die Note keine Antwort zu geben habe und
ihren Botschafter in Tokio abberufe. Damit trat Japan Deutschlands Feinden
hinzu.
Als Haltung der Vereinigten Staaten von Nordamerika schien
völlige Neutralität gegeben. Zwischen ihnen und Deutschland gab es
keine offenen politischen Gegensätze. Die diplomatischen Beziehungen,
vom Kaiser besonders gepflegt, waren durchaus gut. Nach Abbruch der
Beziehungen zu den feindlichen Staaten wurde die Vertretung der deutschen
Interessen in vielen Fällen in amerikanische Hände gelegt.
Bald zeigte es sich aber, daß die amerikanische
Regierung ihre Interessen mehr auf seiten der Feinde Deutschlands sah. Das wird
einigermaßen verständlich, wenn man berücksichtigt,
daß - beeinflußt durch die englische
Lügenpropaganda - nach amerikanischer Ansicht weder
England
noch Japan eine so große Gefährdung für die Verwirklichung
der Weltherrschaftspläne der Vereinigten Staaten bedeuteten, als das
wirtschaftlich immer mehr Boden gewinnende Deutschland. Aus diesen
Anschauungen heraus ist die Gehässigkeit zu erklären, mit der die
gelbe Presse schon lange vor dem Kriege gegen Deutschland gehetzt hatte. Die
Kreise der amerikanischen Hochfinanz verstanden es, bereits in den ersten
Kriegsjahren England und Frankreich ganz in ihre finanzielle Abhängigkeit
zu bringen. Es lag ihnen gar nichts daran, diese aussichtsreiche Entwicklung durch
einen deutschen Sieg in Frage gestellt zu sehen.
Deshalb wandte sich die amerikanische Politik gleich
nach Kriegsbeginn gegen Deutschland. Der amerikanische Botschafter in Paris
erklärte dem französischen Minister des Auswärtigen: zur Zeit
gäbe es in Amerika nur 50 000 einflußreiche Leute, die den
Eintritt Amerikas in den Krieg wollten. Man würde so arbeiten, daß
es in einiger Zeit 50 Millionen seien.
Während des mexikanischen Bürgerkrieges
hatte Wilson die Ausfuhr von Waffen ausdrücklich verboten. Bei Ausbruch
des europäischen Krieges wurde dies Verbot sofort außer Kraft
gesetzt. Ganz Amerika arbeitete mit Hochdruck für die Versorgung der
Ententeheere mit Kriegsmaterial. Gegen die rechtswidrige englische Blockade
hatte Wilson nichts einzuwenden. Aber er fiel Deutschland in den Arm, als es
durch den Unterseebootkrieg sich zu wehren suchte. Eine großzügige
lügnerische Presseagitation brachte gleich nach Kriegsbeginn in kurzer Zeit
das amerikanische Volk gegen Deutschland auf.
[34] Schon bei Kriegsausbruch war zu erkennen,
daß die Aufgaben, die der militärischen und politischen Leitung
Deutschlands erwuchsen, einen großen Umfang annehmen würden.
Der Umfang wuchs ins Unabsehbare, als nach der Marneschlacht die Hoffnung
auf eine schnelle Beendigung des Krieges geschwunden war.
Die politische Leitung Deutschlands hatte sich - wie
erwähnt - gescheut, Bündnisse anzuknüpfen, um nicht
durch Indiskretionen kriegerischer Absichten verdächtigt werden zu
können. Generaloberst v. Moltke drang am ersten Mobilmachungstage
darauf, daß alles geschah, was in dieser Beziehung noch nachzuholen war.
In seiner Denkschrift an das Auswärtige Amt29 legte er zunächst die
Notwendigkeit baldiger Klärung der Haltung Englands und Italiens sowie
der Verhältnisse auf dem Balkan dar. Sodann wies er auf die Wichtigkeit
schleunigen Abschlusses des Bündnisses mit der Türkei hin. Ferner
regte er Anbahnung von Bündnissen mit Schweden, mit Norwegen, mit
Japan und mit Persien an.
Abgesehen von dem - schon
vorbereiteten - Bündnis mit der Türkei ist diesen späten
Versuchen ein Erfolg nicht mehr beschieden gewesen.
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