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Bd. 1: Der deutsche Landkrieg, Erster Teil:
Vom Kriegsbeginn bis zum Frühjahr 1915

Kapitel 1: Die politischen Grundlagen für die Entschlüsse
der Obersten Heeresleitung bei Kriegsbeginn
  (Forts.)

Generalmajor Wilhelm v. Dommes

6. Politische Grundlagen für die Verwendung der Flotte.

Auf Grund des englisch-französischen Flottenabkommens von 1912 war die Masse der französischen Flotte im Mittelmeer versammelt. Den Schutz der französischen Nordküste hatte die englische Flotte übernommen. Es standen sich also im Mittelmeer zunächst Österreicher und Franzosen gegenüber, während die deutsche Flotte in der Nord- und Ostsee die starke englische Flotte und die russische Ostseeflotte als überlegene Gegner hatte.

Eine zahlenmäßige Gegenüberstellung der Seestreitkräfte ergibt nebenstehende [Scriptorium: nachfolgende] Tabelle.

Hauptaufgabe der deutschen Flotte war Gewährleistung der Sicherheit der deutschen Küsten. Die Erfüllung dieser Aufgabe hat die englische Flotte ihr nicht streitig zu machen gewagt. Auf die langgestreckte deutsche Küste von Memel bis zur Ems ist kein Kanonenschuß abgefeuert worden.30 Durch Beherrschung der Ostsee sicherte die Flotte die Zufuhr von Waren aus den nordischen Staaten. Da England angesichts der intakten deutschen Flotte nicht zur engen Blockade übergehen konnte, blieb es - und das ist von besonderer Wichtigkeit - den Niederlanden und den nordischen Staaten möglich, trotz aller englischen Drohungen in ihrer neutralen Haltung zu verharren.

Es war zu erwägen, ob die ersten operativen Ziele der Flotte weiter gesteckt werden konnten.

[35]

Stärkevergleich der Seemächte31
(Nach dem Stande vom Mai 1914.)
Linien-
schiffe
Panzer-
kreuzer
Unter
1 und 2:
Groß-
kampf-
schiffe
Küsten-
panzer-
schiffe
Ge-
schützte
Kreuzer
Große
Tor-
pedo-
boote
Kleine
Tor-
pedo-
boote
U-Boote
1 2 3 4 5 6 7 8
Fertige Schiffe:
England 60     43     29     ---     73     256   33   77    
Frankreich 24     22     1032  ---     12     84   150   55    
Rußland (Baltische und
      Schwarzmeerflotte)
12     6     ---     ---     8     103   22   28    
Zusammen: 96     71    39     ---     93     443   205   160    

Italien

17    

10    

432 

---    

11    

63  

58  

20    

Deutschland

35    

13    

17    

8    

41    

149  

70  

28    
Österreich-Ungarn 15     3     332  ---     9     33   53   6    
Zusammen: 50     16    20     8     50     182   123   34    

Im Bau befindliche Schiffe:
England 16     1     17     ---     21     30   ---   28    
Frankreich 12     ---     12     ---     3     3   ---   20    
Rußland (Baltische und
      Schwarzmeerflotte)
8     4     12     ---     8     40   ---   22    
Zusammen: 36     5    41     ---     32     73   ---   70    

Italien

6    

---    

6    

---    

2    

40  

2  

30    

Deutschland

7    

4    

11    

---    

6    

17  

---  

6    
Österreich-Ungarn 5     ---     5     ---     5     25   ---   6    
Zusammen: 12     4    16     ---     11     42   ---   12    


[36] Trotz der erheblichen zahlenmäßigen Unterlegenheit sprachen politische Rücksichten für den Angriff. Der Eindruck eines Seesieges über die englische Flotte auf Freund und Feind war kaum hoch genug einzuschätzen. Die Vorbedingungen für ihn schienen nicht ungünstig. Man konnte sogar hoffen, daß in den ersten Kriegstagen das Zahlenverhältnis sich ein wenig zugunsten Deutschlands ausgleichen werde, weil Teile der englischen Flotte zur Deckung der Truppentransporte nach dem Festlande benötigt wurden. Natürlich konnte es sich nicht darum handeln, unter allen Umständen und an jedem Orte anzugreifen. Die Initiative mußte man sich aber wahren, sonst lief man die größere Gefahr, nämlich die, unter Bedingungen, die man nicht wünschte, zur Schlacht gezwungen zu werden.

Es ist bezeichnend für die hohe Einschätzung der deutschen Flotte seitens der Engländer, daß diese es nicht versucht haben, die Schlacht herbeizuführen.

Bei Ausbruch des Krieges war allerdings zu bedenken, daß die englische Flotte nach ihrer "Probemobilmachung" nicht wieder demobilisiert worden und daher kriegsbereit versammelt war. Die deutsche Flotte war dagegen, um ja nicht der Kriegsvorbereitungen verdächtigt werden zu können, nach Rückkehr aus den nordlichen Gewässern auf die Ost- und Nordseestationen verteilt. Sie mußte unter ungünstigen Verhältnissen erst wieder zusammengezogen werden.

Auf Grund aller Erwägungen kam die deutsche Seekriegsleitung zu dem Entschluß, den Chef der Nordseeflotte anzuweisen, gegen England sich vorläufig auf den Kleinkrieg zu beschränken, bis eine solche Schwächung des Gegners erzielt sei, daß man zum Angriff übergehen könne. Eine gute Aussicht auf Erfolg sollte natürlich ausgenutzt werden.

Eine solche hat sich leider nicht geboten. Ebensowenig ist die Hoffnung der deutschen Flotte Wirklichkeit geworden, daß die Engländer angreifen würden und es demzufolge zu einer Schlacht in den deutschen Gewässern kommen müsse. Das Ergebnis der Skagerrakschlacht läßt den Schluß zu, daß die in sorgfältiger Friedensarbeit geschulte, vortrefflich ausgerüstete deutsche Flotte die Probe bestanden haben würde.


7. Die deutschen Kolonien.

Seit das Deutsche Reich Kolonien gründete, war man sich darüber klar, daß ihre unmittelbare Verteidigung im Kriegsfalle nicht möglich war. Sie mußten auf sich selbst angewiesen bleiben. Die Entscheidung über die Kolonien konnte nur auf dem europäischen Kriegsschauplatz fallen.

Für die afrikanischen Kolonien glaubte die deutsche Regierung auf das Inkrafttreten der Kongo-Akte vom 26. Februar 1885 rechnen zu können. Nach ihr sollten die Kolonien der beteiligten Mächte (darunter Deutschland, England, Frankreich, Belgien) "für die Dauer des Krieges den Gesetzen der Neutralität unterstellt und so betrachtet werden, als ob sie einem nicht kriegführenden Staate angehörten." Auf Grund dieser Annahme drahtete das Reichs-Kolonialamt den [37] afrikanischen Kolonien, daß sie sich außer Kriegsgefahr befänden. England sowie später Frankreich und Belgien hielten sich jedoch an das Abkommen nicht gebunden.

Den Kolonien standen schwere Zeiten bevor. Die Heimat konnte ihren Kämpfen nur zusehen. Ihre Lage mußte um so schwieriger werden, als sie nach Unterbrechung der Kabelverbindungen von der Heimat gänzlich abgeschnitten waren.

Wie glänzend unter den widrigsten Umständen das Deutschtum in den Kolonien sich bewährt hat, soll auch hier hervorgehoben werden. (S. Band 4, Kolonialkrieg.)


8. Einfluß der politischen Rücksichten auf die operativen Entschlüsse bis Frühjahr 1915.

Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, daß die deutschen Land- und Seestreitkräfte, die 1914 ins Feld zogen, die besten der Welt waren. Die mächtige Kriegsmaschine, von Preußens Königen geschaffen, war in ernster Friedensarbeit auf das sorgfältigste ausgebildet. Der Geist, der alle - vom Armeeführer bis zum letzten Trainsoldaten - durchglühte, war unvergleichlich. Er hatte seine Wurzel in der Heimat, die durchdrungen davon war, daß es sich in dem freventlich aufgezwungenen Kriege um nichts Geringeres handelte, als um Sein oder Nichtsein des deutschen Volkes. Dieses gesunde vaterländische Empfinden war so stark und so elementar, daß die sozialdemokratischen Führer nicht wagten, sich ihm entgegenzustellen, sondern es für gut hielten, mit dem Strome zu schwimmen. Mit diesem Instrument konnte die Oberste Heeresleitung das Höchste wagen.

Die Operationen selbst werden an anderer Stelle behandelt. Hier soll versucht werden, den Einfluß zu kennzeichnen, den politische Erwägungen des ersten Halbjahres des Krieges auf sie gehabt haben.


Westlicher Kriegsschauplatz.

Die deutschen Anfangsoperationen nahmen den geplanten Verlauf. Die Heranführung der englischen Expeditionsarmee an den französischen linken Heeresflügel vereinfachte die deutsche Führung. Das Ausweichen der belgischen Armee nach Antwerpen und das Festsetzen dort, unterstützt von britischen Kräften, bedeutete für sie in gewisser Weise eine Erschwerung, war aber keine Überraschung. Aus der ursprünglichen Absicht des Vormarsches mit starkem rechten Flügel um den Drehpunkt Metz bildete sich bald der Versuch doppelseitiger Umfassung heraus, rechts an Paris vorbei, links über Meurthe, obere Mosel und Maas. Da der linke Heeresflügel diese starken Abschnitte nicht zu überwinden vermochte, konnten die Franzosen erhebliche Teile ihres rechten Flügels mit der Eisenbahn nach Paris [38] führen. Von dort griffen sie den rechten Flügel des deutschen Heeres an, das durch die Auswirkungen der 20tägigen Märsche und Kämpfe, durch die Abbeförderung zweier Armeekorps nach dem Osten und durch Abzweigung des Angriffskorps auf Antwerpen geschwächt war. Es kam zu dem schweren Ringen an der Marne.

Trotzdem es gelungen war, in harten Kämpfen alle Angriffe abzuweisen, traten gegen der Willen der Obersten Heeresleitung die Armeen des rechten Flügels den Rückzug hinter die Aisne an. Dadurch war die Lage der in der Mitte kämpfenden Armeen, die in weit vorspringendem Bogen bis Fère Champenoise - Vitry-le-François standen, unhaltbar geworden. Die Oberste Heeresleitung mußte auch sie zurücknehmen.

Mitte September stand das deutsche Westheer mit der Masse in der allgemeinen Linie Noyon - Reims - Pont-à-Mousson. Die Oberste Heeresleitung mußte sich entscheiden, ob die Armeen ihren Rückzug weiter fortsetzen sollten, um durch Lösung der unmittelbaren Gefechtsberührung mit dem Feinde wieder völlige Operationsfreiheit zu gewinnen. Die Notwendigkeit für jede der beiden Heeresleitungen, durch Umfassung des feindlichen Westflügels die Entscheidung zu erzwingen, lag klar zutage. Für die Franzosen war es das am nächsten liegende Mittel, den Feind aus Frankreich zu vertreiben. Für die Deutschen bedeutete es die Wiederaufnahme und Durchführung des ursprünglichen Operationsplanes. Beide Aufgaben - das Ansetzen eigener und die Abwehr feindlicher Umfassungsbewegungen - wären bei weiterer Zurücknahme der Front deutscherseits nicht leichter zu lösen gewesen. Durch eine solche Zurücknahme würde die deutsche Heeresleitung aber auch die Möglichkeit aus der Hand gegeben haben, sich der französischen Nordseehäfen zu bemächtigen. Das durfte sie nicht. Wäre es den Deutschen gelungen, sich in den Besitz von Dünkirchen, Calais und Boulogne zu setzen, so hätte nicht nur die Verbindung zwischen England und Frankreich und damit die gemeinsame Kriegführung eine große Erschwerung erfahren; Deutschland hätte außerdem eine Flottenbasis gewonnen, die seiner Seekriegführung glänzende Aussichten eröffnete.

Gegen ein weiteres Zurückverlegen der Front fiel aber vor allem der Eindruck ins Gewicht, der von einem erneuten Zurückgehen beim Feinde, in der Heimat und bei den Neutralen erwartet und nach den nach der Marneschlacht soeben gemachten Erfahrungen sehr ernst veranschlagt werden mußte. Es erschien sogar fraglich, ob man in einer solchen Lage mit der Aufrechterhaltung der holländischen Neutralität unbedingt würde rechnen können. Auch war die moralische Wirkung auf den österreichisch-ungarischen Bundesgenossen zu berücksichtigen, der dringend Hilfe forderte.

Die deutsche Heeresleitung entschloß sich daher, in der erreichten Linie haltzumachen und den etwaigen Angriff der Franzosen und Engländer anzunehmen. Hierzu zog sie weitere Kräfte des linken Flügels aus Lothringen heran und führte sie aus der Gegend von St. Quentin sowie weiter nördlich über Lille nach Westen [39] vor. In harten Kämpfen gelang es Ende September/Anfang Oktober die feindlichen Umfassungsversuche abzuwehren; aber es gelang nicht, die eigenen zu verwirklichen. Mitte Oktober drohte die Lage wieder kritisch zu werden, als die Franzosen und Engländer mit namhaften Kräften gegen die Yser vorrückten. Hätten die Deutschen statt des erhofften Gewinns der französischen Nordseehäfen die belgischen verloren, so würde das für die ganze weitere Kriegführung die schwerwiegendsten Folgen gehabt haben. Abgesehen von allen anderen Nachteilen wäre zum Beispiel im weiteren Verlauf des Krieges ohne den Besitz der flandrischen Häfen der als Antwort auf die Hungerblockade in Vorbereitung befindliche Einsatz von Unterseebooten und Flugzeugen nicht möglich gewesen.

Es wurde daher eine zum großen Teil aus Neuformationen gebildete Armee gegen den Raum zwischen Küste und Menin vorgeführt. Nachdem es ihr in langen schweren Kämpfen gelungen war, den Feind fast überall an und über die Yser zurückzuwerfen, verhinderten Überschwemmungen, die die Belgier im Küstenstrich anlegten, die Ausnützung der schon errungene Erfolge. Die Hoffnung, eine große operative Entscheidung herbeiführen zu können, erfüllte sich nicht. Man mußte sich damit begnügen, den Feind abgewehrt und eine feste Verbindung zwischen der Küste und dem bisherigen rechten Flügel geschaffen zu haben. Die deutsche Westfront war damit von der flandrischen Küste bis zur Schweiz sicher festgelegt, aber gleichzeitig erstarrt.


Östlicher Kriegsschauplatz.

Auf dem östlichen Kriegsschauplatz hatte nach anfänglichen Mißerfolgen gegenüber stark überlegenen russischen Streitkräften in der Gegend von Gumbinnen, General v. Hindenburg mit seinem Generalstabschef General Ludendorff Ende August 1914 den glänzenden Sieg bei Tannenberg erstritten. Kurz darauf hatte er in der Schlacht an den Masurischen Seen die russische Njemen-Armee geschlagen. Nur am äußersten Rande Ostpreußens hielten die Russen sich noch.

Weniger erfreulich hatte sich die Lage beim österreichisch-ungarischen Heere entwickelt. Sofort bei Kriegsbeginn war die Unzulänglichkeit der österreichisch-ungarischen Rüstungen zutage getreten. Mangel an Waffen und Munition hatte sich geltend gemacht; ihm hatte deutscherseits sogleich abgeholfen werden können. Auf dem galizischen Kriegsschauplatz hatte sich das österreichisch-ungarische Heer nach anfänglichen Angriffserfolgen in Polen in den Schlachten um Lemberg Ende August und Anfang September gegen die fast um das Doppelte überlegenen Russen (rund 367 000 Österreicher und Ungarn gegen 652 000 Russen)33 tapfer gewehrt. Schließlich war es der Übermacht erlegen. Mitte September mußte es sogar den San-Abschnitt, hinter dem es gehofft hatte, sich halten zu können, räumen. Drängten die Russen scharf nach, so konnte die Lage [40] kritisch werden. Es entstand die Gefahr nicht nur, daß weitere erhebliche Teile der Donaumonarchie erobert, nicht nur, daß Oberschlesien mit seinen für Deutschland unersetzlichen Hilfsquellen bedroht wurde. Fast größer noch war die Gefahr, daß in dem losen Gefüge der Donamonarchie Unruchen ausbrechen und daß die Hoffnung, die Balkanstaaten und die Türkei zum Anschluß an die Mittelmächte zu bewegen, scheitern würde.

Es war also ohne weiteres klar, daß dem Bundesgenossen die schnellste und ausgiebigste Unterstützung gewährt werden müsse.

Der zur Bindung russischer Kräfte gegebenenfalls in Aussicht gestellte deutsche Vorstoß gegen den Narew hatte sich infolge des sofort nach Kriegsausbruch einsetzenden Angriffs zweier rusischer Armeen nach Ostpreußen hinein nicht ausführen lassen. Nach dem Sinne der Vereinbarungen war er auch nicht nötig, denn das deutsche Ostheer band genügend starke russische Kräfte und zog sie von der österreichischen Front fort. Nichtsdestoweniger ist es zu verstehen, daß die nach Entlastung ausschauende österreichisch-ungarische Heeresleitung sich immer wieder auf ihn berief, und daß ihre Wünsche immer dringender wurden. Um die Waffenbrüderschaft zum Ausdruck zu bringen, hatte sie einige österreichische schwere Batterien dem deutschen Westheer zugeteilt, die bei Namur, Maubeuge usw. tapfer mitkämpften. Jetzt sah man die deutschen Heere tief nach Frankreich hinein vordringen, in Ostpreußen glänzende Siege erfechten und fühlte sich nicht genügend unterstützt. Daß diese - versteckt erhobenen - Vorwürfe unbegründet waren, änderte nichts an ihrem Bestehen. Man war so durchdrungen von Deutschlands Stärke, daß man alles von ihm erwarten zu können glaubte.

Es war ein ernstes Verhängnis, daß Mitte September, als die Not in Galizien am größten wurde, die deutsche Heeresleitung infolge des Rückschlags an der Marne selbst in schwierige Lage gekommen war. Nichtsdestoweniger wurde ohne Zaudern Hilfe gebracht; allerdings konnte das nicht in der ursprünglich beabsichtigten Form des Antransports starker Kräfte von der Westfront geschehen.

Am nächsten hätte es gelegen, diese Unterstützung durch rücksichtslose Verfolgung der geschlagenen russischen Njemen-Armee zu leisten. Zu einer derartigen Operation tief nach Rußland hinein waren aber die zur Verfügung stehenden Kräfte zu schwach. Auch mußte es fraglich erscheinen, ob ihre Auswirkung in absehbarer Zeit in Galizien die notwendige Entlastung bringen würde. Die deutsche Heeresleitung entsprach daher dem Wunsche des Chefs der österreichisch-ungarischen Heeresleitung, des Generals v. Conrad, die Hilfe durch den unmittelbaren Anschluß an das österreichisch-ungarische Heer zu führen. Die Armee Hindenburg wurde nach Oberschlesien befördert und trat von dort gleichzeitig mit dem österreichisch-ungarischen Heere den Vormarsch an. Es gelang, die Russen über die Weichsel zurückzuwerfen. Als aber bei Iwangorod der österreichische linke Flügel eingedrückt wurde, dem deutschen linken Flügel aus dem Waffenplatz [41] Warschau Umfassung mit starken Kräften drohte, mußte auf die weitere Durchführung der Offensive verzichtet werden. Die deutschen und österreichisch-ungarischen Armeen wichen auf die schlesisch-galizische Grenze zurück; erneut drohte ernste Gefahr durch die folgenden russischen Massen.

In meisterhafter Operation wurde die Armee Hindenburg in breiter Front nach Schlesien zurückgenommen, von dort sofort mit der Eisenbahn in die ungefähre Linie Wreschen - Thorn verschoben und Mitte November von neuem zum Angriff vorgeführt. Trotz glänzender Anfangserfolge gelang es nicht, eine große Entscheidung zu erzielen. An der Pilica- und Rawka-Linie mußten die Operationen eingestellt werden. Immerhin war viel erreicht. Die Versuche, Deutschland mit der russischen Dampfwalze zu erdrücken, waren endgültig gescheitert. Dem österreichisch-ungarischen Waffenbruder war vorübergehend Entlastung gebracht.

Schon bald aber schufen die Ereignisse auf dem österreichisch-ungarischen Kriegsschauplatz neue Sorgen. Die politischen Rücksichten auf den unterlegenen Bundesgenossen beeinflußten abermals die militärischen Entschließungen. Während der vorstehend erwähnten Kämpfe in Polen brach eine Operation, die die Österreicher zur Niederwerfung Serbiens eingeleitet hatten, vollständig zusammen. In Auflösung wurden die österreichisch-ungarischen Truppen über die Save zurückgeworfen. Die Bedeutung dieses Mißerfolges ging über die örtlichen Folgen weit hinaus. Das Ansehen der Donaumonarchie bei den Balkanstaaten hatte einen argen Stoß erlitten. Die Verhältnisse wurden um so schwieriger, als um die Jahreswende 1914/15 in den Karpathen der russische Druck erneut stärker einsetzte. Die Gefahr eines russischen Einbruchs nach Ungarn hinein wurde drohend. Ihre Rückwirkung auf die Haltung Italiens und Rumäniens gegenüber den kriegführenden Parteien wurde sofort fühlbar. Ein wiederholter Mißerfolg hätte ihren Anschluß an die Entente bewirkt. Es mußte etwas geschehen, sollte nicht für Österreich-Ungarn die Lage einen Charakter annehmen, der für die Gesamtkriegshandlung nicht zu ertragen gewesen wäre. In gemeinsamer Beratung des deutschen und des österreichisch-ungarischen Generalstabschefs und des Chefs des deutschen Oberkommandos Ost wurde festgelegt, daß es dringendstes Bedürfnis sei, durch Einschieben deutscher Verbände die Karpathenfront zu stützen. Dann sollten die beiden Flügel des russischen Heeres - am Njemen und in Galizien - gleichzeitig angegriffen werden. Hierzu wurden dem Oberbefehlshaber Ost vier in Deutschland neu aufgestellte Armeekorps zur Verfügung gestellt. Anfang Februar setzten in Nord und Süd die Angriffe ein. Im Norden führten sie zu den deutschen Siegen der Winterschlacht in Masuren. In den Karpathen arbeiteten sich deutsche und österreichisch-ungarische Truppen den Unbilden des Gebirgswinters zum Trotz in heldenmütiger zäher Tapferkeit vor. Der Zweck, den die doppelseitige Angriffsoperation in erster Linie verfolgte: die Entlastung des österreichisch-ungarischen Heeres, wurde erreicht. Den Erfolg zu einem den Feld- [42] zug entscheidenden auszubauen, gelang nicht. Zahlenverhältnis und Witterung standen dem entgegen.

Eine nicht zu unterschätzende Hilfe für die Durchführung dieser Operationen war es, daß es trotz der österreichischen Niederlagen gelungen war, den Anschluß Italiens an die Entente noch hinauszuschieben. Deutschland und Österreich-Ungarn waren gewillt, für die Aufrechterhaltung der Neutralität ihres ungetreuen Bundesgenossen jedes erträgliche Opfer zu bringen. Naturgemäß lagen diese Opfer in erster Linie in "Kompensationen", die Österreich zur Last fielen. Gegen einen dauerhaften Erfolg sprach allerdings die Erfahrung, daß man noch nie einen Erpresser durch Abschlagszahlungen losgeworden ist. Auf den Rat Deutschlands hin erklärte sich Österreich gleichwohl bereit - wenn auch nach schweren inneren Kämpfen - die Opfer zu bringen.

Ob es nach dem Ausgang der Marne-Schlacht überhaupt möglich war, Italien für immer vom Übertritt in das feindliche Lager abzuhalten, ist eine schwer zu beantwortende Frage. In der Lage, in der Österreich-Ungarn sich befand, war aber der Zeitgewinn schon von hoher Bedeutung. Nachdem im Frühjahr 1915 die russische Gefahr abgewendet war, konnte man der Auseinandersetzung mit dem neuen Feinde mit sehr viel größerer Ruhe entgegengehen.


Die Frage des unbeschränkten Unterseebootkrieges.

In der zielbewußten Absicht, den Entscheidungskrieg gegen Deutschland mit allen Mitteln durchzuführen, hatte England sich über einengende Bestimmungen des Völkerrechts ohne Skrupel hinweggesetzt. Der Aushungerungskrieg, der durch Erklärung der Nordsee zum Kriegsgebiet gegen Frauen, Kinder und Greise eingeleitet und unter Nichtachtung aller Rechte der nur schwach protestierenden Neutralen durchgeführt wurde, die Bestimmungen über Konterbande und das jeder Menschlichkeit Hohn sprechende Verhalten gegen alle deutschen Reichsangehörigen, deren die Ententemächte habhaft werden konnten, verstießen gegen jedes Völkerrecht.

Gegen diese Kriegsmaßnahmen hatte Deutschland nur eine Waffe. Nur das Unterseeboot konnte die Blockade brechen. Es war die einzige Waffe, die Deutschlands Feinde da zu treffen vermochte, wo sie am verwundbarsten waren: in dem Nachschub, der ihnen die schier unerschöpflichen Hilfsmittel fast der ganzen Welt zuführte. Durch energischen Einsatz der Unterseeboote konnte weiter die deutsche Seekriegsleitung hoffen, die Truppen- und Materialtransporte, die dem französischen Kriegsschauplatz zustrebten, zum Teil zu unterbinden. Voraussetzung für einen durchschlagenden Erfolg war allerdings die Durchführung des Unterseebootkrieges ohne Einschränkung.

Die Möglichkeit, daß der Unterseeboot zu Verwicklung mit neutralen Staaten, namentlich mit Amerika, führen könne, war nicht von der Hand zu weisen, da ihre Bewegungsfreiheit in den Gewässern um England noch mehr [43] eingeschränkt werden mußte, als auf Grund der internationalen Abmachungen selbst nach Ausspruch der Blockade zulässig gewesen wäre. Zu einer formellen Blockadeerklärung aber fehlten die Voraussetzungen für ihre Durchführbarkeit. Überdies war die Unterseebootwaffe in jenen durch die Technik überholten Vereinbarungen gar nicht berücksichtigt.

Es wäre hiernach dem deutschen Volke gegenüber nicht zu verantworten gewesen, auf ein Kriegsmittel zu verzichten, das zur Erzwingung des erhofften Sieges wesentlich beitragen konnte und vom Standpunkte des Völkerrechts nicht zu beanstanden war.

Ausschlaggebend für die Entscheidung war die Frage, ob die zu erwartenden Erfolge aufgehoben werden könnten dadurch, daß sie neutrale Staaten, vor allem Amerika, zum Anschluß an Deutschlands Feinde veranlaßten. Zunächst fehlte zu letzter Annahme jeder Anlaß. Zu den offenbaren Völkerrechtsverletzungen Englands hatten alle Neutralen geschwiegen und sich höchstens auf zahme Proteste beschränkt. Es war nicht einzusehen, weshalb sie zu berechtigten und durch die Notwehr gebotenen Maßnahmen Deutschlands eine andere Stellung einnehmen sollten.

Steuerten aber die Vereinigten Staaten auf einen Bruch mit Deutschland hin, so war der Unterseebootkrieg höchstens der Vorwand, ihn herbeizuführen. In diesem Falle konnte man hoffen, daß er seine Wirkung getan haben würde, bevor das Eingreifen Amerikas sich fühlbar machte.

Die Eröffnung des deutschen Unterseebootkrieges war an sich ein Ausfluß der Kommandogewalt. Die Frage griff aber derart in das politische Gebiet über, daß sie ohne Mitwirkung der politischen Leitung nicht gelöst werden konnte. So ist sie auch in Deutschland aufgefaßt worden. Nach Anhörung der verantwortlichen Stellen entschied der Kaiser im Sinne der Durchführung des unbeschränkten Unterseebootkrieges.

Nicht nur in der Frage des Unterseebootkrieges griffen politische und militärische Leitung ineinander über. Der kurze Überblick über die Vorgeschichte des Krieges und das erste Kriegshalbjahr zeigt, daß - abseits von den eigentlichen Kämpfen - politische und militärische Entscheidungen kaum zu trennen waren. Überall zeigte sich die Wahrheit des Wortes, daß der Krieg nichts ist als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.

Sollen nicht wieder gut zu machende Fehler vermieden werden, so müssen politische und militärische Leitung immer Hand in Hand arbeiten. Es ist nicht zu leugnen, daß in Deutschland - vor allem in der Kriegsvorbereitung - in dieser Beziehung die notwendige Einheitlichkeit zu wünschen übrig ließ. Auch in den operativen Vereinbarungen zwischen den Heeresleitungen Deutschlands und Österreich-Ungarns war zu wenig geschehen. Allerorten rächte es sich, daß Deutsch- [44] land, um nur ja nicht kriegerischer Absichten geziehen zu werden, sogar die Vorbereitungen für den Verteidigungskrieg empfindlich vernachlässigt hatte.

Immerhin konnte im Frühjahr 1915, am Schlusse des ersten Kriegshalbjahres, die allgemeine politische und militärische Lage Deutschlands als durchaus befriedigend angesehen werden.

Die hochfliegenden Erwartungen, mit denen Deutschlands Söhne einmütig in den ihnen freventlich aufgezwungenen Krieg um Deutschlands Sein oder Nichtsein gezogen waren, hatten sich nicht erfüllt. Das Unglück an der Marne hatte sie zerschlagen und zugleich das Kriegsende unabsehbar hinausgeschoben. Es war bitterer Ernst geworden. Aber der Ernst hatte die deutsche Volkskraft gestählt. Die Versuche der Ententemächte, durch konzentrischen Angriff mit ihrer ungeheuren Übermacht Deutschland zu erdrücken, waren an allen Stellen zusammengebrochen. Die deutsche Westfront stand. Im Osten hatten die deutschen Streitkräfte die Russen überall geschlagen. Wo beim verbündeten österreichisch-ungarischen Heere Not eintrat - deutsches Eingreifen wendete stets die Lage und brachte oft namhafte Erfolge. Deutsche fochten an den Rändern des türkischen Reiches. Die Kraft des deutschen Volkes, die in harten Heldenkämpfen gestrafft war, schien unüberwindlich.


30 [2/34]v. Tirpitz, Erinnerungen, Seite 300. ...zurück...

31 [1/35]Zusammengestellt nach Nauticus Jahrbuch für Deutschlands Seeinteressen. 1914. Seite 634 bis 638. ...zurück...

32 [2/35]Nur unter 1. ...zurück...

33 [1/39]v. Falkenhayn, Die Oberste Heeresleitung 1914 - 1916, Seite 16. Vergleiche hierzu Band 5. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte