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Bd. 1: Der deutsche Landkrieg, Erster Teil:
Vom Kriegsbeginn bis zum Frühjahr 1915

[45] Kapitel 2: Die Kriegsrüstungen zu Lande
Major Karl Hosse

1. Einleitung.

Die geschichtliche Entwicklung der politischen Lage, ihr wiederholter Wechsel und die Absichten der Mächte fanden ihren starken Ausdruck in den Kriegsrüstungen und sonstigen Kriegsvorbereitungen. Diese gaben einen Wertmesser für die hinter der Politik stehende militärische Macht. Sie gaben aber auch, und zwar oft mehr als die politischen Handlungen und Worte, bedeutungsvolle Anhaltspunkte zur Beurteilung der wahren Absichten.

Die Grundlage für die Stärke der einzelnen Wehrmächte bildete die Zahl der jährlich eingestellten Rekruten. Von ihr war die Stärke des Friedensheeres, die Zahl der jährlich in den Beurlaubtenstand übertretenden ausgebildeten Mannschaften und damit die Stärke des Heeres im Kriege in erster Linie abhängig. Man braucht nur die in den letzten 20 Jahren vor Kriegsausbruch eingestellten Rekruten zusammenzuzählen, um einen sicheren Anhalt für das Verhältnis der Kriegsstärken der einzelnen Mächte zueinander zu erhalten. (Übersicht siehe nächste Seite. [Scriptorium: nachfolgend.])

Schon dieser Vergleich der Rekrutenstärke ergibt die Überlegenheit Frankreich-Rußlands gegenüber den Mittelmächten, ganz abgesehen von Engländern, Belgiern und Serben.

Neben der Stärke der Rekrutenjahrgänge ist die Länge der Dienstzeit in doppelter Hinsicht von entscheidender Bedeutung, einmal für die Güte der Ausbildung, dann aber auch unmittelbar für die Stärke der aktiven Armee. Eine aktive Armee mit dreijähriger Dienstzeit, wie die französische, ist fast um ein Drittel stärker als eine solche mit gleicher Rekrutenzahl bei zweijähriger Dienstzeit. Von der Stärke der Friedensstämme hängen aber die Schlagfertigkeit des Heeres, die Güte der aktiven und Reserveformationen sowie der glatte Verlauf der Mobilmachung und des Aufmarsches ab.

Um in das Wesen der Kriegsvorbereitungen einzudringen, ist es notwendig, auf diese Fragen bei den einzelnen Staaten näher einzugehen. Die Prüfung der Kriegsrüstungen unter diesen Gesichtspunkten wird das durch die Übersicht bereits gewonnene Bild noch schärfer hervortreten lassen: daß Frankreich und Rußland planmäßig für einen Angriffskrieg gerüstet haben, während Deutschland und Österreich-Ungarn nicht einmal die zur Verteidigung notwendigen und möglichen Vorbereitungen in vollem Umfang getroffen haben.

[46]

Übersicht
der in den Jahren 1894 bis 1913 zum Dienst im Heer eingestellten Mannschaften
(Rekruten).
(Nach den Berechnungen des deutschen Generalstabes.)
Jahr Deutschland Österreich-
Ungarn
{2}
Frankreich{3} Rußland Bemerkungen
mit
Waffe
ohne
Waffe
{1}
mit
Waffe
ohne
Waffe
{4}
1894 257 000 4 499  126 000    271 000 (36 590)  285 700    {1}Meist Ökonomie-
handwerker ohne jede militärische Ausbildung.

{2}k. u. k. Armee, Landwehr, ungarische Honved und bosnische Truppen.

{3}Nur Franzosen ohne Farbige und Fremdenlegionäre.

{4}Der französische Hilfsdienst (service auxiliaire) wurde von 1906 ab bereits im Frieden eingestellt und ausgebildet (Ordonnanzen, Schreiber, Burschen, Köche usw.).

{5}Im Herbst 1913 stellten die Franzosen zwei Rekrutenjahrgänge (die 20- und die 21jährigen) gleichzeitig ein.

1895 251 000 4 594  126 000    250 000 (37 530)  290 350   
1896 252 000 4 447  126 000    256 000 (38 521)  294 700   
1897 250 000 4 512  126 000    257 000 (37 670)  297 700   
1898 249 000 4 574  126 000    257 000 (39 000)  302 500   
1899 255 000 4 591  126 000    233 000 (38 000)  306 700   
1900 264 000 4 608  126 000    250 000 (35 900)  312 800   
1901 259 000 4 701  126 000    242 000 (29 250)  318 800   
1902 259 000 4 413  126 000    270 000 (31 808)  324 800   
1903 259 000 3 670  126 000    229 000 (30 062)  330 800   
1904 259 000 3 842  130 650    257 000 (38 560)  336 800   
1905 261 000 3 457  130 650    253 000 (28 436)  475 346   
1906 261 000 3 158  130 650    276 000 24 798   469 780   
1907 262 000 3 097  130 650    255 000 17 910   463 050   
1908 263 000 2 628  137 570    243 000 16 619   456 461   
1909 264 000 2 730  137 570    254 000 18 760   456 635   
1910 265 000 2 623  137 570    252 000 17 681   456 635   
1911 271 000 2 712  137 570    243 000 18 668   455 100   
1912 284 000 2 616  175 877    256 000 18 972   455 100   
1913 356 000 2 752  200 402    {5}445 000 23 000   505 000   
Summe
der 20
Jahr-
gänge
5 301 000 74 000  2 709 000    5 249 000 578 000   7 595 000   
5 375 000 5 827 000



2. Frankreich.

Die Militärpolitik Frankreichs wurde seit den achtziger Jahren in dem einmütigen Willen des Volkes beherrscht, trotz der unterlegenen Volkszahl (1914: 39½ Millionen Franzosen gegen 67 Millionen Deutsche) eine an Zahl und Güte der deutschen zum mindesten gleiche Wehrmacht aufzubieten.

Während das deutsche Heer seit 1893 mit der Vermehrung der Volkszahl nicht Schritt hielt und mit seiner Friedensstärke zeitweise sogar unter die 1871 gesetzlich festgelegte Sollstärke von 1 von Hundert der Bevölkerung herunter- [47] ging, hatte Frankreich in den letzten Jahrzehnten durchschnittlich 1,5 vom Hundert der Bevölkerung unter den Fahnen und steigerte diese Zahl im Herbst 1913 auf 2 vom Hundert (797 000 Mann), und zwar nur an Franzosen! Hierzu kamen noch 85 000 Mann Fremdenlegionäre und Farbige, so daß im Sommer 1914 die Friedensstärke des französischen Heeres mit 882 000 Mann die deutsche um 121 500 Mann übertraf. Freilich: in Frankreich stand die allgemeine Wehrpflicht nicht nur auf dem Papier wie in Deutschland, sondern war Fleisch und Blut geblieben, und wurde in vollem Bewußtsein getragen, mochte das Land auch noch so sehr darunter leiden und Pazifisten und Demokraten darüber zetern.

Um die schweren Opfer dem menschenarmen Lande, dessen Geburtenzahl ständig zurückging, erträglich zu machen, hatte sich Frankreich 1905 allerdings entschlossen, von der dreijährigen zur zweijährigen Dienstzeit überzugehen, nachdem in Deutschland schon 1893 die Dienstzeit auf zwei Jahre herabgesetzt war. Für die Masse des Heeres, die Fußtruppen, reichte die zweijährige Ausbildungszeit aus. Kavallerie und reitende Artillerie litten aber unter der Verkürzung. Die Friedenspräsenz ging natürlich durch Wegfall eines ganzen Jahrgangs auch herunter. Aber trotzdem war es ein Irrtum, in der Herabsetzung der Dienstzeit eine Schwächung der französischen Wehrmacht zu erblicken. Sie bot im Gegenteil den Franzosen die Möglichkeit, alle wehrfähigen Männer (80 vom Hundert der Militärpflichtigen) restlos zum Dienst mit der Waffe zu erfassen und auch die Mindertauglichen zum Dienst ohne Waffe (service auxiliaire) bereits im Frieden einzuziehen, so daß jede Hand, die überhaupt ein Gewehr führen konnte, tatsächlich in die vorderste Linie gebracht wurde. Darauf kam es allein an, wenigstens für die ersten entscheidenden Kämpfe. In der Schlacht an der Marne, wo 40 deutsche Divisionen 50 feindlichen gegenüberstanden, nutzten Deutschland die Hunderttausende waffenfähiger Mannschaften in der Heimat, die nicht ausgebildet waren, gar nichts.

Frankreich hat es fertig gebracht, trotz seiner erheblich geringeren Volkszahl zum Dienst mit der Waffe die gleiche Zahl seiner Söhne heranzuziehen wie Deutschland. Das anscheinende Gleichgewicht wurde aber durch die Hunderttausende des Hilfsdienstes, die als Schreiber, Burschen, Ordonnanzen, Fahrer, Pferdepfleger, Handwerker usw. dienten und eine gleich große Zahl für die Front freimachten, und weiter durch die Kolonialtruppen zugunsten Frankreichs erheblich verschoben. Frankreich scheute sich sogar nicht davor, die

Turkosstellung an der Straße Bailleul–Arras. Oktober 1914.
Eine durch das 3. bayer. Res.-Inf.-Regiment
im Sturm genommene Turkosstellung
an der Straße Bailleul–Arras.
Oktober 1914.      [Vergrößern]

Aus: Der Weltkrieg in seiner
rauhen Wirklichkeit
, S. 149.
Anforderungen an die Tauglichkeit herabzusetzen, und warf große Geldmittel aus, um Mannschaften und Unteroffiziere zu freiwilliger längerer Dienstzeit zu verpflichten. Um keinen Preis verstand es sich trotz der auftretenden Schwierigkeiten dazu, Einheiten aufzulösen. Im Gegenteil: es vermehrte von 1910 bis 1912 die Kavallerie, die Artillerie und die technischen Truppen.

Die afrikanischen Schützen waren schon 1870 unter dem Namen Turkos bekannt geworden. Nach der Eroberung Algeriens und der Unterwerfung [48] Tunesiens wurden die kriegerischen Stämme der Araber zunächst zu freiwilligem Dienst herangezogen, später der Wehrpflicht unterworfen. In Marokko säumte man nicht, sofort in gleicher Weise sich die militärischen Kräfte nutzbar zu machen. Daneben gaben die kriegerischen Stämme West- und Zentralafrikas, insbesondere die Senegalneger, vorzügliche Soldaten ab, die, blindlings ihren Vorgesetzten gehorchend, von unbedingter Zuverlässigkeit gegen den Feind waren, freilich auch im Kampf und gegen die wehrlose Bevölkerung den Instinkten einer niederen Rasse freien Lauf ließen.

Im Frühjahr hatte Frankreich

    7 000 Fremdenlegionäre,
    45 800 Algerier und Tunesier,
    18 500 Marokkaner und Araber in Marokko,
      14 400 Senegalneger,
    85 700 Farbige und Fremde
unter den Fahnen, also rund zwei kriegsstarke Armeekorps, wozu im Mobilmachungsfall einige zehntausend Araber des Beurlaubtenstandes hinzukamen.

Der französische Soldat brachte von Hause aus viele Eigenschaften mit, die seiner Ausbildung zugute kamen. Er entsprach nicht dem Bilde, das manche aus Pariser Romanen zu entnehmen geneigt waren; in Wirklichkeit stammte die Mehrzahl der Rekruten aus ländlichen Bezirken, war kräftig und gewandt, hatte militärischen Sinn; vor allem aber besaß der französische Soldat eine große Anhänglichkeit an sein Land, ein starkes Nationalgefühl, das von Jugend auf geweckt und vertieft wurde und mehr zum Chauvinismus hinneigt, als das Volksgefühl irgendeines anderen Landes. Diese auf aktive Betätigung drängende Vaterlandsliebe, der immer wach erhaltene Gedanke an die Revanche, die Erinnerung an die napoleonischen Siege, der im französischen Volke stets lebendige Drang nach dem Rhein gaben ein positives Ziel für den militärischen Drill, dem sich der französische Soldat daher trotz seiner von Natur aus bestehenden Ablehnung der Autorität willig und verhältnismäßig leicht fügte. Übrigens wurde die Disziplinarstrafgewalt im französischen Heer schon im Frieden recht streng gehandhabt und im Kriege noch erheblich verschärft, während Deutschland den umgekehrten Weg ging und die Mittel der Disziplin allmählich immer mehr abschwächte.

Im Offizierkorps war der Gedanke an den Krieg noch lebhafter entwickelt und wirkte sich sowohl in einem sehr regen Dienstbetrieb wie auch in fruchtbarer schriftstellerischer Tätigkeit aus. Die fast ununterbrochenen Kämpfe in den Kolonien, die Berührung mit fremden Völkerschaften gaben den Offizieren die Möglichkeit, die Verhältnisse des Ernstfalles aus eigener Erfahrung kennen zu lernen. Allerdings besaß das französische Offizierskorps nicht die Geschlossenheit [49] und Gediegenheit des deutschen Offizierskorps von 1914, weil sein Ersatz nicht einheitlich war. Es kam oft zu Eifersüchteleien und Unkameradschaftlichkeit.

Unter den einzelnen Truppengattungen ragte die Artillerie als beste und Lieblingswaffe hervor, die in dem Rohrrücklaufgeschütz eine ausgezeichnete Waffe hatte. Dagegen war das Lebelgewehr mit seiner Magazineinrichtung rückständig, das Maschinengewehr dem deutschen an Genauigkeit und Feuergeschwindigkeit erheblich unterlegen. Sein langsames Tacken ist noch jedem Kämpfer im Ohr. Die Schießausbildung der großen Masse ließ manches zu wünschen übrig, während Jäger, Alpenjäger und einzelne Scharfschützen ihre Waffe vorzüglich zu gebrauchen wußten. Dem Pionierwesen und der Technik kam der natürliche Hang der Franzosen zugute, ohne daß freilich immer etwas Kriegsbrauchbares dabei herausgekommen wäre. Bezeichnend hierfür ist das Flugwesen, das zwar in Frankreich früher begonnen hatte, aber trotzdem bei Ausbruch des Krieges den Franzosen keine entscheidende Überlegenheit gegeben hatte. Daß die französische Armee trotz ihrer kolonialer Erfahrungen ohne ausreichende Feldküchenausstattung, mit dem ungeeigneten Käppi, den dunkelblauen Uniformen und den leuchtend roten Hosen ins Feld rückte, verdankte sie ihrem parlamentarischen Regierungssystem, das sich die Entscheidung über jede militärische Einzelheit eifersüchtig vorbehielt und aus lauter Kommissionsberatungen und eigensüchtigen Interessen zu keinem Ergebnis kommen konnte.

Die Manöver hatten vielfach etwas Schwerfälliges; es waren meist Gefechtsausschnitte, die zwar für den Führer und die Befehlstechnik recht lehrreich waren, die aber in der Ausführung oft Unnatürlichkeit boten und die Gelegenheit zu freien Entschlüssen vermissen ließen, ein Mangel, dessen Folgen sich z. B. bei vielen Gefechten des August 1914 sehr bemerkbar machten. Sehr zweckmäßig waren die Armee-Generalstabsreisen, bei denen die zukünftigen Armeeführer mit den ihnen im Krieg unterstellten Korps- und Divisionsführern sowie deren Stäben zusammenarbeiteten. Die Frontoffiziere des aktiven und, was besonders hervorzuheben ist, auch des Beurlaubtenstandes wurden zu ähnlichen Übungen herangezogen, meist dort, wo ihre Truppen im Ernstfall zuerst eingesetzt werden sollten. Der Ernstfall wurde überhaupt in einer viel bestimmteren Richtung betont und vorbereitet als im deutschen Heere. Nicht als ob dieses nicht auch überall den Kriegsfall im Auge hatte; aber der deutsche Musketier erhielt eine möglichst vielseitige Ausbildung, die es dann ja auch ermöglicht hat, die gleiche Truppe, die eben noch an den Vogesenkämmen Wache hielt, morgen nach den russischen Steppen und Sümpfen abzubefördern und ebensogut auch an den Karpathen oder in den Alpen zu verwenden. Für den französischen piou-piou war das anders. Für ihn gab es nur einen möglichen Gegner: den Deutschen, den "Boche", gegen den schon im Frieden alle physischen und geistigen Kräfte mobil gemacht wurden. Für den Kampf gegen Deutschland hatte jedes Armeekorps, jede Division, beinahe jedes Regiment schon seine bestimmte Aufgabe, die bis ins einzelne vorbereitet [50] war. Fanden sich doch gleich während der ersten Vogesenkämpfe in den französischen Artilleriestellungen vervielfältigte genaue Ansichtsskizzen für alle deutschen Vogesentäler mit Angaben über Artilleriestellungen, Anmarschwege, Beobachtungsstellen, Schußweiten usw. Nur jahrelange Arbeit, ausgedehnte Spionage, zugleich aber auch der feste Wille zum Krieg konnte solche Ergebnisse zeitigen.

Der Krieg gegen Deutschland war dasjenige Ziel, dem alle anderen militärischen Erwägungen untergeordnet wurden. An der italienischen Grenze begnügte man sich mit den alten, großenteils veralteten Werken von Nizza, Briançon und Grenoble. Die Alpenposten, die 25 Jahre lang auf 2000 bis 3000 Meter Höhe gegen Italien Wacht gehalten hatten, wurden seit dem Winter 1911/12 eingezogen. Diese Maßnahme wurde ausdrücklich mit den veränderten politischen Verhältnissen begründet. Dagegen scheute man keine Kosten, um die Grenze zwischen Belfort und Verdun zu einer Kette gewaltiger Festungsanlagen zu machen, in der nur die Lücke von Charmes als Falle für einen deutschen Vormarsch offen blieb. Im Norden wurden ganz offen die Maas und die belgischen Festungen als natürliche Fortsetzungen der französischen Linie bezeichnet; als Rückhalt für die verbündeten Belgier und Engländer wurde Maubeuge, für die Landung der letzteren wurden die Kanalhäfen Le Havre, Boulogne, Calais und besonders Dünkirchen stark ausgebaut. Im Schutz dieses mit den modernsten Mitteln versehenen Verteidigungssystems sollte das französische Heer in kürzester Zeit versammelt werden wie ein zum Sprung geducktes Raubtier, bereit hervorzubrechen, sobald der russische Bär seinen gewaltigen Körper in Bewegung gesetzt hätte und ins deutsche Land eingebrochen wäre.

Seit 1871 hatte man die Zahl der Eisenbahnlinien beträchtlich vermehrt und sich dabei hauptsächlich von militärischen Gesichtspunkten leiten lassen. Während 1870 nur drei bis vier französische Transportstraßen neun deutschen gegenüberstanden, hatte sich 1886 das Verhältnis völlig gewendet: zwölf französische gegen neun deutsche. Und 1914 waren es 15 französische, sämtlich zweigleisig, gegen zwölf deutsche. Die Folge war, daß die Versammlung des französischen Heeres im Aufmarschgebiet drei bis vier Tage früher beendet sein konnte als die des deutschen Heeres.

Das Anwachsen der französischen Wehrmacht blieb auch auf die strategischen und taktischen Anschauungen im Heere nicht ohne Wirkung. Einige Jahre vor dem Kriegsausbruch trat ein entschiedener Umschwung insofern ein, als die offensiven Tendenzen dienstlich, in der Militärliteratur und in der Presse scharf betont wurden. Der Generalstabschef Dubail vor allem hat den Angriffsgedanken in der Armee verbreitet und hat es durchgesetzt, daß die wichtigsten Vorschriften in rein offensivem Geist gehalten wurden. Die Auffassung des französischen Volkes und der französischen Armee ist treffend in einem Bericht des deutschen Militärattachés in Paris vom 8. November 1911 wiedergegeben:

[51]     "So hat sich denn im Laufe der letzten Jahre und sichtlich zunehmend im französischen Volk, das leicht zu beeinflussen ist und für fremde Zustände und Eigenschaften kein ausgesprochenes Verständnis besitzt, ein Gefühl herausgebildet, das wohl am deutlichsten in den bekannten Schmähartikeln der France Militaire zutage getreten ist und sich in die Worte zusammenfassen ließe: "Il faut en finir avec l'Allemagne!" Noch vor gar nicht langer Zeit war dem weitaus größeren Teil der französischen Nation der Gedanke an einen Krieg mit Deutschland äußerst unbehaglich. Ein sehr großer Teil des Volkes aber und ein nicht geringer Teil der Presse spielt heute mit dem Gedanken an einen Krieg und trägt ein gewisses Bedauern darüber zur Schau, daß man eine so ungünstige Gelegenheit, die übermütigen Deutschen zu züchtigen und ihnen die verlorenen Provinzen wieder abzunehmen, habe ungenutzt vorübergehen lassen. Diese Siegeszuversicht und Unterschätzung des Gegners, bei denen auch die Erfolge auf dem Gebiete des Flugwesens sehr erheblich mitsprechen, ist im Laufe des letzten Sommers durch die Presse und besondere Tendenzbroschüren noch geflissentlich genährt worden.
      Eins steht fest: Es lebt im französischen Volke ein tiefgehender Haß gegen uns, der seit 1870 an Stärke nichts verloren hat. Ich erinnere nur aus den letzten Jahren an Beispiele, wie den Fall der Casablanca-Deserteure, das Verschwinden eines französischen Maschinengewehrs, den Circuit de l'Est, den Streit um die Fremdenlegion und schließlich Agadir. Tritt nun zu einer feindseligen Gesinnung und zu dem Wunsche, verlorenes Gebiet wieder zu erlangen, noch das Gefühl der militärischen Überlegenheit - möge es berechtigt sein oder nur auf Einbildung beruhen -, so kann die Schlußfolgerung nur lauten, daß mit der Möglichkeit eines Zusammenstoßes mit Frankreich mehr denn je gerechnet werden muß."

In diesem Satz, den der deutsche Militärattaché drei Jahre vor dem Kriege an seine Regierung schrieb, liegt die Antwort auf die Lebensfrage, ob Frieden oder Krieg zwischen Deutschland und Frankreich herrschen soll. Die Gefahr des Krieges wuchs in dem Maße, in dem Frankreich - mit Recht oder Unrecht - an die Überlegenheit seiner Waffen glaubte. Groß war schon, was Frankreich bis zum Jahre 1912 getan hatte, um sich diese Überlegenheit zu sichern. Im Jahre 1913 aber entschloß es sich zu einer Maßnahme, die einen ganz gewaltigen Schritt auf diesem Wege und damit auch zum Kriege bedeutete, und die daher eine ganz besondere Beachtung verdient: die Wiedereinführung der dreijährigen Dienstzeit. Nachdem im Herbst 1912 ziemlich unvermittelt eine starke Agitation in der Presse für die dreijährige Dienstzeit eingesetzt hatte, legte die französische Regierung der Kammer am 6. März 1913 einen Gesetzentwurf für Wiedereinführung der dreijährigen Dienstzeit vor. Er wurde nach mancherlei Abänderungen vom Parlament angenommen und am 7. April 1913 Gesetz.

Begründet wurde die Gesetzesvorlage in der Hauptsache mit der Notwendigkeit, die Friedensausbildung des aktiven Heeres durch Erhöhung des Mannschafts- [52] standes zu verbessern. Im Verlauf der Verhandlungen benutzte die französische Regierung die etwas später (29. März 1913) eingebrachte deutsche große Wehrvorlage geschickt dazu, um die eigenen militärischen Forderungen durchzusetzen. Die französische Wehrvorlage ist demnach keine Antwort auf die deutsche, wie es von der Ententepresse hingestellt wird. Der französische Kriegsminister Millerand äußerte sich vielmehr schon am 20. Februar 1913 in der France Militaire dahin, daß er während seiner Amtszeit (16. Januar 1912 bis 12. Januar 1913) sich zur Einbringung eines außerordentlichen Rüstungskredits entschlossen hätte. Und Clémenceau erwähnte in seinem, dem Senat vorgelegten Bericht, daß dieser Entschluß bereits im Dezember 1912 gefaßt worden sei, zu einer Zeit also, wo von der deutschen Wehrvorlage noch keine Rede war. Die ersten ganz allgemein gehaltenen Nachrichten von einer beabsichtigten neuen deutschen Wehrvorlage gelangten Mitte Januar 1913 in die Presse; erst am 12. Februar 1913 wurde bekannt, daß einige Neuformationen, Maschinengewehr-Kompagnien und etwa 18 Eskadrons gefordert würden. Dagegen fand in Paris schon am 10. Februar 1913 die entscheidende Ministerratssitzung über die dreijährige Dienstzeit statt. Am 17. Februar 1913 nannte der Temps die französischen Rüstungsforderungen und brachte die Nachricht, daß die Regierung eine Gesetzesvorlage zur Wiedereinführung der dreijährigen Dienstzeit vorbereitete.

Von besonderem Interesse gerade mit Rücksicht auf den Kriegsbeginn 1914 ist die Art, wie die Franzosen die dreijährige Dienstzeit tatsächlich durchführten. Der zunächstliegende und auch tatsächlich zuerst erörterte Gedanke, den im Herbst 1913 zur Entlassung kommenden Jahrgang ein drittes Jahr zurückzubehalten, wurde aufgegeben, weil die Bekanntgabe dieses Planes im Lande und unter den alten Mannschaften des Heeres eine solche Erbitterung auslöste, daß es zu groben Ausschreitungen und Meutereien kam. Man entschied sich vielmehr dahin, im Herbst 1913 zwei Jahrgänge, nämlich die 21- und 20jährigen, auf einmal einzuziehen. Bisher war das normale Einstellungsalter in Frankreich 21 Jahre, während es in Deutschland 20 Jahre betrug. Frankreich gewann somit vom Oktober 1913 ab einen Jahrgang, dessen Stärke im französischen Budget 1914 auf rund 200 000 Mann angegeben ist. Diese Zunahme von 200 000 Mann kam sowohl der Friedensstärke wie auch sofort der Kriegsstärke zugute.

Die Friedensstärke stieg damit auf 882 500 Mann, die sich im einzelnen wie folgt zusammensetzte:

    32 000 Offiziere,
    720 000 Mann zum Dienst mit Waffe,
    45 000 Mann zum Dienst ohne Waffe,
    71 000 Fremdenlegionäre und Araber,
      14 500 Senegalneger,
    882 500 Mann.
[53] Berechnet man nur die Franzosen (797 000) im Heere, so dienten 2 vom Hundert der Bevölkerung gegen 1,3 vom Hundert in Deutschland!

Die erhöhte Friedensstärke machte es möglich, sämtlichen Truppenteilen, vor allem den an der Ostgrenze stehenden, höhere Friedensstände zu geben und verschiedene neue Verbände, besonders an schwerer Artillerie, Pionieren und Verkehrstruppen, aufzustellen. Hauptsächlich machte sich dies an der deutschen Grenze bemerkbar, wo die Gesamtstärke der Grenzkorps und der Kavallerie-Divisionen von 126 000 auf 206 000 stieg. In Epinal wurde ein neues Armeekorps (XXI.) aufgestellt. Die Ausbildung des gesamten französischen Heeres wurde durch die längere Dienstzeit wie durch die mit ihr verbundene Erhöhung der Friedensstärken erheblich verbessert und erleichtert. Die große Zahl verfügbaren Ersatzes machte es möglich, die schon früher bestehenden Stämme (Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften) für Reserveformationen, die sogenannten cadres complémentaires, zu vermehren und zu verstärken. Damit gewannen die Reserveformationen erheblich an Festigkeit und Kriegsbereitschaft. Mobilmachung und Aufmarsch des französischen Heeres wurden durch die hohen Friedensstände vereinfacht und beschleunigt.

Die Kriegsstärke wuchs durch die Einstellung der 20jährigen und der Freiwilligen um 240 000 Mann, ferner um zwei Jahrgänge, die durch Ausdehnung der Dienstpflicht bis zum 47. Lebensjahr gewonnen wurden. Hierdurch wurde es möglich, die Feldarmee um 240 000 Mann zu verjüngen und zu vermehren, mit den hierdurch freiwerdenden Reservisten die Zahl der Reserve-Divisionen zu erhöhen. Tatsächlich wurden 27 Reserve-Divisionen aufgestellt. Die Territorialformationen (den deutschen Landwehrformationen entsprechend) erfuhren durch die beiden alten Jahrgänge eine zahlenmäßig recht beträchtliche Vermehrung. Vom Frühjahr 1914 ab hatte Frankreich im Kriegsfall alle wehrfähigen Leute vom 21. bis 48. Lebensjahr, also 28 Jahrgänge, ausgebildet zur Verfügung, Deutschland hatte von nur 25 Jahrgängen (vom 21. bis 45. Lebensjahr) bei weitem nicht alle Wehrfähigen ausgebildet, sondern hunderttausende wehrfähige Männer im besten Alter unausgebildet gelassen.

Kein Wunder, daß im Sommer 1914 Frankreichs Kriegsstärke von 4,364 Millionen die Kriegsstärke Deutschlands von 3,879 Millionen überflügelt hatte.

Die Vorteile des neuen Wehrgesetzes waren im wesentlichen mit dem Augenblick erreicht, als die beiden im Herbst 1913 eingestellten Rekrutenjahrgänge (Klasse 1912 und 1913) ausgebildet waren, also im Sommer 1914. Von da an hatte Frankreich eine zahlenmäßige Überlegenheit über Deutschland sowohl für den Frieden wie für den Krieg. Frankreich hatte 1914 drei Jahrgänge (Deutschland nur zwei) unter den Fahnen, ohne daß, mit Ausnahme der Kapitulanten, Freiwilligen usw., ein Mann drei Jahre gedient hatte. Auch für Herbst 1914 war die Entlassung des ältesten Jahrganges nach zwei Jahren gesetzlich vor- [54] gesehen. Im September 1915 sollte nach dem Gesetz die eine Klasse (1912) nach zweijähriger Dienstzeit entlassen, die andere Klasse (1913), die ebenfalls schon zwei Jahre diente, zurückbehalten werden. Dann erst trat für letztere der Zwang ein, drei Jahre zu dienen, während ihre gleichzeitig eingezogenen Kameraden der Klasse 1912 die Kaserne verlassen durften. Das mußte zu den größten Schwierigkeiten führen, und es wurden sehr ernste Zweifel laut, ob es überhaupt durchführbar wäre, im Herbst 1915 den einen Jahrgang tatsächlich für ein drittes Dienstjahr zurückzuhalten.

Auch sonst machte sich die Tatsache, daß drei volle Jahrgänge unter den Fahnen standen, bei der geringen Volkszahl recht fühlbar und mußte auf die Dauer immer drückender werden. Es waren große Lasten, die damit dem ganzen Volk, jedem einzelnen und jedem einzelnen Stand auferlegt wurden. Jeder, ohne jegliche Ausnahme, mußte drei Jahre dienen! Industrie, Handel und Landwirtschaft litten unter der gewaltigen Anspannung der Volkskraft. Groß waren die Opfer des einzelnen und der Gesamtheit. "Wie lange wird das französische Volk diese Lasten tragen und wird es möglich sein, im Jahre 1915 tatsächlich die 200 000 Mann der Klasse 1913 zu einem dritten Dienstjahre zurückzubehalten?" Das war die Frage, die den französischen und russischen Staatsmännern viel Kopfzerbrechen verursachte. Um aus diesen Schwierigkeiten herauszukommen, boten sich nur zwei Wege: Entweder Frankreich kehrte zur zweijährigen Dienstzeit zurück und verzichtete damit auf den Revanchegedanken oder aber es nutzte die Vorteile, die ihm die Überspannung seiner Wehrkraft bot, aus, solange diese Hochspannung noch anhielt. Über den Herbst 1915 hinaus konnte, wie oben dargelegt, das Land diese nicht ertragen. Die Lage läßt sich nicht besser kennzeichnen als durch die Worte des belgischen Gesandten Guillaume, der an seine Regierung am 8. Mai 1914 die Worte schrieb:

      "Eines der gefährlichsten Momente in der augenblicklichen Lage ist die Rückkehr Frankreichs zum Gesetz der dreijährigen Dienstzeit. Sie wurde von der Militärpartei leichtfertig durchgesetzt, aber das Land kann sie nicht ertragen. Innerhalb von zwei Jahren wird man auf sie verzichten oder Krieg führen müssen......"

Frankreich hat nicht auf die dreijährige Dienstzeit verzichtet, sondern sich für den Krieg entschieden.


3. Rußland.

Aus den Zeiten der "traditionellen Freundschaft" zwischen Berlin und Petersburg hatte sich der Brauch erhalten, daß der Deutsche Kaiser und der Zar gegenseitig je einen hohen Offizier als Militärbevollmächtigten der Person des befreundeten Herrschers zuteilten. Dieser deutsche Offizier am russischen Hofe genoß, ebenso wie der russische General à la suite am Berliner Hof, eine besondere Vertrauensstellung. Ihre Aufgabe lag vorzugsweise auf politischem Gebiet; sie [55] sollten den Zustand des Vertrauens, der in ihrer Stellung begründet war, auf die politische Atmosphäre übertragen. Für die eigentliche militärische Berichterstattung kamen sie weniger in Frage, dafür waren die Militärattachés und der Große Generalstab mit seinen zahlreichen Hilfsorganisationen da. Was aus allen diesen Nachrichtenquellen im Großen Generalstabe zu Berlin zusammenströmte, das ergab, trotz aller von den Russen geübten Täuschungsmanöver und Schönfärberei, ein Bild, in dem Freundschaft und Vertrauen immer mehr verblaßten, dagegen das Bündnis mit Frankreich in immer drohenderen und kräftigeren Farben zu erkennen war.

Der am 22. August 1891 abgeschlossene französisch-russische Allianzvertrag war am 7. August 1892 durch eine Militärkonvention ergänzt worden. Über ihren Inhalt war bekannt geworden, daß sich Frankreich und Rußland zur Mobilmachung verpflichteten, sobald eine der Dreibundmächte oder ein diesen befreundeter Staat mobil machen sollte. Der von den Bolschewisten später veröffentlichte Wortlaut des Abkommens bestätigt dies und erweitert es dahin, daß Frankreich und Rußland sich außer zur Mobilmachung auch zum Aufmarsch an den Grenzen gegenseitig verpflichteten: "Dans le cas où les forces de la Triple-Alliance, ou d'une des puissances qui en font partie, viendraient à se mobiliser, la France et la Russie, à la première annonce de l'événement, et sans qu'il soit besoin d'un concert préalable, mobiliseront immédiatement et simultanément la totalité de leurs forces, et les porteront le plus près possible de leurs frontières".

Offenbar gingen die Vereinbarungen aber noch weiter. So erwähnt der Matin in einer von der russischen Presse (11. Juli 1912) wiedergegebenen Notiz, in der russisch-französischen Militärkonvention sei ausdrücklich bestimmt, daß die Chefs der Generalstäbe und der Kriegsmarine an den Manövern des Verbündeten von Zeit zu Zeit gegenseitig teilzunehmen hätten. Die Besuche der Generalstabschefs und sonstigen hohen Offiziere haben denn auch vielfach stattgefunden und sich seit 1911 auffallend gehäuft. 1911 waren der damalige und der frühere Chef des französischen Generalstabes, Dubail und Laffon de Ladébat, in Rußland. Im gleichen Jahre nahm Großfürst Boris an den französischen Manövern teil.

1912 begab sich Poincaré nach Rußland, während Shilinski, der Chef des russischen Generalstabes, und Fürst Lieven, der Chef des russischen Marinegeneralstabes, in Paris waren. Hier wurde Anfang August 1912 das russisch-französische Marineabkommen geschlossen. Noch in demselben Jahre besichtigte der Großfürst Nicolai Nicolajewitsch mit großem militärischen Gefolge die Truppen und Befestigungen an der Ostgrenze Frankreichs, der russische Marineminister Grigorowitsch, der Außenminister Sasonow, der Kriegsminister Suchomlinow erschienen zu Besprechungen in Paris.

1913 waren Poincaré in London, der russische Ministerpräsident Kokowzow und General Danilow, Oberquartiermeister im russischen Generalstab, in Frankreich, der Chef des französischen Admiralstabes Lebris und nach ihm Joffre mit [56] einer glänzenden Abordnung, bei der sich allein fünf Generale und sieben Stabsoffiziere befanden, in Rußland.

Im Jahre 1914, kurz vor Kriegsausbruch, fand der große Besuch Poincarés in Rußland statt. Wieder betonte die russische Presse die Festigkeit des Bündnisses, die militärische Überlegenheit über den Dreibund. "Die Politik des Zurückweichens müsse nun ein Ende haben."

Die militärischen Vereinbarungen, die bei diesen zahlreichen Zusammenkünften geschlossen wurden, sind bisher nicht bekannt geworden. Wohl aber war die Tatsache deutlich erkennbar, daß die großen Heeresvermehrungen und Rüstungen beider Staaten in den letzten Jahren vor dem Kriege nicht ohne stärkste gegenseitige Beeinflussung erfolgt sind, und daß ihre Durchführung auch gegenseitig überwacht wurde.

Während Rußland bei der Wiedereinführung der dreijährigen Dienstzeit in Frankreich sehr erheblich beteiligt war, drückte umgekehrt auch Frankreich auf Rußlands Rüstungen. Die sehr gut unterrichtete französische Zeitschrift Le Correspondant schrieb in der zweiten Dezembernummer 1913 anläßlich einer neuen russischen Anleihe: Frankreich habe seit dem Abschluß des Bündnisses über 12 Milliarden Franken für russische staatliche und städtische Anleihen gegeben, sowie 5 Milliarden in industrielle Anlagen gesteckt. Diese Riesensumme von 17 Milliarden sei gegeben worden in der Erwartung, daß Rußland als Gegenleistung seine ganze militärische Kraft für Frankreich einsetzen werde. In den nächsten Jahren würden noch weitere 2 bis 3 Milliarden kommen, denn Herr Kokowzow habe hier (Paris) kürzlich die Zulassung von 500 Millionen Eisenbahnanleihe nicht etwa nur für 1914, sondern für mindestens fünf Jahre erreicht. Nebenbei weiß der Verfasser zu erzählen, daß die Anregung zu diesen Anleihen nicht von russischer, sondern von französischer Seite ausgegangen ist. Frankreich habe seine Bündnispflichten erfüllt, nicht aber Rußland. Rußland müsse entsprechend den Wünschen des französischen Generalstabes sein Eisenbahnnetz nach militärischen Gesichtspunkten vervollständigen.

Nachdem sich die russische Armee von den Folgen des unglücklichen Krieges gegen Japan und der Revolution wieder erholt hatte, setzten 1909 die Maßnahmen zur Erhöhung ihrer Schlagfertigkeit ein. Der Mannschaftsstand der Kompagnien an der Westgrenze wurde von 116 auf 158 Mann erhöht, die Kavallerie und reitende Artillerie fast auf volle Kriegsstärke gebracht. Die 5½ sibirischen Armeekorps waren seit dem ostasiatischen Kriege auf annähernd voller Kriegsstärke geblieben. Es war mithin möglich, sie jederzeit ohne besondere Vorbereitung auf die Bahn zu setzen und auf den europäischen Kriegsschauplatz zu befördern. Durch russische Gefangenenaussagen wurden folgende Zeiten für den Beginn des Abtransports (nicht erst der Mobilmachung) festgestellt:

        2. sibirische Schützendivision am 1. August 1914,
        4. sibirische Schützendivision am 31. Juli 1914,
[57]    5. sibirische Schützendivision am 2. August 1914,
        7. sibirische Schützendivision am 31. Juli 1914,
        8. sibirische Schützendivision am 1. August 1914.

Der erste Mobilmachungstag für Deutschland war der 2. August!

Im Jahre 1910 wurde eine große Heeresvorlage bewilligt, die bis zum Jahre 1912 durchgeführt war. Die jährliche Rekrutenzahl von 455 000 war höher als die des deutschen und österreichisch-ungarischen Heeres zusammengenommen. Die Friedensstärke betrug damals 48 000 Offiziere und 1 300 000 Mann und übertraf ebenfalls die Gesamtzahl des deutschen und österreichisch-ungarischen Heeres. Feldartillerie, Feldhaubitzen und technische Truppen wurden vermehrt und mit den neuesten Waffen versehen. Der wesentlichste Vorteil der Heeresorganisation 1910 lag aber darin, daß, unter Beibehaltung von stark überlegenen Kräften an der Grenze, die Masse der Stammformationen nach dem Innern verlegt wurde, wo jeder Truppenteil - ähnlich wie in Frankreich - seinen Ergänzungsbezirk in unmittelbarer Nähe hatte. Damit wurde die Bildung einer starken Zentralarmee wirksam vorbereitet. 4 zweigleisige Aufmarschlinien führten an die deutsche Grenze, während auf deutscher Seite in Ostpreußen nur 2 vorhanden waren. 4 andere zweigleisige Linien standen gegen Galizien zur Verfügung, während Österreich nur 2 Aufmarschbahnen gegenüber Rußland hatte. Im Sommer 1912 wurde die bisher in Privatbesitz befindliche Warschau - Wiener Bahn vom Staate übernommen. Lediglich aus militärischen Gründen wurden die Beamten polnischer Abstammung durch zuverlässige russische Beamte ersetzt und im Jahre 1913 die deutsche Spur in die russische umgebaut. Endlich wurde die Legung des zweiten Gleises der großen sibirischen Bahn, das für den schnellen Antransport der sibirischen Armeekorps von außerordentlicher Bedeutung war, so beschleunigt, daß es zu Anfang 1914 fertig wurde.

Nicht weniger wurde für die Festungen getan. Rings um Ostpreußen legte sich ein Ring fester Werke, gestützt auf zahlreiche Wasserläufe und sumpfige Wälder: im Osten, am Njemen, Kowno - Olita - Grodno, im Südosten, am Narew, Ossowjez - Lomsha - Ostrolenka - Pultusk - Nowogeorgiewsk. Hier fand die russische Nordwestfront Anschluß an die Weichselfront mit ihren großen Festungen Warschau und Iwangorod. Das westliche Polen blieb als Glacis frei. Ebenso entbehrten die an der österreichischen Grenze gelegenen Landesteile eines unmittelbaren Festungsschutzes. Erst weiter rückwärts lagen die Festungen Brest-Litowsk sowie Luczk - Dubno - Rowno und Chotin.

Trotz aller Rüstungen blieb es aber für das gewaltige Reich stets eine schwierige Aufgabe, die Millionen seiner Kämpfer frühzeitig an der Grenze bereitzustellen. Die dem Russen eigene Langsamkeit und sein Hang zur Untätigkeit sowie die Schwerfälligkeit der Verwaltung vermehrten noch die Schwierigkeiten und waren ihrer Überwindung sehr hinderlich. Als im Herbst 1912 die zweite Balkankrise den Weltkrieg zu entzünden drohte, war es lediglich die mangelhafte [58] Bereitschaft des russischen Heeres, die die russische Kriegspartei von einem bewaffneten Eingreifen abhielt. Am 11. Januar 1913 berichtete der deutsche Militärattaché von den Gerüchten einer beabsichtigten Ablösung des Kriegsministers Suchomlinow, dem die vielen, während der Krise offenbar gewordenen Mängel und Mißstände im Heerwesen zur Last gelegt wurden. Suchomlinow ist geblieben; er und seine Gehilfen haben seitdem in verstärktem Maße und mit Erfolg zum Kriege gerüstet.

Für einen Großstaat wie Rußland waren starke militärische Rüstungen an sich wohl berechtigt. Ihren bedrohlichen Charakter bekamen sie jedoch durch eine Reihe von Maßnahmen, deren schwerwiegende Bedeutung zum Teil erst später durch Erbeutung russischer Akten klar wurde.

Die in großem Umfang während der letzten Jahre vor dem Kriege vorgenommenen Probemobilmachungen und noch mehr die sogenannten Kontrollmobilmachungen1 erlaubten es, einzelne Truppenteile der russischen Armee unauffällig auf vollen Kriegsfuß zu bringen. Nach Gefangenenaussagen fanden kurz vor Kriegsausbruch derartige Kontrollmobilmachungen unter anderem bei folgenden Reserveformationen statt: Reserve-Infanterie-Regiment 260, 221, 280. Letzteres war bereits am 28. Juli 1914 fertig aufgestellt und wurde an diesem Tage von Kiew nach Cholm abtransportiert.

Im ganzen Reiche wurden vom Herbst 1912 ab die Truppenstärken über die Etats wesentlich erhöht. Zu dem Zwecke ergriff man das sehr bedenkliche Mittel, einen ganzen Jahrgang noch ein halbes Jahr länger über die gesetzliche Dienstzeit von drei (bei der Kavallerie vier) Jahren hinaus zurückzubehalten. Im Winter 1912/13 zum ersten Male angewendet, 1913/14 wiederholt, bot diese Maßnahme das Mittel, im Winter drei ausgebildete Jahrgänge der Fußtruppen und vier ausgebildete Jahrgänge der Kavallerie unter den Fahnen zu haben, während Deutschland infolge der zweijährigen Dienstzeit im Winter nur über einen ausgebildeten Jahrgang bei den Fußtruppen und über zwei bei den berittenen verfügte. Ferner zog man im Jahre 1913 insgeheim 50 000 Rekruten mehr als etatsmäßig ein, veröffentlichte aber amtlich die bisherigen niedrigen Zahlen. Die offiziellen Friedensstärken standen somit nur auf dem Papier. In Wirklichkeit hatte Rußland im Winter 1913/14 rund 400 000 Mann mehr, als öffentlich angegeben, unter den Fahnen. Der erhöhte Mannschaftsstand wurde auch nach der im Frühjahr 1914 erfolgten teilweisen Entlassung des alten Jahrgangs dadurch aufrechterhalten, daß die Zahl der eingezogenen Übungsmannschaften beträchtlich gesteigert wurde. Ihre Zahl im Jahre 1914 betrug 890 000 Mann, doppelt so viel als 1911. Die in den Monaten April - Juni 1914 angeblich zu Übungen eingezogenen Mannschaften wurden bis zum Kriegsausbruch unter den Fahnen [59] zurückbehalten. Die russische Armee war somit im Sommer 1914 um etwa ½ Million Mann stärker als der gesetzliche Friedensetat. Der deutsche Generalstab berechnete die Stärke des russischen Friedensheeres Sommer 1914 auf 1 981 000 Mann. Ein offiziöser Artikel der Birshewyje Wjedomosti vom 14. Juni 1914 gibt die Friedensstärke sogar auf 2 320 000 Mann an.

Zu der Vermehrung der aktiven Truppen traten Ankäufe großen Stils von Pferden, Verpflegungsbeständen und Kriegsmaterial aller Art. Die Transporte gingen vielfach unter falscher Deklaration (zum Beispiel Gewehrläufe als Röhren, Geschütze als Maschinenteile und dergleichen). Am 27. März 1914 erfolgte ein Pferdeausfuhrverbot.

Mitte Juli 1914 wurde eine fast völlige Einstellung der Getreideausfuhr angeordnet. Das Gold wurde seit 1913 systematisch ins Land und aus dem öffentlichen Verkehr gezogen. Von den 17 Milliarden, die Frankreich geliehen, waren 12 Milliarden in staatliche und städtische Anlagen gesteckt, 5 Milliarden der Industrie gegeben worden. Für Eisenbahnbauten wurden 1913 von Frankreich weitere 1½ Milliarden zur Verfügung gestellt. Die glänzenden Ernten der Jahre 1910, 1911, 1912 und 1913 hatten einen sehr günstigen Einfluß auf die russischen Finanzen. Anstandslos bewilligte die Duma alle Mittel für militärische Forderungen. Durch Gesetz vom 11. (24.) April 1913 wurde dem Kriegsminister das Recht verliehen, über die für 1913 und 1914 bewilligten Rüstungskredite sofort zu verfügen. Anfang 1914 wurde der gesamte Bestand des Kriegsdispositionsfonds, der sogenannte "freie Barbestand der Reichsrentei", der am 1. Januar 1914 die bisher noch nie verzeichnete Höhe von 1,1 Milliarden erreicht hatte, für Heereszwecke ausgeschüttet. Da er noch unmittelbar vorher bei der Etatsberatung für 1914 als ein "unversehrbarer Schatz für den Kriegsfall" bezeichnet worden ist, bleibt nur die einzig mögliche Schlußfolgerung, daß schon Anfang 1914 der Entschluß feststand, in kürzester Frist es zum Kriege kommen zu lassen.

Die Ausschüttung dieser Milliarden gestattete es, die Kriegsvorbereitungen weit über das gesetzliche Maß zu steigern. Sie ermöglichte es, die erst für später angekündigte große Heeresvorlage im wesentlichen schon jetzt in die Tat umzusetzen. Die Einzelheiten wurden in der am 17. Februar / 2. März 1913 vom Zaren bestätigten, geheimen "Verordnung über die Kriegsvorbereitungsperiode" geregelt.

Die "Kriegsvorbereitungsperiode" umfaßte verschiedene Abschnitte, von denen die ersten bereits im Frühjahr 1914 in Kraft getreten sind. Durch Geheimbefehl vom 26. Juli 1914 ist dann die "Kriegsvorbereitungsperiode" in allen ihren Forderungen für ganz Rußland angeordnet und damit das gesamte aktive Heer des europäischen Rußlands auf Kriegsfuß gebracht worden. Mit der Armierung der Festungen wurde begonnen, der Eisenbahnaufmarsch eingeleitet, die Grenzen wurden hermetisch abgeschlossen, die Grenzgebiete geräumt, der Kriegsnachrichtendienst trat in Kraft. Trotzdem suchte die russische Politik Deutschland über diese Maßnahmen zu täuschen.

[60] Deutschland beschränkte sich dieser Gefahr gegenüber auf ganz vereinzelte Sicherungsmaßnahmen, unterließ aber, im Bestreben, den Frieden zu erhalten, peinlich jede Maßnahme, die als Vorbereitung der Mobilmachung hätte gedeutet werden und daher zu Gegenmaßregeln Veranlassung geben können.

Am Abend des 29. Juli wurden durch Ukas des Zaren sämtliche Reservistenjahrgänge für die Militärbezirke Odessa, Kiew, Moskau und Kasan, sowie für die Flotte und die Kosakenformationen einberufen. Außerdem wurden in den genannten Militärbezirken die Pferde und Fahrzeuge ausgehoben. Damit wurden in diesen Gebieten die letzten Maßnahmen für die Mobilmachung der aktiven Verbände getroffen, mit der Aufstellung der Reserveformationen wurde begonnen. Ein Blick auf eine Karte genügt, um die Tragweite dieses Vorgehens zu erkennen. Zwei Drittel des europäischen Rußlands und die Grenzgebiete machten mobil, und zwar gerade die Gebiete, wo die Masse der Nationalrussen ansässig waren, somit auch die überwiegende Masse der Reserveformationen zur Aufstellung gelangte. Die sibirischen Truppen waren schon mobil. Eine solche "Teilmobilmachung" richtete sich keineswegs nur gegen Österreich-Ungarn, sie war vielmehr in nicht minderer Weise die schwerste Bedrohung Deutschlands.

Diese umfassenden Kriegsvorbereitungen konnten trotz der Absperrung der Grenze nicht verborgen bleiben. Sie mußten von deutscher Seite Gegenmaßregeln hervorrufen. Zunächst freilich wurde in Deutschland nur der Beginn einzelner Armierungsarbeiten in den Festungen angeordnet, Truppen wurden von den Übungsplätzen zurückbefördert und Urlauber zurückberufen.

Rußlands Kriegsvorbereitungen hatten am 30. Juli bereits einen solchen Grad erreicht, daß nunmehr seine Millionenheere unverzüglich an und über die Grenzen geworfen werden konnten. Schon rollten aus Innerrußland die mobilen Truppen heran. Jetzt trug die russische Regierung keine Bedenken mehr, auch offen den Befehl für die allgemeine Mobilmachung zu erlassen. Der 31. Juli wurde als erster Mobilmachungstag bestimmt.

Eine Kriegserklärung Rußlands unterblieb jedoch noch. Die Gründe sind in nachstehendem Dokument (aus einem im Kriege erbeuteten Geheimprotokoll des russischen Generalstabes vom 8. November 1912) enthalten:

      "Es ist unbedingt erforderlich, daß die Anordnung, die Verkündung der Mobilmachung sei auch die Verkündung des Krieges, geändert wird. Eine solche Anordnung kann zu schweren Mißverständnissen in den Beziehungen zu denjenigen Mächten führen, mit denen auf Grund dieser oder jener politischen Umstände Krieg oder die Eröffnung der Feindseligkeiten wenigstens nicht gleich von Anfang an beabsichtigt ist. Andererseits kann es sich als vorteilhaft erweisen, den Aufmarsch zu vollziehen, ohne die Feindseligkeiten zu beginnen, damit dem Gegner nicht unwiederbringlich die Hoffnung genommen wird, der Krieg könne noch vermieden werden. Unsere Maßnahmen müssen hierbei durch [61] diplomatische Scheinverhandlungen maskiert werden, um die Befürchtung des Gegners möglichst einzuschläfern.
      Wenn solche Maßnahmen die Möglichkeit geben, einige Tage zu gewinnen, so müssen sie unbedingt ergriffen werden."

Das Streben, Deutschland von Gegenmaßnahmen abzuhalten, tritt klar hervor. In der Tat ließ sich nichts Günstigeres für die Entente und nichts Unheilvolleres für Deutschland denken, als eine Hinauszögerung des Kriegsbeginns bis zum vollendeten Aufmarsch der russischen Heere an der deutschen Ostgrenze. Trotzdem zögerte Deutschland selbst dann noch mit der Mobilmachung, als die russische Mobilmachung bekannt wurde.

Lediglich der Zustand der drohenden Kriegsgefahr wurde am 31. Juli, 1 Uhr nachmittags, angeordnet. In dem Bestreben, den Frieden zu erhalten, ging Kaiser Wilhelm bis zur äußersten Grenze der Sicherheit des Reiches und ließ Rußland noch eine Frist, um seine militärischen Maßnahmen einzustellen. Erst als diese Frist verstrichen war, ohne daß eine Antwort auf die deutsche Anfrage eingegangen war, und als schon russische Patrouillen und Flugzeuge die Grenzen überschritten, befahl der Kaiser am 1. August, 5 Uhr nachmittags, die Mobilmachung des gesamten deutschen Heeres und der Kaiserlichen Marine.

Die russische Kriegspartei war sich bewußt, daß bei einer planmäßigen Mobilmachung, die im Augenblick des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen begonnen hätte, Rußland wohl rechtzeitig ausreichende Kräfte zur Verteidigung des Landes bereitstellen konnte, daß es aber lange Wochen gebraucht hätte, um die zum Angriff bestimmten Millionenheere an den Grenzen zu versammeln. Ihr Eingreifen hätte sich also erst nach geraumer Zeit fühlbar machen können. Damit war aber den Geldgebern an der Seine nicht gedient. Diese verlangten klipp und klar eine frühzeitige Offensive. Zu dem Zwecke organisierte Rußland ein ganzes System, um seine Kriegsvorbereitungen im geheimen zu treffen, so daß sie nicht erkannt würden oder, wenn die Verheimlichung nicht gelang, wenigstens den Anschein einer Mobilmachung vermieden. Unter dem Schutz dieser Täuschungs- und Verschleierungsmanöver hat sich seit Herbst 1912 zweifellos die russische Mobilmachung ganz allmählich vollzogen. Besonderen Wert legten die russischen Drahtzieher auf die Täuschung im amtlichen Verkehr. Hierüber berichtet der deutsche Militärattaché in einer dem deutschen Generalstab eingereichten Denkschrift:

      "Sehr im Gegensatz zu all diesen Verlautbarungen waren die russischen Dienststellen (Generalstab und Kriegsminister) im Verkehr mit mir eifrigst bemüht, alle russischen Kriegsvorbereitungen und Verstärkungsmaßnahmen als wenig belangvoll, alle darüber erschienenen Presseangaben als stark übertrieben hinzustellen. Man trieb jahrelang bewußt und klar ein ständiges Doppelspiel - nach Frankreich hin und gegen die eigene Öffentlichkeit mit großen Zahlen [62] zu glänzen und zu prahlen -, nach Deutschland hin abzuwiegeln, zu leugnen, zu verkleinern.
      So ist es mit allen Maßnahmen der Heeresvermehrung, der zeitweiligen Erhöhung der Kriegsbereitschaft, Zurückhaltung der ausgedienten Jahrgänge in den beiden Winterhalbjahren 1912/13 und 1913/14, der heimlichen Erhöhung der Rekrutenkontingente und jeder ähnlichen Maßregel gewesen - ein System der Irreführung bis in die letzten Phasen der eigentlichen Mobilmachung und des Kriegsausbruchs hinein! Meine Berichte geben hierfür vielfache Belege.
      Man wird vielleicht sagen, daß dies ganz natürlich sei, daß keine Macht einem fremden Militärattaché bereitwillig und offen in die Geheimnisse ihrer Heeresrüstung Einblick gestatte. Das ist gewiß natürlich. Hier aber handelte es sich stets um bereitwillig erteilte Auskünfte, um häufig in feierlicher Form abgegebene amtliche Versicherungen, die unter Hinweis auf die friedlichen Absichten Rußlands und die guten Beziehungen zwischen den beiden Mächten vertrauensvollen Glauben forderten!
      Dieses ganze System - einerseits ständiger alarmierender Drohungen, andererseits der Geheimhaltung der Verschleierung - mußte unweigerlich bei uns ernste und steigende Besorgnis vor der durch die russischen Rüstungen uns drohenden Gefahr hervorrufen.
      Ich habe nicht unterlassen, beim russischen Generalstab mehrfach warnend darauf hinzuweisen, wie bedenklich dieses System für die Beziehungen der beiden Länder sei.
      Wie berechtigt solche Besorgnis war, hat sich schließlich gezeigt! Am klarsten ist es aber erst während des Krieges geworden, als wir durch bisher uns verschlossenes Material Einblick in den vollen Umfang der frühzeitigen russischen Kriegsvorbereitungen gewannen."


1 [1/58]Vergleiche hierzu die vom Chef des Generalstabes herausgegebenen Urkunden zur Geschichte des Weltkrieges, Rußlands Mobilmachung für den Weltkrieg (E. S. Mittler & Sohn, Berlin 1919). ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte