Bd. 4: Der Seekrieg - Der Krieg um die
Kolonien
Die Kampfhandlungen in der Türkei
Der Gaskrieg - Der Luftkrieg
[485]
Abschnitt: Der
Gaskrieg
Hauptmann Hermann Geyer
1. Ursprung und
Urheberschaft.
Der Gaskrieg, das heißt die Verwendung von chemischen Kampfmitteln in
großem Stil, ist eine der eigenartigsten Neuerscheinungen des Weltkrieges.
Seine Besonderheiten und seine Beziehungen zur Gesamthandlung kommen im
Rahmen der allgemeinen Schilderung des Krieges nicht ausreichend zur Geltung.
Es erschien daher angezeigt, dem Gaskrieg ein besonderes Kapitel zu widmen, das
seine Berechtigung und seinen Wert, sein Wesen und seine Entwicklung im
Zusammenhang darstellt und begründet.
Berechtigung und Wert des Gaskrieges waren von Anfang an stark umstritten. Auf
feindlicher wie auf deutscher Seite konnten viele nicht über eine mehr oder
weniger gefühlsmäßige Abneigung hinwegkommen. Andere
hatten völkerrechtliche oder allgemein menschliche Bedenken. Wieder
andere hielten es vom deutschen Standpunkt aus für unklug, daß
gerade die Deutschen den Gaskrieg mit Energie betrieben; sie glaubten, erst
dadurch sei wirklich tätige Gegenwirkung ausgelöst worden, und das
habe letzten Endes den Deutschen selbst am meisten zum Schaden gereichen
müssen, da die Grundbedingungen des Gaskrieges, nämlich die
Witterungsverhältnisse und die Möglichkeit der Herstellung der
Kampfstoffe für den Gegner günstiger gewesen seien als für
die Deutschen.
Nur wenige ahnten frühzeitig die gewaltige Kraft des neuen Kampfmittels
und die Möglichkeiten, die in ihm steckten. Sie folgerten daraus die
Zweckmäßigkeit oder - besser - die Notwendigkeit,
seine Anwendung mit aller Kraft zu fördern.
Es wäre nach ihrer Ansicht sinnlos gewesen, dem Gegner auf diesem
Kampfgebiet die Führung zu überlassen. Die Hoffnung, daß
dann eine langsamere Entwicklung eingetreten wäre, konnte sich als arger
Trugschluß erweisen.
Zu groß waren die Ausmaße des gewaltigen Kampfes. Jedes Gebiet
menschlichen Wissens wurde danach durchforscht, inwieweit es dem Kampf zu
dienen vermochte. Mit Recht strebten die verantwortlichen Stellen aller
Länder, an der Spitze der Entwicklung jedes irgendwie brauchbaren
Kriegsmittels zu bleiben. Wer nachhinkte, für den waren
Überraschungen und Rückschläge unausbleiblich.
Man denke an die Entwicklung der Tanks. Ihren Kampfwert mag man beurteilen,
wie man will: daß es der deutschen Technik nicht gelang, brauchbare Tanks
wenigstens gleichzeitig mit dem Feinde zu konstruieren, war ein unbestreitbarer
Nachteil für die deutsche Kriegführung. Mehr oder weniger
berech- [486] tigte Vorwürfe
sind daraus abgeleitet worden. Daß auf dem Gebiet des chemischen Krieges
die Dinge umgekehrt verliefen, muß allen Beteiligten als Verdienst
angerechnet werden. Ihre Arbeit entsprang der wohlbegründeten
Auffassung, daß nach dem seit Anfang des Jahrhunderts erreichten Stande
der Wissenschaft, Technik und Industrie in einem Existenzkampfe wie der
große Krieg einer war, die Möglichkeit der Erzeugung und
Verwendung von Kampfgasen auf die Dauer sicher nicht außer Betracht
bleiben würde.
Als Geburtstag des Gaskrieges gilt vielen der 22. April 1915. Denn an diesem
Tage wurde das neue Kampfmittel erstmals der breitesten Öffentlichkeit
sichtbar. Daß er trotzdem nicht der eigentliche Geburtstag ist, wird
nachstehend zur Sprache kommen. Immerhin bedeutet der 22. April 1915 einen
Markstein in der Entwicklung, weil an diesem Tage chemische Kampfmittel
erstmals in einer Form verwandt wurden, die ihre große militärische
Bedeutung offenkundig machte.
Völlig überraschend trugen damals auf dem blutgetränkten
Felde von Ypern die Deutschen einen beträchtlichen Erfolg davon. Die
Berichte waren anfangs wenig klar. Erst allmählich ergab sich, daß
die Deutschen ein neues Kampfverfahren angewandt hatten, dem sie ihren Erfolg
wesentlich mit verdankten. Auf die übliche artilleristische Vorbereitung des
Angriffs hatten sie verzichtet. Statt dessen waren ihren Sturmkolonnen dichte
weißgelbe Nebelwolken vorausgezogen, die den bestürzten Feind zu
panikartiger Flucht veranlaßt hatten. Denn die unheimlichen,
künstlich erzeugten Wolken hatten nicht bloß die Sicht des
Verteidigers verhindert - sie sollten auch giftig gewesen sein und alles
Lebende in ihrem Bereich einem gräßlichen Erstickungstode
ausgesetzt haben.
Bald brachten die feindlichen Zeitungen vortreffliche Abbildungen, auf denen die
gefährliche Wolke deutlich zu erkennen war. Private und amtliche Berichte
von Fachleuten und Laien suchten die Lösung des Rätsels zu
geben.
Dem Erstaunen folgten von seiten des Gegners nach kurzer Zeit Ausbrüche
des Ärgers und der Wut. Zwar hatte man sich seit langem in
Presseäußerungen und prahlenden Reden des Besitzes
geheimnisvoller Kampfmittel gerühmt; im französischen Heere war
sogar eine fertig ausgebildete Gashandwaffe bereits 1914 bei den Pionieren
eingeführt gewesen und mit ins Feld genommen worden. Aber man hatte
die Entwicklungsmöglichkeit nicht erkannt. Es fehlte bis zu dem deutschen
Vorgehen bei Ypern die Erkenntnis, daß die Massenwirkung den Erfolg der
neuen Waffe bestimmte. Nun war man durch die Wucht und den Erfolg des
deutschen Angriffs aufs unangenehmste überrascht. Man hatte nichts
Ebenbürtiges entgegenzusetzen. Auch die Abwehr lag völlig im
argen.
Selbstverständlich setzten sofort in allen Staaten die emsigsten
Forschungen und Versuche ein, um den deutschen Vorsprung einzuholen. Aber
das mußte Zeit kosten. Der Erfolg war unsicher. Während in aller
Stille in den Laboratorien [487] und auf den
Übungsplätzen gearbeitet wurde, suchte man sich daher auch auf
andere Weise zu helfen, indem man die Waffe zur Gegenwehr einsetzte, in der
man eine unbestrittene Überlegenheit besaß: die Propaganda.
Das Ziel war, den deutschen Gaserfolg dadurch in sein Gegenteil zu verkehren,
daß man die Gasverwendung als völkerrechtswidrig und
unmenschlich brandmarkte und die Deutschen moralisch ins Unrecht setzte.
Dieselbe feindliche Presse, die wenige Monate vorher angebliche eigene
wunderbare Gaskampferfindungen gerühmt hatte, brachte nunmehr
entrüstete Aufsätze über die Völkerrechtswidrigkeit und
Unmenschlichkeit des Gaskrieges, die in der gesamten Deutschland feindlichen
Welt immer stärkeren Widerhall fanden.
Leider war die deutsche Antwort nicht gleich kräftig. Teils schien die
Notwendigkeit der Geheimhaltung es unerwünscht zu machen, daß
viel über das neue Mittel geredet wurde, teils ließ das Gefühl
des guten Rechtes es überflüssig erscheinen, den geistigen
Abwehrkampf mit der gleichen Energie zu führen wie den
militärischen. Inwieweit hierbei eine Unterschätzung der Macht
geistiger Kampfmittel mitgesprochen hat, mag dahingestellt bleiben. Das Ergebnis
war jedenfalls, daß die deutsche Aufklärung so gut wie nichts
erreichte. Die feindliche Entstellung fand weithin, selbst bei den meisten
Neutralen und sogar in vielen Kreisen der Mittelmächte, Glauben.
Dies hat schwerwiegende Folgen gehabt, politisch wie militärisch. Politisch
war es nach außen wie nach innen überaus schädlich,
daß Deutschland mit einer neuen moralischen Schuld belastet erschien. Und
militärisch wurde die wirksame Verwendung des Gases ganz
außerordentlich dadurch erschwert, daß selbst militärische
Kreise teilweise unter dem Einfluß der feindlichen Propaganda, aber auch
infolge unklarer Begriffe über Anwendung und Wirkung des Gases, das
neue Kampfmittel mit Abneigung betrachteten, ja es unverhohlen ablehnten.
Heute ist der zeitliche Abstand von den Kriegsereignissen schon groß
genug, um zu einer unbefangenen historischen Würdigung zu gelangen.
Zwar herrschen noch viele falsche Vorstellungen über den Gaskrieg. Im
wesentlichen aber sind Hergänge und Zusammenhänge klar.
Über manche Hauptfragen, die früher die Öffentlichkeit stark
erregten, besteht unter Sachverständigen keine Meinungsverschiedenheit
mehr.
Der Gaskrieg im weitesten Sinne, d. h. die Verwendung chemischer Kampfmittel,
die in Form von Dampf, Nebel, Rauch oder Gas dem Gegner den Aufenthalt oder
die Kampftätigkeit an bestimmten Stellen unmöglich machen oder
erschweren oder ihn außer Gefecht setzen sollten, ist keineswegs eine
moderne Kampfform. Vorschläge und Versuche dieser Art folgten sich
vom peloponnesische Krieg, in dem die Spartaner ein solches Verfahren vor
Platää und Delium anwandten, bis zum Krimkrieg, in dem der Lord
Dundonald es zur Einnahme von Sebastopol empfahl, immer wieder. Auch die
bekannten chinesischen Stinktöpfe gehören hierher.
Schließlich erstrebten auch die Brandröhren, die im Festungskriege,
ohne Ein- [488] spruch hervorzurufen,
bis in die jüngste Zeit allseitige Verwendung fanden, ähnliche
Wirkung.
Aber alle diese Mittel hatten bis zum Kriege im Vergleich zu den anderen Waffen
nur geringe Bedeutung gehabt. Ihre Entwicklung war nicht gefördert
worden, obwohl die neueste Zeit die Voraussetzungen geschaffen hatte, um solche
Mittel auch auf größere Räume und Entfernungen wirksam zu
machen. Erst als während des Krieges das militärische
Bedürfnis nach neuartigen Wirkungen hervortrat, wurden schnelle
Fortschritte gemacht.
Das militärische Bedürfnis ergab sich aus folgendem:
Der Krieg wurde im 20. Jahrhundert in steigendem Maße
Schützengrabenkrieg. Die Leere des Schlachtfeldes bildete sich heraus.
Immer geschickter verschwanden die Kämpfer hinter Deckungen oder in
der Erde. Das rasante Infanteriegeschoß und die leichte Artillerie
vermochten hiergegen wenig auszurichten. Man bildete deshalb
Pionierkampfmittel sowie schwere und schwerste Artillerie aus. Aber selbst
Geschosse schwerster Kaliber und ganz schwere Minen genügten nicht,
wenn der Gegner sich fast unsichtbar zu machen verstand und zudem sich auf
einen gewissen Raum (mehrere dünne Linien oder schachbrettartig)
verteilte, so daß es für den Angreifer schwer war, zu erkennen,
welche Punkte er hauptsächlich beschießen mußte. Mit den
schweren Geschossen und Minen, deren Zahl natürlich beschränkt
war, konnte man nicht alle Teile des Geländes, in dem Feind vermutet
werden mußte, wirksam beschießen. Wenigstens Teile des Gegners
blieben auch nach schwerster Beschießung kampffähig oder erholten
sich im Schutz ihrer Deckungen, ehe der Angreifer mit seiner stürmenden
Infanterie herankommen konnte. Auf nächste Entfernung wurde diese von
schnell feuernden Maschinenwaffen zusammengeschossen.
So ergab sich das militärische Problem: Es kam darauf an, gegen einen gut
gedeckten, wenig oder gar nicht sichtbaren und auf einen gewissen Raum
verteilten Gegner in nicht zu langer Zeit eine Wirkung von solcher Dauer zu
erzielen, daß er dem Sturm der Infanterie nicht mehr kampfkräftig
entgegenzutreten vermochte.
Die alten Waffen konnten dies nicht leisten. Man suchte daher nach neuen Mitteln
und fand sie in den Gaskampfmitteln, d. h. in Gasdämpfen oder
einfachen Gasen, die unter gewissen Voraussetzungen für den
menschlichen Organismus unerträglich waren. Diese Gase drangen infolge
ihres natürlichen Ausdehnungsbestrebens in jede Deckung und verbreiteten
sich im ganzen Luftraum, in dem sie zur Entwicklung gebracht wurden, so
daß der Aufenthalt in dem "vergasten" Luftraum mehr oder weniger
unmöglich wurde.
Die Wirksamkeit der Gase ist um so größer, je geringer der
Luftwechsel ist, mithin in geschlossenen Räumen und
windgeschützten Winkeln und Löchern am größten. Es
war daher anzunehmen, daß der Gegner durch das Gas gezwungen werden
würde, aus diesen herauszukommen und auszuweichen oder sich der
[489] Waffenwirkung des
Gegners offen auszusetzen, soweit ihn das Gas nicht hierzu unfähig
machte.
Aus diesen Gedankengängen heraus erwuchs der Gaskrieg, der somit eine
durchaus logische und organische Folge der militärischen Entwicklung
darstellt. Es ist einleuchtend, daß zunächst seine Bedeutung
besonders im Stellungskrieg lag. Phantasten hofften sogar, den
kriegverlängernden Stellungskrieg durch das Gas binnen kurzem ganz
überwinden zu können.
Die militärischen, wissenschaftlichen und technischen Notwendigkeiten
und Möglichkeiten, die den Gaskrieg hervorriefen, sind wohl von manchen
bereits im Frieden erkannt worden. Allerlei merkwürdige Erfinder tauchten
auf. Im Kriege gar wurden die militärischen Stellen mit Vorschlägen,
die in der Richtung des Gaskrieges sich bewegten, geradezu
überschwemmt. So einfach aber war die Sache nicht. Das meiste, was diese
Erfinder vorschlugen, war, wenigstens der Form nach, unbrauchbar. In der Sache
hatten sie gute Witterung.
Im Frieden ging, soweit bekannt, von den kriegführenden Staaten nur
Frankreich solchen Anregungen ernstlich nach. Dort wurden bereits vor dem
Krieg Gashandgranaten und Gewehrgranaten den Truppen in die Hand gegeben.
Daß im Kriege weitergehende Pläne im Werke waren, schien aus
Presseäußerungen hervorzugehen und durch die deutschen
Truppenmeldungen, die mehrfach das Auftreten von geheimnisvollen Gasen
berichteten, bestätigt zu werden.
In Deutschland waren vor dem Kriege keinerlei Vorbereitungen für den
Gaskrieg getroffen. Erst im Oktober 1914, durch die feindlichen
Maßnahmen veranlaßt, forderte die deutsche Oberste Heeresleitung,
daß auch deutscherseits ähnliche Kampfmittel versucht
würden.1
Die ersten Ergebnisse, von denen unten die Rede sein wird, waren nicht
bedeutend. Man probierte aber weiter, ganz ebenso wie die Franzosen. Schon
Ende 1914 schritt das französische Kriegsministerium nach
französischen Quellen zu größeren Bestellungen von
Gashandwaffen. Angeblich war man, übrigens nach derselben
französischen Quelle, mit den Erfolgen nicht zufrieden und beabsichtigte,
das neue Mittel wieder fallen zu lassen, als plötzlich durch das
überraschende Eintreten des großen deutschen Gaserfolges am 22.
April 1915 die Entwicklung in neue Bahnen gelenkt wurde.
Man mag diese angebliche Absicht für zutreffend halten und annehmen,
daß sie auch wirklich durchgeführt worden wäre oder man mag
glauben, daß der logische Gang der Entwicklung den Gaskrieg doch
hätte bringen müssen: die Tatsache, daß nicht erst der 22. April
1915 der Geburtstag des Gaskrieges ist, und daß nicht die Deutschen, wohl
aber die Franzosen mit Gaswaffen in den Krieg eingetreten sind, bleibt in jedem
Falle unumstößlich wahr.
[490] Das Geheimnis des
deutschen Erfolges am 22. April 1915 lag nicht in einem dem Wesen nach neuen
Mittel, sondern in der Form. Das alte Mittel wurde nur zweckentsprechender
angewandt, indem erstmals die Massenwirkung, die seinem Wesen am meisten
entsprach, zur Geltung gebracht wurde.
So hat damals schon die deutsche Oberste Heeresleitung das deutsche Vorgehen
öffentlich begründet. Der gegnerische Versuch, den
tatsächlichen Hergang zu entstellen und den Deutschen die Urheberschaft
des Gaskrieges zuschreiben zu wollen, kann nur als überaus unehrlich
bezeichnet werden.
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