Bd. 1: Der deutsche Landkrieg, Erster Teil:
Vom Kriegsbeginn bis zum Frühjahr 1915
Kapitel 2: Die
Kriegsrüstungen zu Lande (Forts.)
Major Karl Hosse
7. Deutschland.
Im Herzen Europas gelegen, von starken kriegerischen Mächten umgeben,
ohne natürlichen Schutz im Osten und Westen, hatte Deutschland mehr als
irgendein anderer Staat während Jahrhunderten die Kriegsfurie über
seine Lande [75] hereinbrausen sehen. Es war daher kein Wunder,
daß der Selbsterhaltungstrieb zu einem starken Ausbau der Wehrmacht und
einer scharfen Zusammenfassung der Staatsgewalt im
preußisch-deutschen Kaiserreich geführt hatte. Wie die Feinde
über die Berechtigung der deutschen Kriegsrüstung dachten, das hat
Lloyd George selbst in einem Neujahrsartikel 1911 mit den Worten
ausgesprochen: "Die deutsche Armee ist eine Lebensnotwendigkeit nicht nur
für das Reich, sondern auch für die Existenz und
Unabhängigkeit der Nation, da Deutschland von zwei Staaten flankiert ist,
deren jeder eine fast ebenso starke Armee unterhält.
Das Land wurde so oft von Feinden besetzt, überrannt und zerstört,
daß es sich keinen neuen ähnlichen Gefahren aussetzen darf. Wir
dürfen auch nicht vergessen, daß, während wir eine
Überlegenheit von 60 vom Hundert über die Seestreitkräfte
Deutschlands fordern, Deutschland selbst in militärischer Hinsicht nicht
einmal Frankreich gegenüber eine solche Überlegenheit besitzt, und
außerdem hat es doch auch mit Rußland zu rechnen. Deutschland aber
macht keinen Anspruch auf einen
»Zweimächte-Standard«."
Leider hatte Lloyd George nur zu recht. Die Wehrkraft des 67 Millionenvolkes ist
bei weitem nicht so ausgenutzt worden, wie es möglich und notwendig
gewesen wäre. Während Frankreich in den letzten Jahrzehnten etwa
1,5 vom Hundert seiner weißen Bevölkerung unter den Fahnen hatte
und diese Zahl im Jahre 1913 durch die gleichzeitige Einziehung zweier
Rekrutenjahrgänge sogar auf über 2 vom Hundert steigerte, blieb
Deutschland mit der Friedensstärke seines Heeres in den Jahren 1911 und
1912 sogar unter der gesetzlich festgelegten Stärke von 1 vom Hundert.
Frankreichs Jugend leistete also doppelt so viel für die Landesverteidigung
als Deutschlands Jugend. (Vergleiche die auf Seite 46 gegebene
Übersicht der jährlich eingestellten Rekrutenzahlen.) Während
Deutschlands Volkszahl von 1890 (49½ Millionen) bis 1914 (67
Millionen) um etwa 35 vom Hundert wuchs, blieb seine Rekrutenzahl bis 1912
fast unverändert, erst 1913 wurde sie nennenswert erhöht.
Deutschland stellte während der letzten 20 Jahre bis zum Kriegsausbruch
zum Dienst mit der Waffe gerade ebensoviel Rekruten ein als Frankreich mit
39½ Millionen. Da aber letzteres außerdem jährlich
30 000 bis 40 000, später durchschnittlich 20 000 Mann
zum Dienst ohne Waffe aushob und ferner bis zum
Frühjahr 1914 rund 85 000 Farbige und Fremdenlegionäre
unter den Fahnen hatte, gewann Frankreich ein beträchtliches
Übergewicht über das deutsche Heer.
Die gesetzlich festgesetzte Friedensstärke des deutschen Heeres betrug:
1871 |
bis |
1880 |
401 659 |
Mann |
|
ohne Offiziere und
Einjährig-Frei-
willige, aber mit
Unteroffizieren. |
1881 |
" |
1886 |
427 274 |
" |
1887 |
" |
1890 |
468 409 |
" |
1891 |
" |
1893 |
486 983 |
" |
[76]
1894 |
" |
1899 |
479 229 |
" |
|
ohne Offiziere,
Unteroffiziere
und Einjährig-
Freiwillige. |
1900 |
" |
1904 |
495 500 |
" |
1905 |
" |
1910 |
509 839 |
" |
1. April 1911 |
" |
1. April 1912 |
515 321 |
" |
1. April 1912 |
" |
1. Oktober 1913 |
544 211 |
" |
1. Oktober 1913 |
" |
1. Oktober 1914 |
582 224 |
" |
vom 1. Oktober 1914 ab |
640 782 |
" |
Im Sommer 1914 standen insgesamt unter den Fahnen (die für Oktober
1914 beabsichtigten Zahlen sind zur Erläuterung beigefügt):
|
Sommer 1914 |
Oktober 1914 |
Gefreite und Gemeine |
582 224 |
640 782 |
Einjährig-Freiwillige und Volksschullehrer |
16 000 |
17 000 |
Kapitulanten-Unteroffiziere, Gefreite und Gemeine |
115 368 |
116 883 |
|
|
|
713 592 |
774 665 |
Außerdem zum Dienst ohne Waffe |
7 542 |
7 705 |
Zeug- und Feuerwerkspersonal |
4 025 |
4 090 |
|
|
Summe |
725 159 |
786 460 |
Offiziere, Sanitätsoffiziere |
35 749 |
36 306 |
|
|
zusammen |
760 908 |
822 766 |
Der Friedensstand des deutschen Heeres war somit bei Ausbruch des Krieges um
etwa 121 600 Mann geringer als der Friedensstand Frankreichs, um etwa
800 000 Mann geringer als der Friedensstand Rußlands.
(Vergleiche Übersicht Seite 92.)
Das hinderte aber nicht, daß Deutschland von
aller Welt der Vorwurf gemacht wurde, daß es einen Angriffskrieg
vorbereitet habe.
In Wirklichkeit machte sich der geringe Friedensstand sehr nachteilig
fühlbar, besonders im Winter, wo nur ein ausgebildeter Jahrgang
verfügbar war, während Frankreich über zwei, Rußland
über drei Jahrgänge verfügte. Die Grenzschutztruppen waren
für ihre vielseitigen Aufgaben zu schwach, sie bedurften im
Mobilmachungsfall zahlreicher Ergänzungsmannschaften. Zur Aufstellung
dringend notwendiger Formationen (wie Maschinengewehre, Radfahrer,
technische Truppen) fehlten vielfach die Mannschaften, oder ihre Aufstellung
erfolgte auf Kosten der ohnehin schon schwachen
Infanterie-Kompagnien. An der normalen Ausstattung fehlten bei Kriegsausbruch
dem Heere 229 Feldbatterien, 52 schwere Batterien. Die leichten Feldhaubitzen
waren erst in der Einführung begriffen. Im Reichstag wurde um einzelne
Schwadrone gefeilscht, während es sich darum gehandelt hätte, die
Rekrutenzahl, die 20 Jahre lang fast unverändert geblieben war, um
hunderttausend Mann in die Höhe zu setzen.
Selbst die gesetzlich festgelegte Ausbildung der Ersatzreserve, die in
Ermange- [77] lung einer richtigen Ausbildung wenigstens eine
vorbereitende Schulung für den Ernstfall gewesen wäre, unterblieb
in den letzten 20 Jahren vor dem Kriege, da der Reichstag die Mittel
verweigerte.
Was lange Jahre hindurch unterlassen worden ist, das konnte 1912 und 1913 nicht
mehr nachgeholt werden. Hunderttausende waffenfähiger Männer
blieben unausgebildet. Ihre Zahl läßt sich nur schätzen. Nach
dem Loebellschen Jahrbuch 1913 blieben im Jahre 1912 (also nach
Durchführung der kleinen Wehrvorlage 1911) jährlich immer noch
vom Dienst befreit:
Taugliche |
88 234 |
Mann |
minder Taugliche |
137 394 |
" |
|
|
|
225 628 |
Mann. |
Wenn also jährlich so viele kostbare Kraft dem deutschen Heere verloren
ging, so häufte sich der Verlust im Laufe von 20 Jahren auf Millionen. Die
allgemeine Wehrpflicht bestand tatsächlich nicht mehr. Fast die
Hälfte der wehrfähigen Jugend blieb vom Dienst befreit. Selbst wenn
nur die voll Tauglichen zum Dienst herangezogen worden wären, so
hätte Deutschland seine Kriegsstärke zu Beginn des Krieges um etwa
eine Million ausgebildeter Mannschaften erhöhen können. Es
wäre dann statt mit einem Feldheer von zwei Millionen mit einem solchen
von drei Millionen in den Krieg getreten und hätte wenigstens
gegenüber dem Feind im Westen ein entscheidendes Übergewicht
gehabt. Man vergleiche hierzu die Kriegsstärken der einzelnen
Mächte auf Seite
93 und die Verhältnisse des Krieges 1870/71, den
Deutschland mit einer Überlegenheit von 106 Bataillonen, 130 Eskadrons
und 600 Geschützen, d. h. mit einem starken artilleristischen
Übergewicht und mit einer Überlegenheit von 126 000 Mann
Infanterie begann. Im Sommer 1914 standen der deutschen Feldarmee von 2
Millionen Mann etwas mehr als 2 Millionen Franzosen,
31/3 Millionen Russen, 200 000 Belgier
und 150 000 Engländer gegenüber, während
Österreich-Ungarn nur eine Unterstützung von knapp 1½
Millionen (Feldarmee) brachte, die außerdem mit den 285 000
Serben zu rechnen hatte. Überall stand den Waffen der Mittelmächte
eine starke Überlegenheit gegenüber. Für die entscheidenden
Schlachten während der ersten Operationen nützten die
Hunderttausende waffenfähiger Männer, deren Ausbildung im
Frieden unterblieben war, gar nichts. Erst in der Stunde der Gefahr aufgeboten,
bedurften sie monatelanger Ausbildung, ehe sie gegen gut ausgebildete Gegner
wirklich verwendbar waren.
Das Wehrgesetz vom 14. Juni 1912 hatte nur eine geringe Erhöhung
gebracht, es war gänzlich unzureichend. Es ist das persönliche
Verdienst des Generals Ludendorff, damals Abteilungschef im Großen
Generalstab, daß Anfang 1913 eine neue Vorlage eingebracht und
durchgesetzt worden ist. Die von ihm verfaßte Denkschrift des
Generalstabes vom 21. Dezember 1912 forderte neben starken
Etatserhöhungen unter anderem drei Armeekorps, die Stäbe von
mehreren [78] Armeeinspektionen, mehrere
Kavallerie-Regimenter, Ergänzung der Fußartillerie, der
Pionier- und der Verkehrstruppen, namentlich an
Telegraphen-Bataillonen und Funker-Kompagnien, großzügige
Reorganisation und Erweiterung des
Luftschiff- und Flugwesens. Von diesen Forderungen sind erhebliche Abstriche
gemacht worden, so der dringende Wunsch Ludendorffs, daß drei neue
Armeekorps aufgestellt würden. Sie wurden durch die Regierung gar nicht
angefordert. Ludendorff selbst mußte aus dem Generalstabe
ausscheiden.
Das Wehrgesetz vom 3. Juli 1913 war aber doch ein erheblicher Schritt auf dem
Wege zur tatsächlichen Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht.
Das Rekrutenkontingent wurde im Herbst 1913 auf 356 000 Mann
erhöht, so daß die Friedensstärke im Herbst 1913 auf
761 000 stieg und im Herbst 1914, wo wieder ein starker Rekrutenjahrgang
einberufen werden sollte, etwa 823 000 erreichen sollte. Es ist nicht mehr
dazu gekommen, daß das Wehrgesetz von 1913 zur vollen Wirkung
gelangte. Während die große französische Heeresvermehrung
schon im Sommer 1914 Fleisch und Blut war, stand die deutsche
Heeresvermehrung im Sommer 1914 zum größten Teil noch auf dem
Papier. Erst im Sommer 1915 wären zwei starke Jahrgänge
ausgebildet gewesen. Von da ab konnte sich, wenn die starken
Rekrutenjahrgänge im Laufe der Jahre 1915, 1916 usw. ausgebildet und in
die Reserve übergetreten wären, das durch Frankreichs Wehrgesetz
bedrohlich gestaltete Zahlenverhältnis allmählich zugunsten
Deutschlands verschieben; voll wirksam wäre es erst in 20 Jahren
gewesen.
Während somit an dem äußeren Ausbau der deutschen
Wehrmacht erst in letzter Stunde und zu spät entscheidende Arbeit geleistet
wurde, war im Innern der Bau des
preußisch-deutschen Heeres in einer Weise festgefügt, wohl
durchdacht und mit eisernem Fleiß zusammengeschweißt, daß
es mit Recht den Ruf der besten Armee genoß. Seit den Tagen, da der
Große Kurfürst im ungestümen Laufe vom Rhein zum Rhin
zog, um die kriegsgewohnten Schweden zu schlagen, und seit den sieben Jahren,
in denen sich der große König gegen eine Welt von Feinden siegreich
behauptete, seit
Belle-Alliance, Königgrätz und Sedan, war es dem
preußisch-deutschen Heere zur Gewohnheit anerzogen,
Außergewöhnliches zu leisten. Was den Wissenden nicht verborgen
geblieben, das steckte halb unbewußt auch als Gefühl in fast jedem
Offizier und Mann: daß der deutsche Soldat es im Ernstfall mit starker
zahlenmäßiger Überlegenheit zu tun haben würde,
daß er aber auch mit dem Stärkeren fertig werden würde, und
daß er dazu den Feind angreifen müsse, auch wenn dieser
stärker wäre. "Wir werden es schon schaffen", das war die
Überzeugung von Führer und Mann, das war auch der stolze Glaube
des ganzen Volkes, als die glänzenden Regimenter an die Grenze
eilten.
Niemals war freilich auch ein Heer besser geschult. Mag in Einzelheiten an der
einen oder anderen Stelle vielleicht die lange Friedenszeit Formen gezeitigt haben,
die nicht voll den Verhältnissen des Krieges entsprachen, mag auch in
taktischen oder technischen Fragen hier oder da nicht ganz das richtige getroffen
[79] worden sein, das ändert nichts an der
Tatsache, daß die deutsche Armee ein Kriegswerkzeug war, wie es besser
und einheitlicher nicht geschmiedet werden konnte, und daß in ihm eine
Seele lebte, die es zu übermenschlichen Taten befähigte. Dem von
Natur zur Ordnung und Pflichterfüllung neigenden Deutschen gaben die
eiserne militärische Erziehung, der Drill, die Disziplin die einheitliche,
entschlossene Richtung auf ein gemeinsames Ziel, förderten aber zugleich
auch die Entwicklung zu selbstdenkenden und selbsttätigen Menschen. Die
unbedingte Unterordnung, die verlangt und durchgesetzt wurde, dämmte
die dem deutschen Charakter anhaftende Sucht zur Kritik ein. Vor allem aber
lernte der Deutsche in der harten Schule der Armee eine über das
gewöhnliche Maß hinausgehende Auffassung von Pflicht, die es als
selbstverständlich betrachtete, das Höchste zu leisten, Gesundheit
und Leben zu opfern lediglich aus ideellen Gründen, ohne materielle
Entlohnung. Ehrgefühl, Vaterlandsliebe, Treue gegen Kaiser und Reich,
waren für die alte Armee der sittliche Halt, der sie zu einem rocher de
bronze zusammenschloß und sie stärker machte als alles, was um
sie herumflutete.
Dieser Geist war vor allem im Offizierskorps verkörpert. Charakter war das
erste, was bei der Auswahl verlangt wurde, er war das Entscheidende für
das Aufrücken in die Führerstellen. Die Ausbildung war
außerordentlich vielseitig: neben der Erwerbung von Kenntnissen auf den
verschiedensten Gebieten wurde der größte Wert darauf gelegt, die
Entschlußkraft und das Verantwortungsgefühl zu wecken und zu
stärken. Der deutsche Offizier hat geführt, er hat sich nicht treiben
lassen. Dem ausgezeichneten Unteroffizierskorps war die Pflege der Ordnung, die
Genauigkeit im einzelnen, die Kleinarbeit in die Hände gegeben. In den
Großstädten war es oft schwierig, den geeigneten Ersatz zu finden, da
Industrie und Handel lohnendere Aussichten boten.
Die sorgsame Friedensschulung kam besonders der Infanterie zugute. An
Schießfertigkeit erreichte ihn nur der englische Berufssoldat und einige
feindliche Spezialtruppen, wie Alpenjäger und sibirische
Schützenregimenter. Die Marschleistungen der deutschen Infanteristen
wurden nur übertroffen, als Franzosen und Engländer vor ihnen aus
Belgien zurückgingen.
Die technische Überlegenheit besaß die deutsche Infanterie von
Anfang an in den Maschinengewehren, denen weder das französische noch
das russische Maschinengewehr gewachsen war. Ebenso hat sich das
Infanteriegewehr gut bewährt; es war besser als das französische,
erheblich besser als das russische. Jedoch war die Ausstattung mit
Maschinengewehren nicht ausreichend. Erst seit Oktober 1913 waren die aktiven
Infanterie-Regimenter mit je sechs Maschinengewehren ausgestattet; die
Kavallerie-Regimenter hatten keine Maschinengewehre, nur für die
Kavallerie-Divisionen war je eine Maschinengewehr-Abteilung bestimmt. Die
Ausstattung der
Reserve- und Ersatztruppen mit Maschinengewehren war im Rückstand.
Die Landwehrtruppen hatten überhaupt noch keine. Für die
Reserve-Regimenter, die sofort aufgestellt wurden, fehlten Infanteriegewehre des
[80] Modells 1888 und 1904. Sie erhielten das alte
Modell 71/84 und mußten darin erst ausgebildet werden.
In der technischen Ausrüstung wurde viel gespart. Die Reservetruppen
hatten eine ganz unzureichende Ausrüstung an Artillerie,
Nachrichtentruppen, Sanitätsformationen, Kolonnen und Trains. Die
Ersatzdivisionen und Landwehrtruppen waren ohne jegliche derartige
Ausstattung. Die Ausstattung der
Reserve-, Ersatz- und Landwehrtruppen mit Feldküchen war erst in den
Anfangsstadien.
Die deutschen Feldkanonen standen an Reichweite den französischen nach.
Einen Ausgleich schufen die leichten und schweren Feldhaubitzen, die den
Armeekorps einen artilleristischen Ausgleich sicherten. Eine große
Überraschung für Franzosen und Russen waren die schweren und
schwersten Belagerungsgeschütze, die zum großen Teil den
Feldtruppen unmittelbar zu folgen vermochten, jedenfalls sofort überall
dort zur Stelle waren, wo es den Widerstand ständiger Befestigungen zu
brechen galt.
Mit den Anschauungen über Kavallerieverwendung war die deutsche
Heeresausbildung auf dem richtigen Wege. Wenn vor dem Kriege bisweilen
spöttische Kritik an den Kavallerieattacken und Zusammenziehung von
Kavalleriemassen bei den Kaisermanövern geübt wurde, so konnte
dem später entgegengehalten werden, daß bei Beginn des Krieges die
zusammengefaßten
Kavallerie-Divisionen bei der Abwehr der Umfassung des rechten deutschen
Flügels erfolgreich mitgewirkt haben.
Organisation und Ausbildung der Reserveformationen litten unter der falschen
Sparsamkeit. Die Ersatzreservisten
wurden - entgegen den gesetzlichen Bestimmungen - in den letzten
20 Jahren vor dem Kriege überhaupt nicht mehr ausgebildet. An
Reservisten und Landwehrleuten übten:
|
|
In
Deutschland: |
In Frankreich:
|
|
|
1910 |
499 729 |
|
555 258 |
Mann |
|
|
1911 |
522 734 |
|
717 532 |
" |
|
|
1912 |
541 500 |
|
659 440 |
" |
|
In Frankreich haben also mehr geübt als in Deutschland:
|
|
1910 |
55 529 |
Mann |
|
|
|
|
1911 |
194 798 |
" |
|
|
|
|
1912 |
117 940 |
" |
|
|
|
Noch schärfer kommt die Überlegenheit auf
französischer Seite zum Ausdruck, wenn man die Zahl der
Übungstage der
Reservisten vergleicht:
|
|
|
Deutschland: |
Frankreich: |
|
|
1910 |
5 960 780 |
|
8 133 262 |
Übungstage |
|
|
1911 |
6 163 202 |
|
11 085 867 |
" |
|
|
1912 |
6 352 280 |
|
9 706 420 |
" |
|
[81] In Frankreich sind also
mehr geleistet
worden:
|
|
1910 |
2 172 472 |
Übungstage |
|
|
1911 |
4 922 665 |
" |
|
|
1912 |
3 354 140 |
" |
|
In Deutschland übte die große Masse der Reservisten nur 13 oder 14
Tage, in Frankreich dagegen die Mehrzahl 23, und niemand weniger als 17
Tage.
Für die zahlreichen Reserve-, Landwehr- und Ersatzformationen, die im
Ernstfall aufzustellen waren, bestanden bis zum Herbst 1913 überhaupt
keine Stämme, und was 1913 hierfür geschaffen wurde, blieb weit
hinter dem zurück, was Frankreich in seinen cadres
complémentaires besaß. Infolgedessen mußten die aktiven
Truppen bei der Mobilmachung so ungeheuer große Abgaben an Offizieren,
Unteroffizieren, Mannschaften und Pferden machen,
daß - abgesehen von der damit verbundenen Verzögerung und
Erschwerung der
Mobilmachung - der Wert und die Schlagfertigkeit der aktiven
Verbände erheblich litten.
Eine schwere Unterlassung war es, daß der unausgebildete Landsturm, der
weit über eine Million voll Tauglicher und eine noch größere
Zahl minder Taugliche enthielt, überhaupt nicht listisch geführt
wurde. Da seine Einberufung zu Arbeitszwecken in den Grenzgebieten sofort bei
der Mobilmachung, in den übrigen Bezirken nur wenig später
vorgesehen war und auch erfolgte, mußten bei der Mobilmachung
große Schwierigkeiten und Reibungen aller Art entstehen.
Die Ungunst der geographischen Verhältnisse, der Mangel
natürlicher Grenzen und die so wechselvolle Geschichte Deutschlands
haben ihren Stempel auch auf die deutschen Festungen gedrückt. Nur
langsam kam man dem Ziel näher, ein einheitliches
Landesverteidigungssystem zu schaffen, das den allgemeinen, auf den Angriff im
Westen hinzielenden operativen Absichten entsprach. Das stark ausgebaute Metz
mit Diedenhofen diente als Drehpunkt für das deutsche Westheer,
Straßburg mit Feste Kaiser Wilhelm II. bei Mutzig, Neubreisach und die
Oberrheinbefestigungen schützten den schwächeren linken
Flügel und Süddeutschland. Schwächliche Rücksichten
auf die Schweiz hatten aber selbst hier Unvollständiges entstehen lassen.
Als Rückhalt und zugleich als Brückenköpfe waren die zum
Teil erst im Krieg auszubauenden Rheinbefestigungen Wesel, Köln,
Coblenz, Mainz, Germersheim gedacht. Noch weiter im Innern waren Ulm,
Ingolstadt vorgesehen.
Im Osten waren die Festungen größtenteils so angelegt, daß sie
den Uferwechsel über die großen Ströme sicherten, so Posen,
Thorn, Graudenz. Königsberg bildete den Rückhalt für
Ostpreußen, dessen eigentliche Verteidigungslinie in der Seenlinie lag, die
aber aus Mangel an Mitteln nur kümmerlich ausgebaut war. Hier war nur
die kleine Feste Boyen bei Lötzen geschaffen, das einzige Werk, das im
Kriege den Feind vor seinen Wällen sehen sollte. Angesichts der Tatsache,
daß sowohl im Osten Ostpreußen dem verheerenden Einfall der
Russen preisgegeben, [82] wie auch das Oberelsaß und Lothringen
den Einmarsch der Franzosen hat über sich ergehen lassen müssen,
drängt sich die Frage auf, ob nicht das deutsche Festungssystem
Lücken hatte, deren Schließung möglich und
zweckmäßig gewesen wäre. Die Befestigung des Donon in den
Vogesen und die Anlage einer Sperrfortskette südlich davon, hätte
uns, da wir hier doch defensiv bleiben wollten, vielleicht manch teures Blut
erspart. Ob nicht auch im Osten die für die Ernährung
unentbehrlichen Provinzen Ostpreußen, Westpreußen und Posen eines
besseren örtlichen Schutzes bedurft und die Aufgabe der dortigen
Kräfte erleichtert hätten, darüber läßt sich streiten.
Immerhin hat der Verlauf des Krieges denen, die alles Verfügbare dem
Feldheere zuwendeten und auch die vorübergehende Preisgabe deutschen
Bodens mit in Kauf nehmen wollten, auf diesem Kriegsschauplatz recht
gegeben.
Auch die Verteidigung der Küste stand unter dem Zeichen der offensiven
Kriegführung. Die Festungen Wilhelmshaven mit dem vorgelagerten
Helgoland und Kiel waren die Ausfallstore für die Flotte. Der
Kaiser-Wilhelm-Kanal, geschützt durch diese Werke, gestattete der Flotte,
ihre Kräfte von dem einen nach dem anderen Kriegsschauplatz zu
verschieben.
Die Mobilmachung und die Eisenbahntransporte waren an sich glänzend
vorbereitet. Der deutsche Generalstab war sich aber schon im Frieden
bewußt, daß die Überlegenheit, die er bei der Mobilmachung
1866 und 1870 gegenüber den damaligen Gegnern besaß, nicht mehr
zu erreichen war. Im Osten machte der Russe eben schon im Frieden zu drei
Vierteln mobil. Gegenüber den Franzosen mit ihren 15 zweigleisigen
Eisenbahnlinien verfügte Deutschland nur über 12 für den
westlichen Aufmarsch. Sehr nachteilig war die verschiedene Volksdichte; die in
den Großstädten und Industriegebieten zusammengeballten
Menschenmassen mußten ihren oft weit entlegenen Truppenteilen
zugeführt werden, nach Osten dagegen mußten ganze Züge
von Lokomotiven und Leermaterial rollen, um die Lebensmittel für das
Heer im Westen zu holen. Eine gewisse Erschwernis in all diese sich kreuzenden
und störenden Transporte brachten einzelstaatliche Sonderinteressen. So
bedurfte es zum Beispiel besonderer Verhandlungen, bis die Festung
Straßburg ihre Verpflegung aus den benachbarten Baden,
Württemberg und Bayern erhielt, statt wie früher vorgesehen, aus
Preußen. Sehr störend wirkte die Notwendigkeit, die
elsaß-lothringischen und polnischen Mannschaften zum großen Teil
außerhalb ihrer Heimat mobil zu machen und zu verwenden.
Im Gegensatz zu der rein militärischen Mobilmachung war eine
wirtschaftliche Mobilmachung fast gar nicht vorbereitet. Es ist bekannt, daß
die Munitionsausrüstung zu knapp bemessen und daß die
planmäßig vorgesehene Herstellung von Munition und
Kriegsgerät völlig unzulänglich vorbereitet war. Weder waren
die erforderlichen Rohmaterialien beschafft oder sichergestellt, noch war die in
großem Umfang notwendig werdende Umstellung der Industrie auch
[83] nur einigermaßen vorbereitet. Für
die Fabrikation dringend notwendiger Ersatzstoffe wie künstlicher Salpeter,
Stickstoff, Faserstoff, war nichts vorgesehen.
Daß die Ernährung des Heeres und Volkes bei der vorauszusetzenden
Sperrung der Seezufuhren eine wichtige Rolle spielen werde, darauf hatte der
Generalstab mehrfach hingewiesen. Trotz seines wiederholten Drängens ist
die Ernährungsfrage nicht über das Stadium allgemeiner
Erwägungen hinausgekommen. Die Anträge des Generalstabes
fanden in einer Kommission des Reichsamts des Innern ihr Begräbnis. So
verhängnisvoll diese Unterlassungen für Deutschland geworden sind,
so geben sie doch neben den Mängeln der militärischen
Rüstung den schlagendsten Beweis dafür, daß Deutschland
niemals einen Angriffskrieg wollte und vorbereitete, daß die
maßgebendsten Stellen an einen Krieg im Ernst nicht dachten.
Regierung, Volksvertretung und die Gesamtheit des Volkes trifft in gleicher
Weise der Vorwurf, daß sie nicht die Kräfte des Volkes und Landes
so angespannt haben, wie es nötig und möglich gewesen wäre.
Die Regierung hat weder die wohlbegründeten Vorstellungen der
militärischen Stellen noch die von weiten Kreisen des Volkes
geäußerten Befürchtungen genügend beachtet. Aus
Furcht vor dem Reichstag hat sie es unterlassen, die militärischen
Forderungen mit der nötigen Energie durchzusetzen, das Volk von der
Notwendigkeit vermehrter Rüstungen zu überzeugen und die volle
Wehrpflicht für jeden Tauglichen durchzusetzen. Der Widerstand ging aber
keineswegs nur vom Reichstag aus. Weite Teile des Volkes aus allen
Ständen standen dem Heere ablehnend oder offen feindlich
gegenüber. Als in elfter Stunde (am 30. Juni 1913) der Deutsche Reichstag
seine Zustimmung zu der großen Wehrvorlage gegeben hatte, da schrieb
noch die Frankfurter Zeitung am 1. Juli 1913: "Die Geschichte dieser
Militärvorlage ist die Geschichte einer geradezu fabelhaften
Massensuggestion. Es gelang, den Glauben an ungeahnte Gefahren von
unbegrenzter Tragweite zu verbreiten." Solche Urteile, die sich aus einem
großen Teil der deutschen Presse beliebig vermehren ließen, haben
viel dazu beigetragen, den gesunden Sinn des Volkes zu verwirren.
Demgegenüber verhallten die Stimmen der Warner, der nationalen Parteien,
des aufklärenden und werbenden Deutschen Wehrvereins und anderer, die
als Chauvinisten begeifert oder bespöttelt wurden. Für
Hunderttausende war das Heer nur eine Paradetruppe, in der man
größtenteils nur ungern zwei oder ein kostbares Jahr verlor,
während Glücklichere ganz davon befreit blieben und inzwischen
ihrem Erwerb nachgehen konnten. Diese Abkehr vom Heere wurde durch die
verfehlte Wehrpolitik auf das stärkste gefördert, die Hunderttausende
voll waffenfähiger Männer frei ihrem Beruf überließ,
was immer mehr in den Eingezogenen das Gefühl weckte, das schlechte
Los gezogen zu haben. Die damit zusammenhängenden Reklamationen, die
es in Frankreich so gut wie gar nicht gab, hatten schon im Frieden einen
verheerenden Einfluß auf die Moral von Hunderttausenden. Im Kriege
haben sie sich geradezu zu einem Krebsschaden
ausge- [84] wachsen, der Heimat
und Heer verseuchte. Dadurch wurde der Geist der Drückebergerei
künstlich gezüchtet und erhielt seine gesetzliche Rechtfertigung.
Diese Fehler der Vorkriegszeit waren im Kriege nicht mehr gutzumachen. Sie
haben mehr als irgend etwas anderes dazu beigetragen, daß
schließlich die moralische Kraft des Volkes versagte.
Bei Kriegsausbruch war freilich dank der glänzenden Friedensschulung im
Heere und Volk der Geist der Vaterlandsliebe, der Aufopferung und der
Stärke so mächtig, daß das deutsche Heer allen anderen
überlegen war. Dieser Geist befähigte es, gegen eine Welt von
Feinden Unvergleichliches zu leisten.
8.
Österreich-Ungarn.
Die österreichisch-ungarische Armee war neben dem alten Kaiser Franz
Joseph das stärkste Bindemittel der unter dem Doppeladler
zusammengefaßten, aber einander vielfach fremden oder sogar feindlichen
Völker. In erster Linie war das Offizierskorps der Träger des
einigenden Gedankens, der in gemeinsamer Ausbildung und unter gemeinsamer
Führung geweckt und vertieft wurde. Im Heere war
naturgemäß die Überzeugung von der gemeinsamen Gefahr am
lebendigsten und führte unwillkürlich zu einem engeren
Zusammenschluß, als es sonst die auseinanderstrebenden Interesse der
einzelnen Länder zuließen.
Die Zerrissenheit der Doppelmonarchie machte sich freilich auch in der Armee
sehr fühlbar. Hatte doch die Vielsprachigkeit sogar die Preisgabe der
einheitlichen Kommandosprache zur Folge. Die Einheitlichkeit der Organisation
mußte erheblich darunter leiden, daß es neben der gemeinsamen
K. u. K. (Kaiserlich und Königlichen) Armee eine besondere
(k. k.) österreichische Landwehr, eine (k.) ungarische
Landwehr - Honved - sowie
bosnisch-herzegowinische Truppen gab, die alle wieder ihre eigene Organisation,
eigene Ministerien, besondere Mannschaftsstände und verschiedene
Dienstzeiten hatten. Man muß diese schwierigen Verhältnisse
berücksichtigen, wenn man die Leistungen der
österreichisch-ungarischen Wehrmacht betrachtet.
Der Hauptfehler aber lag darin, daß die
österreichisch-ungarische Monarchie ihre Wehrmacht überhaupt
nicht nach der Stärke der Bevölkerung und den Erfordernissen der
drohenden politischen und militärischen Lage ausgestaltete. Ein Blick auf
die in der Übersicht (siehe Seite
46) zusammengestellten Rekrutenzahlen genügt,
um die Rückständigkeit der Rüstungen
Österreich-Ungarns zu erkennen.
Vom Jahre 1889 bis zum Jahre 1912 geschah für die Verstärkung des
k. u. k. gemeinsamen Heeres so gut wie nichts. Nur das
Rekrutenkontingent für die k. u. k. Landwehr wurde
während dieser Zeit um ein geringes erhöht.
Da eine Vermehrung des Rekrutenkontingents für das Heer von den
gesetzgebenden Körperschaften der Doppelmonarchie bis 1912 nicht zu
erlangen war, sah sich die Regierung genötigt, die Mannschaften für
unbedingt notwendige
Neu- [85] aufstellungen an
Artillerie, Maschinengewehrformationen und technischen Truppen den anderen
Waffen zu entnehmen. Dadurch wurden die Friedensstände derartig
herabgemindert, daß bei Kriegsausbruch 1914 das
österreichisch-ungarische Heer einschließlich der Landwehren den
Charakter eines ausgesprochenen Kaderheeres hatte.
Außerdem reichte die Zahl der ausgebildeten Mannschaften des
Beurlaubtenstandes nicht aus, um die Feldformationen erster Linie mit
ausgebildeten Mannschaften auf Kriegsstärke bringen zu können.
Statt deren mußten mangelhaft ausgebildete Ersatzreservisten im Kriegsfall
eingestellt werden.
Die in Österreich und in Ungarn geschaffenen Landwehren
gefährdeten die Einheit der Armee. Infolge kürzerer Dienstzeit, noch
geringerer Stände und ihnen anhaftender organisatorischer
Mängel - so hatte die Landwehr bis zum Jahre 1912 überhaupt
keine
Artillerie - blieben sie dem Heere gegenüber minderwertig. Alle
Versuche des
österreichisch-ungarischen Generalstabes und des Kriegsministeriums, die
Wehrmacht besser auszubauen, scheiterten an den verworrenen innerpolitischen
Verhältnisse und an der Schlaffheit der Regierung. Über die inneren
Kämpfe, in denen leider die bessere Einsicht der militärischen Kreise
die entgegenstehenden Schwierigkeiten nicht überwinden konnte, gaben
insbesondere Äußerungen des hervorragenden Generalstabschefs, Feldmarschall
Conrad v. Hoetzendorf, erschütternden Aufschluß.
Das Gesamtrekrutenkontingent (Heer, Landwehr und bosnische Truppen)
betrug:
1894 bis 1903 |
126 000 Mann |
1904 " 1907 |
130 650 " |
1908 " 1911 |
137 570 " |
Man vergleiche damit die entsprechenden Zahlen des russischen und des
französischen Heeres!
Die Friedensstärke betrug:
1909 |
23 500 Offiziere, 362 376 Unteroffiziere und Mannschaften,
0,77 vom Hundert der Bevölkerung, |
1910 |
23 500 Offiziere, 363 841 Unteroffiziere und Mannschaften,
0,75 vom Hundert der Bevölkerung, |
1911 |
23 500 Offiziere, 361 553 Unteroffiziere und Mannschaften,
0,75 vom Hundert der Bevölkerung. |
Im Juli 1912 wurde endlich nach langwierigen parlamentarischen Kämpfen
und nach mehrfacher Änderung ein neues Wehrgesetz angenommen. Die
Rekrutenzahl wurde derart erhöht, daß
1912 |
175 877 Mann |
1913 |
200 402 " |
[86] eingezogen wurden. Dadurch wuchs die
Friedensstärke bis zum Sommer 1914 auf 436 000 Mann. An Kosten
wurden je 100 Millionen Kronen an einmalige und fortlaufende Ausgaben
bewilligt. Doch erhielt die Armee durch dieses Gesetz bei weitem nicht das, was
sie brauchte, obwohl durch Einführung der zweijährigen Dienstzeit
bei den Fußtruppen und andere Zugeständnisse, besonders nationaler
Art an Ungarn, den Volksvertretungen sehr weit entgegengekommen war. Von
den
vielen dem Heer weiter anhaftenden Übelständen war der
größte, daß es auch jetzt noch bei einer Kompagniestärke
von 92 Mann verblieb. Die Ausstattung an Artillerie blieb gleichfalls gering.
Während der Balkankrise 1912/13 trat die Unzulänglichkeit der
kriegerischen Rüstung so klar zutage, daß Ende 1913 bereits eine
neue Wehrvorlage eingebracht werden mußte, die im März 1914
Gesetz wurde. Diese sah eine Erhöhung des gesamten Rekrutenkontingents
um 31 000 Mann vor. Auch hierdurch hätten die
Kompagniestände nur bei fünf Korps auf 120 Mann gebracht werden
können, bei allen anderen Kompagnien mußte es mit 92 Mann sein
Bewenden haben. Ganze Arbeit sollte jedoch bei der Artillerie gemacht werden,
die von sechs auf zehn Batterien pro
Infanterie-Truppen-Division gebracht werden sollte. An Kosten wurden 236
Millionen Kronen einmalige und 87 Millionen Kronen fortlaufende Ausgaben
bewilligt.
Wirksam für den Krieg ist diese letzte Gesetzesvorlage überhaupt
nicht, die von 1912 nur in sehr geringem Umfang geworden.
Durch keine der beiden Vorlagen waren Mittel für den Ausbau der
Festungen sowie für die Entwicklung des Bahnnetzes vorgesehen. Auf
beiden Gebieten war die Doppelmonarchie äußerst
rückständig.
Die letzten größeren Befestigungsanlagen an der italienischen
Grenze - an den anderen war seit langem nichts Wesentliches
geschehen - stammten aus den 90er Jahren. Nur je 2 zweigleisige
Bahnlinien führten in den mittelgalizischen und den Südtiroler
Aufmarschraum. In Südungarn gab es überhaupt keine zweigleisigen
Bahnen.
Im Jahre 1912 forderten die schwere Balkankrise und die Haltung Serbiens eine
erhöhte militärische Bereitschaft. Es wurden gegenüber
Serbien das XV. und XVI. Korps, die auch in gewöhnlicher Zeit etwas
erhöhte Stände hatten, auf vollen Kriegsstand, die in
Südungarn stehenden IV., VII. und XIII. Korps durch Einziehung eines
Reservejahrgangs und dreier Ersatzreservejahrgänge auf erhöhten
Friedensstand (170 Mann pro Kompagnie) gebracht. Gegenüber
Rußland erhielten später die drei galizischen Korps (I., X., XI.) sowie
im ganzen sechs
Kavallerie-Truppen-Divisionen den erhöhten Friedensstand. Die genannte
Heereskavallerie zog hierzu zwei Jahrgänge der Reserve und
Urlauberpferde ein.
Bei fortschreitender Entspannung der Lage während des Jahres 1913
wurden zunächst bei den
Kavallerie-Truppen-Divisionen und den galizischen, später auch den
serbischen Grenzkorps die Stände wieder verringert. Indessen [87] beließ man diese Korps auf einem gegen
den normalen erhöhten Stand. Dieser betrug 120 Mann pro Kompagnie bei
128
Infanterie- und Jäger-Bataillonen.
Die zur Erhöhung der Kompagniestärke erforderliche Mannschaft
wurde durch Zurückbehaltung von rund 13 000 Mann des Jahrgangs
1911 gewonnen, eine Maßnahme, die das Wehrgesetz von 1912
gestattete.
Österreich-Ungarn hat somit kaum das getan, was es zur Sicherung seiner
militärischen Lage angesichts der allgemeinen politischen Unsicherheit
notwendigerweise tun mußte. Die getroffenen Maßnahmen stellen
Vorsichtsmaßregeln dar; sie kennzeichnen sich als ein Nachholen
schwerster früherer Versäumnisse und können nicht als
Vorbereitung zu einem österreichischerseits gewollten Kriege
aufgefaßt werden.
Gegen Rußland waren 40 österreichisch-ungarische Divisionen
vorgesehen. Der k. u. k. Generalstab rechnete damit, daß
Rußland gegen Österreich und Deutschland wenigstens
58 - wenn nicht beim Hinzutritt zweier kaukasischer Korps
63 - Divisionen und außerdem eine sehr große Zahl
Reserve-Divisionen in erster Linie aufmarschieren lassen würde. Da der
Einsatz deutscher Truppen auf der Ostfront zunächst nur in geringem
Umfange (13 Divisionen einschließlich
Reserve-Divisionen) vorgesehen war, mußte
Österreich-Ungarn auf den Zusammenstoß mit einem erheblich
stärkeren Gegner gefaßt sein.
Der Wert der österreichisch-ungarischen Truppen war nicht einheitlich. In
ihrer Verschiedenartigkeit spiegelten sich die Zerrissenheit des Reiches und die
Gegensätze der einzelnen Volkscharaktere wider. Neben sehr
unzuverlässigen Elementen, zu denen in erster Linie die Tschechen
gehörten, gab es ganz vorzügliche Truppen, wie die Tiroler und
sonstige Alpenländer, die Bosniaken, die Dalmatiner und die Mehrzahl der
ungarischen Regimenter.
Die dem deutschen Heere eigene Straffheit und rücksichtslose Anspannung
aller Kräfte wurde von der k. u. k. Armee nicht erreicht. Es
wurde jedoch fleißig und mit Verständnis gearbeitet. Auf dem
Gebiete
der Technik wurde mancher bemerkenswerte Fortschritt erzielt. Eine
hervorragende Leistung war die Fertigkeit von ganz schweren Geschützen
mit Motorzug, die dem Feldheere zu folgen vermochten.
Da die Regimenter vielfach auf ganz kleine, weit entlegene Garnisonen zersplittert
und da die Friedensstände viel zu niedrig waren, war es
außerordentlich schwierig, die Truppen richtig auszubilden. Hierunter litt
besonders die Infanterie, deren Kompagnien nur 92 Mann zählten, und die
für andere Formationen dauernd Abgaben stellen mußten. Die
Friedensbilder, die sich bei Führer und Truppe festsetzten, waren oft allzu
weit von den großen Verhältnissen eines Krieges entfernt.
Die Offiziere waren in ihrer Mehrzahl sowohl allgemein wie auch
militärisch gut gebildet. Die Erziehung legte den Schwerpunkt mehr auf
Wissen und Kenntnisse, als auf die Stärkung der Willenskraft. Auch beim
Generalstabe überwog [88] die Wertschätzung des Wissens; die
Fühlung mit der Front trat demgegenüber zurück. Einer der
besten Kenner der k. u. k. Armee, der General v. Cramon, faßt
sein Urteil über das Offizierskorps in die treffenden Worte zusammen:
"Man erzog eher pflichttreue Untergebene als selbständige,
kraftbewußte Vorgesetzte; man gewöhnte die Offiziere systematisch
daran, abhängig zu sein und geleitet zu werden."
Trotz alledem war die österreichisch-ungarische Armee im Jahre 1914 eine
glänzende, vortreffliche Truppe. Besonders gut war die Artillerie, die in den
Traditionen von Königgrätz erzogen war. Die Kavallerie war
vorzüglich, ebenso die Gebirgsformationen. Aber aller Fleiß, alle
Mühe und Pflichttreue konnten den Hauptfehler nicht ausgleichen,
daß das Friedensheer viel zu schwach war, als daß es den seiner
harrenden Aufgaben gerecht werden konnte. Bei der Mobilmachung mußte
sich das Friedensheer fast ganz auflösen, um die Kriegsformationen zu
bilden, für die im Frieden keine ausreichenden Stämme vorgesorgt
waren.
Der Beurlaubtenstand war an Zahl zu schwach, seine Ausbildung war
mäßig. Da die Monarchie noch viel weniger als das Deutsche Reich
seine Söhne zur Wehrpflicht herangezogen hatte, waren in den 20 Jahren
vor Kriegsausbruch ebenfalls Hunderttausende unausgebildet geblieben. Bei dem
an sich schwachen aktiven Heer und der geringen Zahl ausgebildeter
Reservemannschaften mußten sich Lücken, die bei Beginn des
Krieges eintraten, doppelt fühlbar machen. Die Hunderttausende
unausgebildeter Mannschaften waren nicht rechtzeitig zu vollwertigen Soldaten
auszubilden.
Mit diesen Nachteilen waren jedoch die verhängnisvollen Folgen der
schwächlichen Wehrpolitik noch nicht erschöpft. Schwerer wog
vielleicht noch die Einbuße, die der Geist und die Moral des ganzen Volkes
dadurch erlitten, daß die Kraft und der Wille des Volkes nicht
genügend auf die Erhaltung des Reiches gerichtet worden waren.
Nachlässigkeit und Schlendrian wirkten verheerend auf den Volkscharakter
und auf das gesamte Staatswesen. Es fehlte im Volke und bei der Regierung der
starke militärische Geist, der
Preußen-Deutschland beherrschte; damit fehlte aber auch die starke
moralische Kraft, die allein dazu befähigen konnte, gegenüber einer
Welt von Feinden zu bestehen.
Die Schuld an der schwächlichen Wehrpolitik trägt natürlich
in erster Linie
Österreich-Ungarn selbst. Aber die deutsche Regierung hat auch ihrerseits
gegenüber der Saumseligkeit des Verbündeten nicht das geringste
getan. Galt es doch bei ihr als höchste Staatsweisheit, sich nicht in die
inneren Verhältnisse der anderen Völker zu mischen. Von diesem
Grundsatz hielten sich Engländer, Franzosen und Rußland sehr weit
entfernt, als sie ihre militärischen Vereinbarungen trafen, als Rußland
die dreijährige Dienstzeit von Frankreich forderte und durchsetzte,
Frankreich den Russen seine Milliarden für den Bau strategischer Bahnen
und für die Reorganisation der russischen Mobilmachung lieh. Deutschland
hat [89] jedenfalls darauf verzichtet, auf die
österreichisch-ungarischen Rüstungen einen nennenswerten
Einfluß auszuüben. So sehr man dies vom deutschen Standpunkt
beklagen und verurteilen muß, so gibt doch auch diese offenkundige und
schwere Versäumnis wiederum den schlüssigsten Beweis
dafür,
daß Deutschland den Krieg nicht gewollt und nicht vorbereitet hat.
9. Zusammenfassung.
Die militärpolitische Lage in den letzten Jahren vor dem Krieg hat der
deutsche Generalstabschef, General v. Moltke, im November 1911 in folgende
Worte zusammengefaßt:
"Scheidet man die Türkei als unbeteiligt,
Italien als unsicher aus den
Erwägungen über die militärpolitische Lage aus, so bleiben als
sichere Faktoren, mit denen zu rechnen ist, nur die vereinigten Streitkräfte
Deutschlands und Österreichs, die einer Koalition Frankreich, England,
Rußland entgegengestellt werden können, und diese Koalition wird
ihre gesamten militärischen Kräfte, ohne durch anderweitige
politische Verwicklungen verhindert zu sein, gegen die verbündeten
Monarchien einsetzen können.
Gewiß entscheiden bei einem Kriege nicht die
numerischen Streitmittel allein. Hier treten Kräfte auf, die sich im Frieden
einer Einschätzung entziehen, da es Kräfte sind, die nicht auf
rechnerischem, sondern auf moralischem Gebiet liegen. Die Wehrhaftigkeit einer
ganzen Nation, Kriegstüchtigkeit, Tapferkeit, Aufopferungsfähigkeit,
Disziplin, Geschicklichkeit der Führung, sind höher zu bewerten als
die tote Zahl. Will man aber das Für und Wider der Aussichten in einem
bevorstehenden Feldzug erwägen, so bildet eine Gegenüberstellung
der beiderseitigen Machtmittel allein eine positive Grundlage. Seit einer Reihe
von Jahren haben sich die Verhältnisse in bezug hierauf wesentlich
zuungunsten der verbündeten Monarchien verschoben."
Bis zum Jahre 1914 hatte sich die Lage weiter verschärft. Der erste
Oberquartiermeister, Graf Waldersee, schreibt im Mai dieses Jahres:
"Wer heute die Weltlage überschaut und aus
den Dingen, die hinter
uns liegen, versucht, ohne sich auf Prophezeihungen einzulassen, sich ein Bild zu
machen, wie es kommen muß, der darf sich dem Gedanken nicht
verschließen, daß das Deutsche Reich, wiewohl es soeben eine
beträchtliche Heeresverstärkung zum Abschluß gebracht hat,
allen Grund zu ernstester Aufmerksamkeit und Anspannung aller seiner
Kräfte hat.
Die Hauptlasten in einem kommenden großen
Kriege liegen auf ihm, auf ihm allein. Unsere Gegner sind nicht Narren genug, um
nicht zu wissen, daß erst die Niederwerfung Deutschlands ihnen freie Bahn
schafft. Die geographische Lage erleichtert den gleichzeitigen Angriff in Front
und Rücken. Daß dieser geplant wird, ist sicher.
[90] Es wird vor der
Geschichte nicht zu verantworten sein, wenn Deutschland nicht alles versucht, um
einer solchen Lage vorzubeugen. Wir kommen daher nicht um die Notwendigkeit
herum, die allgemeine Wehrpflicht ganz durchzuführen.
Frankreich hat sie durchgeführt mit
dreijähriger Dienstzeit, und Rußland mit 3½jähriger
wird 1½ Millionen Mann Friedenspräsenz jetzt erreichen.
Wenn Deutschland für sein Reich und seine Art
jetzt die ihm möglichen Opfer bringt, würden die in heutiger
Generation verantwortlichen Deutschen dem Vorwurf entgehen, aus
Schwächlichkeit des Reiches Zerfall herbeigeführt zu
haben."
Dementsprechend richtete der Generalstab an Reichskanzler und
Kriegsministerium eine Denkschrift, in der folgende Sätze stehen:
"Nach meinem pflichtmäßigen
Ermessen ist es die
höchste Zeit, daß wir jeden wehrfähigen deutschen Mann zum
Waffendienst ausbilden, soll uns nicht dereinst der vernichtende Vorwurf treffen,
nicht alles für die Erhaltung des Deutschen Reiches und der deutschen
Rasse getan zu haben. Denn, daß es sich bei einem Zukunftskriege um Sein
oder Nichtsein des deutschen Volkes handeln wird, darüber kann wohl
ernstlich kein Zweifel mehr bestehen.
Ich möchte nochmals betonen, daß wir nach
meinem pflichtmäßigen Ermessen mit der Durchführung der
allgemeinen Wehrpflicht, d. h. mit der Einstellung sämtlicher
wehrfähigen Deutschen zum Waffendienst, nicht bis zum nächsten
Quinquennat warten können, sondern daß wir möglichst bereits
zum 1. Oktober 1914, spätestens jedoch zum 1. Oktober 1915 mit dieser
Maßnahme beginnen müssen."
Es ist nicht mehr dazu gekommen. Als der Weltkrieg ausbrach, stand vielmehr
eine gewaltige Übermacht den deutschen und
österreichisch-ungarischen Armeen gegenüber.
Die nachstehende Tafel auf Seite 92 und
93 gibt eine auf dem Material des Generalstabes
beruhende Übersicht über die beiderseitigen Streitkräfte zu
Lande.
Wer diese Zahlen liest, kann sich dem erschütternden Ernst, der aus ihnen
spricht, nicht verschließen. Sie beweisen überzeugend, daß die
deutsche Regierung angesichts dieser erdrückenden Übermacht den
Krieg nicht wollte, ihn überhaupt nicht wünschen konnte, am
wenigsten der deutsche Generalstab, der die Stärkeverhältnisse genau
kannte und darum auch ihre Entwicklung mit ernstester Sorge verfolgte. "Als der
Krieg ausbrach," so schrieb der sehr gut unterrichtete Statist am 14. Juli
1917, "da war außerhalb der Mittelmächte niemand vorhanden, der
glaubte, daß wenn der Krieg drei Jahre dauere, die Mittelmächte noch
genug Männer und Geld haben würden, den Krieg fortzusetzen. Je
besser man unterrichtet war, um so völliger war man dessen sicher,
daß bei allgemeiner Wehrpflicht Völker, die es unternahmen, gegen
eine sechsfache Übermacht zu kämpfen,
buch- [91] stäblich
erschöpft sein würden, wenn es ihnen nicht in den ersten paar
Monaten gelungen wäre, ihr Kriegsziel zu erreichen."
Rußland allein war so stark gerüstet, wie die beiden
Mittelmächte zusammen, von denen
Österreich-Ungarn noch die Serben als sehr beachtenswerten Gegner in der
Flanke und die drohende Gefahr des italienischen Verrates im Rücken
hatte, während Deutschland die zahlenmäßig
überlegenen Kräfte Frankreichs, weiter verschärft durch
Belgier und Engländer, sich gegenüber hatte.
Der Zeitpunkt des Kriegsausbruches war für die Mittelmächte
denkbar ungünstig. Das deutsche Wehrgesetz 1913, das nach 20 Jahren des
Stillstandes wieder die Wehrpflicht wenigstens für die Mehrheit
durchführen wollte, stand im Sommer 1914 zum größten Teil
noch auf dem Papier; erst in zwei Jahrzehnten wäre es voll wirksam
geworden. In
Österreich-Ungarn, das noch mehr versäumt hatte, war ebenfalls erst
im Herbst 1912 und Herbst 1913 begonnen worden, die Rekrutenzahl zu
erhöhen. Die neue Wehrvorlage 1914 war noch nicht in Kraft getreten. Also
auch in
Österreich-Ungarn waren die Wehrgesetze in ihren Wirkungen auf lange
Zeit berechnet und hätten nur ganz allmählich die Wehrkraft
verstärkt.
Ganz anders in Frankreich und Rußland. Frankreich hatte seit Jahren
systematisch alle Wehrpflichtigen ausgebildet und mit einem Schlage vom
Oktober 1913 bis Sommer 1914 seine Wehrmacht um ¼ Million
Kämpfer vermehrt, hatte demnach alles, was ein Gewehr tragen konnte, und
eigentlich noch mehr, unter den Fahnen. Die Kräfte des Volkes und des
Staates waren derartig überspannt, daß spätestens im Herbst
1915 - wie in Frankreich, Rußland und Belgien (siehe Seite 54) vorausgesehen
wurde - Frankreich entweder zur zweijährigen Dienstzeit
zurückkehren oder den Revanchegedanken aufgeben mußte.
Rußland hatte seine Kriegsvorbereitungen seit 1912 weit über
dasjenige Maß hinaus gesteigert, das zur Selbsterhaltung gerechtfertigt war.
Unter Täuschung und Verschleierung gegen außen machte
Rußland im Frieden allmählich mobil. Seit Frühjahr 1914
hatten die russischen Mobilmachungsvorbereitungen einen solchen Grad erreicht,
daß sie Deutschland und
Österreich-Ungarn aufs schwerste bedrohten und Rußland einen
für den Kriegsverlauf entscheidenden Vorsprung sicherten. Die angeblich
erst für 1916 festgelegte große Wehrvorlage war durch die im
einzelnen jetzt bekanntgewordenen und geschilderten Maßnahmen bereits
von Herbst 1913 bis Sommer 1914 größtenteils in die Tat umgesetzt
worden. Die allzu offenkundige Betonung des Jahres 1916 gehörte mit zu
den Täuschungsmanövern, die eine der wesentlichsten
Kriegsvorbereitungen Rußlands waren.
Die Enthüllungen des Suchomlinows-Prozesses haben erwiesen, wo die
Kriegstreiber gesessen haben; die eigentümlichen Umstände, unter
welchen Frankreich 1913 zur dreijährigen Dienstzeit zurückkehrte,
zeigen das dadurch erstrebte [92] Ziel. Wenn man das geheime Protokoll des
russischen Generalstabes vom Herbst 1912 (siehe Seite 60/61), die gegenseitige
Beaufsichtigung der Kriegsrüstungen Rußlands und Frankreichs, die
Kriegsvorbereitungsperiode des ersteren, das Dreijahrgesetz des letzteren
zusammenhält, so kommt man notwendigerweise zu dem Ergebnis,
daß etwa im Herbst 1912 zwischen Rußland und Frankreich der
Entschluß vereinbart wurde, innerhalb einer nur auf wenige Jahre
bemessenen [93] Frist den Krieg zum Austrag zu bringen. Ein
genaues Datum dürften die Beteiligten wohl kaum vereinbart haben, das
konnte nur im Einklang mit der politischen Lage und den diplomatischen
Verhandlungen von Fall zu Fall bestimmt werden.
[92] Übersicht über
die Kriegsrüstungen zu Lande
im Sommer 1914. |
Friedensstärken. |
|
|
Kopfzahl
ein-
schließlich
Offiziere |
|
In-
fanterie-,
Jäger- u.
Schützen-
bataillone |
Es-
ka-
drons |
Batterien |
|
|
|
Feld-
und
leichte |
schwere |
Deutschland |
761 000 |
|
669
|
547 |
633
|
210
|
Österreich-Ungarn1 |
436 000 |
|
684
|
353 |
413
|
28
|
|
Summe Zweibund |
1 197 000 |
|
1 353
|
900 |
1 046
|
238
|
|
Frankreich2 |
882 500 3 |
|
673
|
378 |
705
|
148
|
Rußland |
1 581 000
4 |
|
1 344
|
724 |
622
|
24
|
|
Heimat
Mittelmeer
u. Kolonien |
138 500 5
109 500 6 |
|
157
|
93 |
172
|
107
|
Belgien |
61 000 7 |
|
61
|
49 |
87
|
?
|
Serbien |
51 500 |
|
100
|
16 |
45
|
16
|
|
Summe der
Feinde |
2 824 000 |
|
2 335
|
1 260 |
1 631
|
295
+ ? |
|
Bemerkungen:
1Kaiserlich und königliche Armee, österreichische
Landwehr, Honved und bosnische Truppen.
2Einschließlich nordafrikanische Truppen.
3797 000 Franzosen, 85 000 Farbige und
Fremdenlegionäre.
4Nach offiziösen russischen Presseartikeln sogar
2 320 000.
5Nur reguläre weiße Truppen. Außerdem
Territoriale und Milizen.
6Nur reguläre weiße Truppen. Außerdem
151 000
Eingeborenen-Truppen in Indien, 39 000
Eingeborenen-Truppen im Mittelmeer und in den Kolonien.
7Nur reguläre Armee in Belgien. |
|
[93] Übersicht
über
die Kriegsrüstungen zu Lande
im Sommer 1914. |
Kriegsstärken. |
|
|
Gesamt-
Kriegs-
stärke |
Kopf-
stärke
der Feld-
armeen
(Feld- u.
Reserve-
truppen
einschl.
Offiziere) |
In-
fanterie-
Divi-
sionen |
Kaval-
lerie-
Divi-
sionen |
Geschütze |
|
|
der
Feld-
und
reitenden
Batterien |
schwere
Ge-
schütze
des
Feld-
heeres |
Deutschland |
3 900 000 |
2 019 5001 |
|
11 |
3 816 |
1 064 |
Österreich-Ungarn |
2 500 000 |
1 470 0002 |
573 |
11 |
2 370 |
168 |
|
Summe Zweibund |
6 400 000 |
3 489 500 |
142 |
22 |
6 186 |
1 232 |
|
Frankreich |
4 364 000 4 |
2 033 0005 |
75 |
10 |
4 316 |
232 |
Rußland |
etwa
5 000 000 |
3 341 000 |
115 |
25 |
6 812 |
360 |
|
Heimat |
549 000 |
|
6
4 |
|
462
288 |
|
Mittelmeer
u. Kolonien |
109 500 6 |
---- |
---- |
---- |
---- |
---- |
Belgien |
etwa
300 000 8 |
200 0009 |
610 |
1 |
46811 |
24 |
Serbien |
etwa
500 000 |
285 00012 |
10 |
1 |
380 |
50 |
|
Summe der Feinde |
fast 11
Millionen |
6 063 000 |
216 |
39 |
12 726 |
690 |
|
Bemerkungen:
1Feld- und
Reservetruppen und 6 mobile Ersatzdivisionen.
2Feld-, Landwehr- und Honvedtruppen.
3Darunter 14 Marschbrigaden = 7 Divisionen.
4Einschließlich Farbige.
5Nur Feld- und Reservetruppen (Weiße und Farbige) in
Frankreich. Außerdem: 100 000 Mann in Nordafrika, mindestens 12
mobile Territorial- Divisionen in Frankreich.
6Siehe Bemerkung 6 unter
Friedensstärken.
7Mittelmeer-Division und 3 Divisionen aus Indien und
Afrika.
8Die nach dem Gesetz vorgesehene Stärke von
340 000 ist nicht erreicht worden.
9Darunter 50 000 Mann Festungstruppen (aktiv und
Reserve).
10Die belgischen Infanterie-Divisionen (zu 3 bis 4 gemischten
Brigaden) entsprechen etwa den deutschen Armeekorps.
11Die planmäßige Stärke ist nicht erreicht
worden.
12Felddivisionen und Reservedivisionen I.
Ordnung. |
|
Auf Grund der militärischen Kriegsvorbereitungen ist aber der
Schluß berechtigt, daß Frankreich und Rußland den Zeitraum in
Aussicht genommen [94] hatten, in denen die gewaltige, plötzliche
Heeresverstärkung Frankreichs und die geheime Mobilmachung
Rußlands zur vollen Wirkung gekommen waren, und somit die
Übermacht gegen die Mittelmächte zur stärksten Entfaltung
gebracht werden konnte. Das war die Zeit vom Sommer 1914 an bis
spätestens Herbst 1915. Nur innerhalb dieses Zeitraums ließen sich
sowohl das Dreijahrgesetz in Frankreich wie das Geheimnis der russischen
Mobilmachung aufrechterhalten. Den diplomatischen Verhandlungen blieb es
dann vorbehalten, den casus belli so zu formulieren, daß man der
Mithilfe Englands sicher war.
Als im Sommer 1914 diese Voraussetzungen zusammentrafen, da ließen die
Kriegshetzer an der Newa, an der Seine und an der Themse der Kriegsfurie freien
Lauf, die nunmehr hemmungslos über Europa brauste und es über
vier Jahre lang zur Stätte des Todes und der Selbstzerfleischung machte.
|