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Bd. 1: Der deutsche Landkrieg, Erster Teil:
Vom Kriegsbeginn bis zum Frühjahr 1915

[1] Kapitel 1: Die politischen Grundlagen für die Entschlüsse
der Obersten Heeresleitung bei Kriegsbeginn

Generalmajor Wilhelm v. Dommes

1. Die Entwicklung der politischen Lage seit 1871.

Der Generalfeldmarschall Graf Schlieffen hat um die Jahreswende 1908/09 in seiner Studie Der Krieg in der Gegenwart die allgemeine Lage Europas mit folgenden Worten gekennzeichnet:

      "In der Mitte stehen ungeschützt Deutschland und Österreich, ringsum hinter Wall und Graben die übrigen Mächte. Der militärischen Lage entspricht die politische. Zwischen den einschließenden und den eingeschlossenen Mächten bestehen schwer zu beseitigende Gegensätze....
      Es ist nicht ausgemacht, daß diese Leidenschaften und Begehrlichkeiten sich in gewaltsames Handeln umsetzen werden. Aber das eifrige Bemühen ist doch vorhanden, alle diese Mächte zu gemeinschaftlichem Angriff gegen die Mitte zusammenzuführen. Im gegebenen Augenblick sollen die Tore geöffnet, die Zugbrücken herabgelassen werden und die Millionenheere über die Vogesen, die Maas, die Königsau, den Njemen, den Bug und sogar über den Isonzo und die Tiroler Alpen verheerend und vernichtend hereinströmen...."
Treffender kann die Lage, die lange Jahre hindurch mit immer vermehrtem Druck auf Europa lastete, kaum gezeichnet werden.

Um die politischen Zusammenhänge zu verstehen, muß man auf die Lage zurückgehen, die durch den Krieg von 1870/71 geschaffen war.

Mit der Zurückgewinnung des einst widerrechtlich geraubten alten deutschen Kulturlandes Elsaß-Lothringen konnten die Jahrhunderte alten Kämpfe zwischen Deutschland und Frankreich von deutscher Seite als zum Abschluß gekommen angesehen werden.1 Frankreichs Nationalstolz aber vermochte den Verlust der beiden Provinzen nicht zu verschmerzen. Die bekannten Worte Gambettas "toujours y penser, jamais en parler" sind der Leitstern französischen Denkens gewesen. Die elsaß-lothringische Frage hat - bald stärker, bald schwächer betont - niemals aufgehört, im Vordergrunde der französischen Politik zu stehen. Der Revanchegedanke hat jede Annäherung an Deutschland und jeden wie immer gearteten Ausgleich verhindert. Es war klar, daß die französische Politik stets für jede Koalition zu haben war, die sich gegen Deutschland richtete.

[2] Überraschend schnell hat Frankreich sich von der Niederlage und den Opfern des Krieges 1870/71 erholt und wieder aktive Politik getrieben. Je mehr das Land erstarkte, um so mehr machte sich das alte Streben geltend, wieder in den Besitz der Rheingrenze zu gelangen. Dieser Drang und die Besorgnis vor dem machtvollen Aufstieg des Deutschen Reiches haben die französische Republik in die Arme des autokratischen Rußlands geführt.

Die traditionelle deutsch-russische Freundschaft erlitt durch den Berliner Kongreß einen merklichen Stoß. Hinzu kam, daß Zar Alexander III., im Gegensatz zu seinem Vater, eine antideutsche Politik begünstigte. Der Staatsklugheit des Fürsten Bismarck gelang es gleichwohl, die deutsch-russischen Beziehungen eine Zeit lang äußerlich noch leidlich freundlich zu erhalten. Nach Ablauf und Nichterneuerung des sogenannten Rückversicherungsvertrages gewann aber vollends die ausgeprägte antideutsche Richtung die Oberhand. Das führte zur Annäherung an Frankreich. Im Jahre 1891 erschien eine französische Flotte unter Admiral Gervais vor Kronstadt; der Zar wurde an Bord der "Magenta" mit der Marsaillaise begrüßt. Die französisch-russische Entente Cordiale wurde geschlossen.

Englands zielbewußte Politik hat immer nur den britischen Imperialismus vor Augen gehabt. Sein Interesse war das "Gleichgewicht der Kräfte" zwischen den kontinentalen Großmächten Deutschland - Österreich auf der einen, Frankreich - Rußland auf der anderen Seite. Die unabhängige Stellung, die England den festländischen Koalitionen gegenüber behauptete - Lord Salisbury's splendid isolation - gab ihm beherrschenden Einfluß. Stand die europäische Waage im Gleichgewicht, so genügte ein geringes, um sie nach der von England gewünschten Seite zum Ausschlagen zu bringen.

Als Deutschland unter Preußens Führung in den Kreis der Großmächte eintrat, war es - nach Bismarcks Ausspruch - saturiert. Es wollte nichts als Sicherung seiner Grenzen und freie Entfaltungsmöglichkeit für seine großen industriellen und kommerziellen Kräfte. Die Erde war im wesentlichen aufgeteilt. Nur da, wo die älteren Kolonisationsmächte Fuß zu fassen verschmäht hatten, konnten deutsche Niederlassungen gegründet werden. Meist gelang es deutschem Fleiß und deutscher Zähigkeit, in über Erwarten kurzer Zeit Beachtenswertes zu schaffen.

Zum Schutz seines Handels und seiner Siedlungen bedurfte Deutschland der Seegeltung. Die deutsche Flotte, die eigenste Schöpfung Kaiser Wilhelms II., bedrohte niemand, war nur bestimmt, deutschen Unternehmungsgeist und deutsche Arbeit zu schützen. Ihr allmähliches Erstarken ließ England aufhorchen. Es sah hinfort in Deutschland nicht nur den lästig werdenden Nebenbuhler auf dem Gebiete des Handels, sondern es fühlte sich in seiner - von ihm als gottgewolltes Recht beanspruchten - unbeschränkten Seeherrschaft bedroht. Mit rührender Offenheit schrieb schon 1897 die Saturday Review unter dem Losungswort [3] "Germaniam esse delendam" die Worte: "Wenn Deutschland morgen aus der Welt vertilgt würde, so gäbe es übermorgen keinen Engländer in der Welt, der nicht um so reicher wäre." Der Burenkrieg, der die britischen Kräfte in weit höherem Maße in Anspruch nahm, als man erwartet hatte, zeigte die Gefahren der "splendid isolation". König Eduard VII. zog bald nach seiner Thronbesteigung die Folgerungen. Er wandte sich wieder der Bündnispolitik zu, die sich - den englischen Überlieferungen getreu - gegen die stärkste Kontinentalmacht, in diesem Falle also gegen Deutschland, richtete. Seine gewandte Hand schürzte die Fäden, die schließlich zur "Einkreisungspolitik" gegen Deutschland führten. Dem Bündnis mit Japan 1902 folgte 1904 die Annäherung an Frankreich, das in der Hoffnung der Unterstützung seiner Revanchepläne die alte Feindschaft begrub und alte Demütigungen vergaß. 1907/09 traten die Vereinbarungen mit Rußland hinzu.

Die Gefährdung deutscher Handelsinteressen in Marokko, die durch Errichtung von Einflußsphären in den Randländern des Mittelmeeres unter Ausschaltung Deutschlands herbeigeführt wurden (1905), stellte die Entente zum ersten Male in scharfen Gegensatz zu Deutschland und Österreich-Ungarn. Italien, von der Gegenseite mit Vorbedacht geködert, blieb abseits. Die alte Bismarcksche Dreibund-Schöpfung erwies sich als brüchig. Die Konferenz von Algeciras endete mit einem nur notdürftig verschleierten Mißerfolg Deutschlands.

Die Möglichkeit eines mit den Waffen auszutragenden Konflikts war wieder in greifbare Nähe gerückt. Da das durch den japanischen Krieg geschwächte Rußland für den Kampf nicht voll in Rechnung gestellt werden konnte, setzte bald auf seiten der Entente eine starke Anspannung der Rüstungen ein, der gegenüber auch Deutschland nicht untätig bleiben konnte.

Die Reibungsflächen wurden vermehrt dadurch, daß Rußland, in seiner Ausbreitung in Ostasien durch Japan behindert, sich in seinen politischen Interessen wieder dem nahen Osten zuwandte, um endlich den Ausgang aus dem Schwarzen Meer zu gewinnen. Dabei sprach die Hoffnung mit, die inneren Schwerigkeiten bannen zu können, indem man den nationalen Bestrebungen den Weg nach außen wies. Schon bald nach dem Frieden von Portsmouth wurden die panslawistischen Ideale neu belebt. Die alte Sehnsucht, auf der Hagia Sofia das orthodoxe Kreuz aufs neue aufrichten zu können, wurde wieder lebendig.

Die erste Etappe auf diesem Wege mußte Stärkung der Balkanstaaten sein. Durch Aufrührung des Nationalitätenprinzips mußten ihre Gegensätze zur Donaumonarchie und zur Türkei verschärft werden.

Als nach der türkischen Revolution 1908 Österreich-Ungarn die Einverleibung Bosniens und der Herzegowina vollzog, drohte der europäische Krieg sich an der Balkanfrage zu entzünden. Deutschlands festes Eintreten für den Verbündeten glättete die erregten Wogen. Für dieses Ergebnis ausschlaggebend war die Erkenntnis, daß Rußland sich von den Folgen des japanischen Krieges noch nicht [4] genügend erholt hatte, um sich für einen Krieg gegen Deutschland stark genug zu fühlen, daß Frankreichs Rüstung noch nicht vollendet, und daß unter diesen Umständen die Neigung Englands für ein solches Risiko gering war.

Auch diese Krise hatte erkennen lassen, daß Italien eigene Wege ging, die es vom Dreibund entfernten. Die Gemeinsamkeit der russischen und italienischen Interessen wurde - mit scharfer Spitze gegen Österreich - in Racconigi deutlich hervorgehoben. Es war fraglich, ob Italien die ihm von Bismarck zugedachte negative Aufgabe, "die Donaumonarchie nicht in die Beine zu beißen", auf die Dauer erfüllen werde. Neben vielem anderen fiel die Abhängigkeit von England ins Gewicht, in der es sich infolge seiner langgestreckten Küsten befand.

Die nächsten Krisen, die Europa erschütterten, waren das französische Vorgehen in Marokko 1911 (Einzug General Moiniers in Fez) und der Balkankrieg 1912.

Sie zeigten dem objektiven Beobachter, daß die Lösung des Knotens schließlich nur mit den Waffen möglich war, und daß Deutschlands Feinde diese Lösung planmäßig herbeiführen wollten. Zu der mächtigen Koalition, die sich aus Frankreich, England, Rußland und Japan gebildet hatte, mußte man hinzurechnen: das französisch-englisch orientierte Belgien, Serbien, Montenegro. Der antideutschen Haltung Dänemarks konnte man sicher sein. Italien neigte der Entente zu. Bulgarien und Rumänien waren zweifelhaft.

Noch einmal schien es, als ob es gelingen könnte, eine Brücke zwischen Deutschland und England zu finden, als der englische Minister Haldane im Frühjahr 1912 zu Verhandlungen nach Berlin kam. Der Vorschlag aber, den er brachte: Einseitige Einschränkung der deutschen Flottenrüstungen gegen die Zusicherung, daß England "keinen unprovozierten Angriff auf Deutschland machen, noch sich an einem solchen beteiligen werde", mußte wie Hohn wirken, denn ein "unprovozierter" Angriff ist - als den einfachsten sittlichen Forderungen widersprechend - in der Geschichte noch niemals zugegeben worden.

Nachdem der Versuch, Deutschland einseitig zu binden, gescheitert war, zog England nach der anderen Seite die Folgerung. In einem Schriftwechsel mit dem französischen Botschafter Paul Cambon legte Sir Edward Grey den Bündnisfall und das Zusammenwirken der französisch-englischen Streitkräfte nach sorgfältig vorbereitetem Plane ausdrücklich fest. Im Frühjahr 1914 kam das englisch-russische Marineabkommen hinzu, in dem für den Fall eines Krieges die Überführung eines russischen Expeditionskorps auf einer englischen Transportflotte nach der pommerschen Küste in Aussicht genommen wurde.

Daß jeder Staat in dem für ihn und seine Bundesgenossen als möglich angesehenen Umfange sich für einen etwaigen Krieg gerüstet hält, ist selbstverständliche Pflicht der Selbsterhaltung. Wenn Deutschlands Feinde alles taten, um [5] in der zu erwartenden großen Auseinandersetzung sich möglichst gute Erfolgsaussichten zu eröffnen, so war das nur ihr gutes Recht. Zahlreiche unwiderlegbare Dokumente2 liefern aber den schlüssigen Beweis dafür, daß die drei Ententemächte über dieses Recht weit hinaus gegangen sind, daß sie vielmehr ihre ganze Politik längst darauf eingestellt hatten, den Krieg gegen Deutschland nicht nur auf das sorgfältigste vorzubereiten, sondern ihn auch planmäßig herbeizuführen.

Mit großer Wahrscheinlichkeit wird auch noch der geschichtliche Beweis dafür erbracht werden, daß die Hand des serbischen Studenten Princip, die die beiden verhängnisvollen Pistolenschüsse in Serajewo abgab, von Leuten geführt worden ist, die hierdurch die Lunte in das Pulverfaß werfen wollten, auf dem Europa stand.3


2. Die Frage eines deutschen Präventivkrieges.

Von selbst wirft sich aus dieser Entwicklung die Frage auf, was Deutschland getan hat, um den Bestrebungen der Feinde, die es durchschauen mußte, entgegenzutreten.

Der Deutsche Kaiser und seine Regierung haben nur eine Politik des Friedens getrieben. Deutschland wollte nichts als eine ruhige Entwicklung seiner wirtschaftlichen Kräfte. Dazu brauchte es unbedingt den Frieden. Durch einen Krieg hatte es nichts zu gewinnen, während seine Feinde durch ihn längst erstrebte Ziele zu erreichten hofften. Frankreich: Elsaß-Lothringen; Rußland: Konstantinopel und die unbedingte Vorherrschaft auf dem Balkan; England: die Vernichtung des deutschen Handels und der deutschen Flotte.

Im Rahmen dieses Abschnitts ist nicht der Ort, der Frage nachzugehen, weshalb Deutschland nicht Bündnisse geknüpft hat, die ihm gegen andere Koalitionen eine gewisse Sicherheit gewährten. (Der Grund ist im wesentlichen eine Friedensliebe, die auch den Schein vermeiden wollte, als denke man an die Vorbereitung eines Krieges.) Wohl aber muß erörtert werden, weshalb Deutschland, als es sah, daß der Krieg auf die Dauer doch nicht zu vermeiden war, untätig gewartet hat, bis die Ententemächte ihre Vorbereitungen in aller Ruhe abgeschlossen hatten, bis also die ihm um den Hals gelegte Schlinge nur zugezogen zu werden brauchte - weshalb es sich nicht entschlossen hat, wenigstens den verhältnismäßig günstigsten Augenblick zum Losschlagen selbst zu bestimmen.

[6] Das Wort "Präventivkrieg" ist in Mißkredit geraten, seit Bismarck in seiner Reichstagsrede vom 6. Februar 1888 und in seinen Gedanken und Erinnerungen sich gegen einen solchen ausgesprochen hat. Der Gedanke, daß es immer noch eine Möglichkeit geben könne, einen Konflikt auf friedliche Weise zu lösen, hat dauernd die deutsche Regierung geleitet. Vor allem aber war es der Deutsche Kaiser, der in seinem hohen sittlichen Verantwortungsgefühl stets betonte, daß jeder Krieg - auch der glücklichste - dem Volke große Blutopfer auferlege. Diese Opfer wollte der Kaiser Deutschland ersparen und nur dann zum Schwerte greifen, wenn alle anderen Mittel erschöpft waren.

Aus diesem Grunde hat Deutschland besonders günstige Lagen verstreichen lassen. Eine solche Lage ergab sich zum Beispiel 1900, als England im Burenkriege stand. Damals trat an Deutschland sogar ein französisch-russischer Vorschlag heran, Englands Verlegenheit auszunutzen. Er wurde von Deutschland abgelehnt. Die denkbar günstigste Gelegenheit hätte sich 1905 geboten, als Rußland durch den japanischen Krieg festgelegt war. Deutschland wäre im Osten mit ganz geringen Kräften ausgekommen, und hätte sein gesamtes Heer für den Westen zur Verfügung gehabt. Der Erfolg wäre nahezu sicher gewesen.

Nach den Erinnerungen des Freiherrn H. v. Rosen, früheren Mitgliedes des russischen Reichsrates, hat Sasonow einst gesagt:4 "Die Friedensliebe des Deutschen Kaisers bürge dafür, daß die Entente den Zeitpunkt des Krieges selbst zu bestimmen haben werde."

Vielleicht wird eine spätere Geschichtschreibung dem Kaiser nichts so sehr vorwerfen, als daß seine Friedensliebe zu groß war, und daß er um ihretwillen Gelegenheiten, die Zukunft des deutschen Volkes sicherzustellen, aus der Hand gegeben hat.


3. Die Entwicklung der deutschen operativen Absichten.

Entwicklung der Auffassungen nach 1871.

Die vorstehende kurze Skizzierung der politischen Lage zeigt, wie die Mächte, die sich zur Entente zusammengefunden hatten, das um Deutschland gezogene Netz allmählich enger knüpften. Die operativen Vorbereitungen für den Krieg, die "Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln", mußten natürlich auf der jeweiligen Lage aufbauen und sich ihrer Veränderung anpassen.

Es ist lehrreich, die Entwicklung zu verfolgen, die diese Vorbereitungen seit dem Kriege 1870/71 durchgemacht haben.

Die Friedensschlüsse von Prag und Frankfurt hatte Bismarcks Staatskunst unter Dach zu bringen verstanden, ohne daß es zu der in beiden Fällen drohenden Intervention dritter Staaten gekommen wäre. Daß das aufstrebende Deutschland es in Zukunft bei einem Konflikte nicht mehr mit einer, sondern mit mehreren [7] Mächten zu tun haben würde, war die aus jenen Friedensschlüssen gewonnene Erkenntnis, die den Grafen Schuwalow von dem Bismarckschen "cauchemar des coalitions" sprechen ließ.

Rußlands Wünsche und Bestrebungen waren durch den Berliner Kongreß keineswegs befriedigt. In seinem Verhältnis zu Deutschland, von dem es sich nicht genügend unterstützt glaubte, war infolge des Kongresses eine Trübung eingetreten. Man mußte damit rechnen, daß es einem neuen deutsch-französischen Kriege nicht untätig zusehen würde. Daß Frankreichs Revanchegeist sich an jedem Kriege gegen Deutschland beteiligen werde, konnte als feststehend gelten. So trat für Deutschland das Gespenst eines Zweifrontenkrieges in greifbare Nähe. Nicht ausgeschlossen war es, daß sich den Angreifern auch die Dänen und Engländer zugesellen würden. Die Schwierigkeit der durch keine natürlichen Grenzen geschützten Lage Deutschlands wuchs mit der Erstarkung seiner Gegner.

In jedem militärischen Lehrbuche steht zu lesen, wie man verfahren muß, wenn man, auf der inneren Linie stehend, sich zweier Gegner zu erwehren hat: Es bedeutet im allgemeinen sichere Vernichtung, wenn man sich auf beiden Fronten abwehrend verhält und den Feinden Zeit läßt, ihre Kräfte einheitlich von beiden Seiten gegen den in der Mitte Stehenden vorzuführen. Ein günstiges Ergebnis ist nur möglich, wenn man diesem Streben des Feindes durch eigenen Angriff zuvorkommt. Dabei darf man seine Kräfte nicht durch Teilung zersplittern, weil man dann im allgemeinen auf keiner Front stark genug sein wird, um die Entscheidung zu erzwingen. Vielmehr muß man mit gesammelter Kraft sich zunächst auf den einen Gegner werfen, um diesen zu schlagen, während man den anderen mit möglichst geringen Kräften hinzuhalten versucht. Nach dem Siege über den ersten Feind hat man dann nur die Vorteile der inneren Linie auszunutzen, die Hauptkräfte auf den anderen Kriegsschauplatz zu überführen und auch den dort befindlichen Gegner zu schlagen.

Das ist das Rezept, dem Friedrich der Große und Napoleon einen Teil ihrer Siege verdankten. Es klingt sehr einfach. Und doch ist seine Anwendung überaus schwierig. Von den Schwierigkeiten seien hier nur einige herausgegriffen. Vielleicht die Hauptschwierigkeit liegt in der Frage, gegen welchen Feind zuerst die Entscheidung herbeizuführen ist. Theoretisch soll es der stärkere Gegner sein. Grundbedingung für das Gelingen der ganzen Operation ist es aber, daß man den zuerst anzugreifenden Feind auch wirklich entscheidend schlägt. Gelingt das nicht, so wird es nie möglich sein, sich die für die Operation auf der inneren Linie nötige Rückenfreiheit zu erstreiten. Deshalb muß der Gegner, gegen den man sich zuerst wendet, vor allen Dingen auch wirklich zu fassen sein. Er darf nicht hinter schwer angreifbaren Abschnitten stehen, oder sich hinter solche zurückziehen können. Er muß schließlich durch irgendwelche Rücksichten gezwungen sein, sich zur Entscheidung zu stellen, und darf nicht ins Ungemessene ausweichen können.

[8] Schwierig ist auch die Bemessung der auf der Abwehrfront zurückzulassenden Kräfte. Sie dürfen keinesfalls stärker sein als dringend erforderlich - jede Truppe, die hier zuviel ist, fällt bei der Entscheidung aus. Sie müssen andererseits eine Sicherheit dafür gewähren, daß die Entscheidungs-Operation ohne Gefährdung durchgeführt werden kann.

Es ist selbstverständlich, daß der gewählte Operationsplan sich jeder Änderung der Lage bei dem Feinde anpassen muß. Ein Operationsplan kann mithin nie etwas für alle Zeiten Gültiges sein, sondern ist vielmehr wie alles dem Wandel unterworfen.

In der ersten Zeit nach dem Kriege 1870/71 hatte der Feldmarschall Graf Moltke sich in dem immerhin schon damals denkbaren Falle eines Zweifrontenkrieges für den Angriff auf Frankreich entschieden. Das französische Heer war schneller bereit als das russische. Die Hoffnung schien begründet, es entscheidend schlagen zu können, bevor der russische Angriff sich fühlbar machte.

Die ungeheuren Anspannungen Frankreichs in der Vermehrung seiner Streitkräfte und dem Ausbau seines Landesverteidigungs-Systems einerseits, das Bündnis Deutschlands mit Österreich-Ungarn vom Jahre 1879 andererseits, führten zu einer Änderung des Operationsplanes.

Der erste Angriff sollte sich gegen Rußland richten. Gegen Frankreich wollte man sich zunächst in der Verteidigung halten. Die Gründe waren folgende:

Es war anzunehmen, daß die Franzosen einem Entscheidungskampfe sich so lange versagen würden, bis das Eingreifen der Russen fühlbar würde. Zu diesem Zweck hatte man französischerseits die Ostgrenze durch eine dichte Sperrfortslinie geschützt, deren Überwindung mindestens zeitraubend war.

Ihr eigentliches Kriegsziel - die Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens - konnten die Franzosen nur durch Angriff erreichen. Der Raum zwischen den neutralen Gebieten Belgiens und der Schweiz beträgt nur rund 250 km. Gingen die Franzosen zum Angriff über, wenn das deutsche Ostheer im Kampfe mit den Russen gebunden war, so konnte man deutscherseits hoffen, ihnen in diesem schmalen Raum erfolgreich Widerstand leisten zu können. Nach den vorliegenden Nachrichten war anzunehmen, daß die französischen Hauptkräfte nach Lothringen hinein, Nebenkräfte in das Elsaß angesetzt werden sollten. Dementsprechend sollte das deutsche Westheer gruppiert werden: die Masse in einer Stellung, etwa in der Linie Forbach - Saarunion, mit starken Staffeln hinter beiden Flügeln, in der rechten Flanke durch den Waffenplatz Metz, in der linken durch die Vogesen und Straßburg geschützt. Eine Nebenarmee sollte im Elsaß aufmarschieren. Griffen die Franzosen - wie zu erwarten war - nach Lothringen hinein an, so war ein Gegenangriff geplant, zu dem auch die elsässische Gruppe herangezogen werden sollte.

Daß die Franzosen eine Umgehung durch die Schweiz versuchen würden, hielt Moltke für unwahrscheinlich. Eine französische Umgehung durch Belgien wäre nach seiner Ansicht am Rhein zum Stehen gekommen. Durch sofortigen Abmarsch [9] gegen die Flanke der Umgehungsarmee wollte er in diesem Falle den Feind zwingen, mit der Front nach Süden, Holland hinter sich, den Entscheidungskampf anzunehmen.

Unglücklichstenfalls würde man hinter dem starken Rheinabschnitt mit seinen großen Festungen den Feind so lange aufhalten können, bis das Heranziehen von Teilen vom östlichen Kriegsschauplatz die Lage wiederherstellte.

War Deutschland somit in der Lage, gegen Westen eine starke Defensive zu führen, so lagen nach Moltkes Ansicht im Osten die Dinge anders. Die über 900 km lange deutsche Grenze mit Rußland war völlig offen. Den vier eingleisigen Bahnen, die an sie heranführten, standen die Russen bei Warschau, wo ihre Transportlinien zusammenliefen, auf der inneren Operationslinie versammelt gegenüber. Deshalb kam Moltke zu der Ansicht, daß die deutsche Ostgrenze nur offensiv geschützt werden könne.

Für den Entschluß, die Entscheidung zunächst durch Angriff im Osten zu suchen, scheint im besonderen Maße die Rücksicht auf Österreich mitbestimmend gewesen zu sein. Österreich hatte damals im Kriege voraussichtlich nur gegen Rußland Front zu machen. Mit Ausnahme der Besatzungstruppen für Bosnien und die Herzegowina konnte es sein ganzes Heer hier einsetzen. Moltkes Ziel war, die deutschen und die österreichischen Kräfte zum Entscheidungskampfe östlich Warschau zu vereinigen. Dazu wollte er die Masse der deutschen Streitkräfte in der Richtung Pultusk - Ostrolenka vorführen, den Österreichern Vormarsch in Richtung Lublin empfehlen.

Hauptsächlich zwei Bedenken waren gegen diesen Operationsplan zu erheben: 1. die Frage, ob die Russen wirklich eine Entscheidung annehmen würden. Wichen sie in ihr schier unabsehbares Hinterland aus, so mußte der Krieg sich nicht nur außerordentlich in die Länge ziehen. Die Schwierigkeiten für den Angreifer erfuhren auch durch die langen Etappenlinien und die Nachschubschwierigkeiten eine kaum zu überwindende Vermehrung. 2. die Frage, ob angesichts der Wege- und Witterungsverhältnisse der beabsichtigte Angriff unter allen Umständen durchführbar war. - Die erste Frage glaubte Moltke nach den ihm vorliegenden Nachrichten bejahen zu können. Er rechnete bestimmt damit, daß die Russen schon diesseits des Narew, spätestens aber am Narew, sich stellen würden. Nicht so unbedenklich schien die zweite Frage. Der an sich schwierige Angriff gegen den Narew schien in der nassen Jahreszeit, wenn die Wege grundlos, die Niederungen ungangbar waren, nicht durchführbar. Es blieb dann nichts übrig, als dem Gegner das Überwinden des Abschnitts zuzuschieben und zu warten.

Trotz dieser Bedenken blieb der vorstehende Operationsplan mit unwesentlichen Änderungen während des Restes der Amtszeit Moltkes in Kraft. Moltkes langjähriger Generalquartiermeister Graf Waldersee behielt ihn bei, als er 1889 sein Nachfolger geworden war. Auch Graf Schlieffen hielt, als 1891 die Leitung des Generalstabes in seine Hände überging, zunächst an ihm fest.

[10] Allmählich führten aber die Änderungen der allgemeinen militärpolitischen Lage zu einem Umschwung der Auffassung. Die Hauptursache war die ungeheure Erstarkung der französischen Wehrkraft. Die große Anspannung Frankreichs hatte zur Folge, daß Frankreich mit seiner 40-Millionen-Bevölkerung das um fast 28 Millionen volkreichere Deutschland in der Heeresstärke in kurzer Zeit erreichte und schließlich überflügelte. Bewaffnung und Ausrüstung wurden auf eine hohe Stufe gebracht. Mobilmachung und Aufmarsch wurden erheblich beschleunigt und kamen den deutschen mindestens gleich.

Es ist kein Wunder, daß mit der wachsenden Offensivkraft auch der Offensivgeist zunahm. Die französische Presse führte eine Sprache deren aggressiver Ton schließlich kaum noch zu überbieten war. Wollte man sich im Westen auf die Verteidigung beschränken, so mußte man mit einem frühzeitigen Angriff der Franzosen rechnen. Die vom Feldmarschall Moltke befürwortete Verteidigung in einer Stellung in Lothringen war auf eine Beteiligung Belgiens und gegebenenfalls auch Englands auf Frankreichs Seite nicht zugeschnitten.

Es konnte kein Zweifel darüber bestehen, daß unter Deutschlands Gegnern Frankreich der stärkste und gefährlichste geworden war. Da die Franzosen angreifen mußten, um ihr erstes Kriegsziel - die Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens - zu erreichen, war damit zu rechnen, daß es auf dem westlichen Kriegsschauplatz zur Entscheidung kommen würde, bevor die russische und die österreichische Armee ihren Aufmarsch beendet hatten.

Auf der anderen Seite erschien es fraglich, ob die Voraussetzung, daß die Russen sich einer Entscheidung stellen würden, noch zutraf. Gewiß war anzunehmen, daß sie den Franzosen gegenüber in dieser Beziehung bindende Abmachungen eingegangen waren. Ferner waren Anordnungen bekannt, nach denen gleich bei Kriegsbeginn starke Teile in Deutschland einfallen sollten, um Mobilmachung und Aufmarsch zu stören. Auch kann heute für diese Ansicht geltend gemacht werden, daß die Russen den Krieg gegen Deutschland sowohl wie gegen Österreich angriffsweise eröffnet haben. Eine Sicherheit dafür hatte man damals aber nicht, und um so weniger, nachdem die Russen im Jahre 1910 ihren Aufmarsch hinter die Linie Kowno - Grodno - Bialystok - Brest-Litowsk zurückverlegt hatten.

Auch wenn man diese Sicherheit gehabt hätte, mußte es fraglich bleiben, ob man in die Rechnung als sicheren Faktor die Erwartung einstellen durfte, daß man die Russen schnell so entscheidend schlagen könne, wie es zur Erkämpfung der Rückenfreiheit und zur Überführung von Streitkräften nach dem Westen nötig war. Gelang es den Russen, sich entscheidenden Schlägen zu entziehen, wichen sie anstatt dessen in ihr weites Hinterland aus, so war es kaum abzusehen, wann der Augenblick eintreten konnte, der die Überführung namhafter Kräfte nach dem Westen gestattete. Daß es aber dem schwachen deutschen Westheere auf die Dauer gelingen würde, die Franzosen abzuwehren, konnte man nicht hoffen. Als [11] ausgeschlossen mußte das vor allem gelten von dem Augenblick an, in dem England und Belgien an Frankreichs Seite in den Krieg eintraten.

Diese Erwägungen führten den Grafen Schlieffen zu der Auffassung, daß angriffsweiser Einsatz der Hauptkräfte gegen Frankreich die günstigsten Voraussetzungen für die deutsche Kriegführung schaffen würde.

Noch einige Tage vor seinem Tode schrieb er:5 "Ganz Deutschland muß sich auf einen Gegner werfen, auf denjenigen, der der stärkste, mächtigste und gefährlichste ist, und das kann nur Frankreich-England sein. Österreich mag ohne Sorge sein: die russische, gegen Deutschland bestimmte Armee wird nicht nach Galizien marschieren, bevor nicht die Würfel im Westen gefallen sind, und das Schicksal Österreichs wird nicht am Bug, sondern an der Seine entschieden."

Es stand weiterhin zur Entscheidung, wie der Angriff zu führen sei. Daß das französische Landesverteidigungssystem einen Frontalangriff außerordentlich schwierig gestaltet hatte, ist erwähnt worden. Ein Angriff in das von den Franzosen mit Absicht geschaffene Loch zwischen Toul und Epinal hinein war ein verzweifeltes Unternehmen. Eine Umfassung nördlich um Verdun herum, in dem engen Raum zwischen belgischer Grenze und dieser Festung, war an sich schon schwierig. Die Schwierigkeiten wurden aber ins Unerträgliche gesteigert dadurch, daß der Angriff einer französisch-englischen Umfassung durch Belgien und Luxemburg ausgesetzt war.


Frage der belgischen Neutralität.

Die Frage der Neutralität Belgiens ist vor dem Kriege in der Presse häufig erörtert worden. Nach Kriegsbeginn haben Deutschlands äußere und innere Feinde sie zum Gegenstand wüstester Agitation gemacht.

Graf Schlieffen äußerte sich gelegentlich der Schlußbesprechung einer Generalstabsreise zu dieser Frage:6 "....Bei dieser Sachlage haben Engländer und Amerikaner, die sich mit der Frage beschäftigt haben, als praktische und wenig skrupulöse Leute es als selbstverständlich angenommen, daß die Deutschen die Franzosen durch Belgien angreifen würden. Die Schweizer haben dem freudig zugestimmt, weil auf diese Weise eine Verletzung ihres Landes außer Frage stand. Die Franzosen wollen uns in der Flanke umfassen. Auch dies ist kaum anders möglich als durch Belgien und Luxemburg. Belgien richtet sich auf alle Fälle ein und trifft seine Vorkehrungen. Man kann also wohl sagen, daß alle irgendwie in Frage kommenden Nationen den Durchmarsch durch Belgien als eine Tatsache hinnehmen."

Diese Worte zeichnen prägnant die Beurteilung, die die belgische Frage in der Welt erfuhr. Es ist von Interesse, daß der belgische Minister Brocqueville im [12] Mai 1914 zu dem damaligen deutschen Militärattaché, Major v. Klüber, sagte: "Wenn ich der Generalstabschef von Deutschland oder auch von Frankreich wäre, und das strategische Interesse, das Wohl meines Vaterlandes erforderte es, so würde ich keinen Moment zögern, neutrales Gebiet zu betreten und mir den Durchgang zu erzwingen. Das ist so selbstverständlich, daß ich mich gegebenenfalls über das Gegenteil nur wundern würde."7

Daß Belgien nicht wirklich neutral war, daß zwischen ihm und Frankreich-England für den Kriegsfall militärische Abmachungen bestanden, daran war seit Jahren nicht zu zweifeln.

Die belgische Militärliteratur behandelte alle Probleme, die sie sich stellte, vom Standpunkte des Zusammengehens mit Frankreich-England.

Die belgische Armee wurde vergrößert in einem Maße, das mit der Neutralerklärung des Landes nicht in Einklang zu bringen war. Die Friedenspräsenz steigerte sich von 47 000 Mann (1907) auf 58 000 Mann (1914), die Rekrutenquote von 19 von Hundert auf 49 von Hundert der Gestellungspflichtigen.

Mit harmloser Offenheit erkundeten englische Offiziere die belgische Küste, französische Offiziere das belgische Landgebiet. Durch die Erkrankung des Oberstleutnants Picard in Namur wurde die französische Generalstabsreise des Generals Tauflieb auf belgischem Boden - 1913 - bekannt. Ihr besonderes Merkmal war das Studium der Straßenzüge in der Nord - Süd-Richtung, also in der mutmaßlichen Richtung gegen den erwarteten deutschen rechten Heeresflügel.

England bezeigte ein auffallendes Interesse an dem Ausbau des Hafens von Zeebrügge und der Neubefestigung von Antwerpen. Englische Offiziere erzählten, daß ihnen als Mobilmachungsort Antwerpen angegeben sei. Die Volksstimmung in Belgien zeigte sich dem Anschluß an Frankreich in wachsendem Maße geneigt. Der belgische Militärattaché in Paris, Major Collon, sprach dem deutschen Militärattaché, Major v. Winterfeldt,8 gegenüber im August 1913 offen aus, in Belgien rechne man stark damit, daß bei Ausbruch eines deutsch-französischen Krieges französische Truppen sogleich in belgisches Gebiet einrücken würden.

Daß die deutsche Heeresleitung mit der Annahme, Belgien auf Seite Frankreichs zu finden, im Recht war, beweisen die Akten, die in den belgischen Archiven gefunden sind. Am bezeichnendsten aus ihnen sind die Aufzeichnungen des Generals Ducarne über seine Verhandlungen mit dem Oberst Barnardiston (1906), und des Grafen van der Straaten über eine Unterredung des englischen Militärattachés, Oberstleutnant Bridges, mit dem General Jungbluth. In dieser stehen unter anderem die Sätze: "Die britische Regierung.... würde unverzüglich bei uns Truppen gelandet haben, auch wenn wir keine Hilfe erbeten gehabt hätten" [13] und "....da wir nicht in der Lage wären, den Deutschen den Durchmarsch durch unser Land zu verwehren, würde England seine Truppen in jedem Falle (en tout état de cause) in Belgien gelandet haben."

Den sichersten Beweis für die beabsichtigte Zusammenarbeit Belgiens und Englands liefern die 1914 auf den Schlachtfeldern erbeuteten Karten belgischen Gebiets, die auf Grund belgischer, von englischen Offizieren berichtigter Karten mit englischen Namen und Bezeichnungen in den Jahren 1906 bis 1912 in England gedruckt waren.

Bei Deutschlands geographischer Lage und erheblicher zahlenmäßiger Unterlegenheit hieß es - wie ausgeführt - von vornherein auf jede Erfolgsaussicht verzichten, wenn man den Krieg nicht wenigstens nach einer Seite angriffsweise eröffnete. Für diesen Angriff kam aus den schon dargelegten Gründen nur die Westfront in Betracht. Drang das deutsche Heer unter Beachtung der - tatsächlich nicht vorhandenen - belgischen Neutralität in Frankreich ein, so war sein rechter Flügel dem umfassenden Angriff der Franzosen und Engländer durch Belgien ausgesetzt. Jede deutsche Angriffsoperation wäre dadurch von Beginn an zum Scheitern verurteilt gewesen.

Ein weiteres trat hinzu. Durch zahlreiche Studien war einwandfrei festgestellt, daß angesichts der starken Befestigungen der französischen Ostgrenze ein schneller Erfolg nur durch umfassendes Ansetzen des deutschen rechten Heeresflügels gegen die weniger geschützte Nordgrenze, das heißt durch Belgien, herbeizuführen war.

Es wäre unverantwortlich gewesen, hätte die deutsche Heeresleitung sich dieses Vorteils begeben einem Staate gegenüber, der von wahrer Neutralität weit entfernt war, und über dessen offene Parteinahme für Deutschlands Feinde kein Zweifel obwalten konnte.

Jede Kritik muß bei unparteiischer Abwägung der Verhältnisse zu dem Ergebnis kommen, daß die Sommation der deutschen Regierung an Belgien vom 2. August 1914 und nach ihrer Ablehnung der Einmarsch kein "Unrecht" bedeutete, wie in unbegreiflicher Verkennung der Verhältnisse der Reichskanzler v. Bethmann Hollweg am 5. August 1914 im Reichstag sagte, sondern daß es sich um eine Maßnahme handelte, die in dem völkerrechtswidrigen Verhalten Belgiens ihre volle Berechtigung findet.

Daß die ganze sogenannte "Entrüstung über die Vergewaltigung Belgiens" nichts ist als tendenziöse Mache, geht klar hervor aus der Stellung, die maßgebende englische Kreise früher in dieser Frage eingenommen hatten, indem sie eine englische Garantie für Belgien ablehnten.


Österreich-Ungarn.

Auch Österreich-Ungarn war infolge der Entwicklung der Lage auf der Balkanhalbinsel gezwungen, nach zwei Seiten Front zu machen. Es stand außer [14] Frage, daß ein Krieg mit Rußland sofort Serbien und möglicherweise auch Rumänien auf den Plan rufen werde. War es für Deutschland geboten, seine Hauptkräfte gegen Frankreich als den bedrohlichsten Gegner einzusetzen, so war das für Österreich-Ungarn gegen Rußland der Fall. Die Schwierigkeiten dieser Aufgabe waren mit Rücksicht auf die erhebliche zahlenmäßige Überlegenheit Rußlands groß. Sie verringerten sich etwas, weil man damit rechnen konnte, daß die große räumliche Ausdehnung des Zarenreiches die Versammlung seiner Streitkräfte erst allmählich gestatten würde.

Die zwischen den Heeresleitungen Deutschlands und Österreich-Ungarns getroffenen Vereinbarungen sahen einen frühzeitigen Angriff der österreichisch-ungarischen Hauptkräfte nach Russisch-Polen hinein - zwischen Bug und Weichsel - vor. Deutscherseits war für den Fall, daß die Verhältnisse es zuließen, ein Vorstoß über den Narew in der allgemeinen Richtung auf Siedlce in Aussicht gestellt, um russische Kräfte zu binden. Man hoffte, auf diese Weise eine Lage zu schaffen, die nach Heranziehung von im Westen freigewordenen deutschen Truppen zum Erfolge ausgebaut werden konnte.


Italien.

Die im Anschluß an den Dreibund-Vertrag getroffenen militärischen Vereinbarungen legten Italien die Verpflichtung auf, bei einem deutsch-französischen Kriege eine Armee im Elsaß aufmarschieren zu lassen. Die Transporte wurden von den Generalstäben der Dreibundstaaten in jedem Jahre bearbeitet. Im Herbst 1912 erklärte Italien, keine Truppen mehr schicken zu können. Im nächsten Jahre wurden die Vereinbarungen jedoch wieder erneuert.

Die schwierige Lage, in der Italien seiner Küstenentwicklung wegen sich befand, seine oft antideutsche und namentlich antiösterreichische Politik und seine verschiedenen politischen "Extratouren" hatten es häufig zweifelhaft erscheinen lassen, ob Italien ernstlich beabsichtige, seinen aus dem Dreibundvertrage ihm erwachsenen Verpflichtungen gerecht zu werden. Vor allem gab auch der Ausbau der italienischen Landesverteidigung zu denken, die die französische Front gänzlich vernachlässigte und mit allen Mitteln auf Verstärkung der österreichischen Front Bedacht nahm.

Die deutsche Regierung, deren oberster Grundsatz es war, einen europäischen Krieg zu vermeiden, hatte darauf verzichtet, Italien zu vermehrten Kriegsvorbereitungen anzuhalten. Mit Zuspitzung der militärischen Lage suchte Generaloberst v. Moltke die militärischen Vorbereitungen der Dreibundheere einheitlicher und straffer zu gestalten. Daraus ging ein immer reger werdender Gedankenaustausch mit den Generalstabschefs, den Generalen v. Conrad und Pollio, hervor. Nicht nur in ersterem, sondern auch in dem italienischen Generalstabschef fand Generaloberst v. Moltke einen verständnisvollen und zuverlässigen Mitarbeiter. Wiederholt teilte General Pollio dem deutschen Generalstab Nach- [15] richten mit, die auf Angriffsabsichten der Entente in naher Zeit schließen ließen. Im Frühjahr 1914 regte er sogar - indem er Bezug nahm auf die Lage Preußens im Jahre 1756 - den Gedanken eines Präventivkrieges an, um das Netz, das die Entente um den Dreibund schlang, gewaltsam zu zerreißen.

Generaloberst v. Moltke übersah nüchtern die Verhältnisse. Er gab sich deshalb hinsichtlich der italienischen Hilfe keinen übertriebenen Erwartungen hin. Auf Grund der ihm gemachten Zusicherungen glaubte er immerhin damit rechnen zu können, daß die Haltung Italiens Frankreich nötigen würde, seine Alpengruppe an der italienischen Grenze stehenzulassen, und daß italienische Kräfte, wenn auch in ganz geringer Stärke (etwa eine Kavalleriedivision), am Rhein auftreten würden als äußeres Zeichen für das Bestehen des Dreibundes.


England.

Die voraussichtliche Haltung Englands wurde seitens des deutschen Generalstabes im allgemeinen richtig eingeschätzt. Bezeichnend für sie ist der Bericht des russischen Ministers Sasonow über seine Besprechungen in England im September 1912: Grey habe ohne Schwanken erklärt, man würde, wenn die in Frage stehenden Umstände eingetreten sein würden, "alles daran setzen, um der deutschen Machtstellung den fühlbarsten Schlag zu versetzen". Der König von England habe sich in einer Unterredung, die dieselbe Frage berührte, noch viel entschiedener ausgesprochen und hinzugefügt, die Engländer würden "jedes deutsche Schiff, das ihnen in die Hände käme, in den Grund bohren".9 Bezeichnend ist weiter die kürzlich bekanntgewordene10 Mitteilung von einer wichtigen Unterredung mit Sir Edward Grey, die der russische Botschafter in London, Graf Benckendorff, unter dem 7./20. November 1912 an Sasonow machte. Nach ihr hat Grey für den sofortigen Eintritt Englands in einen Krieg auf seiten Rußlands zwei Voraussetzungen bezeichnet: "erstens, daß durch aktives Eingreifen Frankreichs dieser Krieg zu einem allgemeinen werde; zweitens, daß es durchaus notwendig sei, daß die Verantwortung für den Angriff auf die Gegner falle....... Es sei daher nötig, den aggressiven Charakter der österreichischen oder deutschen Politik möglichst klar hervortreten zu lassen."

In wie ungeheurem Umfange die gewissenhafte Verfolgung der letzteren Voraussetzung die Vergiftung der öffentlichen Meinung herbeigeführt hat, ist bekannt. Das mußte um so leichter gelingen, als die deutsche Regierung, um jede Reibungsfläche auszuschalten, ihr an Agitation nichts Ähnliches entgegengestellt hat. Nur so konnte die grobe Entstellung Wurzel fassen, als ob Deutschland durch seine Rüstungen die Rüstung der Ententemächte herausgefordert habe. Genau das [16] Gegenteil ist der Fall. In den Ententestaaten stimmte sogar die äußerste Linke für die Wehrkraft ihrer Länder. Die größten Wehrvorlagen wurden dort glatt, meistens debattelos, bewilligt. In Deutschland beschränkte man die Forderungen auf das geringste Maß. Selbst diese unzulänglichen Forderungen wurden von den nur auf Parteiagitation bedachten demokratischen und sozialistischen Parteien auf das heftigste bekämpft. Deutschland ist immer nachgehinkt, hat immer nur versucht, mit Not und Mühe den Vorsprung auszugleichen, den seine mutmaßlichen Feinde längst gewonnen hatten. Deutschland hat eben nie ein anderes Ziel gehabt als die Abwehr des zu erwartenden Angriffs.


Die Rüstungen bei den Mittelmächten und bei der Entente.

Das Maß der Rüstungen in den Staaten Europas wird im zweiten Abschnitt behandelt. Hier sei zur Erleichterung des Überblicks festgestellt:

Der Kontrast, in dem die Anspannung der Wehrkraft in Deutschland und Frankreich stand, tritt deutlich hervor, wenn man sich vergegenwärtigt, daß nach Einführung der dreijährigen Dienstzeit Frankreich zu Beginn des Krieges über 200 000 Mann ausgebildete Mannschaften mehr verfügte als Deutschland, obgleich seine Volkskraft nur etwa 2/3 der deutschen betrug.

Rußland hat 1911 und noch stärker seit 1913 Kriegsvorbereitungen in einem Umfange getroffen, die anders als durch die Absicht baldiger Herbeiführung des Krieges nicht zu erklären sind. Kriegsmaterial, Pferde, Verpflegungsmittel wurden in großer Menge aus dem Auslande bezogen. Das Bekanntwerden dieser Maßnahmen außerhalb Rußlands suchte man durch strenge Zensur und scharfe Absperrung zu verhindern. Die im Frühjahr 1914 angeblich zu Übungen eingezogenen Mannschaften wurden unter den Fahnen zurückbehalten. Tatsächlich hatte Rußland bei Kriegsausbruch mehrere hunderttausend Mann mehr bereit, als der Friedensetat vorsah. Dazu kamen die 5½ sibirischen Korps, die nach dem mandschurischen Kriege annähernd auf Kriegsstärke geblieben und von denen erhebliche Teile seit dem Frühjahr 1914 in das europäische Rußland übergeführt waren unter dem Vorwande großer Truppenübungen in der Gegend von Odessa.

England ging in seinen Rüstungen so weit, wie das ohne Einführung der allgemeinen Dienstpflicht überhaupt möglich war. Die Zusammenziehung fast der gesamten Flotte in der Nordsee stellte für Deutschland eine dauernde Bedrohung dar.

Die Zuspitzung der politischen Lage und die immer mehr in die Erscheinung tretende Verschiebung des Kräfteverhältnisses zu Deutschlands Nachteil waren den für die Verteidigung Deutschlands verantwortlichen Männern nicht verborgen geblieben. Generalfeldmarschall Graf Schlieffen und Generaloberst v. Moltke haben als Chefs des Generalstabes der Armee in zahlreichen eingehenden Berichten an den Reichskanzler die Gefahren dargelegt, denen Deutschland infolge der Politik der Ententemächte entgegenging, und die Notwendigkeit nachgewiesen, [17] die Kräfte Deutschlands wenigstens annähernd so anzuspannen, wie seine Gegner es taten. Das Bestreben der politischen Leitung ging aber immer nur dahin, einen Krieg zu vermeiden, anstatt dahin, sich auf ihn mit allen Mitteln vorzubereiten. Die Reichsleitung versagte deshalb den militärischen Forderungen des Generalstabes die Unterstützung, die für den Krieg nötig gewesen wäre, der sich klar erkennbar vorbereitete.

Nur so ist es zu erklären, daß bei Kriegsbeginn den fast 6¼ Millionen Streitern des Verbandes die Mittelmächte weniger als 3½ Millionen entgegenzustellen hatten.


Der deutsche Operationsplan bei Kriegsausbruch.

Die vorstehenden Ausführungen geben in großen Zügen ein Bild der militärpolitischen Lage, auf der die Entschlüsse der deutschen Heeresleitung sich aufbauen mußten.

Daß Deutschland sich auf einen Krieg gegen Frankreich und Rußland einrichten mußte, konnte als feststehend gelten. Für den sofortigen Eintritt Englands in den Kampf sprach mindestens hohe Wahrscheinlichkeit. Für Deutschland konnte es daher kaum einen anderen Operationsplan geben als den, den der Feldmarschall Graf Schlieffen herausgebildet hatte und dessen allmähliche Entwicklung in seinen wesentlichen Punkten dargelegt worden ist: Angriff mit allen verfügbaren Kräften auf Frankreich. Abwehr gegen Rußland, bis auf dem französischen Kriegsschauplatz die Entscheidung gefallen war.

Der Angriff gegen Frankreich sollte zur Sicherung der eigenen rechten Flanke gegen den durch belgisches Gebiet zu erwartenden französisch-englischen Angriff und, zur Vermeidung des Angriffs auf die starken französischen Grenzbefestigungen, mit starkem rechten Flügel durch Belgien ausholend geführt werden. Er war gedacht als eine große Schwenkung um den Drehpunkt Metz, rechter Flügel nördlich von Brüssel. In Lothringen sollten nur schwächere Kräfte aufmarschieren.

Die Deckung Ost- und Westpreußens sollte im allgemeinen nur den Kräften anvertraut werden, die im Gebiet rechts der Weichsel aufgestellt wurden; die Sicherung der schlesischen und posenschen Grenze Landwehr- und Landsturmformationen überlassen werden.

In diesem Sinne waren die Vorbereitungen für den Aufmarsch getroffen.


*** Hinweis vom Scriptorium: in der Originalausgabe dieses Sammelwerkes erscheinen die Anmerkungen am Ende jeder Seite mit selbständiger, nicht fortlaufender, Numerierung, d. h. es kann ggf. jede Seite eine "Anmerkung Nr. 1" etc. haben. In einem online-Nachdruck wie diesem, wo mehrere Druckseiten auf einer einzigen "Cyberseite" erscheinen, ist das jedoch wenig sinnvoll, da es schon bei der zweiten "Anm. #1" nicht mehr klar ist, auf welche Textstelle sich die Anmerkung nun denn bezieht.
      Um genaue Dokumentation zu gewährleisten, numerieren wir die Anmerkungen daher fortlaufend vom Anfang eines jeden Kapitels bis zu dessen Ende, und geben der Vollständigkeit halber die Original-Anmerkungsziffern sowie die Seitenzahl, auf der die jeweilige Anmerkung steht, hier in [eckigen Klammern] wieder. Beispiel: 4 [1/6] bedeutet also die vierte Anmerkung in diesem Kapitel und erscheint im gedruckten Original als erste Fußnote auf Seite 6.

1 [1/1]Stegemann, Geschichte des Krieges. Erster Band Seite 3. ...zurück...

2 [1/5]B. v. Siebert, Diplomatische Aktenstücke zur Geschichte der Ententepolitik der Vorkriegsjahre. Berlin 1921.
      Dr. Bogkitchewitch, Kriegsursachen. Zürich 1919.
      Professor Robert Hoeniger, Rußlands Vorbereitung zum Weltkrieg. Berlin 1919.
      Dr. Ernst Sauerbeck, Der Kriegsausbruch. Stuttgart 1919.
      Zur Vorgeschichte des Weltkrieges, Heft 2. "Militärische Rüstungen und Mobilmachungen." Berlin 1921. ...zurück...

3 [2/5]Vgl. Fußnote 11 [1/18] auf Seite 18. ...zurück...

4 [1/6]Vgl. Kriegschronik, Juli 1918. Verlag von Berg. ...zurück...

5 [1/11]Foerster, Graf Schlieffen und der Weltkrieg, Erster Teil, Seite 23. Berlin 1921. ...zurück...

6 [2/11]v. Kuhl, Der deutsche Generalstab in Vorbereitung und Durchführung des Weltkrieges, Seite 164. Berlin 1920. ...zurück...

7 [1/12]Bericht des Militärattachés vom 7. Mai 1914, Anlage 54 zum 2. Heft des Berichts des ersten Unterausschusses des Untersuchungsausschusses des Deutschen Reichstages (Weißbuch). Berlin 1921. ...zurück...

8 [2/12]Bericht vom 29. August 1913, Anlage 53 des vorgenannten Weißbuches. ...zurück...

9 [1/15]Veröffentlicht in der Prawda. Vergleiche Proskurow, Aus den Geheimarchiven des Zaren, Seite 16 bis 18. ...zurück...

10 [2/15]B. v. Siebert, Diplomatische Aktenstücke zur Geschichte der Ententepolitik der Vorkriegsjahre, Seite 588. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte