Bd. 1: Der deutsche Landkrieg, Erster Teil:
Vom Kriegsbeginn bis zum Frühjahr 1915
Kapitel 2: Die Kriegsrüstungen zu Lande
(Forts.)
Major Karl Hosse
4. England.
"Der Wert, den England für Frankreich als Verbündeter in einem
europäischen Kriege
hat", - so urteilte der deutsche Generalstab in einer Denkschrift vom Mai
1912 - "beruht in der Hauptsache auf der englischen Flotte. Durch sie
würde Frankreich an der Seeherrschaft in den ihm benachbarten Meeren
teilnehmen und dadurch seine Lage nicht nur zur See, sondern auch zu Lande
wesentlich verbessern. Die überseeische Zufuhr könne den
Franzosen nicht abgeschnitten werden. Sie brauchten keine Kräfte zum
Küstenschutz stehen zu lassen. Die Truppentransporte aus Afrika nach
Frankreich wären gesichert. Italienische Unternehmungen gegen Tunis
kämen nicht in Frage. Die Bedrohung ihrer Küsten könnte die
Italiener von einer Offensive gegen Frankreich abhalten."
"Die englische Flotte wird voraussichtlich sofort nach der Kriegserklärung
oder schon vorher die Feindseligkeiten eröffnen. Sie befand sich Mitte
September 1911 [63] in voller Kriegsbereitschaft. Ihre damalige
Verteilung läßt sich als Aufmarsch bezeichnen."
"England will die Franzosen aber nicht nur zu Wasser, sondern auch zu Lande
unterstützen. Jedenfalls tut es sein möglichstes, um die Franzosen
von dieser Absicht zu überzeugen. An Truppen für eine
Unternehmung auf dem Festland verfügt es bei Ausbruch eines Krieges
allerdings nur über die »reguläre Feldarmee«, die (ohne
Kolonnen und Trains) 132 500 Mann zählt und sich in sechs
Infanterie-Divisionen, eine Kavallerie-Division und eine selbständige
Kavallerie-Brigade gliedert. Ihre Führer sind für den großen
Krieg nicht hinreichend vorgebildet. Die Truppe ist aber ein ebenbürtiger
Gegner. Es wird beabsichtigt, falls die Umstände es zulassen, aus den
Mittelmeer-Garnisonen eine 7. Infanterie-Division für die reguläre
Feldarmee aufzustellen."
Die Entente Cordiale war geboren aus der gemeinsamen Feindschaft gegen
Deutschland. Der Besuch des Königs Eduard VII. im Mai 1903 und seine
Erwiderung durch Loubet im Juli desselben Jahres legten zu ihr den Grundstein.
Im Kolonialabkommen vom 8. April 1904 fand sie ihre erste Festlegung. Welche
Bedeutung dieses Abkommen für Deutschland hatte, zeigte ein Artikel
Clémenceaus in der Dépêche de Toulouse vom 18. November 1904: "Die Stunde der glänzenden Vereinsamung für Wilhelm II. naht."
Am 7. Oktober 1905 brachte der Matin folgende Mitteilungen: "Der
Minister des Äußern, Delcassé, erklärte dem
Ministerrate, daß er von englischer Seite die vorläufige
mündliche Zusage besitze, Frankreich in einem Kriege gegen das
angreifende Deutschland durch Beschlagnahme des
Kaiser-Wilhelm-Kanals und Besetzung von Schleswig-Holstein durch
100 000 Mann beizustehen. Dieses Anerbieten sei später mit dem
Anerbieten schriftlicher Festlegung erneuert worden." Delcassé
mußte zwar damals zurücktreten, gewann aber Kammer und Volk
für seine Absichten, so daß er 1911 wieder in das Ministerium und
zur Macht gelangte. Damit kamen erneut die Verhandlungen in Fluß, in
deren Verfolg die französische Regierung am 19. September 1912
beschloß, sämtliche Schlachtschiffe im Mittelmeer zu vereinigen und
den Schutz der
West- und Nordwestküste Frankreichs der englischen Flotte zu
überlassen.
Stärke und Organisation des englischen Heeres waren bis zum Jahre 1906
lediglich auf einen Kolonialkrieg zugeschnitten. Die Umwandlung des englischen
Heeres von einer Kolonialtruppe in eine modernen Kämpfen gewachsene
Armee erfolgte in erster Linie durch die Reform des Kriegsministers Haldane in
den Jahren 1906 bis 1907; Anfang 1908 war sie annähernd abgeschlossen.
Die Haldanesche Reform gliederte die Armee in sechs mit allem modernen
Gerät und technischen Mitteln ausgerüstete
Infanterie-Divisionen und eine starke Kavallerie-Division nebst den erforderlichen
Armeetruppen. Die
Kavallerie-Division wurde bei der Mobilmachung durch Zuteilung loser
Kavallerieverbände auf ein Kavalleriekorps gebracht. Diese für ein
Eingreifen außerhalb des
Mutter- [64] landes bestimmten Verbände erhielten die
Bezeichnung "Expeditionary Force" (Expeditionskorps).
Die Bildung einer siebenten Division aus Garnisonen des Mittelmeeres war
vorgesehen und vorbereitet. Die Division ist tatsächlich auch sehr bald nach
Kriegsbeginn auf dem westlichen Kriegsschauplatz in die Erscheinung getreten.
Ihr folgten drei weitere Divisionen, die aus den weißen regulären
Truppen Indiens und Südafrikas gebildet wurden.
Die Friedensstärken des englischen Heeres waren höher als die
Kriegsstärken. Das englische Expeditionskorps war also ohne Einziehung
von Reservemannschaften zur sofortigen Überführung auf das
Festland bereit.
Gleichzeitig mit der Reform des aktiven Heeres erfolgte die Bildung einer
Territorial-Armee in einer Sollstärke von 315 000 Mann, die
indessen bis zum Ausbruch des Krieges nicht voll erreicht wurde (am 1. Januar
1914 251 000 Mann). Sie setzte sich aus Freiwilligen zusammen, die sich
im allgemeinen nur zum Dienst in der Heimat für die Verteidigung des
Mutterlandes verpflichteten. Die englische Heeresleitung verfügte hiermit
über eine freilich nur milizartig ausgebildete Mannschaftsreserve, die
schon zu Beginn des Krieges im Etappendienst, für Bahnschutz und
sonstige minder wichtige Aufgaben Verwendung finden konnte.
Eine weitere Vorbereitung für den Festlandkrieg erfuhr das englische Heer
durch die im Jahre 1909 erfolgende Einführung von
Armeemanövern, die nach dem Muster der großen
europäischen Festlandsheere angelegt waren. Auch Territorialtruppen
wurden dazu herangezogen.
An den französischen Armeemanövern nahm alljährlich eine
größere Anzahl höherer englischer Offiziere teil.
Der starke Ausbau der französischen Kanalhäfen deutete darauf hin,
daß alles vorbereitet wurde, um ein schnelles und gesichertes Ausschiffen
des englischen Expeditionskorps westlich der Linie
Dover - Calais zu ermöglichen.
Über Calais äußerte sich der deutsche Admiralstab im
September 1912: "Sehr geräumige Hafenanlagen im Verhältnis zu
geringem Schiffsverkehr. Man gewinnt daher den Eindruck, als ob diese Anlagen
für den Kriegsfall geschaffen sind. Große und zahlreiche
Dampfkräne, viel leere Güterschuppen und freie Plätze zur
Sammlung und Unterbringung von Truppen und Kriegsmaterial."
Der Hafen von Dünkirchen wurde mit großen Kosten (100 Millionen
Franken) ausgebaut und vergrößert, die Kernumwallung auf der
West- und Nordfront niedergelegt und statt dessen vorgeschobene, gepanzerte
Werke gebaut. Das gleiche war für die
Ost- und Südfront beabsichtigt, ebenso sollten bei Bergues, südlich
von Dünkirchen und von diesem durch ein Überschwemmungsgebiet
getrennt, neue Forts angelegt werden. Durch einen Gesetzesentwurf vom 12.
Februar 1912 wurden die neuen Befestigungsanlagen von Dünkirchen und
Bergues als Befestigungen erster Ordnung klassiert, das heißt als solche, die
mit allen
neu- [65] zeitigen Mitteln gegen
belagerungsmäßigen Angriff geschützt und dauernd in Stand
gehalten wurden. Aus den Presseerörterungen über alle diese
Maßnahmen ging zweifelsfrei hervor, daß man diese Vorbereitungen
lediglich traf, um den Engländern einen sicheren Landungsplatz und eine
feste Operationsbasis zu schaffen. Im Jahre 1912 stellten die französischen
Behörden in Lille und anscheinend auch in anderen Orten der
nördlichen Departements Dolmetscher für das englische
Expeditionskorps sicher.
Für eine Verstärkung des englischen stehenden Heeres war das
englische Parlament trotz vielfachen Drängens der französischen
Presse nicht zu haben. Von den verantwortlichen Stellen wurde immer wieder
betont, daß das Entscheidende für Englands Weltmachtstellung seine
Flotte sei, und daß, wenn die Seeherrschaft verloren ginge, auch das
größte Heer eine Niederlage Englands nicht verhindern könne.
Die finanzielle Kraft Englands wurde daher in erster Linie für die Flotte,
erst in zweiter Linie für das Heer angespannt. Trotzdem war das Bestreben
bemerkbar, möglichst viel Kräfte für einen
europäischen Landkrieg bereitzustellen. So wurden die Besatzungen der
ausländischen Stützpunkte wie Malta, Gibraltar, ferner die
Garnisonen von Südafrika verringert. Schließlich wurden die
selbständigen Kolonien (Canada, Australien, Neuseeland,
südafrikanische Union) für die Wehrkraft des Britischen Reiches
herangezogen.
Als Grundsatz einer gemeinsamen Militärpolitik arbeitete sich
allmählich, trotz des Widerstandes der Dominien, der Gedanke heraus,
daß die großen englischen Kolonien sich nicht nur aus eigener
Kraft verteidigen, sondern sich auch gegenseitig, besonders aber das Mutterland,
im Notfall militärisch unterstützen sollten. Diese Erwägungen
bildeten den Hauptgegenstand der in den Jahren 1907, 1909 und 1911
abgehaltenen
Kolonial- und Reichskonferenzen. Die Verhandlungen über diesen Punkt
waren in der Hauptsache geheim. Jedoch wurde schon in der Reichskonferenz von
1909 zum Ausdruck gebracht, daß es erwünscht wäre, wenn
Kanada, Südafrika, Australien und Neuseeland im Bedarfsfall das
Mutterland zusammen mit einer kombinierten Division unterstützen
könnten. Dementsprechend wurde vereinbart, daß im Kriegsfalle die
Kolonialtruppen mit Zustimmung der betreffenden Regierung ganz oder teilweise
zur Reichsverteidigung herangezogen werden könnten. Es erfolgte ferner
die Bildung eines Reichsgeneralstabes in London, der unter voller Wahrung der
militärischen Selbständigkeit der Kolonien alle die Verteidigung des
britischen Weltreichs betreffenden Fragen einheitlich bearbeiten sollte.
Die in den letzten Jahren vor dem Kriege in allen Dominien neu erlassenen
Wehrgesetze beruhten überall auf dem Milizsystem und versuchten
zunächst mit Freiwilligenanwerbung auszukommen, doch stand die
allgemeine Dienstpflicht als Druckmittel im Hintergrunde. Die Bildung der
Milizheere war bei Ausbruch des Krieges überall erst in der Entstehung
begriffen. Doch waren die Vorbereitungen so weit gediehen, daß auf diesen
Unterlagen sowohl Kanada wie auch Australien [66] und Neuseeland im Verlaufe des Krieges in der
Lage waren, mit erheblichen und durchaus ebenbürtigen Streitkräften
in den europäischen Krieg einzugreifen.
Am weitesten war die Organisation zur Unterstützung des Mutterlandes in
Neuseeland gediehen. Nach der Times vom 12. Februar 1912
äußerte der neuseeländische Verteidigungsminister Allen
gelegentlich eines Banketts der "Citizen Defence League" und der "Navy
League": Ein Expeditionskorps sei ein wesentlicher Bestandteil der
Reichsverteidigung. Die Regierung hoffe die Organisation einer derartigen
Streitmacht für Reichszwecke in wenigen Monaten vollendet zu haben.
Das südafrikanische Wehrgesetz vom Jahre 1912 sah ausdrücklich
vor, daß jeder Bürger zwischen dem 17. und dem 60. Lebensjahr in
Kriegszeiten zur persönlichen Dienstleistung bei der Verteidigung der
Union in jedem Teile Südafrikas, innerhalb oder außerhalb des
Uniongebietes verpflichtet sei. Diese Bestimmung hat es England
ermöglicht, den Feldzug in
Deutsch-Südwest- und Deutsch-Ostafrika in der Hauptsache mit Truppen der
Union zu führen und dadurch den europäischen Kriegsschauplatz zu
entlasten.
Aus den englischen Maßnahmen für Heer und Flotte in den letzten
Jahren vor dem Kriege geht hervor, daß die englische Regierung
zielbewußt alles vorbereitet hat, um in einen europäischen Konflikt
mit so starken Kräften wie möglich eingreifen zu können. Im
Verein mit der englischen Politik mußten alle diese Vorbereitungen als
gegen Deutschland gerichtet angesehen werden, denn die englische Politik vor
dem Kriege war ausgesprochen deutschfeindlich. Der Abbruch der Beziehungen
am 4. August 1914 hat dies bestätigt.
Eine weitere Bestätigung gibt das in den Archiven des belgischen
Generalstabes vorgefundene Material, worauf in Abschnitt 5 (Belgien) näher
eingegangen ist. Es beweist, daß insbesondere der Feldzug in Belgien seit
langen Jahren mit peinlichster Genauigkeit vorbereitet war, und daß schon
im Jahre 1906 eingehende Verhandlungen zwischen dem belgischen
Generalstabschef und dem englischen Militärattaché in
Brüssel stattfanden, bei denen Stärke und Zusammensetzung der
englischen Hilfstruppen festgelegt, ihre Eisenbahnüberführung durch
Frankreich nach Belgien, die Ausladung in Belgien, Unterkunft und Verpflegung
bis ins einzelne vereinbart wurden. Im Zusammenhang hiermit verdient eine
Äußerung des Kriegsministers Haldane hervorgehoben zu werden,
die er am 20. Oktober 1911 dem deutschen Militärattaché
gegenüber tat: es verstehe sich von selbst, daß England Frankreich
unterstützen müsse, falls Deutschland diesem den Krieg
erkläre.
Zu dem gleichen Gegenstand machte am 23. April 1912 dem belgischen
Generalstabschef Jungbluth gegenüber der englische
Militärattaché, Oberstleutnant Bridges, die bezeichnende
Bemerkung, die englische Regierung würde auf Grund der letzten
Ereignisse (gemeint ist die Marokkospannung von
1911 - Agadir) ihre Truppen selbst dann in Belgien gelandet haben, wenn
Belgien keine Hilfe verlangt hätte.
[67] Erbeutete, vom englischen Generalstab
gedruckte
Kriegskarten des belgischen Kriegsschauplatzes und ein sehr eingehend
bearbeitetes militärgeographisches Handbuch über Belgien
(Belgium, Road and River Reports prepared by the General Staff, War
Office) erhärten des weiteren, mit welcher Bestimmtheit die englische
Heeresleitung einen Feldzug in Belgien vorbereitete. Auch diese Vorbereitungen
waren nur bei engem Einvernehmen und gegenseitiger Unterstützung der
beiderseitigen Generalstäbe möglich.
5. Belgien.
Das Königreich Belgien war durch den Vertrag der
Großmächte vom 13. November 1831 für dauernd neutral
erklärt worden. Damit übernahmen diese den Schutz der
Neutralität; Belgien selbst aber verpflichtete sich, nur friedliche
Beziehungen mit anderen Mächten zu unterhalten, auf keinen Fall aber
Vereinbarungen einzugehen, die den neutralisierten Staat in einen Krieg
verwickeln könnten.
Trotzdem war die Haltung des Volkes stets mehr oder weniger offen
deutschfeindlich und neigte zu Frankreich und England hin. Die Presse brachte
diese Stimmung unverhohlen zum Ausdruck, und die Politik schlug die gleichen
Bahnen ein. Damit waren auch die Richtung und das Ziel für den Aufbau
der belgischen Wehrmacht festgelegt.
Von dem Gedanken einer zunächst defensiven Kriegführung
ausgehend, hatten die Belgier 1908 Antwerpen zu einem modernen Waffenplatz
erster Ordnung ausgebaut. Schon früher (1887) war nach den Plänen
des bekannten Generals Brialmont der Ausbau der Maaslinie
Lüttich - Huy - Namur erfolgt, die sowohl offensiven
wie defensiven Zwecken dienen konnte.
Nach dem Wehrgesetz von 1909 zählte die Armee im Kriege 180 000
Mann, von denen 100 000 Mann für die Feldarmee, 80 000
Mann für die Festungen bestimmt waren. Im Jahre
1912 - also ein Jahr vor der deutschen
Militärvorlage - schritt Belgien zu einer großen
Heeresreform, die mittels strenger Durchführung der allgemeinen
Wehrpflicht die Armee auf einen Stand im Kriege von 340 000 Mann
bringen sollte. Die mittlere Friedensstärke sollte rund 58 000 Mann
betragen. Die allgemeine Wehrpflicht trat an Stelle des bisherigen Systems
"un fils par famille".
Im Parlament, das sich früher allen Heeresvorlagen gegenüber sehr
spröde gezeigt hatte, wurde diese für Belgien größte
Wehrvorlage angenommen, ohne daß auch nur nach den Kosten gefragt
wurde. Daß sich ihre Spitze gegen Deutschland richtete, war jedem Kenner
Belgiens ebenso klar wie dem belgischen Volke selbst. In der Presse
überbot ein hetzerischer Artikel den anderen, sogar der Film wurde in den
Dienst der antideutschen Stimmungsmache gestellt.
Welche Verhandlungen zwischen Belgien und den verschiedenen Mächten
geführt worden sind, darüber geben die bisherigen
Veröffentlichungen noch lange [68] kein vollständiges Bild. Von deutscher
Seite scheint es über ganz allgemein gehaltene Sondierungen nicht
gekommen zu sein. Anders von französischer und englischer Seite. Einen
interessanten Einblick gewährt ein Bericht des deutschen
Militärattachés über seine Abschiedsaudienz beim belgischen
König (7. Mai 1914):
"Ich habe dem König der Belgier gesagt,
daß in
deutschen
militärischen Kreisen leider mehr, als hoffentlich der Wahrheit
entspräche, mit einer deutschfeindlichen Haltung Belgiens im Kriegsfalle
gerechnet würde, und daß man im besonderen der Ansicht
wäre, daß größere Bahnzerstörungen, auch auf
belgischem Gebiet, bei Beginn eines
deutsch-französischen Krieges als eine feindliche Handlung angesehen
werden müßten.
Der König sagte darauf sehr lebhaft: »Ich
weiß, was Sie mit der sofortigen Bedrohung meinen. Sie sind sehr gut
orientiert. Es ist bestimmt richtig, daß die Franzosen früher einen
Handstreich auf Namur im Moment des Kriegsbeginns geplant haben. Aber ich
weiß auch sicher, daß dieser Plan vor kurzem geändert worden
ist, wie ich vermute, infolge der belgischen Heeresreform. Jetzt spionieren sie
wieder mehr im
Semois-Tal herum, wie wir sehr genau wissen. Ich habe auch sehr gut verstanden,
was mir der General v. Moltke in Potsdam gesagt hat und was Sie mir wiederholen.
Auch ich halte die französische Gefahr für die größte
und mit mir der Adel und die große Mehrheit der klerikalen
Partei.«
Minister de Broqueville sagte bei meinem
Abschiedsbesuche bezüglich der Armeereform: »Wir müssen
schon aus Selbstachtung eine ordentliche Armee haben, damit wir, wenn es sein
muß, über unser eigenes Schicksal wenigstens ein Wort mitreden
können. Ich glaube fest an die ehrlichen Gefühle Deutschlands
Belgien gegenüber. Aber wenn ich der Generalstabschef von Deutschland
oder auch von Frankreich wäre und das strategische Interesse, das Wohl
meines Vaterlandes erforderte es, so würde ich keinen Moment
zögern, neutrales Gebiet zu betreten und mir den Durchmarsch zu
erzwingen (frayer le passage). Das ist so selbstverständlich,
daß ich mich gegebenenfalls (le moment donné) nur
über das Gegenteil wundern würde.«"
In ähnlichem Sinne lauten auch Äußerungen eines sicher sehr
gut unterrichteten Offiziers, des belgischen Militärattachés in Paris,
Major Collon, der sich gegenüber dem deutschen
Militärattaché (Bericht vom 29. August 1913)
folgendermaßen äußerte:
"Die Franzosen suchen
vor der Öffentlichkeit immer den Anschein
zu erwecken, als dächten sie nicht daran, im Kriegsfalle belgisches Gebiet
zu betreten..... Wir Belgier sind aber keineswegs davon überzeugt,
daß diese französische Behauptung zutrifft, sondern rechnen mit der
Möglichkeit, daß beim Ausbruch eines
deutsch-französischen Krieges sofort französische Truppen bei uns
einrücken könnten. Wir wissen, daß die französische
Heeresleitung ernstlich den Plan ins Auge gefaßt hat, zunächst bis an
die Semois vorzugehen."
[69] Daß zwischen französischer und
belgischer Heeresleitung bereits im Frieden bestimmte Vereinbarungen getroffen
waren, geht aus einer Kriegsspielaufgabe der belgischen Kriegsakademie 1913
hervor. Die Aufgabe, als Schlußaufgabe für die Kriegsakademie
gestellt, ist gegen den Willen der belgischen Regierung veröffentlicht
worden. Sie enthält den bezeichnenden Satz: "Der französische
Oberbefehlshaber fordert »gemäß den getroffenen
Abmachungen« das belgische Oberkommando auf, mit ihm zusammen
gegen die deutsche Armee zu operieren."
1913 unternahmen französische Militärflieger und das in Maubeuge
stationierte Luftschiff des öfteren Erkundungsflüge über
belgisches Gebiet. Ein Protest dagegen ist nie erfolgt. Französische
Generalstabsoffiziere machten Erkundungsreisen in Belgien (General Tauflieb,
Oberst Picard, Hauptmann Duchêne und andere).
Die von namhaften belgischen Militärschriftstellern (zum Beispiel General
Ducarne, ehemals belgischer Generalstabschef in Doctrine
stratégique September 1912) geäußerte Auffassung,
daß zwischen dem belgischen und englischen Generalstab Abmachungen
getroffen seien, sind nachträglich durch die im Kriege erbeuteten Akten des
belgischen Generalstabes bestätigt und dahin erweitert worden, daß
auch der französische Generalstab an diesen militärischen
Vereinbarungen und den gemeinsamen Kriegsvorbereitungen Anteil hatte.
Aus diesen Akten, die die Aufschrift Conventions
anglo-belges tragen, ergibt sich folgendes:
Seit dem Jahre 1906 waren von englischen und belgischen
Generalstabsoffizieren - und zwar zunächst General Ducarne und
Oberst
Barnadiston - Besprechungen gepflogen worden, die theoretischen
Charakter haben sollten, tatsächlich aber gegenseitige Fühlungnahme
und Verständigung herbeiführten. Bis zum Jahre 1912 nahmen die
Besprechungen einen immer entschiedeneren Charakter an. Sie führten zu
einem völligen Austausch militärischer Geheimnisse, durch den die
belgische Heeresleitung jeder strategischen Handlungsfreiheit beraubt wurde.
Die gemeinsamen Vorbereitungen fanden ihren Niederschlag in
Eisenbahn-Transportplänen für die in Belgien auszuladende
englische Armee und in gemeinsam bearbeiteten Dienstanweisungen, von denen
nachstehende bekannt geworden sind:
- Maßnahmen für das Eingreifen einer verbündeten
englischen Armee ("dispositions à prendre pour favoriser
l'intervention d'une armée alliée anglaise"),
- Generalstabskarten von Belgien, die im englischen Generalstab
hergestellt und mit englischem Aufdruck versehen waren;
- englische Druckvorschriften über das belgische Wegenetz und die
Belegungsfähigkeit belgischer Ortschaften. Diese Vorschriften konnten in
ihrer Genauigkeit nur mit Hilfe der belgischen Behörden hergestellt
werden,
- vorbereitete Requisitionsformulare für den englischen
Generalstab.
[70] Aus den Fahrplänen und Anweisungen
geht folgendes hervor:
1. Als Landungsplätze für die englische Armee waren 1906 in erster
Linie Calais und Boulogne, daneben Dünkirchen und Cherbourg in
Aussicht genommen. (Später ist Dünkirchen mit großen
Mitteln ausgebaut worden.)
2. Die Stärke des englischen Expeditionskorps war auf zwei Armeekorps
und eine
Kavallerie-Division festgesetzt, was der Ausführung im Jahre 1914
entsprach. Die Kriegsgliederung war vom englischen Generalstab dem belgischen
Generalstab bekanntgegeben.
3. Der Aufmarsch der Engländer sollte sich in Belgien hinter dem rechten
Flügel der belgischen Armee vollziehen. Der Aufmarsch der Belgier war
gegen Osten, also gegen Deutschland, gerichtet.
4. Die Transportstraßen in Frankreich und Belgien waren genau festgelegt,
die Fahrpläne bis ins einzelne für jeden Transport aufgestellt, eine
Arbeit, die nur im engsten Einvernehmen zwischen belgischen, englischen und
französischen
Militär- und Eisenbahnbehörden möglich war.
5. Für die Transporte von Calais und Boulogne war belgisches
Eisenbahnmaterial mit französischen Zugführern vorgesehen. Die
Transporte von Cherbourg sollten mit französischem Material
ausgeführt werden, erhielten aber in Valenciennes belgische Lokomotiven
und belgisches Zugpersonal; doch war auch die Möglichkeit ins Auge
gefaßt, belgisches Eisenbahnmaterial nach Cherbourg zur Verfügung
der Engländer zu schicken. Das Material sollte planmäßig
bereits am 6. Mobilmachungstag, 6 Uhr abends, abgehen und am 8.
Mobilmachungstag 1 Uhr morgens, in Cherbourg zur Verfügung stehen.
Also ein völliges Zusammenarbeiten der belgischen, englischen und
französischen Mobilmachung bereits in den ersten
Mobilmachungstagen.
6. Für die Unterbringung der Engländer auf belgischem Gebiet waren
eingehende Vorbereitungen getroffen. Ausladeorte, Unterkunftsorte,
Märsche, Eintreffszeiten (11. und 12. Mobilmachungstag) waren genau
festgelegt. Die belgischen Behörden waren im Besitz der englischen
Kriegsgliederung und der genauen Kriegsstärken.
Die Engländer waren im Besitz der belgischen
Vorschriften über Kriegsleistungen. Eine belgische königliche Order
war vorbereitet, um den englischen Truppen die gleichen Rechte wie den
belgischen bezüglich der Kriegsleistungen einzuräumen.
7. Die Frage des Oberbefehls war vorbehalten. Eine die Belgier befriedigende
Lösung war anscheinend nicht gefunden. Denn die Anweisung für
die belgischen Truppen und Behörden legt diesen sofort ans Herz, sich ihre
Selbständigkeit zu wahren.
"Pauvre homme au soulogis est Roi!" Das gibt die
belgische Regierung ihren Truppen und ihrem Volke als Stichwort.
8. Die finanzielle Regelung war späterer Auseinandersetzung
vorbehalten.
[71] Diese Vorbereitungen, die nur im engsten
Einvernehmen zwischen Belgiern, Franzosen und Engländern
möglich waren, sprechen für sich selbst: sie bedeuteten
militärisches Bündnis.
Daß gleiche Abmachungen mit England und Deutschland für den Fall
eines französischen Angriffs (siehe Seite 68) getroffen worden seien, ist nicht bekannt.
Neben der Armee bestand in Belgien die garde civique, eine
Bürgerwehr. Ihr gehörten alle Belgier vom 21. bis 40. Lebensjahr an,
soweit sie nicht im regulären Heer dienten.
Die garde civique gliederte sich in die aktive (in den Orten über
10 000 Einwohner und in den Festungen) und in die nichtaktive. Erstere
hatte eine gewisse Ausbildung von einigen Stunden während 30 bis 40
Tagen im ersten Jahre, woran sich in den späteren Jahren noch eine oder die
andere Übung von einigen Stunden oder höchstens fünf Tagen
anschloß. Die Disziplin war schlecht, die Ausbildung mangelhaft, ebenso
die Ausrüstung. Die nichtaktive garde civique erhielt
überhaupt keine Friedensausbildung.
Man rechnete für den Krieg mit einer Gesamtstärke von etwa
160 000 Mann der garde civique.
Tatsächlich wird die Zahl der waffentragenden Belgier viel höher
gewesen sein, da eben sich jeder für berechtigt hielt, im geeigneten
Augenblick eine Waffe zu führen. Da im Jahre 1914 die gesamte garde
civique aufgeboten war, bedeutete dies die Bewaffnung des gesamten
belgischen Volkes ohne militärische Organisation, also die Legalisierung
der Heckenschützen. Die Bürgermeister gaben die Waffen aus und
erteilten auch, wie festgestellt worden ist, Befehle zum Abschießen von
Patrouillen und Meldereitern. Im August 1914 verteidigte die garde
civique St. Trond gegen die 2.
Kavallerie-Division. Als ein Parlamentär vom Divisionsstab im Kraftwagen
vorfuhr, wurde er trotz der großen an der Lanze befestigten Fahne von den
Bürgergardisten mit lebhaftem Feuer empfangen. Der Trompeter fiel, der
Kraftwagenführer wurde schwer verwundet, der Offizier erhielt sechs
Streifschüsse. Als man die Führer der garde civique nach
ihrer Gefangennahme wegen des Schießens auf die weiße Flagge zur
Rede stellte, waren sie hochüberrascht, daß man ihnen daraus einen
Vorwurf machte; sie waren über Kriegsrecht eben in völliger
Unkenntnis.
Die belgische Regierung trifft die schwere Verantwortung, daß sie durch
ihre Maßnahme den ungesetzlichen Volkskrieg hervorgerufen hat.
6. Italien.
Italien war 1883 dem deutsch-österreichischen Bündnis beigetreten.
Der hierdurch entstandene Dreibund vermochte aber nicht, die tiefen
Gegensätze der Volkscharaktere und der politischen Ziele zwischen
Österreich-Ungarn und Italien auszugleichen. Die italienische Irredenta, die
Adriafrage, die Balkanwirren, hielten die Gegensätze offen und
ließen niemals ein Vertrauensverhältnis entstehen.
[72] Der Wert des Bündnisses war daher stets
ein sehr fraglicher. Immerhin war es bei der schwierigen Lage der
Mittelmächte schon ein Gewinn, daß
Österreich-Ungarn nicht von vornherein mit einer Bedrohung seiner
Alpen- und adriatischen Grenze zu rechnen brauchte, sondern zunächst
seine gesamten Streitkräfte für andere Fronten verfügbar hatte.
Ein tiefes Mißtrauen kennzeichnete aber trotzdem schon in der
Vorkriegszeit das Verhältnis der beiderseitigen Heere.
Dagegen gestalteten sich die Beziehungen der deutschen und italienischen
Armeen mehr und mehr freundschaftlich. Die unter dem Generalstabschef Saletta
(bis 1908) gezeigte Zurückhaltung in militärischer Beziehung wich
unter seinem Nachfolger, General Pollio, einer von Jahr zu Jahr zunehmenden
Offenheit und häufiger persönlicher Fühlungnahme. Schon
während der Amtszeit des Generals Saletta waren Vereinbarungen
zwischen den Generalstäben der Dreibundmächte getroffen worden,
nach denen die 3. italienische Armee bei Eintritt des Bündnisfalles an den
Oberrhein überführt werden sollte. Wiewohl man auch im deutschen
Generalstabe große Zweifel an der militärischen Mitwirkung Italiens
hegte, hielt man es dennoch für geboten, die Transporte jährlich
weiter zu bearbeiten, solange die Staatsverträge, die ihnen zugrunde lagen,
zu Recht bestanden. Nach dem Amtsantritt des Generals Pollio als
Generalstabschef glaubte man dann auf Grund seiner unbedingten
Vertrauenswürdigkeit zu der Hoffnung berechtigt zu sein, daß trotz
der
italienisch-österreichischen Gegensätze Italien seinen
Bündnisverpflichtungen loyal nachkommen würde.
Die im Herbst 1912 erfolgte Absage der Transporte aber zeigte erneut die
Unsicherheit einer italienischen Hilfe. 1913 wurden zwar wieder Vereinbarungen
zwischen den Generalstäben getroffen. Es wurde deutscherseits jedoch stets
mit der Wahrscheinlichkeit gerechnet, daß Italien bei Eintritt des casus
foederis versuchen werde, sich seinen Bündnispflichten unter
irgendeinem Vorwande zu entziehen. Als Ergebnis des Dreibundvertrages war
dann lediglich die Rückenfreiheit Österreichs gewonnen.
Bei Berechnung der Streitkräfte, die Italien an der
französisch-italienischen Grenze würde aufstellen können,
mußte berücksichtigt werden, daß in Afrika erhebliche
Streitkräfte gefesselt waren. 1914 betrug die afrikanische Besatzung
60 000 Mann. Diese Kräfte mußten dort bleiben, solange das
Aufflackern kriegerischen Widerstandes im Binnenlande und in den
östlichen Küstengebieten Libyens zu besorgen war.
Die Hilfe, die die Italiener durch Einsatz ihrer Hauptkräfte an der
italienisch-französischen Grenze dem deutschen Heere hätten
bringen können, bestand in erster Linie darin, daß die
französische Hauptarmee durch die zur Sicherung an der Grenze gegen
Italien benötigten Truppen geschwächt wurde. Es handelte sich
hierbei in den Sommermonaten um 125 000 Mann Feldtruppen, im Winter
(November bis April) um 35 000 Mann (Alpenarmee).
[73] Der Ausbau des italienischen Heeres hatte nur
langsam Fortschritt gemacht. Die Schlagfertigkeit des Heimatheeres wurde durch
Abgaben für die Kolonien herabgemindert. Im Sommer 1914 fehlten auf
italienischem Boden an der Durchschnittsfriedensstärke von 275 000
Mann etwa 40 000 Mann.
Von den in den letzten Jahren gesetzlich festgelegten Heeresvermehrungen und
geplanten Besserungen an Ausrüstung und Bewaffnung harrte manches
noch der Durchführung. Die durch den libyschen Feldzug stark gelichteten
Bestände an Munition und Heeresgerät, die spätestens bis zum
Frühjahr 1914 wieder aufgefüllt und erneuert werden sollten, wiesen
noch im Sommer 1914 erhebliche Lücken auf. Die Ausrüstung mit
Maschinengewehren war durchaus ungenügend. Die Artillerie war zum Teil
mit dem 7,5-Zentimeter-Kruppgeschütz,
daneben aber auch noch zu einem
erheblichen Teil mit Stahlgeschützen mit Federsporn versehen. Die in
Angriff genommene Umbewaffnung mit
Deport-Feldgeschützen verzögerte sich erheblich, da die italienische
Industrie mit der Lieferung sehr in Rückstand blieb. Auch die
Gebirgsartillerie war in der Umbewaffnung begriffen. Schwere Artillerie, die
für einen Angriffskrieg gegen die Alpenbefestigungen der
französischen Front unbedingt in großer Zahl nötig gewesen
wäre, fehlte gänzlich. Noch nicht einmal die Kaliberfrage war
entschieden.
Man kann daher das Urteil über die italienische Armee dahin
zusammenfassen, daß Ausrüstung und Ausbildungsgrad nur eine rein
defensive Verwendung gestattete. Zu einem Angriffskrieg gegen moderne Heere
war die italienische Armee zu Beginn des Weltkrieges kaum fähig.
Am unverhülltesten trat die unsichere Stellung Italiens im Dreibund und die
Zuneigung zu Frankreich bei dem Ausbau des Landesverteidigungssystems
zutage. Während Italien sich an der französischen Grenze meist mit
Sperrbefestigungen älterer Bauart und nur einzelnen modernen
Panzerbatterien begnügte, hatte es bis 1912 alle aus Österreich nach
Italien führenden Straßen und Eisenbahnen durch neuzeitige,
ständige Befestigungen gesperrt. 1913 ergänzte Italien diese Sperre
noch dadurch, daß es auch an den aus der Schweiz heranführenden
Verbindungen ständige Befestigungen in Bau nahm und zunächst
(bis 1913) zwei Panzerbatterien bei Tirano (am Ausgang des Brennerpasses, also
zur Abwehr eines österreichischen Einfalls) fertigstellte.
Von den Küstenbefestigungen wurden Venedig, Ancona und Tarent weiter
ausgebaut, Brindisi zu einem modernen Kriegshafen umgestaltet. Dagegen
wurden die Frankreich zunächst gelegenen Befestigungen von Genua 1911
vom größten Teil ausgelassen.
Stärke und Reihenfolge des Ausbaues der Befestigungen vor dem Kriege
mußten Deutschland mithin in der Auffassung bestärken, daß
Italiens Bundgenossenschaft als höchst unsicher einzuschätzen
war.
Die Heeresbudgets von 1910 bis 1913 wiesen nur ganz unbedeutende
Steigerungen auf. Von 1913 an unterblieb jede weitere Erhöhung der
Ausgaben für [74] das Heer, anscheinend im Interesse eines
schnelleren Ausbaues der Flotte. Da die Finanzlage Italiens es erlaubt hatte, aus
eigenen Mitteln die bedeutenden Kosten des libyschen Krieges (bis Ende 1913
etwa 600 Millionen Lire oder etwa 17 Lire auf den Kopf der Bevölkerung)
ohne ausländische Anleihen zu bestreiten, so wäre Italien wohl in der
Lage gewesen, bei gleichzeitig stärkerer Anspannung der Finanzkraft einen
schnelleren Ausbau der Wehrmacht vorzunehmen.
Die deutsche Politik hat nichts Wesentliches getan, um Italiens Wehrmacht in
einer dem Dreibund förderlichen Richtung zu entwickeln.
"Würde Italien", - so heißt es in der Ludendorffschen
Denkschrift des Generalstabes vom Dezember
1912 - "heute noch wie vor 20 Jahren, als gemeinsame Offensive
verabredet wurde, bereit sein, in der damals geplanten energischen Weise an der
Kriegführung teilzunehmen, so würde man der vereinten
deutsch-italienischen Operation einen fast sicheren Erfolg zusprechen
können. Leider ist dies nicht mehr der Fall. Die Hilfe Italiens wird
über die Fesselung verhältnismäßig schwacher
französischer Kräfte gegenüber der Alpengrenze nicht
hinausgehen."
Und die Denkschrift des Generalstabes vom November 1911 weist darauf hin,
daß die Engländer bei der ungeschützten Lage der italienischen
Küsten vom italienischen Standpunkt aus die am meisten zu
fürchtenden Gegner seien. "Es ist daher nicht ausgeschlossen, daß das
Erscheinen eines englischen Geschwaders an der italienischen Küste
genügen würde, die italienische Bündnistreue auf eine
Belastungsprobe zu stellen, der ihre Festigkeit nicht gewachsen ist. Es muß
ferner berücksichtigt werden, daß die Spannung zwischen Italien und
Frankreich, die beim ersten Abschluß des Vertrages und sogar noch unter
dem König Umberto vorhanden war, zur Zeit nicht mehr besteht. Sie hat
einer immer deutlicher sich zeigenden Sympathie zwischen den beiden
romanischen Völkern Platz gemacht und ist abgelöst worden von
einer Spannung zwischen Österreich und Italien, deren Ausbruch in offene
Feindseligkeit von den Regierungen nicht ohne Mühe bisher
zurückgehalten worden ist. Ein inneres Interesse, auf seiten Deutschlands
an einem Kriege gegen Frankreich teilzunehmen, kann bei Italien heute kaum
vorausgesetzt werden, es ist nur noch kontraktlich gebunden. Ein rein
kontraktliches Bündnis zwischen zwei Staaten, das nicht auf gemeinsamen
politischen Zielen beruht, steht aber auf schwachen Füßen. Die
heutige Stellung Italiens im Dreibund muß wohl so charakterisiert werden,
daß es sich weder diesem noch den Ententemächten bedingungslos
hingibt, sondern sich von beiden umwerben läßt."
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