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Bd. 9: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Erster Teil


Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin

[1] Kapitel 1: Das alte Reich
und die Begründung des neuen Reiches

[2=Trennblatt] [3] 1. Deutsches Königtum und Kaisertum.

[Anm. d. Scriptorium: ein Précis
zum Thema "Deutsches Reich
und Vorgeschichte des Krieges"
finden Sie hier.]
Es ist eine geläufige Vorstellung, daß die tiefe Verbundenheit der deutschen und der europäischen Entwicklung schon darin begründet sei, daß der geographische Siedlungsboden der Deutschen in der Mitte Europas gelegen war, und daß schon mit dieser Lage eine gewisse vorsehungsmäßige Bestimmung von Hause aus gegeben sein mußte. In Wirklichkeit sind das deutsche Volk und der deutsche Staat erst im Laufe ihrer Entwicklung in eine eigentliche "Mittellage" hineingewachsen und jenem Lebensgesetz unterworfen worden, das manchmal stärker ist als alles menschliche Wollen. Man könnte geradezu das allmähliche Ansteigen dieses dynamischen Motivs als die charakteristische Lebensbedingung bezeichnen, die erst in neueren Jahrhunderten sich voll entfaltet und in der Gegenwart ihren Höhepunkt erreicht hat.

Die Besonderheit der deutschen Stellung in der Welt ist vielmehr darin zu sehen, daß ihre Sitze während des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung an dem äußern Rande der abendländischen Kulturwelt gelegen waren. Während die westlichen und südlichen Stämme der Germanen von dem römischen Macht- und Kulturbereich erfaßt wurden, konnten ihre nördlichen und östlichen Teile, unberührt von der feindlichen und überlegenen Welt, ihre Unabhängigkeit und Eigenart behaupten. Von der antiken Welt aus gesehen, war das Germanenland ein Grenzland, das gefährdetste des ganzen Weltreiches. Man darf es sogar als eine weltgeschichtliche Tatsache von unabsehbarer Tragweite bezeichnen, daß die Grenze des Römerreiches, bestimmt durch den Lauf des Rheins und der Donau sowie durch die militärische Sicherung des Limes, quer über den Boden lief, auf dem ein deutsches Volk erwachsen sollte. Für die Geschichte der europäischen Völker ist es von einer nicht auszudenkenden Bedeutung geworden, ob ihr Boden und ihr Blut, ihre Kultur und ihre Seele von dem Römerreich berührt, durchdrungen, geformt worden ist, oder ob sie jenseits des orbis Romanus ein ganz ursprüngliches und primitiveres Dasein fortzusetzen vermochten. Alles das aber, was später deutsches Land und deutsches Volk wurde, wurzelt in beiden europäischen Hälften und wird das Zwiespältige dieser geschichtlichen Uranlage immer in sich bewahren; wenn man den Gedanken verfolgt, glaubt man im deutschen Wesen manchmal die beiden Wege zu spüren, die nach Rom führen und die in die Urtümlichkeit zurückweisen. Auch wenn ein deutscher Staat im eigentlichen Sinne sich bildet, wird er diese historische Span- [4] nung in seinem Innern tragen. Jene Lande um Weser und Elbe, von denen der germanische Freiheitskampf gegen Rom seinen Ausgang genommen, werden diesem Staate ebenso angehören wie Trier und das Moselgebiet, das noch lange Zeit hernach ein wunderreicher Mittelpunkt der Römerherrschaft und Römerkultur blieb.

Dieser deutsche Staat wird in derselben Stunde geboren wie der französische Staat, als aus dem zerfallenden Reiche Karls des Großen ein Ostfrankenreich und ein Westfrankenreich sich herauslösen und für immer voneinander absetzen. Damit löste sich eine Gemeinsamkeit von Jahrhunderten, gipfelnd zuletzt in der symbolischen Gestalt Karls des Großen, die beiden Völkern angehört, aber dem Blute und der Sprache nach den Deutschen. Niemals werden die tiefsten Grundlagen solcher einstigen Gemeinsamkeit ganz verschwinden, wenngleich das Trennende im Verlauf von ein bis zwei Generationen über das Verwandte hinweggeht. Die Antriebe und Umstände aber, unter denen sich die deutsche Hälfte, in den Königswahlen des ausgehenden neunten und des beginnenden zehnten Jahrhunderts, von der französischen Hälfte trennt, werden ewig denkwürdig bleiben. Denn sie haben die vielleicht folgenreichste Tatsache europäischer Gesamtentwicklung begründet.

In den Sonderungsvorgängen dieser Staatengründungen wirkte mehr als ein erkennbares Motiv zusammen: staatsrechtlich-dynastische Akte, Ansätze eines dunkel empfundenen nationalen Gemeinschaftsgefühls und drängende außenpolitische Notwendigkeiten. Den ersten Anstoß gaben die dynastischen Teilungen des Karolingerreiches von 843 und 870 und ihre Folgen, bis zu jenem Schlußakt des Jahres 925, in dem sich die Großen des Herzogtums Lotharingien dem deutschen Königtum unterwarfen. In der Durchführung der Teilung spielte aber auch irgendwie ein volkstümliches Motiv mit. Denn das Ostfrankenreich umfaßte diejenigen germanischen Stämme, die nicht einem abgewandelten romanischen Dialekt verfallen waren, sondern fortfuhren, die germanische Volkssprache, die lingua theodisca, zu sprechen und nach dieser ihrer gemeinsamen Eigentümlichkeit später den Namen der Deutschen annahmen - also daß vor mehr als tausend Jahren neben dem Blutserbe auch ein gemeinsamer Kulturbesitz einigend und namengebend an der Spitze unserer Geschichte steht. Um aber eben diese Stämme über alle Eigenwilligkeiten der Rasse hinweg doch noch zu einer Einheit und einer Verbindung zu führen, mußte die große Staatengründerin Not ihre Mitwirkung leihen. Die gleichzeitigen Gefahren, die von dem heidnischen Germanentum der Normannen im Norden und von dem Ansturm der hunnischen Barbaren im Südosten ausgingen - man nehme hinzu, daß dazwischen auch der Lauf der Elbe weithin die Grenzscheide gegen ein noch in tiefem Schatten liegendes Heidentum bildete - nötigten zum Zusammenschluß um des eigenen Lebens willen. Das Motiv der Sicherheit nach außen erklärt auch die führende Beteiligung der Kirche bei den entscheidenden Königswahlen. [5] Also kamen der innere Trieb und der Zwang von außen zusammen, um die Grundlagen einer großen Volksgemeinschaft zu legen.

Die Entwicklung dieses Staatswesens war durch seine Grenzen und die damit gegebenen außenpolitischen Möglichkeiten bedingt: wenigstens in den ersten Umrissen wird alsbald das geschichtliche Lebensgesetz sichtbar, unter dem die Deutschen antreten. Im Westen war eine scharfe und eindeutige Absetzung von dem Westfrankenreiche auf einer Linie erfolgt, die sich mit den tiefen und unverrückbaren Grenzen der Sprache und des Volkstums wesentlich deckte: gerade hier, wo die einst verbundenen Völker jetzt Rücken gegen Rücken standen, erwies sich die Scheidung auf Jahrhunderte hinaus von einer außerordentlichen Beständigkeit. Nach Norden hin öffnete sich die deutsche Staatsgrenze zu Lande nur schmal auf der nordalbingischen Brücke in die skandinavisch-nordgermanische Welt; trennend und verbindend stand hier das Meer dazwischen, und seekundige Kraft allein konnte es überschreiten. Nach Osten dagegen blickte man auf breiter Front, von der Elbmündung bis in die bayerischen Voralpen hinein, in ein noch dünnbesiedeltes und kulturarmes Land, in dem slawische Stämme in die einst germanischen Sitze nachgerückt waren und alles noch, wie in den Zeiten der Völkerwanderung, in Fluß und Bewegung verharrte; der ewige Grenzkrieg, in dem nicht historischer Anspruch, sondern das Recht der Stärkeren galt, ließ noch kaum ahnen, daß jenseits eine Welt unbegrenzter Möglichkeiten im Dunkel lag.

So blieb der Süden. Hierhin drängte, über die von Alemannen und Bayern besetzten Alpenpässe hinweg, das junge Kraftgefühl der deutschen Stämme, in deren Blut die elementaren Antriebe der Völkerwanderung noch nicht ganz verklungen waren. Hierhin riefen unwiderstehliche Lockungen der Vergangenheit, der Macht und der Kultur, des Lebensgenusses in einer reicheren und wärmeren Welt. Also entschied sich, daß der deutsche König Otto aus Sachsenstamm schon in der zweiten Generation des deutschen Staates, gleichsam in dem nächsten Atemzuge nach seiner Geburt, die unvergessene imperiale Tradition des Karolingerreiches wieder aufnahm. Die soeben erst staatlich zusammengeschlossenen deutschen Stämme verbanden ihr junges nationales Königtum mit dem großen Namen der römischen Kaiserwürde, und indem sie mit der universalen Idee des Abendlandes in ein Bündnis traten, griffen sie zugleich nach der universalen Machtauswirkung, die dieser Idee den Körper des Wirklichen gab. In einem gewaltigen Rückschlage gegen die einstige Machtrichtung des Imperium Romanum wagten sie ihre Waffen südwärts bis nach Rom zu tragen und eine neue Ordnung der Dinge zu begründen. Es war, als ob sich alles vereine, die große Wendung herbeizuführen: die natürliche Lage und die kriegerische Überlegenheit der Deutschen, die Gunst der Stunde und der hochgemute Sinn ihrer Häupter, die dunkle Ahnung überwältigender Traditionen und eigenen Berufenseins. So wurde der Weg eröffnet, auf dem die deutschen [6] Könige, vereint mit der römischen Kirche, auf Jahrhunderte hinaus die Führung Europas in die Hand nahmen.

Was dieses Kaisertum des 10. bis 13. Jahrhunderts für die europäische Welt bedeutet hat, das zu durchdenken ist eine Angelegenheit der Weltgeschichte. Die Idee des Kaisertums, eingeordnet in den Universalismus der christlich-mittelalterlichen Weltanschauung, bedeutete zugleich eine außenpolitische Machtbetätigung derjenigen Nation, die sich als Träger der Idee durchsetzte. Es lag in der Natur der Dinge, daß der Anspruch der weltlich-universalen Idee sich in Rom immer von neuem mit der geistlichen Idee des Papsttums auseinanderzusetzen hatte. Und weiterhin sollte sich alsbald herausstellen, daß die Möglichkeiten der Machtausübung von der Mitte Europas nach den Rändern hin an tatsächlicher Geltung abnahmen, daß die ferner wohnenden oder selbständigeren Völker sich der in den Deutschen erneuerten Autorität einer erhabenen Herrscherwürde zu entziehen suchten. Es war der Widerstand gegen den Universalismus der irdischen Macht, der auf die Dauer den Anspruch der Völker auf ein unabhängiges Eigenleben durchsetzte und zu neuen europäischen Ordnungen hinüberführen sollte.

Das deutsche Kaisertum, mit seinem Anspruch auf Herrschaft in Rom und Italien, stand zehn Generationen lang im Kampf um seine Selbstbehauptung. Selten des beruhigten Besitzes der Macht sich erfreuend, mußte es täglich gleichsam sein Leben erobern: eben das gibt dem Wesen der Institution und den sie verkörpernden Gestalten den heroischen Zug. Was aber dieses Kaisertum in der Zeit seiner Geltung der deutschen Nation, dem deutschen Staate gebracht und genommen hat, das ist eine zweite Frage, und eben diese Frage wird noch heute von der gelehrten Forschung mit so leidenschaftlichem Scharfsinn umstritten, als wenn es sich um gegenwärtige Lebenswerte handelte. Schon darin liegt etwas Einzigartiges, daß ein großes Volk die mächtigste und eigentümlichste Epoche seiner Geschichte, die Jahrhunderte einer weitreichenden Führerstellung, in ihren letzten Werten überhaupt in Frage ziehen kann. Die Auswirkungen dieser Epoche, so fühlt man dunkel, haben den ganzen Ablauf unseres Schicksals bestimmt.

Das Kaisertum band die Zentralgewalt des deutschen Staates, ihren Sinn, ihre Tradition, ihre Ziele an eine universale Aufgabe, die über den nächsten nationalen Lebensbereich weit hinausgriff, vielleicht in einem allzu frühen und ungefestigten Stadium der eigenen Entwicklung. Aber es band zugleich die deutschen Stämme in einem gewaltigen Erleben immer neuer Generationen nach innen und außen unlöslich aneinander, so daß man behaupten darf, ihre Gemeinschaft, nacheinander geführt von den norddeutschen Sachsen, von den rheinischen Saliern aus dem Speyergau und von den schwäbischen Staufern, sei erst in dem Ringen um dieses universale Ziel wahrhaft zu einer einigen und bewußten Nation geworden.

[7] Aber war die vornehmste Richtung dieses Machtwillens, über die Alpen hinweg nach dem Süden, die der Nation angemessene und heilsame Richtung? Oder gab es für sie eine dringlichere Lebensaufgabe, wie sie etwa die Sicherung der Ostgrenze und ihre macht- und kulturpolitische Vorschiebung darbot? Hier setzen Zweifel und Kritik ein. Es läßt sich allerdings nicht beweisen, daß die Italienpolitik unter allen Umständen ein derartiges Ostprogramm schädigen mußte. Im Gegenteil, gerade von Rom aus - das trat schon zutage, als der Kaiser Otto dort vom Papste im Jahre 962 das Privileg der Begründung des Erzbistums Magdeburg erwirkte - ließ sich jeder östlichen Auswirkung der Deutschen ein mächtiger, ebenso ideeller wie praktischer Rückhalt geben. Durch Generationen hindurch haben sich die universalen Antriebe und die christliche Mission mit nationalen Machtbedürfnissen im Osten erfolgreich verbunden - alle diese Dinge, die wir in der Wissenschaft heute, manchmal viel zu künstlich, voneinander zu sondern suchen, flossen jenem Geschlechte fast in eins zusammen, wurden als eine einheitliche und natürliche Lebensaufgabe empfunden. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß mit der Zeit doch eine Spannung zwischen beiden Aufgaben sichtbarer wurde, und daß schließlich der Zweifel sich regte, wo die richtigen Ziele der deutschen Außenpolitik zu suchen seien. Ob in einer Rompolitik, die immer wieder Gefahr lief, sich ins Grenzenlose zu übersteigern oder zu verlieren, oder in dem Grenzkampf an der Ostfront, wo Mission, Eroberung und Germanisierung zusammenfielen. Von dem schließlichen Ausgang her läßt sich leicht urteilen: so verführerisch der imperiale Glanz lockte, so wenig ließ sich, wenn die universale Woge ablief, von allen seinen Positionen auf die Dauer behaupten, und auf der andern Seite: so rauh und unansehnlich die Stückwerksarbeit im Osten sich anließ, welche Möglichkeiten dauernden Bestandes und bleibender Entscheidung lagen in ihr beschlossen! Diese Empfindung lenkt unsere Blicke zu den Kriegszügen Heinrichs des Löwen und Albrechts des Bären, denen wir den Gewinn von Ostholstein, Mecklenburg, Pommern, Brandenburg, Lausitz verdanken - eben dieser unruhige Zweifel überkommt uns bei jener Stellung der Kaiser, die so groß war, daß sie niemals freiwillig aufgegeben werden konnte, und wenn sie Erfolg hatte, fast unaufhaltsam ins Unmögliche weiterwachsen mußte. Aber sind wir imstande, den Zeitpunkt zu bestimmen, in dem diese Alternative so eindeutig gestellt war, wie wir sie heute zu sehen bemüht sind, und sind wir berufen, mit den Maßstäben, die wir heute zu gewinnen glauben, das letzte Urteil über Epochen zu fällen, die ihren weltgeschichtlichen Sinn in sich selber tragen?

Nicht anders steht es mit einer innerpolitischen Konsequenz der Kaiserpolitik, die noch tiefer in unsere geschichtliche Existenz eingreift. Das säkulare Unternehmen der Römerzüge als Ganzes band die Nation zusammen, aber die Kämpfe, in die sich die Kaiserpolitik unabweislich verflocht, trieben die Elemente der Nation auch wieder gegeneinander. Die innere Ausbildung des deutschen [8] Staates, die Durchsetzung seiner Organe, die Machtbeziehung zwischen dem Zentrum und den Teilen wurden auf das tiefste durch die Verflechtung des Nationalen ins Universale bestimmt. Die Kämpfe zwischen Kaisertum und Papsttum führten schon im ersten Stadium zu schweren Rückschlägen auf den inneren Bestand - in mächtigen Umrissen kündigt sich frühzeitig das Problem der Rückwirkung äußeren Ausgreifens auf innere Gestaltung an, und je länger je mehr erhoben die Großen, die zusammen mit der Krone den Staat trugen, ihr Haupt. Es war die letzte große Kaisergestalt, Friedrich II., der sich am weitesten vom deutschen Boden entfernte und trotzdem uns menschlich nähergerückt ist als seine Vorgänger, der diese Entwicklung sanktionierte. Von den starken Bastionen seiner italienischen Gewalt aus gab er den deutschen geistlichen und weltlichen Fürsten eine magna charta, die sie auf eigene Füße stellte; und der ihnen eingeräumte Machtbereich griff weiter als jener der englischen Barone, er konnte eines Tages den Staat sprengen. Unter einem halb ausgewanderten Kaisertum setzten die partikularen Gewalten, die in einem kleinen Lande sich hätten unter einem Willen zusammenhalten lassen, sich in den weiten Räumen des unbestimmt begrenzten deutschen Bodens in einem Umfange durch, der eines Tages nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte. Und wieder suchen wir nach den entscheidenden Punkten in dieser Entwicklung: war sie mit der Idee des Kaisertums notwendig verbunden oder hätte sie sich vermeiden lassen? Wer will in diesen Jahrhunderten die Grenzen des Möglichen und Unmöglichen sondern? Große Völker werden manchmal Lebensepochen durchschreiten, die zu ihrer Zeit Notwendigkeiten waren und in einem späteren Zusammenhange als Irrwege gewertet werden. Niemand vermag zu ermessen, in welchem Lichte der Aufstieg und Sinn des englischen Weltreiches, seine Krisen und Wendepunkte sich künftigen Generationen darstellen werden.

Das deutsche Kaisertum lief eines Tages ab, weil der Gang der Zeiten ihm entgegenstand, mit derselben inneren Notwendigkeit, mit der es einst geschaffen worden war. Schon seine letzten Kämpfe hatten immer heftiger auf den deutschen Staat als Kern und Rückhalt aller imperialen Institutionen zurückgewirkt, und sein Sturz riß auch den deutschen Staat mit in den Abgrund, seine Zentralgewalt, seinen Aufbau, seine Stellung in der Welt. Große Katastrophen auf dem äußeren Schauplatz führen immer zu Machtrückschlägen auf die ganze innere Struktur eines Volkes - und ließ sich eine umfassendere außenpolitische Katastrophe in der europäischen Geschichte denken als das Versinken der universalen Autorität des Kaisertums? In diesem Augenblicke mußte auch das deutsche Königtum, auf das die Kaiserwürde gegründet worden war, zu einer bescheideneren Gewalt inmitten der deutschen Großen herabsteigen. Jetzt trat ans Licht, wieviel während des gigantischen Ringens um universale Ziele von dem nationalen Staate verloren und zersplittert, wie unausgebildet der Ausbau seiner zentralen Organe in Recht und Verwaltung geblieben war. [9] Der Macht des Königtums aber war, selbst wenn eine stärkere Persönlichkeit ihr einen neuen Rückhalt zu geben verstand, fortan eine feste Schranke gesetzt; und wenn es auch eines Tages den Kaisernamen wieder annahm, so blieb nur der entleerte Schein des alten überlebten Wesens übrig.

Immer wieder wird man von dem Eindruck überwältigt, welche weltgeschichtliche Tragweite allen diesen Entscheidungen innewohnt. Wie die imperiale Laufbahn der Deutschen nur in diesem Zusammenhange gewürdigt werden kann, so wird der von dem Zentrum des Staates ausgehende Rückschlag bis in die kleinsten Teile seines Lebens weiterwirken und auf Generationen und Jahrhunderte hinaus, fast für den ganzen Ablauf unserer Geschichte entscheidend bleiben. Der erste große Bruch in der deutschen Entwicklung ist eingetreten.

Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte