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[Bd. 4 S. 200]
Friedrich Ratzel, 1844-1904, von Karl Haushofer

Friedrich Ratzel.
[208a]      Friedrich Ratzel.
Photo, 1892.

[Bildquelle: Georg Brokesch, Leipzig.]
Friedrich Ratzel ist der weitsichtigste Erzieher des deutschen Volkes zu großräumigem Weltbetrachten und zur Belebung des politischen Weltbildes von der Erdkunde her gewesen. An der Schwelle des deutschen Überganges aus der europäischen zur Weltgeltung stehend, hat er selbst tätigen Anteil an diesem Aufstieg genommen. Dieser Anteil schwang in jäh ansteigender Kurve empor vom Kriegsdienst in Reih und Glied 1870/71 – über den er einzig schöne Hohelieder und Geschichten echter Kameradschaft schrieb – bis zum weltpolitischen Warnerdienst an ganz Mitteleuropa in entscheidender Zeitwende, aus dem ihn am 9. August 1904 auf der Höhe voller Mannesleistung als rüstigen Sechziger der Tod in die Unsterblichkeit entraffte.

So sehen wir Friedrich Ratzel heute – aus dem Abstand eines Durchschnitts-Menschenalters und über das Trümmerfeld der deutschen Weltgeltung, den Fehlschlag der Europäisierung der Erde hinweg – um Haupteslänge über die Erzieher, Lehrer, Seher und Weisen seiner Zeit emporragen. Aber so sah ihn leider sein Volk und dessen damals führende oder gebildete Schicht noch nicht, als eine kleine Schar von treuen Jüngern, wie Helmolt, der Sammler der Kleinen Schriften, wie Eckert, Hassert, Hantzsch, Sapper, Schöne, um die Anerkennung ihres Meisters rang, der voll Schmerz das Fehlen eines festgefügten Anhänger- und Schüler-Kreises beklagte und dessen Ideen erst unter dem gewaltigen Einfluß des Weltkriegs eine Wiederauferstehung von großer Tragweite erleben sollten. Aber die nächste Geschlechtsfolge akademischer Lehrer nach Ratzel hatte sie nicht mit gleichem Ferngefühl für ihre kommende Notwendigkeit weitergehegt – gerade in dem entscheidungsschweren Jahrzehnt von 1904 bis 1914. Das ist die Tragik im Leben und Wirken dieses seltenen Einzelgängers, in dessen Spur ein weltpolitisch wacheres Geschlecht zur rechten Zeit und nicht zu spät die Gefahren der überhöhten und zu wenig bodenfesten und raumweiten Stellung seines Volksbodens hätte erkennen müssen und sich danach hätte vorsehen können, um sich ein furchtbares weltgeschichtliches "Zu spät!" zu ersparen. Denn auch Rudolf Kjellén, der große schwedische Staatsforscher, der Deuter dieses "Zu spät!", der beste Freund Deutschlands in seiner schweren Stunde aus der Fremde, der Gründer der Forderung der Geopolitik, ist ein Schüler von Friedrich Ratzel gewesen und hat sich als solchen bekannt. Und Gedankengut von Friedrich Ratzel strahlt uns entgegen, wo immer wir den feinsten Blüten anthropogeographischen [201] weltpolitischen Schrifttums bei Angelsachsen, Japanern, Romanen und Russen begegnen: bei praktischen Grenzschöpfern und theoretischen Führern zur Volksseelenkunde, leider auch da, wo mit der vollen Kunst angewandter Wissenschaft überlegene Geister, wie Jean Brunhes und Camille Vallaux, am Verderben unseres Volkstums woben. Denn das ist die Gefahrfolge auch der höchsten, in ihrer Art nur in einem ganz bestimmten Volksboden möglichen Leistung, daß ihre Früchte weltüber dem gehören, der sie sich durch geistige Arbeit zu eigen macht, der sie erwirbt, um sie zu besitzen, wenn der eigentliche Erbe ihm nicht zuvorkommt, sie nicht behütet. In dieser Unterlassungssünde liegt die Schuld seines Volkes gegenüber dem lebensvollen Werk Friedrich Ratzels mit seinen mehr als eintausendzweihundert Einzelarbeiten: vom leichten, beschwingten Gedicht und Skizzenbuch bis zum schwersten, bändereichen, bild- und kartenerfüllten Standwerk. Sein Volk hat zu lange gebraucht, bis es das Weltbild und die Warnungen dieses großartigen Einzelgängers verstand und vor allem zwischen seinen Zeilen lesen lernte; andere, Fremde, taten es ihm darin zuvor. Später freilich – 1924 – bildete ein zerlesener Band der Politischen Geographie eines der kostbarsten, vielverarbeiteten Stücke der mit heiliger Glut gelesenen kleinen Bücherei des Festungsgefängnisses Landsberg; und ein Gedankengut, das noch 1904 als mystische Beimengung von einer materialistischen Schule verspottet werden konnte, das fügte sich zwei Jahrzehnte später durch Adolf Hitler und Rudolf Heß ins Grundgemäuer eines neuen Staatsglaubens. Das bedeutet späte, große Rechtfertigung eines verkannten Sehers. Aber schmerzlich ist es, daß sein Volk von einem Lebensraum von vier Millionen Quadratkilometern mit Atemfreiheit über alle Ozeane auf wenig mehr als ein Zehntel dieses Lebensraums herabverstümmelt werden mußte, bis es die Fernfühligkeit, die Hellseher-Gabe, die Weitsicht zum Verständnis des Mannes gewann, dessen Fernschau und Weltgefühl es vor dem Zusammenbruch hätte bewahren können.

Daß dieses Lebenswerk dann wenigstens dem Aufbau des Dritten Reichs zugute kam, wäre seinem Schöpfer eine späte Genugtuung gewesen: für den jungen Kämpfer und Verwundeten vor Straßburg, bei Auxonne aber gewiß zu teuer erkauft. Wie er abseits vom normalen Dienstgang sich durch einen kecken nächtlichen Patrouillenvorstoß vor Auxonne als erster Gemeiner seines Regiments das Eiserne Kreuz erkämpfte und – vor die Wahl zwischen der gesicherten Assistentenstellung in Stuttgart und dem kecken Wagnis des Reiseberichterstatters einer großen Zeitung gestellt – das letztere wählte, weil es ihn weiter um die Erde zu führen versprach, so führte ihn auch vorher und nachher ein freundliches Schicksal abseits vom normalen Trott, vom gebahnten Wege. Fünfzehn Jugendjahre war für den am 30. August 1844 als Sohn eines Schloßbeamten zu Karlsruhe Geborenen der weite großherzogliche Park in Karlsruhe und ein ungebundenes naturnahes Wanderleben von ihm aus ringsum seine freundliche, mehr von der reichen Schloßbücherei und dem kleinen Tierpark als von allzu vielen Menschen [202] erfüllte Umwelt. "Es entwickelte sich hier die Freude an der Natur, die seinen Lebensgang bestimmte." Der Dreizehnjährige begann Pflanzen zu sammeln, streifte im Schwarzwald, in den Rheinauen und im weiten Bienwald umher und "entwickelte einen schwärmerischen, einsamkeitliebenden Zug", der – samt einer "in frühen Jahren fast unüberwindlichen Schüchternheit" – erst überwunden werden mußte, um sich als dauernde Feder innersten Auftriebs dem später so öffentlichen Leben einzufügen.

Mit fünfzehn Jahren wirbelt ihn das Schicksal in ein Dorf im Kraichgau – Eichtersheim bei Langenbrücken – zu einem jener seltenen Apotheker-Typen, die dem weltklugen Hausfreund in "Hermann und Dorothea" als Modell gedient haben mögen. Nie hat Ratzel die vier Jahre als Lehrling und Gehilfe dort bereut. "Das Leben auf dem Dorfe sagte meinen Neigungen zu", schreibt er. "Die wissenschaftlichen Elemente der Pharmazie, besonders Botanik, Warenkunde, Chemie, interessierten mich in hohem Grade, und die geologisch hochinteressante Umgegend von Eichtersheim führte mich in ganz neue Studien ein." Das Verhältnis zu C. Zittel und Pagenstecher warf seinen freundlichen Schatten voraus. Seltsam, wie sehr sich in Ratzels Leben Zufall und Absicht beim Schicksal dieses hochwertigen Einzelnen verketten! Schon erweitert er seine allgemeinen Kenntnisse, namentlich in den Sprachen, mit dem bestimmten Vorhaben, "sich einst ganz irgendeinem wissenschaftlichen Studium zuzuwenden". Er erobert es sich Schritt für Schritt, nicht im Dutzendtrott fällt es ihm zu.

Im Frühjahr 1862 besteht der Achtzehnjährige sein Gehilfenexamen in Neckarbischofsheim, übernimmt 1863 eine Gehilfenstelle in Rapperswyl in der Schweiz, führt dort dasselbe stille, aber nicht unbemerkte Studienleben wie in Eichtersheim und geht 1865 rheinabwärts in gleicher Eigenschaft nach Mörs bei Krefeld. Endlich darf er Ostern 1866 der Pharmazie Lebewohl sagen und das Polytechnikum in Karlsruhe beziehen, wo ihn zunächst der spätere Freund C. Zittel für Geologie und Paläontologie in strenge Schule nimmt, bis er im Herbst 1866 nach Heidelberg übersiedelt. Schon im Mai 1868 gelang das Doktorexamen für Zoologie, Geologie und vergleichende Anatomie mit einer ausgesprochenen Spezialarbeit, der noch manche folgten, die über der späteren Geographenleistung in Vergessenheit gerieten, wie auch der etwas kühne Anlauf zu einer Schöpfungsgeschichte unter dem Titel Sein und Werden der organischen Welt – einem durch Häckels gleichzeitiges Werk überschatteten Vorklang zu den stolzen späteren Bänden Die Erde und das Leben.

Im November 1868 reiste Ratzel zum erstenmal aus der Heimat fort: zunächst nach Südfrankreich in die Gegend von Cette, wo ihn Landschaft und Menschen sympathisch berührten, wie überhaupt das in Montpellier und Cette studierte französische Provinzialleben. Andere Höhenpunkte des Einblicks waren Agde, Lunel, Aigues Mortes, Lyon. Durch gut gesehene Journalistenarbeit erweiterte sich die Reisemöglichkeit über Marseille, Nizza, Genua, Florenz, Rom, Neapel, [203] Messina, von wo er im Mai 1869 nach Heidelberg heimkehrte: schon ein Mann mit Namen in Presse und Wissenschaft und gleich vor die Wahl zwischen behäbiger wissenschaftlicher Anfangslaufbahn und fahrendem Pressedienst gestellt, der ihn zunächst nach Jena, Dresden, Berlin führte. Schon in Dresden vom Scharfblick Karl Andrees für die Geographie entdeckt, zunächst aber noch an der Zoologie festhaltend, geriet Ratzel in die Fänge Adolf Bastians, zur Geographie und Ethnographie, und erwog zunächst den Plan einer Ostasienreise, für die er Malaiisch zu lernen begann. Da erfaßte ihn, neue Bestimmungen und Richtziele setzend, am 17. Juli 1870 die Feuerprobe des Krieges, die er in der großenteils autobiographischen Aufsatz-Sammlung Glücksinseln und Träume in der Wirkung auf seinen Lebensgang umriß.

Die Glücksinseln und Träume (Leipzig, 1905), zusammen mit den "Bildern aus dem Deutsch-Französischen Kriege" (Grenzboten, 64. Jahrgang) sind vielleicht – neben einzelnen Gedichten – das edelste menschliche Dokument aus dem gewaltigen Schrifttum F. Ratzels mit seinen dreiunddreißig selbständigen Werken und mehr als eintausendzweihundertundvierzig Stücken. Sie bringen das starke Selbstzeugnis für den Wandel in letzten Seelentiefen, den der junge Pressemann, Reisende und Wissenschaftler durch das Kriegserlebnis erfuhr, das ihn erst aus einem der vielen Berufenen zu einem Auserwählten unter den Volkserziehern aus der vollerlebten Volksgemeinschaft im Kriege heraus werden ließ. Der Höhepunkt dieses Erlebnisses ist höchstwahrscheinlich die Freundschaft, die Bewunderung für das Vorleben der Kameradschaft, das Opfer der Pflicht durch einen von dem kriegsfreiwilligen jungen Doktor hochgeschätzten und nach seinem Heldentod bewunderten verwaisten Dorfschneider, dem er ein unvergängliches literarisches Denkmal setzt. Aus dem Kriegserlebnis erwuchs der innere Zwang zur geopolitischen und ethnopolitischen Volkserziehung, die Abkehr von der reinen Naturwissenschaft um ihrer selbst willen, die Hinwendung zum später so stark betonten Persönlichen, zur Völkerkunde, zur Hervorhebung des Menschen in der Landschaft, zur Anerkennung der politischen Dynamik in ihr. Diese innere Umrichtung gipfelte zuletzt, über die Anthropogeographie emporschreitend, in der Politischen Geographie und ihrer staatsmännisch weitschauenden Anlage, die schließlich eine Geographie der Staaten, des Verkehrs und des Krieges werden mußte, in schwungvollen Aufrufen, wie Das Meer als Quelle der Völkergröße, im Hohenlied seines Deutschlandbuches, das Erich von Drygalski erneut hat, und in der großzügigen Überschau Die Erde und das Leben.

Nicht alle Werke von F. Ratzel sind leicht zu lesen: zu stark ist oft die Gedankenfülle zusammengedrängt; Geistesblitz funkelt neben Geistesblitz aus einem überreichen inneren Gehalt empor. Wenn jemals die Forderung Nietzsches bei einem Lebenswerk an der Scheide von Natur- und Geisteswelt erfüllt wurde, daß Chaos in sich tragen müsse, wer einen tanzenden Stern gebären wolle, so gewiß bei Ratzel, der in der Anthropogeographie, in Erde und Leben ein Feuerwerk von [204] tanzenden Sternen aus seiner inneren Schatzkammer entließ. Aber alles gibt Zeugnis von jener großen inneren Harmonie, die seine werdende Welt erfüllte. So entstand ein Zusammenbau von klassischen und romantischen Aufbau-Motiven, wie er in der Erdkunde – durch inneres Maßhalten eingedämmt, von so sicherer innerer Harmonie vorgeformt, daß gesetzmäßige Erscheinungen die Gewalt von Gesetzen gewinnen – außerordentlich selten ist. Und doch war es möglich, daß derselbe Mann, der den gewiegtesten Politikern in den Gesetzen des räumlichen Wachstums der Staaten Raum-Erkenntnisse bot, vor denen sie sich beugten, seinem engsten Kreis das tiefsinnige Zitat als Bekenntnis-Überschrift zurufen konnte: "Freunde, im Raum wohnt das Erhabene nicht" (Glauben und Wissen, 1903) – ohne daß er bei den ersten an Gewicht, bei den zweiten an menschlicher Wahrhaftigkeit und Wärme verlor. Derselbe Mann, der seine Geographie des Krieges als unbeugsamer Vaterlandsfreund einem weltbürgerlichen Zeitalter entgegenhielt, konnte in die Maske eines in die Heimat zurückkehrenden Deutschamerikaners schlüpfen, weil er auf diese Weise manches unbefangener aussprechen, zugleich aber auch nützliche Parallelen zwischen deutschem und amerikanischem Wesen und Leben ziehen konnte, beiden deutliche Wahrheiten entgegenhaltend. Vielgestaltig, wie Proteus in der hellenischen Walpurgisnacht, kann ein Mann von seiner Welterfahrung seinem darin so schwerfälligen Volk entgegentreten und erscheint zuletzt doch immer wieder als er selbst, wie jener "in edler Gestalt", mit der echten, ungewollten Führerhaltung, dem wehenden Patriarchenbart, dem zwingenden Augenausdruck. Aber durch das Kriegserlebnis von 1870/71 und gerade die vielseitigen Wanderfahrten danach hatte er so unbeirrbar zu sich selbst zurückgefunden, daß er jedem Volksgenossen aus seinem Innersten zu geben vermochte und doch unerschöpflich blieb.

Zunächst brachten ihn nach dem Kriege Wanderfahrten in Siebenbürgen, in dem Sachsenboden dort, in Walachei und Bukowina als einen der ersten Bändiger des Problems des Grenz- und Auslandsdeutschtums mit diesem in Berührung; im Herbst 1871 studiert er von Pest aus Ungarisch und den Donauraum. Nach kurzem Verbleiben in München geht es nach den Liparischen Inseln, noch einmal nach Sizilien, dabei zweimal auf den Ätna; dann folgten die Alpen als Arbeits- und Wanderfeld. Im Juli 1873 ging er zwei Jahre über See, in die Vereinigten Staaten, nach Kuba und Mexiko.

Ratzel ist – bei aller Heimatliebe und Erdverbundenheit – ein bodenfreier, raumüberwindender, mehr ozeanisch als kontinental denkender Geist geblieben, auch als er nach seinen Wanderjahren zuerst in München und dann in Leipzig landfest wurde, ohne freilich je vom bayerischen Hochland, dem schließlichen Ziel seiner Seßhaftigkeit und letzten Ruhe, wieder loszukommen. Das war nicht nur der notwendige Ausfluß seiner inneren, meerüber gewandten Fähigkeit, zu schauen, selbst in großen Räumen kontinental und weltumspannend zu denken und andere zu solchem Denken zu führen – noch mehr durch Beispiel als durch [205] Lehre –, sondern auch die Folge der inneren Intensität seines Reiselebens und der Eigenart der Räume in der Neuen Welt, wohin es ihn zog, die ja damals in ihrer stärksten Bewegung und raumpolitischen Entwicklung waren.

Es wäre überraschend, wenn einen solchen Mann der erneute Schritt des Deutschen Reiches auf das Meer hinaus, die Flotten- und Kolonial-Bewegung der Jahrhundertwende, nicht aufs stärkste erfaßt und zur Betätigung seiner Führergaben getrieben hätte. Im Vollschwung dieser Bewegung ist er gestorben, wohl ihre Gefahr, doch auch ihre Notwendigkeit erkennend und zeigend, aber den Rückschlag nicht mehr erlebend. Er mochte sogar nach einigen Ansätzen glauben, ein Hineinreifen der deutschen Welt in ein mit ungenügender geistiger Vorbereitung auferlegtes weltumspannendes Großvölker-Schicksal werde das Überwinden der damit verbundenen Gefahren gestatten, wie er es bei dem verwandten, noch großräumigeren Heraustreten des japanischen Inselvolks und Inselstaats in die Weltöffentlichkeit dort zu erkennen glaubte und in dem gedankenreichen Aufsatz Inselvölker und Inselstaaten schilderte.

Zu der letzten, immer beabsichtigten Zusammenfassung seines politischen Vermächtnisses an sein Volk kam es nicht mehr: es ist in seinen vielen politisch-geographischen Werken zerstreut geblieben, nur teilweise von seinen Getreuen Helmolt und Schöne gesammelt und später von Rudolf Kjellén und der "geopolitischen" Bewegung unserer Tage aufgenommen worden. Aber vorbildlich blieb er mit dem Verpflichtungsgefühl des akademischen Lehrers, an jeder Zeitenwende rechtzeitig auch in der Formung der öffentlichen Meinung durch Presse und Vortrag hervorzutreten und rechtzeitig Farbe zu bekennen.

Dieses Zwingen der politischen Erdkunde zum Farbe-Bekennen, ihr Heranführen an die Vorstufe zur "Prognose", zur Pflicht des Vorherkündens und Wegweisens in politisch bewegten Zeiten aus dem Zusammenbau aller Grenzwissenschaften der wissenschaftlichen Politik heraus, die Erkenntnis ihrer Führeraufgabe innerhalb der politischen Volkserziehung ist es, die zusammenklingend das Einzigartige an Ratzels Stellung zwischen dem rein naturwissenschaftlichen und dem praktisch-politischen Antlitz der darin nun einmal janusköpfigen Erdkunde ausmachen. Ratzel hat mit der gleichen Gedankenkraft und überlegenen Anwendung einer geistigen Zeitlupe zugleich die langsamen Wellenbewegungen geologischer Zeiträume und die rasende Geschwindigkeit der Umschichtung weltpolitischer Verlagerungen durch die raffinierten Nachrichtenmittel unserer Zeit und die dadurch bedingte Verkleinerung des Erdballs zusammen zu schauen vermocht.

Friedrich Ratzel.
Friedrich Ratzel.
Radierung von Johann Lindner, 1891.
[Bildarchiv Scriptorium.]
Weil der Schwerpunkt seiner Einwirkung auf die Menschheit durchaus in diese Richtung glitt, sind gerade die Sonderwerke, die ursprünglich seinen Namen begründeten, die Arbeiten des Fachgelehrten, viele Teile des völkerkundlichen Schaffens, die Reisebeschreibungen, auch das reiche biographische Lebenswerk an Bedeutung zurückgesunken. Die Werke der Volkserziehung dagegen hielten sich dauernd über dem Sehkreis und rückten mehr und mehr polwärts herauf, auch [206] wenn sie nur in kurze Aufsätze zusammengedrängt worden waren, so vor allem die Anthropogeographie, die Politische Geographie, Die Erde und das Leben. Dabei ist es schwer, abzuschätzen, wie tief etwa solche Aufsätze in die politische Urteilsbildung ihrer Zeit eingegriffen haben, wie Die Alpen inmitten der geschichtlichen Bewegungen durch ihre weitgehende Verbreitung in der Zeitschrift des Deutschen Alpenvereins, Inselvölker und Inselstaaten unter dem Eindruck des japanischen Aufstiegs, zur Beurteilung der Chinesen, der Japaner, Das Meer als Quelle der Völkergröße. Jedenfalls hat Ratzel die Anfänge der deutschen Kolonialpolitik, der Flottenschöpfung wesentlich erleichtert, auch als einer der ersten auf die Gefahren der Verstädterung und auf die echten wie auf die falschen Grundlagen der Daseinsberechtigung großstädtischer Siedlungshäufungen hingewiesen, die Volkspflicht der Erhaltung landschaftlicher Erholungswerte betont, das "Naturgefühl" unserer Zeit (Zukunft, 1901), den Ursprung der Arier in geographischem Licht unter die Lupe und auf die Waage genommen.

Der bloße Versuch, auch nur aus diesen richtunggebenden Arbeiten über weltpolitische Wendepunkte des mitteleuropäischen Raumschicksals in Aphorismen ein Bild von der Gedankeneinstellung und dem Führerwirken Ratzels zu geben, würde beim Gesamtumfang seines Werkes zu einer bändereichen Arbeit anschwellen. Was aber biographisch zu leisten ist, wäre eine Auswahl dessen, worin seine Lebensüberzeugung steckt und woraus sich gesetzmäßige Dauerwirkungen ablesen lassen.

Solche Marksteine finden sich vor allem in der Fortentwicklung des Erstentwurfs der "Gesetze des räumlichen Wachstums der Staaten" (Petermanns Mitteilungen XLII, S. 97–107) aus dem ersten Erscheinen der Anthropogeographie (Stuttgart, 1882) bis zur letzten Formung in der zweiten Auflage der Politischen Geographie oder Geographie der Staaten, des Verkehrs und des Krieges (München und Berlin, 1904), der 1923 eine dritte, postume Auflage in der liebevollen, durchgeistigten Bearbeitung von E. Oberhummer folgen konnte: das erste, in der Form unveränderte Zeugnis des Wirkens um fast zwei Jahrzehnte über den Tod hinaus.

Eine ähnliche Entwicklung machten die Studien über Lage und Raum, über die Grenzen, über Inselvölker und Inselstaaten durch, ausgehend von jenem Leitsatz in Erde und Leben: "Große Macht von kleinem Raum aus geübt mit weitreichendem augenblicklichem Erfolg, aber auch von vereinzelten großen Entscheidungen abhängig" – hinter dem augenblicklich die Namen La Hogue, Trafalgar, Tsushima auftauchen, die verraten, wie furchtbar ernste Lebensgesetze hinter solchen Erkenntnissen der politischen Erdkunde stehen. Mit diesen Einsichten hängt die Erkenntnis zusammen, daß die Aussage über den Schritt vom Festland über die Küste hinweg auf das Meer, der Gegenküste zu, das Größte sei, das sich überhaupt von einer Gruppe von Menschen aussagen lasse. Wer denkt dabei nicht an den Verzweiflungsausruf des letzten Großadmirals der [207] Deutschen: "Der Deutsche hat das Meer nicht verstanden!" Ratzel ist gewiß nicht schuld daran – wohl aber vielleicht manche, die über den Kleinformen des Landes die Gesetze und Größenverhältnisse eines ozeanischen Weltbildes aus dem Gedächtnis eines wissenschaftlich so formelgläubigen Volkes gleiten ließen.

Kleinräumige Charakterfehler der zwischen ozeanischer und kontinentaler Bestimmung hin und her gerissenen Völker gegenüber den großräumigen Erziehern der Menschheit, Meer und Steppe, hat Ratzel gewiß nicht unterstützt, wenn er warnend schrieb: "Weiter Raum wirkt Leben erhaltend", oder wenn er betonte: "Heute sollte jeder europäische Staatsmann in Asien oder Amerika etwas von dem Raumsinn zu lernen versuchen, der die Kleinheit der europäischen Verhältnisse und die Gefahr kennenlehrt, die in der Unkenntnis der großen außereuropäischen Raumverhältnisse liegt. Es ist wichtig, in Europa zu wissen, wie sich die politischen Größen unseres Erdteils von der Höhe amerikanischer oder asiatischer Raumvorstellungen ausnehmen. Europas Staatengedränge, mit asiatischem Blick gemessen, kann zu Entwürfen von gefährlicher Kühnheit führen!"

Das ist ahnungsvoll geschrieben worden, als der deutsche Reichsboden noch ein paar Millionen Quadratkilometer in Afrika, Ozeanien und seinen Vorkriegsbestand an Volksboden in Europa umfaßte. Wie gilt es erst heute, wo "Europas Staatengemenge" um Dutzende von Kleinbildungen bereichert ist, asiatische Raumvorstellungen von gefährlicher Kühnheit mit den Sowjetbünden in den Völkerbund hereingekommen sind, USA. und Japan aber, die pazifischen Mächte, noch außerhalb von ihm oder schon wieder jenseits von ihm stehen. "Die Maßstäbe für die politischen Räume ändern sich ununterbrochen..." "Die Geschichte ist rückwärts gewandt und verliert daher leichter den Raummaßstab, der für die Gegenwart und die nächste Zukunft der wirkliche ist!" Wie zwingend wird in solchen Sätzen das Vorwalten der Bewegung über den Stillstand, des wirkenden, wuchtenden dynamischen Elements über alles statische Beharren, des kommenden Gesetzes über das geltende Recht, aber auch die Unhaltbarkeit einseitiger Gewaltverträge dargetan, wie selbstverständlich die Pflicht der Vorausschau, der Prognose auch für die politische Erdkunde gefordert, die noch nach den Erfahrungen des Weltkriegs R. Sieger nur für die Geopolitik in Anspruch nehmen zu dürfen glaubte. Liegt in einer solchen Selbstbeschränkung aber nicht einfach aus dem bloßen Weiterdenken im Geiste Ratzels dann schon die Forderung der Geopolitik begründet, wenn die politische Erdkunde auf dieser – nun einmal vorgezeichneten – Bahn nicht fortzuschreiten, ihrem genialsten Führer nicht zu folgen wagte?

War die 1895 unter dem Eindruck des Chinesisch-Japanischen Krieges entstandene Studie Inselvölker und Inselstaaten zwar noch beste politische Geographie älteren Stils, aber doch schon von einem seherischen Zug durchdrungen (da viele ihrer Einstellungen noch statisch verhaftet blieben, wie gleich der Einleitungssatz verriet), so löste sich Ratzel mit den Gesetzen des räumlichen Wachstums [208] der Staaten endgültig vom abgeglichenen Wissensstande, den beharrenden Zuständen seiner Zeit los und begann ihr in seinem ganzen künftigen Werk so einsam voranzuschreiten, wie er es bis dahin nur gelegentlich in machtvollen Überschreitungen des Normalrahmens getan hatte.

Zwischen diesen beiden Arbeiten liegt also wohl die entscheidende Wende des Vortretens vom Führer innerhalb der Front zum Führer vor der Front, die ihn zuletzt fast aus dem Gesichtsfeld verlor, der Schritt von der zeitlichen Bedeutung zur dauernden sub specic aeternitatis. Bezeichnend dafür ist vielleicht, daß eine ganz einzigartige geopolitische Mahnung an die Deutschen, ihre Südmark zu halten, seine Arbeit Die Alpen inmitten der geschichtlichen Bewegungen als "Politische Geographie der Alpen" erscheinen sollte, dann aber unter dem zahmeren Titel in der Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins gedruckt wurde; trotzdem gibt es auch heute noch keine irgendwie einheitlich zusammengefaßte nordische Alpenpolitik gegenüber der zielbewußt fortschreitenden romanischen und südslawischen! Was heute festzustellen ist, ist vielmehr die Zersetzung und das Zurückdrängen des nordischen Anteils am Alpenkörper und das Fortschreiten seiner Verwelschung, gleichviel, ob sie im Wallis durch Einbrüche des Weltverkehrs vorangetragen wird, oder im Tessin durch italienische Kulturwerbung, oder am Reschenpaß und Brenner tief ins deutsche Sprachgebiet durch militärische Gewalt, oder in den großen Tälern der Ostalpen durch Unterwanderung, planvolle Siedlung, Einschmelzung der tragenden Kulturschichten. "Kein anderes Gebirge wird so gesucht und umfaßt" lautet hier schon im ersten Stück über "das politisch-geographische Bild des Alpenlandes" ein divinatorischer Satz innerhalb eines bewegten Schilderungsvorganges. Wie ganz anders klingt demgegenüber im ersten Teil der Inselvölker und Inselstaaten die statische Konstatierung noch dazu mit einem welthistorischen, aber von Ratzels Zeit durchaus geteilten Irrtum: "Die Bildung eines neuen großen Inselstaates ist das Greifbarste und zunächst Entscheidende in dem Hervortreten einer nordpazifischen Macht, mit der die Staatskunst des Abendlandes rechnen muß." – "Ja: war er denn neu, der zweitausend Jahre alte Inselstaat?" mußte ich dieser echt statischen Feststellung an anderem Orte entgegenhalten! Man hatte doch nur seine "latente Energie" verkannt! (Richthofen.) Warum auch hatten sich die Staatskünstler des Abendlandes nicht schon 1854 von F. von Siebold warnen lassen, der ihnen schrieb, "es vollziehe sich jetzt eine der größten Revolutionen" – die der japanischen Reichserneuerung?

Freilich nennt es Ratzel eine "unbefangene Beurteilung, die in Japan nur eine junge, werdende Größe sieht"; er gibt zu, daß "der japanische Archipel – mit seinen geographischen Vorteilen – dieselbe Lage auf der Ostseite des größten Erdteils hat wie die, von der aus auf der Westseite England seine Weltmacht ausgebreitet hat. Er hat den Vorzug vor dem britischen, daß er dem größten Meer der Erde angehört und tiefer gegen die Tropen herabgerückt ist." Daraus ist [209] inzwischen, infolge mächtiger Streckung des Reichskörpers, eine äquatoriale Abgrenzung im Süden neben fast subpolaren Fischereirechten im Norden geworden, mit einem im Amurbogen erlangten Ausgreifen nordwärts, das fast die einstige Schutzanlehnung Japans an die nordische Anökumene wiederherstellt. Die Verheißung "früher und großer Wirkungen" Japans – 1895! – die wir seit 1932 ununterbrochen erleben – leitete über zu dem, "was die politische Geographie" – oder war es schon die Geopolitik? – "von dem politischen Wert der Inseln überhaupt zu sagen hat".

"Allen Anregungen weit offen und zugleich fähig zu sein, sie im Schutz einer geschlossenen Persönlichkeit sicher zu verarbeiten, darin liegt die Gewähr des Wachsens der Lebensentwicklungen bis zur höchsten Vollendung." Aber eine solche Erfolgsmöglichkeit schien Ratzel für Völker nur in seltenen Fällen erreichbar. Er sang dann ein Lob der Meeresgrenze als der günstigsten; für den Charakter der Inselbewohner wiederholte er das leitende Wort von Kant, der dem englischen Volk einen Charakter zuschrieb, "den es sich selbst angeschafft hat" – was man gewiß auch vom japanischen Nationalcharakter, noch mehr von Japans im Kern uralter, nur verjüngter Volksseele sagen kann und was die Zusammenarbeit beider Inselreiche von 1902 bis 1922 so sehr erleichterte. "Eine Insel läßt sich geistig und gemütlich ganz anders erfassen und umfassen als ein natürlich unbegrenztes Stück Festland. Sie bleibt immer dieselbe. Es liegt etwas, das man ein Formelement nennen kann, in dieser Wirkung der Inseln auf ihre Völker. Dasselbe zeigt sich aber auch in der starken Wirkung der Inselvölker auf die Kontinentalen. Der feste Rahmen der Insel gibt allen Äußerungen jener etwas scharf Umrissenes, Eindrucksvolles und besonders auch Gleichmäßigeres, das dem immer neue Formen annehmenden, ewig angeregten und veränderlichen Wesen der Kontinentalen naturgemäß überlegen ist."

Das sprach der geschulte Völkerpsychologe zum beschreibenden Geographen!

Freilich wird dann in geistreichen Ausführungen die Gefahr des Erstarrens der Lebensformen auf den Inseln, ja die Verkleinerung von Rassen (Peschel) gegenübergestellt und gezeigt, daß nur ein kleiner Teil von der ganzen auf Inseln entfallenden Landfläche von mehr als fünf Millionen Quadratkilometer heute politisch selbständig sei: Japan, Großbritannien und Irland, und damals eben gerade noch Hawai und Tonga wie Samoa. Aber es entging Ratzel, daß nicht nur das britische "Empire" mit seinem Gesamt-Streu-Besitz, sondern auch die großen Dominien Australien und Neu-Seeland als echte, mindestens werdende Inselreiche angesprochen werden müßten und daß die Niederlande durch die Entwicklung ihres mehr als zwei Millionen Quadratkilometer umfassenden malaiischen Inselreichs, die USA. durch ihre vorbereiteten Übergriffe nach dem amerikanischen Mittelmeer und dem Pazifischen Ozean im Begriff waren, mindestens wehrgeopolitisch unter die Daseinsbedingungen von Inselreichen zu treten. Ihnen näherten sich auch die beiden führenden romanischen Wehrvölker, [210] während Deutschland zur gleichen Zeit das am meisten ozeanische Inselreich der Erde beiderseits des Äquators im Pazifik sein eigen nannte, sonach auch – was viele vergaßen – nach den Lebensbedingungen eines Inselreichs diplomatisch und wehrtechnisch zu verteidigen gehabt hätte. Daß der überwältigende Teil der deutschen herrschenden Schichten und der Volksvertretung davon keine Ahnung hatte und seine weltpolitische Bedeutung und Verpflichtung nicht begriff, entbindet niemand von der Verantwortung: "Der politische Wert der Inseln ist nicht nach dem Raum zu schätzen; und ebenso ist auch wichtiger als ihr Raum die Lage der Inseln zu ihrem Lande oder zu Nachbarländern."

Darin lag der Schwerpunkt unserer Südsee-Politik.

Sie stellte Deutschland durch ihre Gegenspannung zu dem eurasiatischen Endpunkt einer gleichfalls möglichen russisch-chinesischen transkontinentalen Eisenbahnpolitik in Tsingtau vor ungeheure weltpolitische Ausgleichsaufgaben, denen es nicht gewachsen war, weil es namentlich dem Beamtenkörper, auch unseres Auswärtigen Amtes, durchaus an der geeigneten Schulung fehlte, die ja fast nur rein rechtswissenschaftlich und allenfalls sprachlich erfolgte. Raumpolitische Richtfeuer, wie die Gesetze des räumlichen Wachstums der Staaten, sind in jenen Kreisen fast ganz unbekannt geblieben, obwohl Raumgewinn wie Raumverlust, groß- und weiträumige oder klein- und engräumige Entwicklung des Volksbodens durchaus von ihrer Einsicht, Tätigkeit oder ihren Unterlassungssünden abhingen. Die völlige Verkennung grundlegender Eigenschaften von Inselreichen, von angelsächsischer Kulturpolitik gehörte ebenso zu solchen Unterlassungssünden wie die Unterschätzung russischer Raumansprüche und nordamerikanischer Seeraumüberwindungsfähigkeit.

Dabei war der deutsche Volksboden und Wirtschaftsbereich praktisch in Raumerweiterungsvorgänge eingetreten, die störende Wirkungen auf die eingelebten Altformen ausüben mußten, deren Verteidiger sich durchaus im klaren über Ratzels raumpolitisches Wachstumsgesetz waren, das lautet: "Das Wachstum der Staaten folgt anderen Wachstumserscheinungen der Völker, die ihm notwendig vorausgehen." Diese Erscheinungen wurden im Rahmen der dadurch Bedrohten deutlicher wahrgenommen als bei uns selbst, was Rudolf Kjellén in seinen Kriegsaufsätzen in klassische Form gebracht hat. Man erkannte auch wohl die Gefahr des anderen raumpolitischen Gesetzes: "Der Raum der Staaten wächst mit der Kultur" – mit der zugleich die Auflockerungserscheinungen an den Rändern Hand in Hand gehen, die dort auftreten, wo Wachstum sich vorbereitet, wobei eben der Natur des Staates als eines organischen Wesens nichts mehr widerspricht als eine starre Umgrenzung. Eben diese starre Umgrenzung aber wünschten die Mächte des Beharrens gerade den unter Volksdruck zitternden, zu eng und hoch überbauten Staatsgebieten, wie dem Deutschen Reich, Japan, Italien gegenüber aufrechtzuerhalten oder noch straffer anzuziehen und ihnen Rückgangserscheinungen aufzunötigen.

[211] Es gibt keinen fruchtbareren Weg, Licht auf die Zukunftswege künftiger Führer-Erziehung durch "ein in Ordnung gehaltenes Weltbild" (Burckhardt) zu werfen, als durch einen Vergleich der 1896 von Ratzel niedergeschriebenen Raumgesetze für das Wachstum der Staaten mit dem volksdeutschen Werdegang von jener Zeit bis heute, auch wenn wir nur einzelne besondere Wendepunkte herausgreifen.

"Handel und Verkehr eilen der Politik weit voraus, die ihnen auf gemeinsamen Wegen folgt und nie scharf von ihnen zu trennen ist." Wie mußte der Ressort-, Fakultäts-, Stammtisch-, Vereins-Fanatismus, ein Erbe kleinstaatlicher Vergangenheit, die hier geforderte Zusammenarbeit hemmen! "Der Idee, Nachbargebiete zu vereinigen, muß ihre unpolitische Kenntnis vorausgegangen sein." Was aber wußte zum Beispiel das deutsche Volk von der inneren Struktur und Seelenstimmung des Verbündeten, dem es sich auf Gedeih und Verderb vereint hatte? Wie steht es heute mit dieser Kenntnis? Bahnt ihr wohl eine Verkehrssperre erfolgversprechende Wege? "Jeder Verkehrsweg bahnt auch politischen Einflüssen den Weg..." Kam es wohl den natürlichen Verteidigern eines Kultur- oder Volksbodens zum Bewußtsein, wie sehr fremde Verkehrseinbrüche, Tunnelbauten über Alpenteile zugleich fremder Volkseinströmung den Weg bahnten? Sahen sie in rechtzeitiger Bauernsiedlung die Möglichkeit, der Unterwanderung auf solchen Wegen lebendige Abwehr entgegenzustellen?

"Die Erweiterung des geographischen Horizonts muß mit allen unpolitischen Ausbreitungen zusammen dem politischen Wachstum vorangehen", lautete eine weitere Forderung Ratzels, mit der Feststellung verbunden: "Bis auf die Gegenwart herab sind die größten Erfolge der expansiven Politik durch die Pflege der Geographie vorbereitet worden." Gibt es eine schlagendere Rechtfertigung der französischen Kulturpolitik und des wohlbedacht für sie angelegten Aufwandes? Eine herbere Verurteilung der Tatsache, daß die "Deutsche Akademie" dreihundert Jahre nach der französischen gegründet wurde? Und drittens: "Das Wachstum der Staaten schreitet durch die Angliederung kleinerer Teile bis zur Verschmelzung fort, mit der zugleich die Verbindung des Volkes mit seinem Boden immer enger wird." Die Ausführungen dazu warnen aber vor dem "mechanischen Aneinanderfügen, das erst organisches Wachstum durch die Annäherung, wechselseitige Mitteilung und Vermischung ihrer Bewohner wird".

Das ist ein lehrreiches Vor-Kapitel zu jeder Anschlußfrage!

Wie eine Warnung gegenüber der falschen Einfügung von Elsaß-Lothringen ins Zweite Reich aber liest sich die Stelle: "Staatenwachstum aber, das nicht über Angliederung hinausgeht, schafft nur lockere, leicht wieder auseinanderfallende Konglomerate, die nur vorübergehend durch den Willen eines eine größere Raumvorstellung verwirklichenden Geistes zusammengehalten werden."

"Die Grenze ist" – so mahnt das vierte Gesetz – "als peripherisches Organ des Staates sowohl der Träger seines Wachstums wie auch seiner Befestigung und [212] macht alle Wandlungen des Organismus des Staates mit" – leider auch seine Schwächeanwandlungen, womit der Pulsschlag gerade der Grenzdurchblutung zusammenhängt, aus deren Überfülle ein Staat "gleichsam Wachstumsspitzen aussendet, die mit einem reicheren Leben erfüllt sind als die übrige Peripherie". An diesem Leben also lehrte uns Ratzel den Lebenswillen, die Lebenskraft von Staaten überhaupt erkennen und trat mit der Erziehung zu einer "richtigen Wertschätzung des Bodens" vor allem den kosmopolitischen Strömungen seiner Zeit entgegen, die der entscheidenden Rolle ausreichenden Lebensraums und genügender Atemweite nicht gerecht wurden.

Ein fünftes Gesetz lautet: "Der Staat strebt im Wachsen nach Umfassung der politisch wertvollen Stellen." Das heißt in der Umkehrung: wo sich solche Umfassungen sichtlich vorbereiten, da werden von den umfassenden Staaten Schwächestellen mit geringerem Widerstand vermutet oder bereits gefühlt! Von diesem Gesichtspunkt aus wird eine planmäßige Betrachtung der deutschen Volks-, Staats- und Wehrgrenze zu überraschenden Einsichten führen, vor allem auch zu Einblicken, wo Nachbarn Richtungen des geringsten politischen Widerstandes annehmen, vermuten oder wittern, wie sie etwa Japan in der Mandschurei verfolgte, die Sowjetbünde sich geraume Zeit in Bessarabien offenhielten.

Tiefe weltpolitische Wahrheit wird erschürft, wenn man das sechste Gesetz überdenkt: "Die ersten Anregungen zum räumlichen Wachstum der Staaten werden von außen hineingetragen" – was etwa aus dem Rückschlag der neujapanischen Ausdehnung auf die Landöffnung durch Kommodore Perry, dem deutschen Gegenschlag von 1870 auf den beständigen Grenzraub durch Frankreich eine natürliche Erläuterung findet, freilich auch in der Auffassung weltpolitischen Nomadentums als "politisches" Ferment.

So wohlfeilen Kaufs durfte der geistvolle Erschürfer des tieferen Gegensatzes zwischen Bewegungsgebieten und Beharrungsgebieten, zwischen den Staatengründungen zum Beispiel der seefahrenden Völker, die geringe Kräfte zu großen Wirkungen zusammenfassen, und den zur Erstarrung neigenden, mit politischer Schwerfälligkeit geschlagenen Ackerbaukolonisationen die "beweglicheren, weltkundigeren Elemente der Befruchtung" nicht aus den Händen lassen!

Wir fassen heute diesen Gegensatz der Bodenfesten und Bodenschweifenden noch ernster auf!

Aber auch das siebente Gesetz wird wohl bestehen müssen: "Die allgemeine Richtung auf räumliche An- und Abgleichung pflanzt das Größenwachstum von Staat zu Staat fort und steigert es ununterbrochen." Es führt zuletzt zu dem Gesetz der wachsenden Räume, und "so wirkt das Bestreben auf die Herausbildung immer größerer Staaten durch die ganze Geschichte hin".

Die Friedensbestimmungen der Pariser Vororte mit ihrer kleinräumigen Zergrenzung Europas, der Schöpfung eines kleineuropäischen Gedankens schienen durch geraume Zeit diesem Gesetz ins Gesicht zu schlagen, so daß selbst Rudolf [213] Kjellén sich, namentlich wohl durch die kleinräumige Auflockerung Skandinaviens getäuscht, beirren ließ. Aber bei Licht betrachtet, sind eben alle diese Schöpfungen, wie sich wirtschaftlich immer mehr herausstellt, gegenüber den großen, sich außereuropäisch bildenden Wirtschaftsgebieten großräumiger Art überhaupt nicht mehr lebensfähig, so daß sich die Fernschau Ratzels eben doch als richtig erwiesen hat.

Ein fast schwermütiger Ausklang endlich liegt in der Schlußwendung: "Im friedlichen Wettbewerb wie im kriegerischen Ringen gilt die Regel, daß der Vordringende denselben Boden betreten muß, auf dem sein Gegner steht. Indem er siegt, gleicht er sich ihm an." Das wollte Ratzel für Rußland und Frankreich in Zentralasien und Afrika beweisen, wo "beide als an Steppen grenzende Staaten im Kampfe mit Steppenvölkern selbst so weit Steppenstaaten werden, daß sie sich der Vorteile bemächtigen können, die die Steppe bietet". Aber es gilt wohl auch für Seeräume, für deren Herren man etwa die Verlegung der Macht von Kalkutta nach Delhi als eine solche Anpassungserscheinung deuten könnte.

Mehr als andere Arbeiten Ratzels eignen sich Die Gesetze des räumlichen Wachstums, sein Gedankenspiel und seine Arbeitsweise mit ihrem folgerichtigen Ausbau einmal gefügter Werkstücke, mit dem Zu-Ende-Schmieden einmal gefundener Gedankenketten in einem Lebensbild anschaulich zu machen. Sie blieben bei allem Dienst am Volk den Massen nicht leicht erschließbar, bei aller edlen Sprachkunst schwertönig. Darum glich seine Wirkung, so stark sie war, so mächtig sie viele einzelne erfaßte, als Gesamtwirkung immer ähnlich der Durchstrahlung geballten und schweren, immer wieder sich zusammenziehenden Gewölks. Neben früh erlangter Weltgeltung, namentlich unter Angelsachsen und Franzosen, blieb Ratzel in dem eigenen Sprachgebiet und Volksboden umstritten. Ihm, der von beherrschter strengster Naturwissenschaft herkam, in der er sich nur nicht in die Enge und die Kleingänge reinen Spezialistentums verlieren wollte, warfen zuletzt Geister, die seinen universalen Zug nicht zu überschauen und zu fassen vermochten, Hang zum Mystizismus vor, weil er wagte, was jeder echte Führer wagen muß: vorauszuschauen, fernzufühlen, zu warnen und zu lenken statt lediglich zu registrieren. Solchen Richtungen gegenüber hat ihn mit Recht der Ausspruch überlebt, daß die Wissenschaft sich begnüge, Registrator zu sein, wo sie den Mut haben müsse, Rolle und Verantwortung des Generaldirektors zu übernehmen.

Starke Wirkungen von ihm lassen sich aber bei den Völkern verfolgen, die den ungeheuren Wert rechtzeitigen Raumgewinns und der Vertiefung in weite Räume früher erkannt und diese Einsicht besser ausgewertet hatten als die Deutschen. Das geht nicht nur aus den Nachrufen von Jean Brunhes und Paul Vidal de la Blache hervor (glänzenden Vertretern der in Frankreich so hoch entwickelten, durch unendlich feine Verästelungen mit der ganzen staatlichen Kulturpolitik verbundenen politischen Erdkunde), aus der warmen Würdigung Dmitri [214] N. Anuschkins oder von Ellen Churchill Semple, die dauernd Ratzels Arbeitsweise treu blieb, sondern mehr noch aus ganzen Entwicklungsrichtungen der politischen Wissenschaft, wie etwa der italienischen mit ihren Stützpunkten in Florenz (Universo), Rom und Triest. Das sind Reflexe der Strahlung ins werbende, wirkende Leben hinein.

Was aber schwerer verstanden wurde, ist, wie stark in diesem Leben bei aller naturwissenschaftlichen Klarheit die metaphysischen Werte bleiben konnten. Gerade diese Seite aber – in einem Zeitalter der Überhebung des Greifbaren von seinen ausschließlichen Trägern und Vorkämpfern befehdet – klingt heute mächtiger als damals wieder und offenbart sich vielleicht am stärksten in dem Aufsatz: "Freunde, im Raum wohnt das Erhabene nicht", der mit dem Satz beginnt: "Es ist ein großer Irrtum, zu wähnen, die Religion, die auf den tieferen Stufen der Kultur alles geistige Leben in sich faßte und leitete, sei arm und schwach zurückgeblieben, als Kunst und Wissenschaft sich von ihrer Führung befreiten."

Er führt auf eine erhabene Vereinfachung unseres Weltbildes zu, das nicht durch Massenanhäufung des Wissens geklärt und gesichtet wird, sondern nur durch seine Durchdringung und Überwindung, die auf ein Sicheinsfühlen mit dem Unendlichen gerichtet ist. "Die Erfahrung, daß wahre Wissenschaft nicht von Gott wegführen könne", "daß Erkenntnis... der großen Naturforscher, als Summe ihrer Erfahrung ausgesprochen,... im Sicheinsfühlen mit dem Unendlichen errungen worden sei, das zu lehren folglich die höchste Aufgabe der Wissenschaft sein müßte, die wirklich aufklären will."

"Ohne den Blick ins Unendliche gleicht kein Weltbild der Wirklichkeit und ist daher auch keine Weltanschauung möglich, die standhält." In solchen Anschauungen klang Ratzels Leben aus. Sie waren freilich weltenfern von vielen Erscheinungen, die von der Gottähnlichkeit des Gebildetenbegriffs schon in dieser Zeitlichkeit nicht lassen wollen, und wurden von einer letzten Welle des Mißverstehens umrauscht. Aber sie zeigen uns überzeugend, wie sehr der Träger eines solchen Weltbildes – zugleich ein Vorbild wirklich allgemeiner Bildung, von natur- wie geisteswissenschaftlicher Richtung her untermauert – als führender Geist Zeitgenosse der Nachwelt – ein dauernd Wirkender – geblieben ist. Er blieb es am meisten gerade da, wo ihn die Mitwelt nicht oder am wenigsten verstand, eben weil Friedrich Ratzel diese Führerrolle ganz ungesucht gewann, er, der nur als Arbeitskamerad zu suchen auszog, wie er einer der besten Kriegskameraden war, und neben dem Erforschlichen, das er erforscht hatte, das Unerforschliche ruhig verehren konnte, der das Ewige, Unsterbliche gewann unter dem Leitwort: "Willst du ins Unendliche schreiten, geh nur im Endlichen nach allen Seiten!" Ehrlich und treu schritt er das Endliche aus.




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Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz