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[Bd. 4 S. 484]
Carl Duisberg, 1861-1935, von Albrecht Weiß

Carl Duisberg.
[496a]      Carl Duisberg.
Wenn man unter "Wirtschaft" die Gesamtheit der Maßnahmen versteht, die ein einzelner, eine Familie, ein Volk zum Zwecke der Befriedigung ihrer lebenerhaltenden und lebenverschönenden Bedürfnisse trifft, dann hat von jeher die "Wirtschaft" im Einzel- und Gesamtleben eine ausschlaggebende Rolle gespielt und den Anstoß zu den meisten Schicksalsänderungen in der Einzel- und Gesamtexistenz gegeben.

Und doch ist der Begriff "Wirtschaft" als Bezeichnung dieses Teilgebietes im privaten und öffentlichen Leben erst um die Mitte des vorigen Jahrhunderts zu der Bedeutung gelangt, die ihm heute innewohnt: Wirtschaftspolitik, Wirtschaftsorganisationen, Wirtschaftswissenschaft, Wirtschaftsführer, alles das sind Bezeichnungen, denen wir erst in den letzten Jahrzehnten in dieser Ausgeprägtheit begegnen.

Es muß also irgendeine grundsätzliche Änderung im Gefüge der Wirtschaft selbst die Ursache dafür sein, daß sie sich als ein selbständiger Begriff ausbilden und von einem gewaltigen Teil der privaten und öffentlichen Sphäre Besitz ergreifen konnte, wie das seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in Europa der Fall war.

Diese grundsätzliche Änderung ist in der Entwicklung der modernen Technik zu erblicken, die, nach der Erfindung der Dampfmaschine und der Gewinnung der modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden, in sprunghafter Vorwärtsentwicklung das ganze Weltbild änderte, den Menschen zum fast unbeschränkten Herrn über die Kräfte und Erzeugnisse der Natur machte, ihn dafür aber in einer neuen Art von Sklaverei an ihren Siegeswagen fesselte, ihm alle Wünsche befriedigte, dafür aber immer neue unerfüllbare Wünsche einimpfte und ihn unselbständig, unzufrieden und unglücklich machte. So groß wurde der Strom der erzeugten Güter, daß er die Grenzen der nationalen Wirtschaft durchbrach und auf dem Weltmarkt mit den Gütern, die andere Völker erzeugt hatten, zusammenprallte. Außen- und Innenpolitik wurden durch diese fast explosive Entwicklung in Atem gehalten; soziale Umwälzungen, politische Verwicklungen, schließlich auch der Weltkrieg sind die Spuren, die der Siegeszug der Technik auf den Tafeln der Geschichte der letzten hundert Jahre hinterlassen hat.

In Deutschland setzte das sprunghafte Vorwärtsdrängen nach dem gewonnenen Kriege mit Frankreich ein; zwar trugen die ersten Jahre, die "Gründerjahre", den Charakter einer ungesunden Übersteigerung, und der Rückschlag ließ [485] nicht lange auf sich warten. Nach seiner Überwindung aber, etwa von der Mitte der achtziger Jahre an, ging es unaufhaltsam vorwärts: die Blüte des Hochkapitalismus setzte ein: Bevölkerung, Volkseinkommen und Volksvermögen wuchsen, der Handel dehnte sich aus, der Export stieg von 2,5 Milliarden Mark im Jahre 1875 über 4,6 Milliarden Mark im Jahre 1900 auf 10,1 Milliarden Mark im Jahre 1913.

Kolonien nahmen die überschüssige Volks- und Wirtschaftskraft der Heimat auf, Heer und Flotte wurden dem vermehrten Schutzbedürfnis der nationalen Wirtschaftsinteressen angepaßt, nach außen eine Blüte ohnegleichen!

Diese Entwicklung hatte aber eine völlige Umschichtung sowohl der Betriebe und der darin Beschäftigten wie auch der sozialen Verhältnisse, unter denen Millionen von Deutschen arbeiteten, zur Folge:

Die Zahl der gewerblichen Betriebe verminderte sich von 1875 bis 1925 um 17%. In der gleichen Zeit stieg die Zahl der in ihnen beschäftigten Personen um 132% und ihre Kraftmaschinenleistung um 1860%.

Während 1895 noch 54,5% der Beschäftigten in Kleinbetrieben bis zu 10 Personen tätig waren, betrug diese Zahl 1925 nur noch 39,4%, während im gleichen Zeitraum die Zahl der Gefolgschaftsmitglieder in Großbetrieben mit über 200 Beschäftigten von 15,7% auf 23,5% stieg.

Eine Aufstellung anläßlich des Dawes-Planes ergab, daß die Großbetriebe mit einem Betriebsvermögen von 1 Million Mark und mehr nur drei Prozent aller industriellen Betriebe ausmachten, aber mehr als zwei Drittel des gesamten Betriebsvermögens in sich vereinigten.

Die Umschichtung des sozialen Gefüges der Bevölkerung verlief in der Richtung von der Selbständigkeit zur Unselbständigkeit der Arbeit, eine nicht minder psychologische als wirtschaftliche Veränderung für den Menschen.

1882 lebten noch 14,6 Millionen Deutsche von dem Erwerb, den das Familienoberhaupt als selbständiger Bauer, Handwerker und Kleingewerbetreibender erzielte. 1933 waren das nur noch 11,4 Millionen Menschen, obwohl im gleichen Zeitraum die Gesamtbevölkerung von 40 Millionen auf 65 Millionen gestiegen war. In der gleichen Zeit ist die Zahl der wirtschaftlich abhängigen Arbeiter, Beamten und Angestellten und der von deren Arbeit lebenden Familienangehörigen von 21,5 Millionen auf 39,3 Millionen gestiegen. Von allen Erwerbspersonen und Berufszugehörigen rechneten im Jahre 1882 noch 36,6%, im Jahre 1933 aber nur noch 17,6% zur Gruppe der selbständigen Erwerbspersonen.

So sah, mit wenigen Zahlen umrissen, die Veränderung aus, die die Wirtschaftsentwicklung im Zeitalter des Hochkapitalismus in das Gefüge der Bevölkerung und in das der nationalen und der Weltwirtschaft gebracht hatte. Kein Wunder, wenn sich nach innen und nach außen Rückwirkungen zeigten, die den äußeren Glanz dieser Entwicklung trübten. Die "soziale Frage" mit ihren innerpolitischen Folgen, die weltwirtschaftlichen Reibungen, vor allem mit dem bisher den Welthandel beherrschenden England, ließen Gefahren aufsteigen, die nur des [486] innereuropäischen Anstoßes bedurften, um sich in der gewaltigsten Katastrophe zu entladen, die je über ein Volk gekommen ist: Weltkrieg und soziale Revolution warfen Deutschland politisch, wirtschaftlich und moralisch auf einen Tiefstand zurück, der unerträglich bleiben mußte. Im Kriege zeigte sich, daß nicht nur das Leben der Völker durch Technik und Wirtschaft umgestaltet war, sondern auch ihr Kämpfen. Und als es dann an den Wiederaufbau ging, da mußte mit der inneren moralischen Wiedererstarkung des Volkes Hand in Hand gehen ein zähes Ringen um die Heilung der Wunden, die Krieg, Revolution und Inflation dem deutschen Wirtschaftskörper geschlagen hatten, und darüber hinaus eine friedliche Wiedereroberung einer Weltgeltung deutscher Wirtschaft, die in Ergänzung der nationalen Wirtschaft für ein so rohstoffarmes Land wie Deutschland unbedingt erforderlich war.

Wohl kaum hat es in früheren Abschnitten der Geschichte eine Zeit gegeben, in der im Verlauf von fünfzig Jahren das Geschick eines Volkes so hin und her geschleudert wurde, in der die Menschen ein solches Ausmaß seelischer Spannungen zu durchmessen hatten, und in der den Männern, die ihr Schicksal an verantwortungsvolle Posten gestellt hatte, derartige kaum zu bewältigende Aufgaben gestellt waren.

Wir verstehen jetzt, daß sich in dieser Zeit der Begriff "Wirtschaftsführer" selbständig neben den Führern auf politischem, militärischem und geistigem Gebiet ausgebildet hat, und wir betrachten deshalb den Lebensgang Carl Duisbergs, den – aus kleinsten Anfängen kommend – Begabung, unermüdlicher Fleiß und eine glückhafte Hand in dieser Zeit zum Führer eines besonders wichtigen Zweiges der deutschen Wirtschaft gemacht haben.

Duisbergs Lebenswerk galt der deutschen chemischen Industrie. Von einer solchen konnte vor der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nicht gesprochen werden. Die Bedeutung der chemischen Industrie liegt darin, daß sie in streng methodischer Weise die Errungenschaften der chemischen Wissenschaft verwertet. Diese ist aber erst in den letzten Jahrzehnten des achtzehnten und im Beginn des neunzehnten Jahrhunderts geschaffen worden, und zwar in erster Linie in Frankreich und England. Hier befinden sich daher auch die Wurzeln der heutigen chemischen Industrie, und nach diesen Vorbildern begann sich erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die deutsche chemische Industrie zu entwickeln: erst zaghaft, dann aber in gewaltigen Schritten, die die Mutterländer bald weit hinter sich ließen. Der Grund hierfür lag vor allem in der wachsenden Bedeutung des organisierten chemischen Studiums und in der auf Liebig zurückgehenden Schaffung großer Unterrichtslaboratorien, aus denen Anregungen für die Produktion und der Nachwuchs an schöpferischen Chemikern stammten.

Gegen Ende der sechziger Jahre faßte die Industrie der künstlichen Farbstoffe in Deutschland festen Fuß und entwickelte sich unter dem Einfluß einer immer intensiveren Forschung zu ungeahnter Bedeutung.

[487] Steht die deutsche chemische Industrie nach ihrer Arbeitsintensität lange nicht im Vordergrund (1885 78 000 Beschäftigte, 1913 282 000 Beschäftigte, 1918 366 000 Beschäftigte, 1929 453 000 Beschäftigte, 1934 378 000 Beschäftigte), so bindet sie doch erhebliche Kapitalien und steht in der Produktion für den Export mit an allererster Stelle. Rund ein Drittel ihrer Produktion, die von 0.1 Milliarden Mark im Jahre 1875 auf 3 Milliarden Mark im Jahre 1913 gestiegen war, hat sie exportieren können; die Teerfarbenindustrie allein war in der Lage, den Weltbedarf an Farben zu befriedigen; und es ist für die Bedeutung der chemischen Industrie in der heutigen Notzeit unserer nationalen Wirtschaft bezeichnend, daß es ihr trotz Patentraub, Schutzzöllen und Währungsdumping gelungen ist, wieder etwa ein Viertel ihrer Gesamtproduktion zu exportieren.

Wirtschaftsführer und insbesondere Führer der deutschen chemischen Industrie in den letzten fünfzig Jahren gewesen zu sein, bedeutet nach all diesem also die Belastung mit einer Fülle schwierigster Aufgaben, deren Lösung von weittragender Bedeutung für Volk und Staat werden mußte.

In diese Jahre fällt die Lebensarbeit des zweiundzwanzigjährigen Doktors der Chemie Carl Duisberg, der 1883 in die Dienste der Farbenfabriken vorm. Friedrich Bayer & Co. in Elberfeld eintrat, um zunächst für seine Firma im Universitätslaboratorium in Straßburg wissenschaftlich zu arbeiten. Den Farbenfabriken erging es damals nicht gut; Carl Rumpf, der Schwiegersohn des Firmengründers Friedrich Bayer und erste Leiter des in eine Aktiengesellschaft umgewandelten Unternehmens, bezog weder Tantiemen noch Dividende. Trotzdem oder gerade deswegen entschloß sich der zielbewußte Mann, über die wissenschaftliche Forschung zu neuem Auftrieb in der Produktion zu gelangen.

Mit Duisberg hatte er einen glänzenden Griff getan. Man kannte die Familie in Elberfeld; Friedrich Bayer war mit Duisbergs Mutter, einer Frau von seltener Klugheit und Energie, zur Schule gegangen. Man wußte, daß der einzige Sohn, der am 29. September 1861 geborene Carl, nicht den väterlichen Beruf als kleiner Bandwirker und Landwirt übernehmen wollte, sondern von Jugend an erklärt hatte: "Mutter, ich will Chemiker werden!" Die mühsam errungene Erlaubnis hierzu hatte Carl nicht mißbraucht; intensive und vielseitige Studien in Göttingen, später als Student und Assistent bei Geuther in Jena und von Baeyer in München, hatten ihm gediegene Kenntnisse auf dem heiß erstrebten Betätigungsgebiet verschafft. Daneben hatte er Volkswirtschaft getrieben, was ihm später sehr zugute kommen sollte, und war unter dem starken Einfluß Ernst Haeckels in die Breite der Naturwissenschaften eingedrungen. Nun traten die ersten wirklichen Aufgaben an ihn heran. Er bewältigte sie, vom Herbst 1884 an im Laboratorium der Elberfelder Fabrik selbsttätig, spielend und konnte nach kurzer Frist eine Anzahl neuer substantiver Azofarbstoffe zum Patent anmelden.

Eine Reihe weiterer Arbeiten führte zu der Gewinnung des für die Entwicklung der Farbenfabriken ausschlaggebenden Benzopurpurins, einer Erfindung, bei der [488] ihm der Zufall einer nicht erwarteten Reaktion in einem versehentlich nicht ausgeschütteten Glase zunutze wurde. Gewiß gab er gern die Bedeutung des Zufalls bei wichtigen Geschehnissen zu; in der Regel aber kann dieser Zufall nur in der Kette der von einem genialen Menschen geschaffenen Voraussetzungen eine wirklich ausschlaggebende Rolle spielen.

Es folgten die Dianisidine und die Benzazurine, die ersten blauen Baumwollfarbstoffe. Die Schwierigkeiten, die hier zu überwinden waren, stellten vor allem an die Arbeitszeit des jungen Forschers Anforderungen, denen nur ein Mensch gerecht werden konnte, dessen früheste Jugendeindrücke bestimmt waren von der unermüdlichen Arbeit, die im Elternhause regierte.

Die Erfindung des Dianisidins gab den Anstoß zur Auffindung des Phenazetins und damit zu der Reihe glänzender Schöpfungen der Farbenfabriken auf dem Gebiete der pharmazeutischen Präparate, die Deutschland auch hier einen Vorrang in der Welt eingeräumt haben, den es heute noch behauptet.

Der ganze Umfang der wissenschaftlichen Tätigkeit Duisbergs, die sich bald in einem eigenen von den Farbenfabriken geschaffenen Forschungslaboratorium und zusammen mit einem immer größer werdenden Stab von Mitarbeitern vollzog, ist viel zu groß, um hier im einzelnen gewürdigt zu werden. Eine Zusammenfassung dieser Arbeiten anläßlich seines sechzigsten Geburtstages nimmt allein in der Aufzählung über hundert Druckseiten in Anspruch. Abgesehen von der unendlich befruchtenden Wirkung dieser Arbeit für seine Firma und die gesamte deutsche Wirtschaft ist wichtig der auf Liebigs Einfluß zurückgehende Ausgangspunkt. "Man muß es immer wiederholen, muß es unserem Werte schaffenden Volk immer fester in das Bewußtsein hämmern: Unsere Industrie kann nur gedeihen, wenn sie sich mit wissenschaftlicher Forschung und wissenschaftlichem Geist zu einer Gemeinschaft verbindet", schreibt er zum hundertjährigen Bestehen der Technischen Hochschule Karlsruhe.

Die Durchführung der Forschung im Bereiche der Technik selbst, in Forschungslaboratorien der Industrie, stellte die Verwirklichung dieses Gedankens dar. Kein Wunder, wenn er auch die Sicherung der Ergebnisse dieser Forschungsarbeit im geschäftlichen Konkurrenzkampfe, die Behandlung des Patentwesens, besonderer Beachtung unterzog. Als ganz jungem Chemiker war es ihm gelungen, durch ein ebenso unvorbereitetes wie sachlich zwingendes Eingreifen in eine Verhandlung des Reichsgerichtes einen schwierigen, wichtigen und für seine Firma schlecht stehenden Patentstreit zu ihren Gunsten zur Entscheidung zu bringen. Seitdem liegt ihm das gewerbliche Rechtsschutzwesen am Herzen; noch 1934 übernimmt er den Vorsitz des Ausschusses für gewerblichen Rechtsschutz der Akademie für Deutsches Recht.

Inzwischen haben die Farbenfabriken, nicht zum wenigsten dank der erfolgreichen Erfindertätigkeit Duisbergs, lebhafte Fortschritte zu verzeichnen; Duisberg rückt äußerlich auf; neben den rein wissenschaftlichen Aufgaben beschäftigen ihn [489] Fragen der Produktion und des Verkaufs. 1888 gründet er Heim und Familie: Johanna Seebohm, die Nichte Carl Rumpfs, schließt mit ihm eine ungewöhnlich glückliche Ehe, die, mit vier Kindern gesegnet, nach 47 Jahren sein Tod endet.

Die allgemeine Wirtschaftsentwicklung reißt die junge deutsche chemische Industrie in ihren Schwung hinein; bald führt sie mit an der Spitze, vor allem auch im Ausland. Die beengten Räume im schmalen Tale der Wupper können die immer neuen Produktionen nicht mehr fassen, und man sucht nach neuen entwicklungsfähigen Möglichkeiten. Um einen Teil der Fabrikation zu verlegen, erwarb man 1891 etwa zehn Kilometer rheinabwärts von Köln, am rechten Stromufer gelegen, die stillgelegte Alizarinfabrik Carl Leverkus Söhne. In diesem Zeitpunkt zeigt der vierunddreißigjährige Duisberg, daß er nicht nur ein besonders tüchtiger Chemiker, ein Erfinder von Format und ein Schaffer ist; er entwirft 1895 eine Denkschrift über den Aufbau und die Organisation der Farbenfabriken zu Leverkusen und zeichnet schon damals mit genialem wirtschaftlichem Weitblick und erstaunlichem Organisationstalent die moderne chemische Fabrik, wie sie dann später errichtet wurde und heute noch arbeitet, nach fünfunddreißig Jahren noch selbst in Kleinigkeiten den turmhoch gewachsenen Anforderungen entsprechend. Technisch vollendet, organisatorisch ein Meisterwerk, den Grundsatz neuzeitlicher Sozialpolitik von der "Schönheit des Arbeitsplatzes" schon damals verkörpernd, steht dieses Werk Carl Duisbergs, nach jahrelanger Besatzungszeit, ununterbrochen ein Gegenstand Versailler Industriespionage, nun wieder am freien deutschen Rhein als ein Wahrzeichen unbeugsamen deutschen Lebenswillens.

Carl Duisberg im Kraftwerk seiner Leverkusener Fabrik.
[480b]      Carl Duisberg im Kraftwerk seiner Leverkusener Fabrik.
[Bildquelle: I. G.-Farbenindustrie-A.G., Frankfurt a. M..]

Inzwischen war Duisberg Prokurist und, 1900, Vorstandsmitglied bei den Farbenfabriken geworden; mehrere Reisen nach den Vereinigten Staaten hatten den Blick für die weltwirtschaftlichen Zusammenhänge geweitet; amerikanische Betriebs- und Wirtschaftsorganisation hatten das Verständnis für grundsätzliche Fragen auf diesem Gebiet auch für die in die Höhe geschossene deutsche Industrie geweckt. Gewiß war Duisberg in seiner wirtschaftlichen Weltanschauung ein Kind seiner Zeit: die Auswirkung der schöpferischen Persönlichkeit war auch für ihn der Ausgangspunkt allen Wirtschaftens; aber er verfiel nicht in einseitiges Manchestertum. Dafür war er nicht geborener Unternehmer. Er gehörte zu dieser neuen Schicht von Wirtschaftsführern, die weder als erste Generation den Gründertyp noch als nachgeborene Generation den Typ der meist schwächeren Erben verkörpern. Duisberg hat sich immer als den ersten Diener seines Unternehmens gesehen. Das hat sich nicht nur im Verhältnis zu seiner Mitarbeiterschaft ausgedrückt, sondern vor allem in der Einstellung zu der Frage: Wie diene ich mit meinem Unternehmen am besten den Interessen der Gesamtwirtschaft und damit denen meines ganzen Volkes. Gewiß lehnte er planwirtschaftliche Versuche, Wirtschaftsdemokratie und Sozialisierung grundsätzlich als tödliches Gift für den gesunden Unternehmergeist ab, aber ebensowenig beanspruchte er für die Wirtschaft die Herrschaft über den Staat.

[490] So, wie er sein persönliches Wohl hinter das seines Unternehmens stellte, zögerte er auch nicht, die Selbständigkeit dieses Unternehmens zu opfern, sobald er zu der Einsicht gekommen war, daß das im Interesse der gesamtdeutschen Wirtschaft erforderlich war. Doch war der Weg von dieser Erkenntnis bis zur Verwirklichung seiner Pläne weit. Eine Reise nach den Vereinigten Staaten im Jahre 1903 vermittelte ihm tiefe Einsichten in das amerikanische Trust- und Kartellwesen. Die Beseitigung kostspieliger, unergiebiger Konkurrenzkämpfe, wie sie auch zwischen den gleichzeitig gewachsenen deutschen Farbenfabriken auf dem In- und Auslandsmarkt üblich waren, schien ihm nicht nur zum Nutzen der Firma selbst, sondern auch zu dem der Verbraucherschaft und damit der allgemeinen Steigerung der Wirtschaftlichkeit notwendig.

Für eine Zusammenfassung der chemischen Großindustrie, deren Fabrikation sich wesentlich um die Teerfarben gruppierte, kamen außer den Farbenfabriken die Badische Anilin- & Soda-Fabrik in Ludwigshafen, die Höchster Farbwerke und die Aktiengesellschaft für Anilinfabrikation in Berlin in Betracht. Von Amerika zurückgekehrt, nahm Duisberg die Fühlung mit den führenden Männern der anderen Werke auf und legte anfangs 1904 eine Denkschrift vor, die vor allem dem Gedanken Ausdruck gab, daß es jetzt in einer Periode ausgezeichneten Geschäftsganges und guter Erträgnisse an der Zeit sei, die Gestehungskosten durch Ausschaltung der durch die gegenseitige Konkurrenz ausgelösten unproduktiven Unkosten zu senken, damit dem Binnenmarkt zu nützen und die Stellung der deutschen chemischen Industrie auf dem Weltmarkt zu kräftigen. Es sei durchaus unrationell, wenn jede Firma auf jedem Gebiet kostspielige Versuche mache und das Erzielte dann im Kampfe gegen die andere Firma zu sichern sich bemühe, anstatt daß man die erworbenen Erfahrungen austausche und gemeinsam auswerte. Daß dieser Gedanke gerade bei der chemischen Industrie aufkommen und sich in Deutschland – ebenso übrigens in Amerika, England, Frankreich und der Schweiz – verwirklichen lassen konnte, das liegt in dem besonderen Charakter dieser Produktion. Die hohen Forschungskosten, die jedes neue Verfahren und Produkt belasten, verlangen nach einem Lastenausgleich auf breitester Grundlage. Eine Industrie, die sich gerade in schlechten Zeiten mit vermehrten Unkosten belasten muß, um Produktionsverbilligung und ‑erweiterung sicherzustellen, muß versuchen, sich Konjunkturschwankungen und dem Auf und Nieder, das sich aus Konkurrenzkämpfen ergibt, zu entziehen; daß das auch im Interesse der Arbeitnehmerschaft liegt, ergibt sich von selbst. So liegt denn auch die von Duisberg betriebene internationale Verständigung über Absatzmärkte und Preise durchaus in der Linie einer auf lange Sicht auf Kräftigung und Erhaltung der nationalen Industrie eingestellten wirtschaftlichen Organisationspolitik.

Duisbergs Bemühungen führten 1904 zu dem Teilerfolg einer Interessengemeinschaft zwischen Elberfeld, Ludwigshafen und Berlin. Höchst und einige kleinere Firmen blieben zunächst außerhalb. Aber ein großer Schritt war damit [491] getan; nur so konnten Aufgaben in Angriff genommen werden, deren Lösung die Kräfte der Einzelfirma überstiegen hätte, beispielsweise die umwälzenden Vorarbeiten für die technische Auswertung der Haberschen Stickstoffsynthese, deren Vollendung durch Carl Bosch in Ludwigshafen für Deutschland in und nach dem Kriege ungeahnte Möglichkeiten des Durchhaltens schuf.

Gründung der I. G. Farbenindustrie.
Gründung der I. G. Farbenindustrie.
(Vorne links, Carl Bosch; vorne rechts, Carl Duisberg.)
Gemälde von Hermann Gröber.
[Bildarchiv Scriptorium.]
Die endgültige Zusammenfassung aller wesentlichen Firmen der Teerfarbenindustrie mit ihren vielfältigen Haupt- und Nebenproduktionen gelang erst 1916 unter dem Drucke der Kriegsfolgen: die Höchster Farbwerke vorm. Meister, Lucius und Brüning, die Firmen Griesheim-Elektron, Weiler ter Meer in Uerdingen, Leopold Cassella in Mainkur und Kalle & Co., Biebrich, traten zu dem bisherigen Dreibund hinzu; aus dieser Interessengemeinschaft (I. G.) bildeten Duisberg und Bosch im Jahre 1925 eine einheitliche Firma, die I. G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft, in der das Duisbergsche Ideal eines organischen horizontalen Zusammenschlusses einer ihrer inneren Natur nach dazu bestimmten einheitlichen Produktionsgruppe erreicht war. Fast zehn Jahre noch hat Duisberg an der Spitze des Aufsichts- und Verwaltungsrates der I. G. stehen und feststellen dürfen, daß die Aufgabe, die diese seine Schöpfung im Kampfe um den wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands auf dem Binnen- und Weltmarkt zu erfüllen hatte, seinen Erwartungen in vollem Maße entsprach.

Verwaltungsgebäude der von Duisberg gegründeten I. G.-Farbenindustrie-AG.
[480b]    Verwaltungsgebäude der von Duisberg 1925 gegründeten I. G.-Farbenindustrie-AG.
in Frankfurt a. M., erbaut 1928–31 von Hans Poelzig.

[Bildquelle: I. G.-Farbenindustrie-A.G., Frankfurt a. M..]

Trotzdem ist Duisberg seinem ureigensten Werk Leverkusen nicht untreu geworden; der Führer der deutschen Gesamtwirtschaft in schwerster Zeit, der Vorsitzende des Aufsichtsrates der I. G. in Frankfurt, der Organisator des Wiederaufbaues der deutschen Naturwissenschaft nach dem Zusammenbruch, er blieb in erster Linie der Führer der von ihm geschaffenen Werksgemeinschaft Leverkusen. Aus den 490 Arbeitern, den 65 Beamten und den 16 Chemikern bei seinem Eintritt in die Firma im Jahre 1883 war beim Übergang der Farbenfabriken auf die I. G. Farbenindustrie ein Heer von 5700 Arbeitern, 1700 Angestellten und 300 akademisch vorgebildeten Chemikern und Ingenieuren geworden. Um das Werk Leverkusen war in zwanzig Jahren eine Stadt herangewachsen, darin eingebettet Kolonien mit nahezu dreitausend Werkswohnungen für Arbeiter und Angestellte. "Werksgemeinschaft", im sozialen Aufbau des Dritten Reiches die Urzelle aller wirtschaftlichen Zusammenarbeit, sie schwebte auch dem Schöpfer von Leverkusen als das Mittel zur Lösung der unerträglich gewordenen Spannung zwischen Kapital und Arbeit vor. Gerade er, der selbst dem Kleingewerbe und dem Kleinbauerntum entstammte, wußte, wie sehr es nicht nur auf die materielle als vielmehr auf die psychologische Seite bei der Gestaltung des Mitarbeiterverhältnisses ankam. Während der Lohnregelung immer gebieterische Grenzen durch die Marktlage gesetzt sind, sind die psychologischen Möglichkeiten unbegrenzt, soweit der Führer die Persönlichkeit ist, die es versteht, der Gefolgschaft ein unerschütterliches Vertrauen zu seiner Gesinnung und seinem Willen einzuflößen. Und das gelang Duisberg in einem Ausmaße wie nur ganz wenigen unter den Werksleitern [492] seiner Zeit. Er war nicht nur Wirtschaftsführer, sondern – was vielleicht noch schwerer ist – er war Menschenführer: alle Kreise der Gefolgschaft erschlossen sich ihm willig, und Leverkusen war lange Jahrzehnte ein festes Bollwerk, gegen das die Wogen marxistischer Verhetzung vergeblich prallten.

Aus dieser Gesinnung heraus schuf er in seinen Werken Einrichtungen sozialer, hygienischer und kultureller Fürsorge für die Gefolgschaft und ihre Angehörigen, die das Werk Leverkusen in die erste Reihe der sozial verständnisvoll geleiteten Industriestätten stellten. Aber es war vielleicht nicht so sehr Art und Ausmaß dieser Einrichtungen, sondern es war das Walten seines unermüdlichen Geistes in ihnen, das sie vor Bürokratisierung und Schematismus bewahrte und sie in steter Aufgeschlossenheit für die Bedürfnisse der Stunde hielt. Hier zeigte sich vor allem auch der starke künstlerische Einschlag seiner Persönlichkeit; nicht nur daß, sondern gerade wie er seine Werkskolonien, Kasinos, Erholungsheime, Parkanlagen, Bücher- und Lesehallen, Ambulanzen und Sportanlagen schuf, das gibt den Leverkusener Einrichtungen ihre Eigenart. Über allem dem aber war es doch immer seine Persönlichkeit, die unmittelbar auf jeden, der mit ihm in Berührung kam, den stärksten Einfluß hatte, und es kamen trotz seiner Arbeitsüberbürdung bei der von ihm geübten Arbeitsweise ständig viele seiner Mitarbeiter mit ihm in persönliche Berührung. "Unser Geheimrat" oder kurz "C. D.", wie man ihn nach seinen eindrucksvollen, sein ganzes Wesen ausdrückenden Marginalien nannte, war keine unbekannte, irgendwo unerreichbar in der Generaldirektion thronende Größe, sondern eine allgemein bekannte und beliebte Persönlichkeit, die jederzeit um die Ecke eines Fabrikgebäudes kommen und je nach Bedarf sehr massiv oder sehr freundlich sein konnte, immer unverkennbar der temperamentvolle Sohn seiner rheinischen Heimat.

Duisberg, der gerade noch den politischen Umschwung in Deutschland und die Erfüllung seines so oft geäußerten Rufes nach einer starken Regierung erleben durfte, konnte mit besonderer Befriedigung erfahren, wie sein sozialpolitisches Ideal von der Werksgemeinschaft in den Mittelpunkt des nationalsozialistischen Sozialaufbaues eingebaut war. An seinem Grabe konnte der nationalsozialistische Gefolgschaftsvertreter aussprechen: "Schon früh erkannte der Verstorbene, daß nur dann große Leistungen vollbracht werden können, wenn ein Band der Kameradschaft Führer, Unterführer und Gefolgschaft verbindet... Die November-Revolte zerstörte auch sein Ziel, den Gemeinschaftsgeist im Werke weiter zu vertiefen; erst in unserem neuen Dritten Reich konnte die Saat reifen, welche der Verstorbene in vorbildlicher Weise gelegt hat..."

Als 1914 der Krieg ausbrach, stand Carl Duisberg auf der Höhe seines Lebens: In rastloser, dreißigjähriger Tätigkeit hatte er sich durch eigene Tüchtigkeit aus ganz kleinen Anfängen – sein Anfangsgehalt betrug zweihundert Mark – über den erfolgreichen Erfinder, den weitblickenden industriellen Organisator und den verständnisvollen Sozialpolitiker zum Führer der für die deutsche Gesamtwirtschaft [493] erfolgreichsten Industrie aufgeschwungen. Ein Maß von Arbeit war zu bezwingen gewesen, das den Durchschnittsmenschen hätte fragen lassen, ob es nun nicht an der Zeit sei, zu ernten, was man gesät, und in Muße den Lohn der unermüdlichen Arbeit zu verzehren. Aber Duisberg kannte keine Muße und dachte nicht daran zu ernten, ohne zu säen. Selbst als der Krieg mit einem Schlag fast alles, an dem er gebaut hatte, umwarf oder in Frage stellte, als neue Aufgaben an die chemische Industrie Deutschlands herantraten von bisher unbekanntem Ausmaß, da verzagte er keinen Augenblick.

Wenn etwas beweist, daß Deutschland den Krieg im Jahre 1914 nicht gewollt und daher auch nicht verschuldet hat, so ist es die längst bekannte, aber auch hier wieder bestätigte Tatsache des völligen Fehlens einer wirtschaftlichen Rüstung. Um so mehr mußten nun gerade die chemische Industrie und ihre Führer in die erste Reihe der Kriegsrohstofflieferanten einspringen. "Die an die Industrie gestellten Anforderungen waren für diese um so neuartiger, als keiner von uns irgendwelche, auch nicht die leisesten Vorbereitungen für einen Krieg getroffen hatte. Selbst die deutsche Pulver- und Sprengstoffindustrie war nicht in dem Maße vorbereitet, wie sie es hätte sein sollen. Sie konnte bei Beginn des Krieges nur etwa den dreißigsten Teil der Menge herstellen, die schließlich beim Höhepunkt des Krieges tatsächlich verbraucht worden ist. Schon im Herbst 1914 hatte sie von dem für Pulver und Sprengstoff durchaus unentbehrlichen Rohstoff, dem nur aus dem Ausland zu beziehenden Salpeter, kein Kilo mehr. Da haben wir, die deutschen Chemiker, eingegriffen und alles darangesetzt, was wir konnten, um den frühzeitigen Zusammenbruch zu verhindern. Im Wettlauf mit der furchtbaren Maschinerie des Krieges gelang es Haber und Bosch, den Salpeter synthetisch herzustellen."

Die Umstellung der Fabrikation auf Kriegsmaterialien und ungelernte Belegschaft forderte auch hinter der Front ein Opfer, das Duisberg besonders naheging: Am 27. Januar 1917 flog im Leverkusener Werk das Granatenfüllwerk in die Luft. Neben ungeheurem Sachschaden verloren acht brave Arbeiter das Leben, Hunderte wurden verletzt. Eine ganz neue Aufgabe stellte der Krieg der chemischen Industrie: die Anfertigung der Giftgasstoffe, die die Gegner zuerst zur Anwendung gebracht hatten, sowie der Abwehrmittel hiergegen. Dank der technischen Fortgeschrittenheit der deutschen chemischen Wissenschaft haben wir auch auf diesem Gebiet eine erhebliche, wenn auch an sich traurige Überlegenheit erzielt.

Bei alledem waren die Fabrikationsbedingungen ungeheuer erschwert; wesentliche Rohstoffe kamen nicht mehr aus dem Ausland herein und mußten ersetzt werden. Überhaupt spielte, ähnlich wie in der Gegenwart, die Ersatzstoff-Frage eine wichtige Rolle; Stickstoff, Schwefel, Kautschuk, Leichtmetall, um nur einiges zu nennen, waren Gebiete, die nicht nur umfangreiche Vorarbeiten bedingten, sondern auch zu riesenhaften neuen Fabrikbauten nötigten, von denen heute beispielsweise das Leunawerk und die Leichtmetallfabriken in Bitterfeld auf den ebenso wichtigen Friedensbedarf umgestellt sind.

[494] Die Kriegsjahre vergingen in rastloser Tätigkeit unter schwierigsten Umständen; die Umstellung auf die Kriegsbedürfnisse war so weit gelungen, wie es bei der Rohstofflage Deutschlands überhaupt möglich war. Jedenfalls war es nicht der Mangel an Dingen, deren Herstellung oder Ersatz man nach dem damaligen Stand der Forschung von der Technik erwarten konnte, der zur Beendigung des Krieges führte. Ungezählte Reisen führten den sich allmählich den Sechzigern Nähernden nicht nur immer wieder nach Berlin, wo die Organisation der Kriegsrohstoffwirtschaft eine Unzahl neuer Stellen und Ämter hatte entstehen lassen, sondern auch wiederholt in die Armeehauptquartiere und zur Obersten Heeresleitung. Hier haben die überaus herzlichen Beziehungen zwischen Hindenburg und Duisberg ihren Ausgang genommen.

Doch war der Kriegsausbruch nichts gegen das, was Deutschland bei Kriegsende bevorstand. Der Zusammenbruch nach innen und außen mußte gerade für einen Mann mit Duisbergs unerschütterlichem Optimismus eine Katastrophe bedeuten. Es kamen die Novemberunruhen, die ihn persönlich wiederholt schwerer Gefahr aussetzten, ihn, dem das Wohl seiner Arbeiter wie keinem am Herzen gelegen hatte; es kam die Besetzung des Rheinlandes und damit seiner Werke, es kamen die Folgen des Waffenstillstandes mit ihrer Zerstörungswelle gegenüber aller Kriegsindustrie, es kam die entwürdigende Wirtschaftsspionage, und es kam Versailles. Dazu die demoralisierenden Wirkungen des politischen Umschwunges in Deutschland, die Arbeitsunlust in den Werken, das unverantwortliche Treiben der neuen Betriebsräte, die Zerschlagung der Werksgemeinschaft.

Aber auch in diesem Augenblick kannte Duisberg keine Bitternis, keine Resignation. Noch kurz vor Ausbruch der Revolution, am 28. Oktober 1916, hatte der "Verein zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie Deutschlands" ihn zum Vorsitzenden gewählt. Mit eiserner Energie packt er nun die Aufgabe des Wiederaufbaues der deutschen chemischen, später auch als Vorsitzender des Reichsverbandes den der gesamten deutschen Industrie an, die Aufgabe, die nun die dritte, wohl schwerste und doch erfolgreichste Periode seiner Lebensarbeit darstellt. Daß dadurch der Wiederaufbau seiner eigenen Werke am Rhein und der Farbenindustrie im engeren Sinne nicht zu kurz kam, beweist die oben erwähnte Vollendung des Baues der I. G. Farbenindustrie im Jahre 1925. Für die Farben- und pharmazeutische Industrie waren die Kriegsfolgen schwerer gewesen als für große Teile der übrigen Wirtschaft. Der größte Teil der Absatzmärkte war verlorengegangen und deshalb sehr schwer wieder zu erobern, weil die ausländische Konkurrenz unter Nichtachtung oder gar unter Mißbrauch der für ungültig erklärten Patente in den Markt eingerückt war. So konnte nur eine qualitätsmäßig bessere Leistung allmählich wieder Boden gewinnen. Die war aber damals schwer zu erzielen bei der in Deutschland herrschenden Vernichtung aller Arbeitsdisziplin. Der wichtigste Rohstoff, die Kohle, reichte bei dem Rückgang der Förderung durch den Acht-Stunden-Tag, die ewigen Streiks und die Abgaben an die Entente nicht [495] aus; der beraubte und zusammengeschrumpfte deutsche Waggon- und Maschinenpark konnte die Transporte nicht bewältigen; so lagen viele Werke ganz, viele teilweise still, und die Hauptaufgabe der chemischen Industrie konnte nicht erfüllt werden: Geld vom Ausland hereinzuholen, um dringend notwendige ausländische Rohstoffe bezahlen und die Währung halten zu können.

Unter dem Eindruck des Zusammenbruches war in gemeinsamer Arbeit mit andern Industriellen, vor allem Albert Vögler, auf Duisbergs Anregung der "Reichsverband der Deutschen Industrie" gegründet worden als Dachgebäude für die Interessenverbände der einzelnen Industrien ebenso wie als Vertretung der Gesamtindustrie auf wirtschafts- und zunächst auch sozialpolitischem Gebiete bei den im Laufe dieser Jahre notwendig werdenden zahlreichen und schwierigen Verhandlungen mit Regierung und Parlament, im Reichswirtschaftsrat, in Sozialisierungs-, Reparations- und Steuerkommissionen. Als 1923 mit der Vernichtung der deutschen Mark der erste Abschnitt des auch nach dem "Friedensschluß" gegen uns weitergeführten Wirtschaftskrieges ein für Deutschland verheerendes Ende genommen hatte und vor der deutschen Wirtschaft die Aufgabe erstanden war, aus dem Nichts wieder von vom anzufangen, da wurde Duisberg zum Vorsitzenden des Reichsverbandes berufen.

Schon vorher hatte er mit den Mitteln der Industrie eine Reihe von Stiftungen geschaffen als notwendige Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Wiederaufbau von unten her. Wir kennen bereits seine Auffassung über die Bedeutung der wissenschaftlichen Forschung für die Industrie; und so nimmt es uns nicht wunder, wenn es sich bei diesen Stiftungen handelt um die Justus-Liebig-Gesellschaft zur Förderung des chemischen Unterrichts, die Emil-Fischer-Gesellschaft zur Förderung der chemischen Forschung, die Adolf-Baeyer-Gesellschaft zur Förderung der chemischen Literatur und die Helmholtz-Gesellschaft zur Förderung physikalisch-technischer Forschung. Förderten diese Gesellschaften besonders den Nachwuchs für die chemische Industrie, so sollte die ebenfalls mit seiner tätigen Mithilfe geschaffene "Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft" ganz allgemein überall da helfend eingreifen, wo an deutschen Hochschulen wissenschaftliche Forschung erfolgreich gepflegt wurde, ohne daß hierfür ausreichend Staatsmittel zur Verfügung standen. Die tätige Betreuung einiger Universitäten, vor allem als langjähriger Vorsitzender der Gesellschaft von Freunden und Förderern der Universität Bonn, liegt ganz im Rahmen der von ihm für richtig erkannten Wiederaufbaumaßnahmen. Daß hierdurch das gesteckte Ziel überraschend schnell erreicht wurde, war ein Gegenstand großer Befriedigung für Duisberg, der in den zahlreichen äußeren Ehrungen und Auszeichnungen, vor allem auf akademischem Gebiet, lediglich die Anerkennung der Richtigkeit seines Grundgedankens erblickte.

Aber nicht nur sachliche und wissenschaftliche Förderung des akademischen Nachwuchses lag ihm am Herzen; es mußten auch die richtigen Männer als [496] Träger dieser Ausbildung herangezogen werden. Die akademische Jugend der Nachkriegsjahre wies schwere Lücken auf. Wer glücklich aus dem Felde zurückgekehrt war, der stand bald vor dem Ende der bisher aus dem Vermögen der Eltern geflossenen Mittel. Gerade Duisberg, der selbst nicht aus begüterter Familie stammte, wußte um den reichen Schatz an Menschenmaterial aus Kreisen, die nach der Inflation noch weniger als vorher in der Lage waren, einen begabten Sohn der akademischen Laufbahn zuzuführen. Deutschland konnte aber dieses Gutes nicht entraten. So entstanden die Einrichtungen des "Deutschen Studentenwerks". Für seine Ziele stand Duisberg stets mit seinem Rat und vor allem mit seiner werbekräftigen Tat zur Verfügung. Er hatte auch den hohen menschlichen und politischen Wert des Auslandsstudiums und der Auslandsarbeit junger Akademiker früh erkannt; der Amerika-Werkstudentendienst und der akademische Austauschdienst fanden seine rege Anteilnahme. Die neuen Aufgaben der Studentenschaft auf den Hochschulen, die erst in den letzten Jahren grundsätzlich und weltanschaulich neu geregelt wurden, schwebten ihm schon vor Jahren vor; er förderte die Studentenhausbewegung, für die das Dr.-Carl-Duisberg-Haus in Marburg vorbildlich wurde.

In diesem dritten Abschnitt seiner Lebensarbeit hatten sich die von früh an erkannten Aufgaben ungeheuerlich geweitet: das wissenschaftliche Laboratorium, in dem er begonnen, das Werk, das er gebaut und geleitet hatte, sie waren in guten Händen. Heute galt es, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebensbedingungen, unter denen die deutsche Industrie weiterexistieren sollte, neu zu schaffen und damit ihre und des ganzen Volkes Zukunft zu sichern. So hat Duisberg den Reichsverband von 1924 bis 1931 durch eine Zeit hindurchgesteuert, die, zunächst überraschend schnell allen wirtschaftlichen Teufelskünsten des Versailler Vertrages zum Trotz, einen Wiederanstieg vortäuschte, dann aber noch einmal einen wirtschaftlichen Rückschlag brachte. Nacht für Nacht fast fuhr der nahezu Siebzigjährige zwischen Köln und Berlin hin und her, immer tätig und arbeitend, nie verzweifelnd, obwohl es an Anlässen hierzu im Laufe dieser Jahre nicht mangelte.

Als Vorsitzender des Reichsverbandes der Deutschen Industrie und als Vorstandsmitglied der auf seine Veranlassung vom Reichsverband abgetrennten Vereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände mußte Duisberg auch zu den politischen Fragen der damaligen Zeit Stellung nehmen. Er konnte das um so eher, als er sich niemals parteipolitisch gebunden hatte. Im Jahre 1925 hat er eine Art Glaubensbekenntnis zu diesen Dingen abgelegt: "Das Wichtigste in unserer traurigen Lage ist ein machtvoller Staat, eine starke und energische Regierung. Der bestverwaltete Staat ist nun einmal der beste Staat. Dabei hängt das Staatswohl nicht davon ab, ob er monarchisch oder republikanisch regiert wird, sondern davon, wie er regiert wird, davon, ob die Regierung das Wohl des Ganzen als oberstes Gesetz anerkennt und über allen persönlichen Interessen steht. Ist das [497] aber der Fall, dann muß nach Fichte 'jede gute Regierung das Ziel haben, sich selbst überflüssig zu machen', oder mit Goethe 'ist dann diejenige Regierung die allerbeste, die uns lehrt, uns selbst zu regieren'. Das nationale Schicksal ist auch das Schicksal unserer Wirtschaft. – Wirtschaft und Sozialpolitik gehören untrennbar zusammen. Keine von beiden darf ohne die andere sein. Die Wirtschaft soll und muß Sozialpolitik treiben, die Sozialpolitik aber
Carl Duisberg.
Carl Duisberg.
Marmorbüste von Adolf von Hildebrand.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 450.]
auch weitgehende Rücksicht auf die Wirtschaft nehmen. Mit Ford bin ich darüber einig, daß, wenn wir Industrielle nicht dazu beitragen, das soziale Problem der Lösung näherzubringen, wir unsere vornehmste Aufgabe unerfüllt lassen. – Die Arbeitgeber müssen begreifen und sich danach richten, daß sie die Dienstleistung über den Gewinn zu stellen haben. Der Gewinn soll nicht die Basis, sondern das Resultat der Dienstleistung sein. Ersparnisse durch Verbesserung im Betrieb dürfen nicht den Gewinn des Unternehmens erhöhen, sondern müssen durch Verbilligung des Produkts der Allgemeinheit zugute kommen und damit den Innen- und Außenabsatz heben."

Als Duisberg bei Vollendung seines siebzigsten Lebensjahres, aus diesem Anlaß viel gefeiert und durch den von ihm ehrfürchtig verehrten Reichspräsidenten von Hindenburg mit der höchsten Auszeichnung des Reiches, dem Adlerschild, geehrt, den Vorsitz des Reichsverbandes der Deutschen Industrie niederlegte, konnte er des Glaubens sein, daß sich seine Auffassung von dem Primat des Staates über die Wirtschaft überall auch da durchgesetzt hatte, wo kapitalistischer Egoismus die Schwäche des Staates hatte ausnutzen wollen. Allerdings war sein Traum von der starken Regierung damals noch nicht erfüllt.

Carl Duisburg und Oskar von Miller, 1929.
Carl Duisburg und Oskar von Miller.
Foto, 1929.
[Nach Süddeutsche Zeitung Photo.]
Wenn auch die letzten vier Lebensjahre nur eine schwache Entlastung von all den übernommenen Aufgaben brachten, unter denen die Förderung des Lebenswerkes seines Freundes Oskar von Miller, des Deutschen Museums, sowie des Deutschen Auslandsinstitutes nicht vergessen werden dürfen, um den Interessenkreis Duisbergs vollständig zu umschreiben, so boten sie doch willkommenen Anlaß, das Weltbild auf einer monatelangen und an Studien überreichen Weltreise zu weiten. Sein Sitz blieb, auch als er die Leitung des Werkes bereits in jüngere Hände übergeben hatte, das Haus, das er sich in "seinem" Leverkusen errichtet hatte und dessen japanischer Garten eine der wenigen Stätten wirklicher Muße für diesen unermüdlichen Mann war. Hier, im Schoße seiner Familie, holte er sich immer wieder die nie versagende Kraft für alles das, was er zu leisten hatte.

Als er am 19. März 1935 nach längerem qualvollem, aber mit gewohnter Unbeugsamkeit ertragenem Leiden, dem ersten seines vierundsiebzigjährigen Lebens, die Stätte seines zeitlichen Wirkens verließ, da schmückten die von zahllosen trauernden Werksangehörigen umsäumten Straßen des Leverkusener Werkes die Fahnen des Dritten Reiches, von dem er den Glauben und die Überzeugung hatte mitnehmen können, daß es die starke Regierung hat, unter der allein der endgültige Wiederaufbau seines geliebten Vaterlandes vollendet werden kann.




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