Bd. 1: Der deutsche Landkrieg, Erster Teil:
Vom Kriegsbeginn bis zum Frühjahr 1915
[45]
Kapitel 2: Die Kriegsrüstungen zu
Lande
Major Karl Hosse
1. Einleitung.
Die geschichtliche Entwicklung der politischen Lage, ihr wiederholter Wechsel
und die Absichten der Mächte fanden ihren starken Ausdruck in den
Kriegsrüstungen und sonstigen Kriegsvorbereitungen. Diese gaben einen
Wertmesser für die hinter der Politik stehende militärische Macht.
Sie gaben aber auch, und zwar oft mehr als die politischen Handlungen und
Worte, bedeutungsvolle Anhaltspunkte zur Beurteilung der wahren
Absichten.
Die Grundlage für die Stärke der einzelnen Wehrmächte
bildete die Zahl der jährlich eingestellten Rekruten. Von ihr war die
Stärke des Friedensheeres, die Zahl der jährlich in den
Beurlaubtenstand übertretenden ausgebildeten Mannschaften und damit die
Stärke des Heeres im Kriege in erster Linie abhängig. Man braucht
nur die in den letzten 20 Jahren vor Kriegsausbruch eingestellten Rekruten
zusammenzuzählen, um einen sicheren Anhalt für das
Verhältnis der Kriegsstärken der einzelnen Mächte zueinander
zu erhalten. (Übersicht siehe nächste Seite. [Scriptorium: nachfolgend.])
Schon dieser Vergleich der Rekrutenstärke ergibt die Überlegenheit
Frankreich-Rußlands gegenüber den Mittelmächten, ganz
abgesehen von Engländern, Belgiern und Serben.
Neben der Stärke der Rekrutenjahrgänge ist die Länge der
Dienstzeit in doppelter Hinsicht von entscheidender Bedeutung, einmal für
die Güte der Ausbildung, dann aber auch unmittelbar für die
Stärke der aktiven Armee. Eine aktive Armee mit dreijähriger
Dienstzeit, wie die französische, ist fast um ein Drittel stärker als
eine solche mit gleicher Rekrutenzahl bei zweijähriger Dienstzeit. Von der
Stärke der Friedensstämme hängen aber die Schlagfertigkeit
des Heeres, die Güte der aktiven und Reserveformationen sowie der glatte
Verlauf der Mobilmachung und des Aufmarsches ab.
Um in das Wesen der Kriegsvorbereitungen einzudringen, ist es notwendig, auf
diese Fragen bei den einzelnen Staaten näher einzugehen. Die
Prüfung der Kriegsrüstungen unter diesen Gesichtspunkten wird das
durch die Übersicht bereits gewonnene Bild noch schärfer
hervortreten lassen: daß Frankreich und Rußland
planmäßig für einen Angriffskrieg gerüstet haben,
während Deutschland und
Österreich-Ungarn nicht einmal die zur Verteidigung notwendigen und
möglichen Vorbereitungen in vollem Umfang getroffen haben.
[46]
Übersicht
der in den Jahren 1894 bis 1913 zum Dienst im Heer eingestellten
Mannschaften
(Rekruten).
(Nach den Berechnungen des deutschen Generalstabes.) |
Jahr |
Deutschland |
Österreich-
Ungarn{2} |
Frankreich{3} |
Rußland |
Bemerkungen |
mit
Waffe |
ohne
Waffe{1} |
mit
Waffe |
ohne
Waffe{4} |
|
1894 |
257 000 |
4 499 |
126 000
|
271 000 |
(36 590) |
285 700
|
{1}Meist Ökonomie-
handwerker ohne jede militärische Ausbildung.
{2}k. u. k. Armee, Landwehr, ungarische Honved und bosnische
Truppen.
{3}Nur Franzosen ohne Farbige und Fremdenlegionäre.
{4}Der französische Hilfsdienst (service auxiliaire)
wurde von 1906 ab bereits im Frieden eingestellt und ausgebildet (Ordonnanzen,
Schreiber, Burschen, Köche usw.).
{5}Im Herbst 1913 stellten die Franzosen zwei
Rekrutenjahrgänge (die
20- und die 21jährigen) gleichzeitig ein. |
1895 |
251 000 |
4 594 |
126 000
|
250 000 |
(37 530) |
290 350
|
1896 |
252 000 |
4 447 |
126 000
|
256 000 |
(38 521) |
294 700
|
1897 |
250 000 |
4 512 |
126 000
|
257 000 |
(37 670) |
297 700
|
1898 |
249 000 |
4 574 |
126 000
|
257 000 |
(39 000) |
302 500
|
1899 |
255 000 |
4 591 |
126 000
|
233 000 |
(38 000) |
306 700
|
1900 |
264 000 |
4 608 |
126 000
|
250 000 |
(35 900) |
312 800
|
1901 |
259 000 |
4 701 |
126 000
|
242 000 |
(29 250) |
318 800
|
1902 |
259 000 |
4 413 |
126 000
|
270 000 |
(31 808) |
324 800
|
1903 |
259 000 |
3 670 |
126 000
|
229 000 |
(30 062) |
330 800
|
1904 |
259 000 |
3 842 |
130 650
|
257 000 |
(38 560) |
336 800
|
1905 |
261 000 |
3 457 |
130 650
|
253 000 |
(28 436) |
475 346
|
1906 |
261 000 |
3 158 |
130 650
|
276 000 |
24 798 |
469 780
|
1907 |
262 000 |
3 097 |
130 650
|
255 000 |
17 910 |
463 050
|
1908 |
263 000 |
2 628 |
137 570
|
243 000 |
16 619 |
456 461
|
1909 |
264 000 |
2 730 |
137 570
|
254 000 |
18 760 |
456 635
|
1910 |
265 000 |
2 623 |
137 570
|
252 000 |
17 681 |
456 635
|
1911 |
271 000 |
2 712 |
137 570
|
243 000 |
18 668 |
455 100
|
1912 |
284 000 |
2 616 |
175 877
|
256 000 |
18 972 |
455 100
|
1913 |
356 000 |
2 752 |
200 402
|
{5}445 000 |
23 000 |
505 000
|
|
Summe
der 20
Jahr-
gänge |
5 301 000 |
74 000 |
2 709 000
|
5 249 000 |
578 000 |
7 595 000
|
|
|
|
|
5 375 000
|
|
5 827 000
|
|
2. Frankreich.
Die Militärpolitik Frankreichs wurde seit den achtziger Jahren in dem
einmütigen Willen des Volkes beherrscht, trotz der unterlegenen Volkszahl
(1914: 39½ Millionen Franzosen gegen 67 Millionen Deutsche) eine an
Zahl und Güte der deutschen zum mindesten gleiche Wehrmacht
aufzubieten.
Während das deutsche Heer seit 1893 mit der Vermehrung der Volkszahl
nicht Schritt hielt und mit seiner Friedensstärke zeitweise sogar unter die
1871 gesetzlich festgelegte Sollstärke von 1 von Hundert der
Bevölkerung
herunter- [47] ging, hatte Frankreich in den letzten Jahrzehnten
durchschnittlich 1,5 vom Hundert der Bevölkerung unter den Fahnen und
steigerte diese Zahl im Herbst 1913 auf 2 vom Hundert (797 000 Mann),
und zwar nur an Franzosen! Hierzu kamen noch 85 000 Mann
Fremdenlegionäre und Farbige, so daß im Sommer 1914 die
Friedensstärke des französischen Heeres mit 882 000 Mann
die deutsche um 121 500 Mann übertraf. Freilich: in Frankreich
stand die allgemeine Wehrpflicht nicht nur auf dem Papier wie in Deutschland,
sondern war Fleisch und Blut geblieben, und wurde in vollem Bewußtsein
getragen, mochte das Land auch noch so sehr darunter leiden und Pazifisten und
Demokraten darüber zetern.
Um die schweren Opfer dem menschenarmen Lande, dessen Geburtenzahl
ständig zurückging, erträglich zu machen, hatte sich
Frankreich 1905 allerdings entschlossen, von der dreijährigen zur
zweijährigen Dienstzeit überzugehen, nachdem in Deutschland schon
1893 die Dienstzeit auf zwei Jahre herabgesetzt war. Für die Masse des
Heeres, die Fußtruppen, reichte die zweijährige Ausbildungszeit aus.
Kavallerie und reitende Artillerie litten aber unter der Verkürzung. Die
Friedenspräsenz ging natürlich durch Wegfall eines ganzen
Jahrgangs auch herunter. Aber trotzdem war es ein Irrtum, in der Herabsetzung
der Dienstzeit eine Schwächung der französischen Wehrmacht zu
erblicken. Sie bot im Gegenteil den Franzosen die Möglichkeit, alle
wehrfähigen Männer (80 vom Hundert der Militärpflichtigen)
restlos zum Dienst mit der Waffe zu erfassen und auch die Mindertauglichen zum
Dienst ohne Waffe (service auxiliaire) bereits im Frieden einzuziehen, so
daß jede Hand, die überhaupt ein Gewehr führen konnte,
tatsächlich in die vorderste Linie gebracht wurde. Darauf kam es allein an,
wenigstens für die ersten entscheidenden Kämpfe. In der Schlacht an
der Marne, wo 40 deutsche Divisionen 50 feindlichen gegenüberstanden,
nutzten Deutschland die Hunderttausende waffenfähiger Mannschaften in
der Heimat, die nicht ausgebildet waren, gar nichts.
Frankreich hat es fertig gebracht, trotz seiner erheblich geringeren Volkszahl zum
Dienst mit der Waffe die gleiche Zahl seiner Söhne heranzuziehen wie
Deutschland. Das anscheinende Gleichgewicht wurde aber durch die
Hunderttausende des Hilfsdienstes, die als Schreiber, Burschen, Ordonnanzen,
Fahrer, Pferdepfleger, Handwerker usw. dienten und eine gleich große Zahl
für die Front freimachten, und weiter durch die Kolonialtruppen zugunsten
Frankreichs erheblich verschoben. Frankreich scheute sich sogar nicht davor, die
|
Anforderungen an die Tauglichkeit herabzusetzen, und warf große
Geldmittel aus, um Mannschaften und Unteroffiziere zu freiwilliger
längerer Dienstzeit zu verpflichten. Um keinen Preis verstand es sich trotz
der auftretenden Schwierigkeiten dazu, Einheiten aufzulösen. Im Gegenteil:
es vermehrte von 1910 bis 1912 die Kavallerie, die Artillerie und die technischen
Truppen.
Die afrikanischen Schützen waren schon 1870 unter dem Namen Turkos
bekannt geworden. Nach der Eroberung Algeriens und der Unterwerfung [48] Tunesiens wurden die kriegerischen
Stämme der Araber zunächst zu freiwilligem Dienst herangezogen,
später der Wehrpflicht unterworfen. In Marokko säumte man nicht,
sofort in gleicher Weise sich die militärischen Kräfte nutzbar zu
machen. Daneben gaben die kriegerischen Stämme
West- und Zentralafrikas, insbesondere die Senegalneger, vorzügliche
Soldaten ab, die, blindlings ihren Vorgesetzten gehorchend, von unbedingter
Zuverlässigkeit gegen den Feind waren, freilich auch im Kampf und gegen
die wehrlose Bevölkerung den Instinkten einer niederen Rasse freien Lauf
ließen.
Im Frühjahr hatte Frankreich
7 000 |
Fremdenlegionäre, |
45 800 |
Algerier und Tunesier, |
18 500 |
Marokkaner und Araber in Marokko, |
14 400 |
Senegalneger, |
85 700 |
Farbige und Fremde |
unter den Fahnen, also rund zwei kriegsstarke Armeekorps, wozu im
Mobilmachungsfall einige zehntausend Araber des Beurlaubtenstandes
hinzukamen.
Der französische Soldat brachte von Hause aus viele Eigenschaften mit, die
seiner Ausbildung zugute kamen. Er entsprach nicht dem Bilde, das manche aus
Pariser Romanen zu entnehmen geneigt waren; in Wirklichkeit stammte die
Mehrzahl der Rekruten aus ländlichen Bezirken, war kräftig und
gewandt, hatte militärischen Sinn; vor allem aber besaß der
französische Soldat eine große Anhänglichkeit an sein Land,
ein starkes Nationalgefühl, das von Jugend auf geweckt und vertieft wurde
und mehr zum Chauvinismus hinneigt, als das Volksgefühl irgendeines
anderen Landes. Diese auf aktive Betätigung drängende
Vaterlandsliebe, der immer wach erhaltene Gedanke an die Revanche, die
Erinnerung an die napoleonischen Siege, der im französischen Volke stets
lebendige Drang nach dem Rhein gaben ein positives Ziel für den
militärischen Drill, dem sich der französische Soldat daher trotz
seiner von Natur aus bestehenden Ablehnung der Autorität willig und
verhältnismäßig leicht fügte. Übrigens wurde die
Disziplinarstrafgewalt im französischen Heer schon im Frieden recht streng
gehandhabt und im Kriege noch erheblich verschärft, während
Deutschland den umgekehrten Weg ging und die Mittel der Disziplin
allmählich immer mehr abschwächte.
Im Offizierkorps war der Gedanke an den Krieg noch lebhafter entwickelt und
wirkte sich sowohl in einem sehr regen Dienstbetrieb wie auch in fruchtbarer
schriftstellerischer Tätigkeit aus. Die fast ununterbrochenen Kämpfe
in den Kolonien, die Berührung mit fremden Völkerschaften gaben
den Offizieren die Möglichkeit, die Verhältnisse des Ernstfalles aus
eigener Erfahrung kennen zu lernen. Allerdings besaß das
französische Offizierskorps nicht die Geschlossenheit [49] und Gediegenheit des deutschen Offizierskorps
von 1914, weil sein Ersatz nicht einheitlich war. Es kam oft zu
Eifersüchteleien und Unkameradschaftlichkeit.
Unter den einzelnen Truppengattungen ragte die Artillerie als beste und
Lieblingswaffe hervor, die in dem Rohrrücklaufgeschütz eine
ausgezeichnete Waffe hatte. Dagegen war das Lebelgewehr mit seiner
Magazineinrichtung rückständig, das Maschinengewehr dem
deutschen an Genauigkeit und Feuergeschwindigkeit erheblich unterlegen. Sein
langsames Tacken ist noch jedem Kämpfer im Ohr. Die
Schießausbildung der großen Masse ließ manches zu
wünschen übrig, während Jäger, Alpenjäger und
einzelne Scharfschützen ihre Waffe vorzüglich zu gebrauchen
wußten. Dem Pionierwesen und der Technik kam der natürliche Hang
der Franzosen zugute, ohne daß freilich immer etwas Kriegsbrauchbares
dabei herausgekommen wäre. Bezeichnend hierfür ist das
Flugwesen, das zwar in Frankreich früher begonnen hatte, aber trotzdem
bei Ausbruch des Krieges den Franzosen keine entscheidende
Überlegenheit gegeben hatte. Daß die französische Armee trotz
ihrer kolonialer Erfahrungen ohne ausreichende Feldküchenausstattung, mit
dem ungeeigneten Käppi, den dunkelblauen Uniformen und den leuchtend
roten Hosen ins Feld rückte, verdankte sie ihrem parlamentarischen
Regierungssystem, das sich die Entscheidung über jede militärische
Einzelheit eifersüchtig vorbehielt und aus lauter Kommissionsberatungen
und eigensüchtigen Interessen zu keinem Ergebnis kommen konnte.
Die Manöver hatten vielfach etwas Schwerfälliges; es waren meist
Gefechtsausschnitte, die zwar für den Führer und die Befehlstechnik
recht lehrreich waren, die aber in der Ausführung oft Unnatürlichkeit
boten und die Gelegenheit zu freien Entschlüssen vermissen ließen,
ein Mangel, dessen Folgen sich z. B. bei vielen Gefechten des August 1914
sehr bemerkbar machten. Sehr zweckmäßig waren die
Armee-Generalstabsreisen, bei denen die zukünftigen Armeeführer
mit den ihnen im Krieg unterstellten
Korps- und Divisionsführern sowie deren Stäben
zusammenarbeiteten. Die Frontoffiziere des aktiven und, was besonders
hervorzuheben ist, auch des Beurlaubtenstandes wurden zu ähnlichen
Übungen herangezogen, meist dort, wo ihre Truppen im Ernstfall zuerst
eingesetzt werden sollten. Der Ernstfall wurde überhaupt in einer viel
bestimmteren Richtung betont und vorbereitet als im deutschen Heere. Nicht als
ob dieses nicht auch überall den Kriegsfall im Auge hatte; aber der
deutsche Musketier erhielt eine möglichst vielseitige Ausbildung, die es
dann ja auch ermöglicht hat, die gleiche Truppe, die eben noch an den
Vogesenkämmen Wache hielt, morgen nach den russischen Steppen und
Sümpfen abzubefördern und ebensogut auch an den Karpathen oder
in den Alpen zu verwenden. Für den französischen
piou-piou war das anders. Für ihn gab es nur einen
möglichen Gegner: den Deutschen, den "Boche", gegen den schon im
Frieden alle physischen und geistigen Kräfte mobil gemacht wurden.
Für den Kampf gegen Deutschland hatte jedes Armeekorps, jede Division,
beinahe jedes Regiment schon seine bestimmte Aufgabe, die bis ins einzelne
vorbereitet [50] war. Fanden sich doch gleich während der
ersten Vogesenkämpfe in den französischen Artilleriestellungen
vervielfältigte genaue Ansichtsskizzen für alle deutschen
Vogesentäler mit Angaben über Artilleriestellungen, Anmarschwege,
Beobachtungsstellen, Schußweiten usw. Nur jahrelange Arbeit, ausgedehnte
Spionage, zugleich aber auch der feste Wille zum Krieg konnte solche Ergebnisse
zeitigen.
Der Krieg gegen Deutschland war dasjenige Ziel, dem alle anderen
militärischen Erwägungen untergeordnet wurden. An der
italienischen Grenze begnügte man sich mit den alten, großenteils
veralteten Werken von Nizza, Briançon und Grenoble. Die Alpenposten,
die 25
Jahre lang auf 2000 bis 3000 Meter Höhe gegen Italien Wacht gehalten
hatten, wurden seit dem Winter 1911/12 eingezogen. Diese Maßnahme
wurde ausdrücklich mit den veränderten politischen
Verhältnissen begründet. Dagegen scheute man keine Kosten, um die
Grenze zwischen Belfort und Verdun zu einer Kette gewaltiger Festungsanlagen
zu machen, in der nur die Lücke von Charmes als Falle für einen
deutschen Vormarsch offen blieb. Im Norden wurden ganz offen die Maas und die
belgischen Festungen als natürliche Fortsetzungen der französischen
Linie bezeichnet; als Rückhalt für die verbündeten Belgier und
Engländer wurde Maubeuge, für die Landung der letzteren wurden
die Kanalhäfen Le Havre, Boulogne, Calais und besonders
Dünkirchen stark ausgebaut. Im Schutz dieses mit den modernsten Mitteln
versehenen Verteidigungssystems sollte das französische Heer in
kürzester Zeit versammelt werden wie ein zum Sprung geducktes Raubtier,
bereit hervorzubrechen, sobald der russische Bär seinen gewaltigen
Körper in Bewegung gesetzt hätte und ins deutsche Land
eingebrochen wäre.
Seit 1871 hatte man die Zahl der Eisenbahnlinien beträchtlich vermehrt und
sich dabei hauptsächlich von militärischen Gesichtspunkten leiten
lassen. Während 1870 nur drei bis vier französische
Transportstraßen neun deutschen gegenüberstanden, hatte sich 1886
das Verhältnis völlig gewendet: zwölf französische
gegen neun deutsche. Und 1914 waren es 15 französische, sämtlich
zweigleisig, gegen zwölf deutsche. Die Folge war, daß die
Versammlung des französischen Heeres im Aufmarschgebiet drei bis vier
Tage früher beendet sein konnte als die des deutschen Heeres.
Das Anwachsen der französischen Wehrmacht blieb auch auf die
strategischen und taktischen Anschauungen im Heere nicht ohne Wirkung. Einige
Jahre vor dem Kriegsausbruch trat ein entschiedener Umschwung insofern ein, als
die offensiven Tendenzen dienstlich, in der Militärliteratur und in der
Presse scharf betont wurden. Der Generalstabschef Dubail vor allem hat den
Angriffsgedanken in der Armee verbreitet und hat es durchgesetzt, daß die
wichtigsten Vorschriften in rein offensivem Geist gehalten wurden. Die
Auffassung des französischen Volkes und der französischen Armee
ist treffend in einem Bericht des deutschen Militärattachés in Paris
vom 8. November 1911 wiedergegeben:
[51]
"So hat sich denn im Laufe der letzten
Jahre und sichtlich zunehmend im französischen Volk, das leicht zu
beeinflussen ist und für fremde Zustände und Eigenschaften kein
ausgesprochenes Verständnis besitzt, ein Gefühl herausgebildet, das
wohl am deutlichsten in den bekannten Schmähartikeln der France
Militaire zutage getreten ist und sich in die Worte zusammenfassen
ließe: "Il faut en finir avec l'Allemagne!" Noch vor gar nicht langer
Zeit war dem weitaus größeren Teil der französischen Nation
der
Gedanke an einen Krieg mit Deutschland äußerst unbehaglich. Ein
sehr großer Teil des Volkes aber und ein nicht geringer Teil der Presse
spielt heute mit dem Gedanken an einen Krieg und trägt ein gewisses
Bedauern darüber zur Schau, daß man eine so ungünstige
Gelegenheit, die übermütigen Deutschen zu züchtigen und
ihnen die verlorenen Provinzen wieder abzunehmen, habe ungenutzt
vorübergehen lassen. Diese Siegeszuversicht und Unterschätzung des
Gegners, bei denen auch die Erfolge auf dem Gebiete des Flugwesens sehr
erheblich mitsprechen, ist im Laufe des letzten Sommers durch die Presse und
besondere Tendenzbroschüren noch geflissentlich genährt
worden.
Eins steht fest: Es lebt im französischen Volke ein
tiefgehender Haß gegen uns, der seit 1870 an Stärke nichts
verloren
hat. Ich erinnere nur aus den letzten Jahren an Beispiele, wie den Fall der
Casablanca-Deserteure, das Verschwinden eines französischen
Maschinengewehrs, den Circuit de l'Est, den Streit um die Fremdenlegion und
schließlich Agadir. Tritt nun zu einer feindseligen Gesinnung und zu dem
Wunsche, verlorenes Gebiet wieder zu erlangen, noch das Gefühl der
militärischen
Überlegenheit - möge es berechtigt sein oder nur auf
Einbildung
beruhen -, so kann die Schlußfolgerung nur lauten, daß mit der
Möglichkeit eines Zusammenstoßes mit Frankreich mehr denn je
gerechnet werden muß."
In diesem Satz, den der deutsche Militärattaché drei Jahre vor dem
Kriege an seine Regierung schrieb, liegt die Antwort auf die Lebensfrage, ob
Frieden oder Krieg zwischen Deutschland und Frankreich herrschen soll. Die
Gefahr des Krieges wuchs in dem Maße, in dem
Frankreich - mit Recht oder Unrecht - an die Überlegenheit
seiner Waffen glaubte. Groß war schon, was Frankreich bis zum Jahre 1912
getan hatte, um sich diese Überlegenheit zu sichern. Im Jahre 1913 aber
entschloß es sich zu einer Maßnahme, die einen ganz gewaltigen
Schritt auf diesem Wege und damit auch zum Kriege bedeutete, und die daher
eine ganz besondere Beachtung verdient: die Wiedereinführung der
dreijährigen Dienstzeit. Nachdem im Herbst 1912 ziemlich unvermittelt
eine starke Agitation in der Presse für die dreijährige Dienstzeit
eingesetzt hatte, legte die französische Regierung der Kammer am 6.
März 1913 einen Gesetzentwurf für Wiedereinführung der
dreijährigen Dienstzeit vor. Er wurde nach mancherlei
Abänderungen vom Parlament angenommen und am 7. April 1913
Gesetz.
Begründet wurde die Gesetzesvorlage in der Hauptsache mit der
Notwendigkeit, die Friedensausbildung des aktiven Heeres durch Erhöhung
des
Mannschafts- [52] standes zu verbessern. Im Verlauf der
Verhandlungen benutzte die französische Regierung die etwas später
(29. März 1913) eingebrachte deutsche große Wehrvorlage geschickt
dazu, um die eigenen militärischen Forderungen durchzusetzen. Die
französische Wehrvorlage ist demnach keine Antwort auf die deutsche,
wie es von der Ententepresse hingestellt wird. Der französische
Kriegsminister Millerand äußerte sich vielmehr schon am 20. Februar
1913 in der France Militaire dahin, daß er während seiner
Amtszeit (16. Januar 1912 bis 12. Januar 1913) sich zur Einbringung eines
außerordentlichen Rüstungskredits entschlossen hätte. Und
Clémenceau erwähnte in seinem, dem Senat vorgelegten Bericht,
daß dieser Entschluß bereits im Dezember 1912 gefaßt worden
sei, zu einer Zeit also, wo von der deutschen Wehrvorlage noch keine Rede war.
Die ersten ganz allgemein gehaltenen Nachrichten von einer beabsichtigten neuen
deutschen Wehrvorlage gelangten Mitte Januar 1913 in die Presse; erst am 12.
Februar 1913 wurde bekannt, daß einige Neuformationen,
Maschinengewehr-Kompagnien und etwa 18 Eskadrons gefordert würden.
Dagegen fand in Paris schon am 10. Februar 1913 die entscheidende
Ministerratssitzung über die dreijährige Dienstzeit statt. Am 17.
Februar 1913 nannte der Temps die französischen
Rüstungsforderungen und brachte die Nachricht, daß die Regierung
eine Gesetzesvorlage zur Wiedereinführung der dreijährigen
Dienstzeit vorbereitete.
Von besonderem Interesse gerade mit Rücksicht auf den Kriegsbeginn 1914
ist die Art, wie die Franzosen die dreijährige Dienstzeit tatsächlich
durchführten. Der zunächstliegende und auch tatsächlich
zuerst erörterte Gedanke, den im Herbst 1913 zur Entlassung kommenden
Jahrgang ein drittes Jahr zurückzubehalten, wurde aufgegeben, weil die
Bekanntgabe dieses Planes im Lande und unter den alten Mannschaften des
Heeres eine solche Erbitterung auslöste, daß es zu groben
Ausschreitungen und Meutereien kam. Man entschied sich vielmehr dahin, im
Herbst 1913 zwei Jahrgänge, nämlich die
21- und 20jährigen, auf einmal einzuziehen. Bisher war das normale
Einstellungsalter in Frankreich 21 Jahre, während es in Deutschland 20
Jahre betrug. Frankreich gewann somit vom Oktober 1913 ab einen Jahrgang,
dessen Stärke im französischen Budget 1914 auf rund 200 000
Mann angegeben ist. Diese Zunahme von 200 000 Mann kam sowohl der
Friedensstärke wie auch sofort der Kriegsstärke zugute.
Die Friedensstärke stieg damit auf 882 500 Mann, die sich im
einzelnen wie folgt zusammensetzte:
32 000 |
Offiziere, |
720 000 |
Mann zum Dienst mit Waffe, |
45 000 |
Mann zum Dienst ohne Waffe, |
71 000 |
Fremdenlegionäre und Araber, |
14 500 |
Senegalneger, |
882 500 |
Mann. |
[53] Berechnet man nur die Franzosen
(797 000) im Heere, so dienten 2 vom Hundert der Bevölkerung
gegen 1,3 vom Hundert in Deutschland!
Die erhöhte Friedensstärke machte es möglich,
sämtlichen Truppenteilen, vor allem den an der Ostgrenze stehenden,
höhere Friedensstände zu geben und verschiedene neue
Verbände, besonders an schwerer Artillerie, Pionieren und
Verkehrstruppen, aufzustellen. Hauptsächlich machte sich dies an der
deutschen Grenze bemerkbar, wo die Gesamtstärke der Grenzkorps und der
Kavallerie-Divisionen von 126 000 auf 206 000 stieg. In Epinal
wurde ein neues Armeekorps (XXI.) aufgestellt. Die Ausbildung des gesamten
französischen Heeres wurde durch die längere Dienstzeit wie durch
die mit ihr verbundene Erhöhung der Friedensstärken erheblich
verbessert und erleichtert. Die große Zahl verfügbaren Ersatzes
machte es möglich, die schon früher bestehenden Stämme
(Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften) für Reserveformationen, die
sogenannten cadres complémentaires, zu vermehren und zu
verstärken. Damit gewannen die Reserveformationen erheblich an
Festigkeit und Kriegsbereitschaft. Mobilmachung und Aufmarsch des
französischen Heeres wurden durch die hohen Friedensstände
vereinfacht und beschleunigt.
Die Kriegsstärke wuchs durch die Einstellung der 20jährigen und der
Freiwilligen um 240 000 Mann, ferner um zwei Jahrgänge, die durch
Ausdehnung der Dienstpflicht bis zum 47. Lebensjahr gewonnen wurden.
Hierdurch wurde es möglich, die Feldarmee um 240 000 Mann zu
verjüngen und zu vermehren, mit den hierdurch freiwerdenden Reservisten
die Zahl der
Reserve-Divisionen zu erhöhen. Tatsächlich wurden 27
Reserve-Divisionen aufgestellt. Die Territorialformationen (den deutschen
Landwehrformationen entsprechend) erfuhren durch die beiden alten
Jahrgänge eine zahlenmäßig recht beträchtliche
Vermehrung. Vom Frühjahr 1914 ab hatte Frankreich im Kriegsfall alle
wehrfähigen Leute vom 21. bis 48. Lebensjahr, also 28 Jahrgänge,
ausgebildet zur Verfügung, Deutschland hatte von nur 25 Jahrgängen
(vom 21. bis 45. Lebensjahr) bei weitem nicht alle Wehrfähigen
ausgebildet, sondern hunderttausende wehrfähige Männer im besten
Alter unausgebildet gelassen.
Kein Wunder, daß im Sommer 1914 Frankreichs Kriegsstärke von
4,364 Millionen die Kriegsstärke Deutschlands von 3,879 Millionen
überflügelt hatte.
Die Vorteile des neuen Wehrgesetzes waren im wesentlichen mit dem Augenblick
erreicht, als die beiden im Herbst 1913 eingestellten Rekrutenjahrgänge
(Klasse 1912 und 1913) ausgebildet waren, also im Sommer 1914. Von da an
hatte Frankreich eine zahlenmäßige Überlegenheit über
Deutschland sowohl für den Frieden wie für den Krieg. Frankreich
hatte 1914 drei Jahrgänge (Deutschland nur zwei) unter den Fahnen, ohne
daß, mit Ausnahme der Kapitulanten, Freiwilligen usw., ein Mann drei
Jahre gedient hatte. Auch für Herbst 1914 war die Entlassung des
ältesten Jahrganges nach zwei Jahren gesetzlich
vor- [54] gesehen. Im September 1915 sollte nach dem
Gesetz die eine Klasse (1912) nach zweijähriger Dienstzeit entlassen, die
andere Klasse (1913), die ebenfalls schon zwei Jahre diente,
zurückbehalten werden. Dann erst trat für letztere der Zwang ein,
drei Jahre zu dienen, während ihre gleichzeitig eingezogenen Kameraden
der Klasse 1912 die Kaserne verlassen durften. Das mußte zu den
größten Schwierigkeiten führen, und es wurden sehr ernste
Zweifel laut, ob es überhaupt durchführbar wäre, im Herbst
1915 den einen Jahrgang tatsächlich für ein drittes Dienstjahr
zurückzuhalten.
Auch sonst machte sich die Tatsache, daß drei volle Jahrgänge unter
den Fahnen standen, bei der geringen Volkszahl recht fühlbar und
mußte auf die Dauer immer drückender werden. Es waren
große Lasten, die damit dem ganzen Volk, jedem einzelnen und jedem
einzelnen Stand auferlegt wurden. Jeder, ohne jegliche Ausnahme, mußte
drei Jahre dienen! Industrie, Handel und Landwirtschaft litten unter der
gewaltigen Anspannung der Volkskraft. Groß waren die Opfer des
einzelnen und der Gesamtheit. "Wie lange wird das französische Volk diese
Lasten tragen und wird es möglich sein, im Jahre 1915 tatsächlich
die 200 000 Mann der Klasse 1913 zu einem dritten Dienstjahre
zurückzubehalten?" Das war die Frage, die den französischen und
russischen Staatsmännern viel Kopfzerbrechen verursachte. Um aus diesen
Schwierigkeiten herauszukommen, boten sich nur zwei Wege: Entweder
Frankreich kehrte zur zweijährigen Dienstzeit zurück und verzichtete
damit auf den Revanchegedanken oder aber es nutzte die Vorteile, die ihm die
Überspannung seiner Wehrkraft bot, aus, solange diese Hochspannung
noch anhielt. Über den Herbst 1915 hinaus konnte, wie oben dargelegt, das
Land diese nicht ertragen. Die Lage läßt sich nicht besser
kennzeichnen als durch die Worte des belgischen Gesandten Guillaume, der an
seine Regierung am 8. Mai 1914 die Worte schrieb:
"Eines der gefährlichsten
Momente in der augenblicklichen Lage ist
die Rückkehr Frankreichs zum Gesetz der dreijährigen Dienstzeit.
Sie wurde von der Militärpartei leichtfertig durchgesetzt, aber das Land
kann sie nicht ertragen. Innerhalb von zwei Jahren wird man auf sie verzichten
oder Krieg führen müssen......"
Frankreich hat nicht auf die dreijährige Dienstzeit verzichtet, sondern sich
für den Krieg entschieden.
3. Rußland.
Aus den Zeiten der "traditionellen Freundschaft" zwischen Berlin und Petersburg
hatte sich der Brauch erhalten, daß der Deutsche Kaiser und der Zar
gegenseitig je einen hohen Offizier als Militärbevollmächtigten der
Person des befreundeten Herrschers zuteilten. Dieser deutsche Offizier am
russischen Hofe genoß, ebenso wie der russische General à la
suite am Berliner Hof, eine besondere Vertrauensstellung. Ihre Aufgabe lag
vorzugsweise auf politischem Gebiet; sie [55] sollten den Zustand des Vertrauens, der in ihrer
Stellung begründet war, auf die politische Atmosphäre
übertragen. Für die eigentliche militärische Berichterstattung
kamen sie weniger in Frage, dafür waren die Militärattachés
und der Große Generalstab mit seinen zahlreichen Hilfsorganisationen da.
Was aus allen diesen Nachrichtenquellen im Großen Generalstabe zu Berlin
zusammenströmte, das ergab, trotz aller von den Russen geübten
Täuschungsmanöver und Schönfärberei, ein Bild, in
dem
Freundschaft und Vertrauen immer mehr verblaßten, dagegen das
Bündnis mit Frankreich in immer drohenderen und kräftigeren
Farben zu erkennen war.
Der am 22. August 1891 abgeschlossene
französisch-russische Allianzvertrag war am 7. August 1892 durch eine
Militärkonvention ergänzt worden. Über ihren Inhalt war
bekannt geworden, daß sich Frankreich und Rußland zur
Mobilmachung verpflichteten, sobald eine der Dreibundmächte oder ein
diesen befreundeter Staat mobil machen sollte. Der von den Bolschewisten
später veröffentlichte Wortlaut des Abkommens bestätigt dies
und erweitert es dahin, daß Frankreich und Rußland sich außer
zur Mobilmachung auch zum Aufmarsch an den Grenzen gegenseitig
verpflichteten: "Dans le cas où les forces de la
Triple-Alliance, ou d'une des puissances qui en font partie, viendraient à
se mobiliser, la France et la Russie, à la première annonce de
l'événement, et sans qu'il soit besoin d'un concert
préalable, mobiliseront immédiatement et simultanément
la totalité de leurs forces, et les porteront le plus près possible de
leurs frontières".
Offenbar gingen die Vereinbarungen aber noch weiter. So erwähnt der
Matin in einer von der russischen Presse (11. Juli 1912) wiedergegebenen
Notiz, in der
russisch-französischen Militärkonvention sei ausdrücklich
bestimmt, daß die Chefs der Generalstäbe und der Kriegsmarine an
den Manövern des Verbündeten von Zeit zu Zeit gegenseitig
teilzunehmen hätten. Die Besuche der Generalstabschefs und sonstigen
hohen Offiziere haben denn auch vielfach stattgefunden und sich seit 1911
auffallend gehäuft. 1911 waren der damalige und der frühere Chef
des französischen Generalstabes, Dubail und Laffon de Ladébat, in
Rußland. Im gleichen Jahre nahm Großfürst Boris an den
französischen Manövern teil.
1912 begab sich Poincaré nach Rußland, während Shilinski,
der Chef des russischen Generalstabes, und Fürst Lieven, der Chef des
russischen Marinegeneralstabes, in Paris waren. Hier wurde Anfang August 1912
das
russisch-französische Marineabkommen geschlossen. Noch in demselben
Jahre besichtigte der Großfürst Nicolai Nicolajewitsch mit
großem militärischen Gefolge die Truppen und Befestigungen an der
Ostgrenze Frankreichs, der russische Marineminister Grigorowitsch, der Außenminister Sasonow, der Kriegsminister Suchomlinow erschienen zu
Besprechungen in Paris.
1913 waren Poincaré in London, der russische Ministerpräsident
Kokowzow und General Danilow, Oberquartiermeister im russischen Generalstab,
in Frankreich, der Chef des französischen Admiralstabes Lebris und nach
ihm Joffre mit [56] einer glänzenden Abordnung, bei der sich
allein fünf Generale und sieben Stabsoffiziere befanden, in
Rußland.
Im Jahre 1914, kurz vor Kriegsausbruch, fand der große Besuch
Poincarés in Rußland statt. Wieder betonte die russische Presse die
Festigkeit des Bündnisses, die militärische Überlegenheit
über den Dreibund. "Die Politik des Zurückweichens müsse
nun ein Ende haben."
Die militärischen Vereinbarungen, die bei diesen zahlreichen
Zusammenkünften geschlossen wurden, sind bisher nicht bekannt
geworden. Wohl aber war die Tatsache deutlich erkennbar, daß die
großen Heeresvermehrungen und Rüstungen beider Staaten in den
letzten Jahren vor dem Kriege nicht ohne stärkste gegenseitige
Beeinflussung erfolgt sind, und daß ihre Durchführung auch
gegenseitig überwacht wurde.
Während Rußland bei der Wiedereinführung der
dreijährigen Dienstzeit in Frankreich sehr erheblich beteiligt war,
drückte umgekehrt auch Frankreich auf Rußlands Rüstungen.
Die sehr gut unterrichtete französische Zeitschrift Le Correspondant
schrieb in der zweiten Dezembernummer 1913 anläßlich einer neuen
russischen Anleihe: Frankreich habe seit dem Abschluß des
Bündnisses über 12 Milliarden Franken für russische staatliche
und städtische Anleihen gegeben, sowie 5 Milliarden in industrielle
Anlagen gesteckt. Diese Riesensumme von 17 Milliarden sei gegeben worden in
der Erwartung, daß Rußland als Gegenleistung seine ganze
militärische Kraft für Frankreich einsetzen werde. In den
nächsten Jahren würden noch weitere 2 bis 3 Milliarden kommen,
denn Herr Kokowzow habe hier (Paris) kürzlich die Zulassung von 500
Millionen Eisenbahnanleihe nicht etwa nur für 1914, sondern für
mindestens fünf Jahre erreicht. Nebenbei weiß der Verfasser zu
erzählen, daß die Anregung zu diesen Anleihen nicht von russischer,
sondern von französischer Seite ausgegangen ist. Frankreich habe seine
Bündnispflichten erfüllt, nicht aber Rußland. Rußland
müsse entsprechend den Wünschen des französischen
Generalstabes sein Eisenbahnnetz nach militärischen Gesichtspunkten
vervollständigen.
Nachdem sich die russische Armee von den Folgen des unglücklichen
Krieges gegen Japan und der Revolution wieder erholt hatte, setzten 1909 die
Maßnahmen zur Erhöhung ihrer Schlagfertigkeit ein. Der
Mannschaftsstand der Kompagnien an der Westgrenze wurde von 116 auf 158
Mann erhöht, die Kavallerie und reitende Artillerie fast auf volle
Kriegsstärke gebracht. Die 5½ sibirischen Armeekorps waren seit
dem ostasiatischen Kriege auf annähernd voller Kriegsstärke
geblieben. Es war mithin möglich, sie jederzeit ohne besondere
Vorbereitung auf die Bahn zu setzen und auf den europäischen
Kriegsschauplatz zu befördern. Durch russische Gefangenenaussagen
wurden folgende Zeiten für den Beginn des Abtransports (nicht erst der
Mobilmachung) festgestellt:
2.
sibirische Schützendivision am 1. August 1914,
4.
sibirische Schützendivision am 31. Juli 1914,
[57] 5. sibirische
Schützendivision am 2. August 1914,
7.
sibirische Schützendivision am 31. Juli 1914,
8.
sibirische Schützendivision am 1. August 1914.
Der erste Mobilmachungstag für Deutschland war der 2. August!
Im Jahre 1910 wurde eine große Heeresvorlage bewilligt, die bis zum Jahre
1912 durchgeführt war. Die jährliche Rekrutenzahl von
455 000 war höher als die des deutschen und
österreichisch-ungarischen Heeres zusammengenommen. Die
Friedensstärke betrug damals 48 000 Offiziere und
1 300 000 Mann und übertraf ebenfalls die Gesamtzahl des
deutschen und
österreichisch-ungarischen Heeres. Feldartillerie, Feldhaubitzen und
technische Truppen wurden vermehrt und mit den neuesten Waffen versehen. Der
wesentlichste Vorteil der Heeresorganisation 1910 lag aber darin, daß, unter
Beibehaltung von stark überlegenen Kräften an der Grenze, die
Masse der Stammformationen nach dem Innern verlegt wurde, wo jeder
Truppenteil - ähnlich wie in
Frankreich - seinen Ergänzungsbezirk in unmittelbarer Nähe
hatte. Damit wurde die Bildung einer starken Zentralarmee wirksam vorbereitet. 4
zweigleisige Aufmarschlinien führten an die deutsche Grenze,
während auf deutscher Seite in Ostpreußen nur 2 vorhanden waren. 4
andere zweigleisige Linien standen gegen Galizien zur Verfügung,
während Österreich nur 2 Aufmarschbahnen gegenüber
Rußland hatte. Im Sommer 1912 wurde die bisher in Privatbesitz
befindliche
Warschau - Wiener Bahn vom Staate übernommen. Lediglich
aus militärischen Gründen wurden die Beamten polnischer
Abstammung durch zuverlässige russische Beamte ersetzt und im Jahre
1913 die deutsche Spur in die russische umgebaut. Endlich wurde die Legung des
zweiten Gleises der großen sibirischen Bahn, das für den schnellen
Antransport der sibirischen Armeekorps von außerordentlicher Bedeutung
war, so beschleunigt, daß es zu Anfang 1914 fertig wurde.
Nicht weniger wurde für die Festungen getan. Rings um Ostpreußen
legte sich ein Ring fester Werke, gestützt auf zahlreiche Wasserläufe
und sumpfige Wälder: im Osten, am Njemen,
Kowno - Olita - Grodno, im Südosten, am
Narew,
Ossowjez - Lomsha - Ostrolenka -
Pultusk - Nowogeorgiewsk.
Hier fand die russische Nordwestfront Anschluß an die Weichselfront mit
ihren großen Festungen Warschau und Iwangorod. Das westliche Polen
blieb als Glacis frei. Ebenso entbehrten die an der österreichischen Grenze
gelegenen Landesteile eines unmittelbaren Festungsschutzes. Erst weiter
rückwärts lagen die Festungen
Brest-Litowsk sowie
Luczk - Dubno - Rowno und Chotin.
Trotz aller Rüstungen blieb es aber für das gewaltige Reich stets eine
schwierige Aufgabe, die Millionen seiner Kämpfer frühzeitig an der
Grenze bereitzustellen. Die dem Russen eigene Langsamkeit und sein Hang zur
Untätigkeit sowie die Schwerfälligkeit der Verwaltung vermehrten
noch die Schwierigkeiten und waren ihrer Überwindung sehr hinderlich.
Als im Herbst 1912 die zweite Balkankrise den Weltkrieg zu entzünden
drohte, war es lediglich die mangelhafte [58] Bereitschaft des russischen Heeres, die die
russische Kriegspartei von einem bewaffneten Eingreifen abhielt. Am 11. Januar
1913 berichtete der deutsche Militärattaché von den
Gerüchten einer beabsichtigten Ablösung des Kriegsministers
Suchomlinow, dem die vielen, während der Krise offenbar gewordenen
Mängel und Mißstände im Heerwesen zur Last gelegt wurden.
Suchomlinow ist geblieben; er und seine Gehilfen haben seitdem in
verstärktem Maße und mit Erfolg zum Kriege gerüstet.
Für einen Großstaat wie Rußland waren starke
militärische Rüstungen an sich wohl berechtigt. Ihren bedrohlichen
Charakter bekamen sie jedoch durch eine Reihe von Maßnahmen, deren
schwerwiegende Bedeutung zum Teil erst später durch Erbeutung
russischer Akten klar wurde.
Die in großem Umfang während der letzten Jahre vor dem Kriege
vorgenommenen Probemobilmachungen und noch mehr die sogenannten
Kontrollmobilmachungen1 erlaubten es, einzelne Truppenteile der
russischen Armee unauffällig auf vollen Kriegsfuß zu bringen. Nach
Gefangenenaussagen fanden kurz vor Kriegsausbruch derartige
Kontrollmobilmachungen unter anderem bei folgenden Reserveformationen statt:
Reserve-Infanterie-Regiment 260, 221, 280. Letzteres war bereits am 28. Juli
1914 fertig aufgestellt und wurde an diesem Tage von Kiew nach Cholm
abtransportiert.
Im ganzen Reiche wurden vom Herbst 1912 ab die Truppenstärken
über die Etats wesentlich erhöht. Zu dem Zwecke ergriff man das
sehr bedenkliche Mittel, einen ganzen Jahrgang noch ein halbes Jahr
länger über die gesetzliche Dienstzeit von drei (bei der Kavallerie
vier) Jahren hinaus zurückzubehalten. Im Winter 1912/13 zum ersten Male
angewendet, 1913/14 wiederholt, bot diese Maßnahme das Mittel, im
Winter drei ausgebildete Jahrgänge der Fußtruppen und vier
ausgebildete Jahrgänge der Kavallerie unter den Fahnen zu haben,
während Deutschland infolge der zweijährigen Dienstzeit im Winter
nur über einen ausgebildeten Jahrgang bei den Fußtruppen und
über zwei bei den berittenen verfügte. Ferner zog man im Jahre 1913
insgeheim 50 000 Rekruten mehr als etatsmäßig ein,
veröffentlichte aber amtlich die bisherigen niedrigen Zahlen. Die offiziellen
Friedensstärken standen somit nur auf dem Papier. In Wirklichkeit hatte
Rußland im Winter 1913/14 rund 400 000 Mann mehr, als
öffentlich angegeben, unter den Fahnen. Der erhöhte
Mannschaftsstand wurde auch nach der im Frühjahr 1914 erfolgten
teilweisen Entlassung des alten Jahrgangs dadurch aufrechterhalten, daß die
Zahl der eingezogenen Übungsmannschaften beträchtlich gesteigert
wurde. Ihre Zahl im Jahre 1914 betrug 890 000 Mann, doppelt so viel als
1911. Die in den Monaten
April - Juni 1914 angeblich zu Übungen eingezogenen
Mannschaften wurden bis zum Kriegsausbruch unter den Fahnen [59] zurückbehalten. Die russische Armee
war somit im Sommer 1914 um etwa ½ Million Mann stärker als der
gesetzliche Friedensetat. Der deutsche Generalstab berechnete die Stärke
des russischen Friedensheeres Sommer 1914 auf 1 981 000 Mann.
Ein offiziöser Artikel der Birshewyje Wjedomosti vom 14. Juni
1914 gibt
die Friedensstärke sogar auf 2 320 000 Mann an.
Zu der Vermehrung der aktiven Truppen traten Ankäufe großen Stils
von Pferden, Verpflegungsbeständen und Kriegsmaterial aller Art. Die
Transporte gingen vielfach unter falscher Deklaration (zum Beispiel
Gewehrläufe als Röhren, Geschütze als Maschinenteile und
dergleichen). Am 27. März 1914 erfolgte ein Pferdeausfuhrverbot.
Mitte Juli 1914 wurde eine fast völlige Einstellung der Getreideausfuhr
angeordnet. Das Gold wurde seit 1913 systematisch ins Land und aus dem
öffentlichen Verkehr gezogen. Von den 17 Milliarden, die Frankreich
geliehen, waren 12 Milliarden in staatliche und städtische Anlagen gesteckt,
5 Milliarden der Industrie gegeben worden. Für Eisenbahnbauten wurden
1913 von Frankreich weitere 1½ Milliarden zur Verfügung gestellt.
Die glänzenden Ernten der Jahre 1910, 1911, 1912 und 1913 hatten einen
sehr günstigen Einfluß auf die russischen Finanzen. Anstandslos
bewilligte die Duma alle Mittel für militärische Forderungen. Durch
Gesetz vom 11. (24.) April 1913 wurde dem Kriegsminister das Recht verliehen,
über die für 1913 und 1914 bewilligten Rüstungskredite sofort
zu verfügen. Anfang 1914 wurde der gesamte Bestand des
Kriegsdispositionsfonds, der sogenannte "freie Barbestand der Reichsrentei",
der am 1. Januar 1914 die bisher noch nie verzeichnete Höhe von 1,1
Milliarden erreicht hatte, für Heereszwecke ausgeschüttet. Da er
noch
unmittelbar vorher bei der Etatsberatung für 1914 als ein "unversehrbarer
Schatz für den Kriegsfall" bezeichnet worden ist, bleibt nur die einzig
mögliche Schlußfolgerung, daß schon Anfang 1914 der
Entschluß feststand, in kürzester Frist es zum Kriege kommen zu
lassen.
Die Ausschüttung dieser Milliarden gestattete es, die Kriegsvorbereitungen
weit über das gesetzliche Maß zu steigern. Sie ermöglichte es,
die erst für später angekündigte große Heeresvorlage im
wesentlichen schon jetzt in die Tat umzusetzen. Die Einzelheiten wurden in der
am 17. Februar / 2. März 1913 vom Zaren bestätigten,
geheimen "Verordnung über die Kriegsvorbereitungsperiode" geregelt.
Die "Kriegsvorbereitungsperiode" umfaßte verschiedene Abschnitte, von
denen die ersten bereits im Frühjahr 1914 in Kraft getreten sind. Durch
Geheimbefehl vom 26. Juli 1914 ist dann die "Kriegsvorbereitungsperiode" in
allen ihren Forderungen für ganz Rußland angeordnet und damit das
gesamte aktive Heer des europäischen Rußlands auf Kriegsfuß
gebracht worden. Mit der Armierung der Festungen wurde begonnen, der
Eisenbahnaufmarsch eingeleitet, die Grenzen wurden hermetisch abgeschlossen,
die Grenzgebiete geräumt, der Kriegsnachrichtendienst trat in Kraft.
Trotzdem suchte die russische Politik Deutschland über diese
Maßnahmen zu täuschen.
[60] Deutschland beschränkte sich dieser
Gefahr gegenüber auf ganz vereinzelte Sicherungsmaßnahmen,
unterließ aber, im Bestreben, den Frieden zu erhalten, peinlich jede
Maßnahme, die als Vorbereitung der Mobilmachung hätte gedeutet
werden und daher zu Gegenmaßregeln Veranlassung geben
können.
Am Abend des 29. Juli wurden durch Ukas des Zaren sämtliche
Reservistenjahrgänge für die Militärbezirke Odessa, Kiew,
Moskau und Kasan, sowie für die Flotte und die Kosakenformationen
einberufen. Außerdem wurden in den genannten Militärbezirken die
Pferde und Fahrzeuge ausgehoben. Damit wurden in diesen Gebieten die letzten
Maßnahmen für die Mobilmachung der aktiven Verbände
getroffen, mit der Aufstellung der Reserveformationen wurde begonnen. Ein Blick
auf eine Karte genügt, um die Tragweite dieses Vorgehens zu erkennen.
Zwei Drittel des europäischen Rußlands und die Grenzgebiete
machten mobil, und zwar gerade die Gebiete, wo die Masse der Nationalrussen
ansässig waren, somit auch die überwiegende Masse der
Reserveformationen zur Aufstellung gelangte. Die sibirischen Truppen waren
schon mobil. Eine solche "Teilmobilmachung" richtete sich keineswegs nur gegen
Österreich-Ungarn, sie war vielmehr in nicht minderer Weise die schwerste
Bedrohung Deutschlands.
Diese umfassenden Kriegsvorbereitungen konnten trotz der Absperrung der
Grenze nicht verborgen bleiben. Sie mußten von deutscher Seite
Gegenmaßregeln hervorrufen. Zunächst freilich wurde in
Deutschland nur der Beginn einzelner Armierungsarbeiten in den Festungen
angeordnet, Truppen wurden von den Übungsplätzen
zurückbefördert und Urlauber zurückberufen.
Rußlands Kriegsvorbereitungen hatten am 30. Juli bereits einen solchen
Grad erreicht, daß nunmehr seine Millionenheere unverzüglich an
und über die Grenzen geworfen werden konnten. Schon rollten aus
Innerrußland die mobilen Truppen heran. Jetzt trug die russische Regierung
keine Bedenken mehr, auch offen den Befehl für die allgemeine
Mobilmachung zu erlassen. Der 31. Juli wurde als erster Mobilmachungstag
bestimmt.
Eine Kriegserklärung Rußlands unterblieb jedoch noch. Die
Gründe sind in nachstehendem Dokument (aus einem im Kriege erbeuteten
Geheimprotokoll des russischen Generalstabes vom 8. November 1912)
enthalten:
"Es ist unbedingt erforderlich, daß die
Anordnung, die
Verkündung der Mobilmachung sei auch die Verkündung des
Krieges, geändert wird. Eine solche Anordnung kann zu schweren
Mißverständnissen in den Beziehungen zu denjenigen Mächten
führen, mit denen auf Grund dieser oder jener politischen Umstände
Krieg oder die Eröffnung der Feindseligkeiten wenigstens nicht gleich von
Anfang an beabsichtigt ist. Andererseits kann es sich als vorteilhaft erweisen, den
Aufmarsch zu vollziehen, ohne die Feindseligkeiten zu beginnen, damit dem
Gegner nicht unwiederbringlich die Hoffnung genommen wird, der Krieg
könne noch vermieden werden. Unsere Maßnahmen müssen
hierbei durch [61] diplomatische Scheinverhandlungen maskiert
werden, um die Befürchtung des Gegners möglichst
einzuschläfern.
Wenn solche Maßnahmen die Möglichkeit
geben, einige Tage zu gewinnen, so müssen sie unbedingt ergriffen
werden."
Das Streben, Deutschland von Gegenmaßnahmen abzuhalten, tritt klar
hervor. In der Tat ließ sich nichts Günstigeres für die Entente
und nichts Unheilvolleres für Deutschland denken, als eine
Hinauszögerung des Kriegsbeginns bis zum vollendeten Aufmarsch der
russischen Heere an der deutschen Ostgrenze. Trotzdem zögerte
Deutschland selbst dann noch mit der Mobilmachung, als die russische
Mobilmachung bekannt wurde.
Lediglich der Zustand der drohenden Kriegsgefahr wurde am 31. Juli, 1 Uhr
nachmittags, angeordnet. In dem Bestreben, den Frieden zu erhalten, ging Kaiser
Wilhelm bis zur äußersten Grenze der Sicherheit des Reiches und
ließ Rußland noch eine Frist, um seine militärischen
Maßnahmen einzustellen. Erst als diese Frist verstrichen war, ohne
daß eine Antwort auf die deutsche Anfrage eingegangen war, und als schon
russische Patrouillen und Flugzeuge die Grenzen überschritten, befahl der
Kaiser am 1. August, 5 Uhr nachmittags, die Mobilmachung des gesamten
deutschen Heeres und der Kaiserlichen Marine.
Die russische Kriegspartei war sich bewußt, daß bei einer
planmäßigen Mobilmachung, die im Augenblick des Abbruchs der
diplomatischen Beziehungen begonnen hätte, Rußland wohl
rechtzeitig ausreichende Kräfte zur Verteidigung des Landes bereitstellen
konnte, daß es aber lange Wochen gebraucht hätte, um die zum
Angriff bestimmten Millionenheere an den Grenzen zu versammeln. Ihr
Eingreifen hätte sich also erst nach geraumer Zeit fühlbar machen
können. Damit war aber den Geldgebern an der Seine nicht gedient. Diese
verlangten klipp und klar eine frühzeitige Offensive. Zu dem Zwecke
organisierte Rußland ein ganzes System, um seine Kriegsvorbereitungen im
geheimen zu treffen, so daß sie nicht erkannt würden oder, wenn die
Verheimlichung nicht gelang, wenigstens den Anschein einer Mobilmachung
vermieden. Unter dem Schutz dieser
Täuschungs- und Verschleierungsmanöver hat sich seit Herbst 1912
zweifellos die russische Mobilmachung ganz allmählich vollzogen.
Besonderen Wert legten die russischen Drahtzieher auf die Täuschung im
amtlichen Verkehr. Hierüber berichtet der deutsche
Militärattaché
in einer dem deutschen Generalstab eingereichten Denkschrift:
"Sehr im Gegensatz zu all diesen Verlautbarungen
waren die russischen
Dienststellen (Generalstab und Kriegsminister) im Verkehr mit mir eifrigst
bemüht, alle russischen Kriegsvorbereitungen und
Verstärkungsmaßnahmen als wenig belangvoll, alle darüber
erschienenen Presseangaben als stark übertrieben hinzustellen. Man trieb
jahrelang bewußt und klar ein ständiges
Doppelspiel - nach Frankreich hin und gegen die eigene
Öffentlichkeit mit großen Zahlen [62] zu glänzen und zu
prahlen -, nach Deutschland hin abzuwiegeln, zu leugnen, zu
verkleinern.
So ist es mit allen Maßnahmen der
Heeresvermehrung, der zeitweiligen Erhöhung der Kriegsbereitschaft,
Zurückhaltung der ausgedienten Jahrgänge in den beiden
Winterhalbjahren 1912/13 und 1913/14, der heimlichen Erhöhung der
Rekrutenkontingente und jeder ähnlichen Maßregel
gewesen - ein System der Irreführung bis in die letzten Phasen der
eigentlichen Mobilmachung und des Kriegsausbruchs hinein! Meine Berichte
geben hierfür vielfache Belege.
Man wird vielleicht sagen, daß dies ganz
natürlich sei, daß keine Macht einem fremden
Militärattaché bereitwillig und offen in die Geheimnisse ihrer
Heeresrüstung Einblick gestatte. Das ist gewiß natürlich. Hier
aber handelte es sich stets um bereitwillig erteilte Auskünfte, um
häufig in feierlicher Form abgegebene amtliche Versicherungen, die unter
Hinweis auf die friedlichen Absichten Rußlands und die guten Beziehungen
zwischen den beiden Mächten vertrauensvollen Glauben forderten!
Dieses ganze System - einerseits ständiger
alarmierender Drohungen, andererseits der Geheimhaltung der
Verschleierung - mußte unweigerlich bei uns ernste und steigende
Besorgnis vor der durch die russischen Rüstungen uns drohenden Gefahr
hervorrufen.
Ich habe nicht unterlassen, beim russischen Generalstab
mehrfach warnend darauf hinzuweisen, wie bedenklich dieses System für
die Beziehungen der beiden Länder sei.
Wie berechtigt solche Besorgnis war, hat sich
schließlich gezeigt! Am klarsten ist es aber erst während des Krieges
geworden, als wir durch bisher uns verschlossenes Material Einblick in den vollen
Umfang der frühzeitigen russischen Kriegsvorbereitungen
gewannen."
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