[Bd. 4 S. 513]
Wer der neuen Zeit, in die er hineinwächst, wirklich dienen will, muß sich die feste Verbundenheit mit der Vergangenheit und der Geschichte seines Volkes sichern. Wo der Zusammenhang im Werden und Vorwärtsstreben des Volkstums verlorengeht, fehlt der stärkste Wert innerer Festigkeit für das, was man aufbaut. Es gibt auch keine bessere Schulung für den Lebenskampf, dem jeder entgegengeht, als das Sich-Vertiefen in das Ringen des eigenen Volkstums in der Vergangenheit. Wie verschieden auch die Zeiten gestaltet sind, es sind immer die gleichen Entscheidungen, vor die die Menschheit gestellt wird, die Bewährung von Charakter, Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit, veredelt durch wahres Führertum. Hier gilt es, aus den schweren Kämpfen und von den darin hervortretenden führenden Männern mit ihren Vorzügen und Schwächen für sich selbst zu lernen und sich bereit zu machen für das, was kommt. In der Art, wie einem jeden die Lebensentscheidungen gegenübertreten, sind sie dann doch immer wieder neu gestaltet. Wie jeder bedeutende Mann der Geschichte ist auch der Großadmiral von Tirpitz nur zu verstehen aus der Betrachtung der geschichtlichen Zusammenhänge seiner Zeit. Das Jahrhundert deutscher Geschichte von den Freiheitskriegen bis zum Weltkriege ist die Zeit des Werdens deutscher Einheit. Aus der Kraft hohenzollernschen Königtums hatte preußische Zähigkeit den Gedanken einer deutschen Zukunft vor der Vernichtung bewahrt und, im Entscheidungskampf gegen Napoleon I. alle deutschen Stämme mitreißend, heldenhaft vorwärtsgetragen. Es hat dann noch ein halbes Jahrhundert gedauert, bis die für den Deutschen immer so furchtbar schweren inneren Auseinandersetzungen durch den preußischen Tatwillen Bismarcks und seines unvergleichlichen Königs überwunden wurden und das neue deutsche Kaiserreich machtvoll und seine Rechte fordernd zwischen die Weltvölker trat. Aus dem unlöslichen Zusammenhang heraus, durch den für jedes Volk die Begriffe der nationalen Volkseinheit und der der Seegeltung miteinander [514] verbunden sind, hatte der Einheitswille der Freiheitskriege auch das Drängen nach Seegeltung im Volksempfinden lebendig zur Auslösung gebracht. Aber auch hier war es schließlich der nüchterne preußische Sinn, der der Macht des werdenden Deutschtums auf dem Weltmeer achtungfordernden Rückhalt gab. Während die 1848 rein aus idealer Begeisterung geschaffene deutsche Flotte nach wenigen Jahren bereits ihr unrühmliches Ende fand, formte Preußen in zäher, harter Arbeit seine langsam wachsende Seemacht, übernahm 1867 die Vertretung des Norddeutschen Bundes auf See und gab die preußische Kriegsmarine bei Gründung des Kaiserreiches der deutschen Einheit zum Geschenk. Der preußische Königsadler im Herz der deutschen Reichskriegsflagge wies sinnvoll auf diese Entwicklung hin. Das sind die geschichtlichen Einflüsse, unter denen der spätere Großadmiral heranwuchs, der 1849 als zweiter Sohn des damaligen Gerichtsassessors Rudolf Friedrich Tirpitz zu Küstrin geboren wurde und 1865 in die Königlich Preußische Marine eintrat. Preußentum war die innerste Kraft seines Lebens, aber darüber hinaus wuchs ihm die große Aufgabe des deutschen Volkes vor der Welt, die mit dem deutschen Kaisergedanken auf das engste verbunden war. Die Welt lag vor seinem Geist als das gewaltige Forum, in dem die Lebenskreise der großen Völker sich in der Gestaltung der Menschheit auswirken. So waren alle politischen Gedanken bei ihm immer von der Basis des Preußentums auf die Weltentwicklung gerichtet, in der das deutsche Volk mit seinen besonderen hohen Gaben als gottgewollter Faktor sich sein freies Recht zu erringen verpflichtet ist. Das Deutschtum in voller Einheit und Größe gesehen, stand als höchste Forderung vor ihm. Aber immer wieder konnte man es erleben, daß der Großadmiral bei Behandlung ernster Fragen auf Persönlichkeiten hinwies, die in den Entscheidungsstunden preußischer Geschichte durch Charakter und opferbereites Pflichtempfinden den Preußenruhm bestimmend geformt haben. Aus der Vergangenheit deutschen Schicksals wuchs sein Denken und Handeln heraus. Das Ringen Brandenburg-Preußens um die freie Zukunft des Deutschtums unter der Führung der Hohenzollern und die daraus in Härte und Charakterstärke sich entwickelnden Persönlichkeiten gaben ihm immer von neuem den Antrieb, sich selbst in seinem Wirkungskreis abzuwägen. Ich habe es oft aus dem Munde des Großadmirals gehört, daß ihn die Schule zu Frankfurt a. d. O., wohin sein Vater 1850 als Kreisrichter versetzt war, in keiner Weise befriedigt oder auch nur gefesselt hat. Es drängte ihn schon in der Jugend, mit den großen Fragen in lebendige Berührung zu kommen, die fordernd damals vor dem Deutschtum standen. Die Schule schien ihm davon unberührt, er fand bei ihr nicht das Verständnis für die Empfindungen und Gedanken, die bei ihm sich formen wollten. Der Seemannsberuf war damals im Binnenlande noch nicht anerkannt. Ein Junge, der zur See ging, hatte für die Begriffe des maßgebenden Bürgertums etwas vom "verlorenen Sohn" an sich. Darüber hatte auch die Flottenbegeisterung [515] des Jahres 1848 nicht hinweggeholfen. Die Begeisterung war wohl da, aber der verständnisvolle Rückhalt im Volke, vor allem in den gebildeten Schichten, fehlte noch völlig. Die Geschichte der letzten Jahrhunderte hatte mit ihren gerade für Preußen so harten Kämpfen den Blick ganz nach innen gewandt. Preußen hatte sich aus eigener Kraft durchgesetzt; was brauchte es sich um die Welt in Asien und Amerika zu kümmern? Das war die überwiegende Auffassung in preußisch denkenden und preußisch erzogenen Kreisen, eine festgewurzelte Meinung, die noch bis in die Jahre vor Ausbruch des Weltkrieges ihren Einfluß geltend machte. Die Zeit, als Tirpitz, 1865 in die Königlich Preußische Marine eintretend, sich vom Schüler zum Königlich Preußischen Kadett zur See wandelte, zeigte den ersten Trieb zu einer Wandlung der Begriffe. An der Spitze der Preußischen Marine stand Prinz Adalbert, der den Rock des preußischen Generals mit dem blauen Tuch des Seeoffiziers vertauscht hatte. Wie er selbst sagt, nur von Gneisenau verstanden, hatte er sich die Aufgabe gestellt, Preußen die Stellung auf der See zu verschaffen, ohne die ein vorwärtsstrebender Staat in Norddeutschland seine Aufgabe nicht erfüllen kann. Mit unbeirrter Zähigkeit verfolgte er sein Ziel. Die mit dem Schwung idealer Begeisterung ohne den Rückhalt staatlicher Macht gegründete deutsche Flotte war ruhmlos zusammengebrochen und hatte den Hohn hinnehmen müssen, daß ihre Flagge von verantwortlicher Stelle der englischen Regierung einer Piratenflagge gleichgesetzt wurde. Preußen hatte sich dieser vom Unwirklichkeitssinn beherrschten Entwicklung möglichst fern gehalten, übernahm aus diesem Zusammenbruch das, was als Material brauchbar erschien, und arbeitete in zäher Gründlichkeit an dem Aufbau einer vom Staatsgedanken getragenen, wenn auch bescheidenen preußischen Seemacht. Schon 1852 vertrat ein kleines Geschwader die preußischen Interessen in Südamerika, und 1859 zeigte sich die Kriegsflagge mit dem schwarzen Adler zum ersten Male in Ostasien. Graf Fritz Eulenburg war in außerordentlicher Mission beauftragt, Handelsverträge mit China, Japan und Siam abzuschließen. Es ist bezeichnend, daß die Küstenstaaten Oldenburg und Mecklenburg sowie die Freien Hanse-Städte diesem preußischen Gesandten ihre Vollmachten mitgegeben hatten. Preußen nahm die Vertretung des Deutschtums über See in seine Hand. Prinz Adalbert stellte, trotz seiner Erziehung in den strengen Grundsätzen der preußischen Armee, in der Heranbildung einer preußischen Marine den seemännischen Gedanken immer und überall bis zur Übersteigerung in den Vordergrund. Es heißt, daß ihm ein Parademarsch von Matrosen in Kompaniekolonne Nachtschlaf und Seelenruhe auf Monate hinaus gekostet hätte. Diese ganzen Zusammenhänge und Entwicklungen haben auf den aufnahmefähigen Geist des jungen Tirpitz, sobald er sich für die Kriegsmarine als Lebensberuf entschieden hatte, stärkstens eingewirkt. Es war ja eine ganz andere Welt, in die der Kadett Tirpitz eintrat. Hinter ihm lag die damals noch in jeder Beziehung enge Heimatstadt Frankfurt a. d. O. und [516] das väterliche Haus; vor ihm der Seemannsberuf mit der ungekannten Weltweite der Begriffe und der unbarmherzigen Härte des straffen Dienstes an Bord. Es ist für uns heute schwer vorstellbar, ein wie entbehrungsreiches Leben der Dienst auf den damaligen Kriegsschiffen bedeutete. Niedrige Decks, engste Wohnverhältnisse, keine Heizungsmöglichkeit, nur Kerzenlicht, das bei Ronde gelöscht sein mußte. Das Wasser aufs dürftigste zugemessen, in See nur hartes Salzfleisch und sehr dürftige Konserven, dazu Hartbrot nicht immer von einwandfreier Güte. Der Verkehr mit dem Land sehr erschwert. Urlaub wurde noch als besondere Vergünstigung angesehen. Dabei an Bord stets zu hartem Dienst bereit und nur jede 4. Nacht wachfrei. Die Schiffsmaschine wurde nur selten in Gebrauch genommen, dem Sturm und Wetter wurde in erster Linie die Manneskraft der Besatzung entgegengesetzt. Dem Kadetten stand nur die knapp bemessene Seekiste zur Verfügung, die er meist noch mit einem älteren Kameraden teilen mußte. Erziehung zum selbständigen Entschluß und Herausarbeitung des kampfbereiten Seemanns bis an die äußerste Grenze waren die Grundbedingungen des Dienstes, die der spätere Großadmiral als erste Forderung für sein ganzes Leben sich zu eigen gemacht hat. Wechselnde Kommandos und Auslandreisen nach Südamerika, Westindien und dem Mittelmeer führten ihn als heranwachsenden Seeoffizier in alle Zweige des praktischen Dienstes ein und stellten die großen Eindrücke ferner Länder und die Aufgabe des Deutschtums unter den Weltvölkern vor sein aufnahmebereites Gemüt. Die Begeisterung der Auslandsdeutschen über das im Heldenkampf erstrittene Kaiserreich und die überall mit erstaunlicher Wucht vorwärtsstrebende Schaffenskraft des geeinten Deutschtums kündeten mit unverkennbarer Deutlichkeit eine Umwertung der Weltfaktoren im deutschen Sinne an. Die bei dem späteren Großadmiral besonders ausgeprägte Beobachtungsgabe und sein abwägendes Urteil fanden in diesen Entwicklungsjahren die ersten Anregungen auf das große Ziel hin, das schließlich seine Lebensaufgabe bedeutete. Es sprach dabei mit, daß schon 1867 die Preußische Marine die Vertretung des Norddeutschen Bundes auf dem Weltmeer übernahm und nach dem gewaltigen Siege von 1870/71 als Kaiserliche Marine die Einheit der Deutschen Achtung fordernd vor die Welt stellte. Im Dienst unter der kaiserlichen Kriegsflagge gingen alle Stämme auf in dem großen, auf die Zukunft gerichteten Glauben an ein einiges und einziges Deutschland. Die Marinen bei allen Nationen standen in diesen Jahrzehnten durch das Vordringen der Technik in einer noch ganz ungeklärten Übergangsentwicklung. Der Seemann neigt stärkstens dazu, an Tradition und dem Althergebrachten festzuhalten. So konnte die Maschine sich nur schwer ihren Platz erkämpfen, um so mehr als sie in allen Gebieten des Kriegsschiffsdienstes auf grundlegende Änderungen hindrängte. Schiffbau, wie der Dienst an Bord, Waffenwirkung und ‑verwendung ebenso wie Schiffsführung und Kriegsaufgaben standen vor einer ganz neuen Entwicklung. Der kühne Geist des Admirals Tegethoff hatte ja schon 1866 mit [517] seinem vernichtenden Stoß gegen das italienische Geschwader bei Lissa gezeigt, daß in der Beherrschung der Maschine neue, sieghafte Kräfte lagen, die nur auf Schulung und durchgearbeitete Auswertung warteten. Für die Entwicklung des Seeoffiziers Tirpitz war es von größter Bedeutung, daß er diese Übergangszeit im praktischen Dienst der Front miterlebte, in der die junge Preußische Marine mit zähem und nüchternem Ernst an sich arbeitete. Es mußte in vielem ja erst die Grundlage für eine freie Entwicklung geschaffen werden. So hat General von Stosch als Nachfolger des Prinzen Adalbert ganz besonders dahin gewirkt, die heranwachsende Marine im Schiffbau und in den vielfachen Bedürfnissen der Schiffsausrüstung erst einmal vom Ausland unabhängig zu machen. Der auf ihn 1883 folgende General von Caprivi dagegen gab, in seiner besonderen Sorge um die Entwicklung des Offizierkorps, den ersten Anstoß zur ernsten Beschäftigung mit taktischen und strategischen Fragen. Es ist bezeichnend, daß beide Persönlichkeiten dem noch verhältnismäßig jungen Seeoffizier Tirpitz besonderes Vertrauen entgegengebracht haben und ihn, in richtigem Erkennen seiner besonderen Fähigkeiten, an der Stelle ansetzten, die für den weiteren Aufbau einer modernen Marine entscheidend werden sollte. Mit noch nicht dreißig Jahren war Tirpitz die Entwicklung der neuzeitlichen Torpedowaffe in die Hand gegeben worden. Diese Waffe, die die Schiffe an der bisher ungeschütztesten und gefährlichsten Stelle, im Unterwasserteil, tödlich angriff, war nicht nur selbst ein Instrument technischer Hochleistung, sondern auch in der Verwendung ganz auf höchste Auswertung der Maschine für den rücksichtslosen Angriff angewiesen. Tirpitz hat sich während zehn Jahren, von 1887 bis 1897, der Durcharbeitung und Ausgestaltung dieser neuzeitlichen Waffe mit ganzer Energie hingegeben. Sein klares Empfinden für die Erfordernisse des Seekampfes, seine Art großzügig angelegter und doch systematisch betriebener Arbeit und sein hohes organisatorisches Talent kamen in dieser gänzlich neuartigen Aufgabe auf das erfolgreichste zur Wirkung. Zunächst mußte die Waffe selbst frontverwendbar und in ihrer Gestaltung vom Ausland unabhängig gemacht werden. Dann galt es, die deutsche Schiffbautechnik zur Schaffung eines Fahrzeuges anzureizen, das in höchstem Maße für den Angriff, vor allem bei Nacht, entwickelt war. Im ganzen mußte zugleich eine Organisation aufgestellt werden, die nur von dem Gedanken einsatzbereiter Schlagfertigkeit bestimmt war und die von vornherein jeden Mann in den neuzeitlichen Geist dieser Waffe hineinzwang. Während die Typenentwicklung der Schiffe der Kriegsmarine sich noch völlig unsicher vorwärtstastete und neue Gesetze für ihren Bau noch nicht gefunden waren, während man für die Geschwader noch daran festhielt, die Schiffe in der Heimat im allgemeinen im Winter außer Dienst zu stellen, und so die stetige Durchbildung nach den kurzen Sommermonaten immer wieder unterbrochen wurde, schuf Tirpitz in der Torpedobootswaffe etwas ganz Neues. Durchbildung der Mannschaft, Wechsel des Offizierkorps und Bereitschaft des Materials wurden [518] der dreijährigen Dienstzeit in starker Steigerung der Anforderungen angepaßt, das Ganze auf eine Mobilmachungsbereitschaft von wenigen Stunden eingestellt. So wurde eine Truppe geschaffen, die vom ersten Tage der Rekruteneinstellung den Mann auf das Ziel des rücksichtslosen Angriffes hin erzog und ihn in wachsender Anspannung seiner Fähigkeiten nicht mehr losließ bis zum Tage der Entlassung. Taktische Schulung, ein damals in der Marine noch wenig bekannter Begriff, stellte die einheitliche Führung der Torpedobootsgruppen sicher und verlangte von den Kommandanten verantwortungsbewußte Selbständigkeit. Es war selbstverständlich, daß einer solchen Waffe, die schon für den jungen Offizier alle Gewähr bot, Tüchtigkeit und Selbständigkeit zur vollen Entfaltung und Auswirkung zu bringen, die besten Kräfte von allen Seiten zustrebten und daß so in der "Schwarzen Schar" eine Truppe sich formte, die miteinander durch Selbstbewußtsein und Waffenstolz unzertrennlich verbunden war. Während auf dem Kieler Hafen selbst das Bild sich gegen früher noch sehr wenig verändert hatte, entwickelte sich im Torpedobootshafen Düsternbrook, allein aus dem Genie eines Tirpitz heraus, der Beginn einer neuen Epoche der deutschen Kriegsmarine, die die Technik mit der Seemannschaft verband und, mit Naturnotwendigkeit vorwärtsdrängend, schließlich die ganze Marine ergriff. Mit dieser Schaffung der Torpedobootswaffe hatte Tirpitz in ungefähr zehnjähriger unermüdlicher Arbeit sein erstes Meisterwerk geschaffen, das gegründet war auf der klaren Erkenntnis der Grundbedingungen einer Kampftruppe und dem Führergeist, der die Gefolgschaft beherrscht durch selbstgeschultes Können, hohes Verantwortungsbewußtsein und vorbildliche Pflichterfüllung.
In seiner weiteren Laufbahn trat Tirpitz dann 1892 verschiedene Frontstellungen an als Kommandant und als Chef des Stabes bei der Marinestation der Ostsee. Inzwischen war Kaiser Wilhelm II. zur Regierung gekommen. Die Auffassung des jugendlichen Herrschers von der Aufgabe, die er für das Deutschtum zu lösen hätte, verlangte die Eingliederung der Kriegsmarine in die Machtfaktoren des deutschen Lebenswillens in ganz anderem Maße als bisher. Mit einer seiner ersten Regierungshandlungen stellte er daher die Marine organisatorisch auf sich selbst und gab bei jeder Gelegenheit seinem Willen, ihre Entwicklung zu heben, persönlich stärksten Ausdruck. Es war eine entscheidende Stunde, als, gelegentlich der Anwesenheit des Generalfeldmarschalls von Moltke, der Kaiser im April 1891 an der Tafelrunde im Kieler Schloß aus seinem vorwärtsdrängenden Willen heraus den versammelten Admiralen die Frage vorlegte, was aus der Marine in der Zukunft [519] werden sollte. Der Kaiser hat das hohe Verdienst, mit dieser Frage die Marineentwicklung aus dem unsicheren Tasten einer durchdachten Entwicklung zugeführt zu haben. Auch in diesem Kreise war schließlich der damalige Kapitän zur See Tirpitz die Persönlichkeit, die mit ernst abgewogenen Gedanken hervortrat. Anknüpfend an die Schaffung der Torpedobootswaffe hatte er in den dazwischenliegenden Jahren im stillen seine dort gemachten Erfahrungen organisatorischer und militärischer Art auf die ganze Marine übertragen und zu einem groß angelegten Plan verdichtet. Die Denkschrift, die er darüber dem Kaiser vorlegen konnte, führte dann auch nach kürzerer Zeit zu seiner Ernennung zum Chef des Stabes im Oberkommando der Marine. Damit war Tirpitz an die Stelle gestellt, die den Aufbau einer deutschen Flotte militärisch vorzubereiten hatte. Der Kaiser hatte durch seine eigene Initiative aus dem älteren Marineoffizierkorps den Mann herausgegriffen, der allein diese große Frage mit ihren vielseitigen Auswirkungen vorbereiten und durchführen konnte. Drei Jahre hat Tirpitz in dieser Stellung gewirkt und in dieser für die Größe der Arbeit sehr kurzen Zeit eine Leistung vollbracht, die nur die größte Bewunderung auslösen kann. Die Marine war aus dem Jahreslauf alter Gewohnheit gelöst und in einheitlicher Begeisterung von dem Tirpitzschen Geist mit fortgerissen. Die Indiensthaltungen waren der neuen Zeit angepaßt. In ruhiger, stetiger Art waren durch praktische Schulung die Fragen der Zusammensetzung der Geschwader, der Marsch- und Kampfformationen, der Waffenverwendung und der Führung der Verbände im Gefecht zur ersten grundlegenden Lösung gebracht. In folgerichtig angelegten und ständig gesteigerten Übungen war das Offizierkorps für die taktischen Fragen geschult und der Gefechtsdienst ganz neu entwickelt. Die ganze Marine daheim war von einem solchen vorwärtsdrängenden Leben erfüllt, daß ein Auslandskommando – sonst so begehrt – besonders den jungen Offizieren wie verlorene Zeit erschien. Dieses neu erwachende Leben war geweckt allein durch die von der Persönlichkeit Tirpitz ausgehende überlegene geistige Führung und die auf das höchste gesteigerte Forderung an jeden Mann an Bord zu frei getragener, selbstbewußter Verantwortung. Es war die Vorbereitungszeit für den späteren Aufbau einer des deutschen Volkes und seiner Lebenskraft würdigen Flotte, wobei alle Maßnahmen auf eine von der Bindung an die Küste losgelöste Hochseeflotte gerichtet waren. Immer wieder wies Tirpitz darauf hin, daß die Verteidigung der Seegrenze auf dem freien Meer liegt, daß eine an Küsten gebundene Marine sich damit selbst aufgibt. Tirpitz wurde nach dieser arbeitsreichen und entscheidenden Zeit zum Chef des Kreuzergeschwaders in Ostasien ernannt. Die unentwickelten Länder und Staatsgebiete dort mit ihrer geheimnisvollen Weite, ihrer Unerschöpflichkeit an Schätzen des Bodens und der Natur, mit ihrer fremdartigen, aber so tiefgründigen Kultur gerieten durch die stark auf sie eindringende Gedankenwelt und Geschäftigkeit [520] Europas und Nordamerikas in eine fast krankhafte Bewegung, um so mehr als die Handlungen der verschiedenen Mächte, unterstützt durch die weit überlegenen modernen Waffen, fast ausschließlich von Gedanken des Eigennutzes bestimmt waren. Es gab damals wohl keinen Platz auf dem Erdball, wo die Interessen aller Weltmächte in so starkem, von Mißtrauen beherrschtem Gegensatz zueinander standen. Und dazwischen das mit ungeheurer nationaler Kraft und Arbeitsenergie vorwärtsstrebende, aber klug und vorsichtig spähend sich zurückhaltende Japan, das vermöge seiner Insellage sich mit fast unbegreiflicher Geschwindigkeit zum modernen Staat umformte. Tirpitz hat in dieser verantwortlichen Dienststellung die großen politischen Zusammenhänge der Welt mit aller Lebendigkeit auf sich wirken lassen. Dort trat jedem, der nicht blind war, klar vor Augen, daß in der Zukunft der modernen Weltentwicklung nur das Volk ein wirklich freies Volk sein konnte, das sich das Recht auf das freie Meer gewahrt hatte und damit die Möglichkeit, in den weltentscheidenden Fragen mitgehört zu werden. Deutschland mußte daher auch dort draußen nach einem Stützpunkt suchen, wie ihn die anderen Weltmächte sich längst gesichert hatten. Tirpitz hat hierin entscheidend in glücklichster Weise dahin gewirkt, daß bald danach Tsingtau hierfür gewählt wurde, mit dessen Entwicklung er später als Staatssekretär des Reichsmarineamts eine auf allen Gebieten dieser weitverzweigten Aufgabe vorbildliche Arbeit geleistet hat. Aus diesem hochgespannten militär-politischen Wirkungskreis wurde Konteradmiral Tirpitz im Frühjahr 1897 plötzlich unter Ernennung zum Staatssekretär des Reichsmarineamtes abberufen. Den neuzeitlichen Kräften in der Marine, die Tirpitzscher Geist zu vorwärtsdrängendem Schaffen geweckt hatte, stand ein für die Fragen der Seegeltung verständnisloser Parlamentarismus gegenüber. Dem amtierenden Staatssekretär des Reichsmarineamtes, Admiral Hollmann, war es nicht gelungen, diese Gegensätze zu überwinden. Im parlamentarischen Handel um die einzelnen Positionen des Marine-Etats wurde jede Möglichkeit eines planvollen Aufbaus oder einer überlegt vorwärtsgetragenen Entwicklung zunichte. Man braucht nur die Schiffstypen, die aus dieser Zeit stammen, gegeneinanderzuhalten, um zu erkennen, daß auf diesem Wege etwas Brauchbares, auch in bescheidenem Rahmen, nicht geschaffen werden konnte. Als Admiral Hollmann in den Reichstagskämpfen des Winters 1896/1897 sich nicht hatte durchsetzen können, griff der Kaiser mit sicherem Vorausblick ein und stellte den Admiral Tirpitz auf den Posten, dessen entscheidende Bedeutung für den weiteren Ausbau der Flotte klar zu Tage trat. Tirpitz ist diesem Ruf mit keiner inneren Freudigkeit gefolgt; er sah voraus, daß er für die Zukunft den taktischen und strategischen Arbeiten, die ihn bisher am stärksten gefesselt hatten, der unmittelbaren Vorbereitung der Waffe für das Gefecht und der Kriegsverwendung der Flotte würde entsagen müssen. Die neue, hochverantwortliche Stellung stellte ihn dagegen mitten hinein in die Auseinandersetzungen des Parlamentarismus [521] mit allen seinen unerfreulichen Nebenerscheinungen, forderte von ihm die Gewöhnung an Kampfmethoden, die er aus seinem militärischen Empfinden heraus innerlich ablehnte. In seinen Notizen über den ersten Vortrag, den Tirpitz dem Kaiser nach seiner Rückkehr gehalten hat, kommt diese Empfindung lebhaft zum Ausdruck. Er fügte sich aber dem folgerichtig überlegten Willen des Kaisers und der Staatsnotwendigkeit. Vom Torpedobootswesen aus hatte sein kühn über alle Widerstände hinwegführender Geist die Umstellung der Marine auf die neue Zeit eingeleitet, im Oberkommando der Marine hatte sein militärisch sicherer Blick und sein umfassendes Wissen der Marine die großen Zukunftsaufgaben vorgezeichnet, die Kräfte auf allen Gebieten auf diese Gedanken eingestellt und meisterhaft hinter sich gezwungen. Nachdem ihn dann sein Kommando in Ostasien in die großen Fragen der Weltpolitik eingeführt hatte, stand er nun vor der geschichtlichen Forderung, dem deutschen Volk die seiner Bedeutung entsprechende Stellung auf dem Weltmeer zu erringen und zu sichern. So wie bisher stets seine Persönlichkeit, auf welchen Posten er auch gestellt war, bestimmend für die ganze Marine gewesen war, so verlagerte sich auch jetzt in kürzester Zeit der Schwerpunkt der Marine in das bisher so wenig erfolgreiche Reichsmarineamt, nachdem der Konteradmiral Tirpitz dort die Leitung übernommen hatte. Wenn diese oberste Verwaltungsbehörde der Marine in dem zermürbenden Kampf mit den Parteiinteressen des Reichstages immer mehr zurückgedrängt war und schließlich in ihren Forderungen nur noch von der Hand in den Mund lebte, warf Tirpitz diese Arbeitsmethode vom ersten Tage an beiseite und stellte für alle seine Mitarbeiter, wie er das in jedem Wirkungskreis mit Erfolg gehandhabt hatte, ein hohes Fernziel auf, dessen Begründung gegeben war in der zähen und folgerichtigen Durcharbeitung der Grundbedingungen und in der entsprechenden Abschätzung der dafür zu weckenden Kräfte. Wer, am Kleinlichen klebend, für solches hohe Fernziel sich nicht frei machen konnte, den ließ Tirpitz sofort beiseite liegen. Wenn man die Persönlichkeit des Admirals Tirpitz in ihrer mitreißenden Kraft begreifen will, so versuche man sich die Entwicklung des Jahres 1896/1897 zu vergegenwärtigen. Im Frühjahr 1896 mußte der damalige Staatssekretär Admiral Hollmann zurücktreten, weil er außerstande war, gegen den Reichstag die Bewilligung eines Kreuzers durchzudrücken. Im Herbst 1896 legte sein Nachfolger demselben Reichstag eine Vorlage vor, durch die die deutsche Marine in ihrer Organisation und mit den entsprechenden Ersatzbauten gesetzmäßig festgelegt wurde, und im Frühjahr 1897 kam dieses Gesetz zur glatten Annahme. Tirpitz hatte sich für dieses Flottengesetz den "Kugelsegen" des Alt-Reichskanzlers geholt. Sein ganzes politisches Denken war von dem Willen bestimmt, dem Deutschtum seinen Platz zwischen den Weltvölkern zu sichern. Er ging dabei aus von der stetig und durch alle Rückschläge unbeirrt im Sinne des Deutschtums vorwärtsstrebenden preußischen Staatsführung und von der Erkenntnis, daß die wahre [522] Freiheit eines großen Volkes erst dann ihre Erfüllung gefunden hat, wenn es die See in ihrer Größe und entscheidenden Bedeutung erkannt und sich durch Seemacht die Möglichkeit gesichert hat, in den großen, weltbestimmenden Fragen wirkungsvoll mitzusprechen. Tirpitz erwähnt in seinen Erinnerungen, wie schwer auch ihm der Augenblick gewesen ist, als nach der Gründung des Norddeutschen Bundes die preußische Flagge auf den Schiffen niederging. Aber das neue Hoheitszeichen, das über dem Heck gesetzt wurde, es wies nicht nur sinnbildlich darauf hin, daß die Einheit des Deutschtums mit der führenden Kraft Preußens schicksalsmäßig verbunden war, sondern gab auch zu erkennen, daß ein einig geschlossener deutscher Staat ohne Seegeltung nicht denkbar sei. Die Aufgabe, die ein großes Volk zu lösen hat, geht über die Seegrenzen hinaus und verlangt von uns Deutschen, daß wir die hohen Gaben des Deutschtums mit Selbstbewußtsein und Stolz vor die Welt stellen, um dadurch mitzuarbeiten an der Entwicklung der Menschheit. Die Achtung, die dazu erforderlich ist, kann aber nur auf Macht gegründet werden. Ein Volk, das sich den Seegeltungsgedanken nicht zu eigen gemacht hat und ihn nicht durch seine männliche Kraft bewußt deckt, bleibt ein dienendes Volk, das bei den Weltentscheidungen sich ohne weiteres fügen muß und dessen Volksgenossen nach kürzerer oder längerer Zeit nur als Blutzustrom für andere Nationen über See dienen. Wenn der Regierungszeit Kaiser Wilhelms I. die gewaltige Aufgabe zu lösen gestellt war, durch Preußisch-Bismarcksche Staatsführung das Deutsche Reich zu erkämpfen, mußte schicksalsgemäß die Regierungszeit Kaiser Wilhelms II. der unerhört vorwärtsstrebenden geeinten deutschen Schaffenskraft auf allen Gebieten die freie Achtung der Weltvölker sichern. Der Kaiser erkannte diese Pflicht gegen das deutsche Volk, die auf ihm lag, mit klarem, weitschauendem Blick und griff sie mit ganzer Lebendigkeit seines Geistes auf. Tirpitz, den er sich für diese ungeheure Aufgabe mit sicherem Blick heranholte, faßte sie mit solcher Sicherheit an, daß er den für eine Marine besonders verderblichen parlamentarischen Einfluß hinter sich zwang und durch die Schaffung einer Gesetzesform so weit wie überhaupt möglich ausschaltete. Er war sich dabei wohl bewußt der mancherlei Nachteile, die er dadurch gezwungen war, auf sich zu nehmen, indem auch er sich der Bewegungsfreiheit in weitem Maße begab. Aber die Stetigkeit, die für den Aufbau einer Marine personell und materiell von ganz besonderem Wert ist, war ihm das Wichtigere. Seine Unternehmungskraft verstand es, durch die Ausgestaltung des Flottengesetz-Gedankens sich die nötige Freiheit des Entschlusses zu sichern. Allerdings verlangte er für diese gewaltige Aufgabe, auf die er sich dem Kaiser verpflichtete, auch volle verantwortliche Selbständigkeit. Er scheute dabei schließlich auch davor nicht zurück, das von ihm selbst hochentwickelte Oberkommando der Marine zu zerschlagen, als von hier versucht wurde, auf den organisatorischen Aufbau und die Ausgestaltung der werdenden Flotte Einfluß zu gewinnen. [523] Man begegnet heute noch der Auffassung, daß Tirpitz durch die Flottenpolitik die für Deutschland naturgegebene Kontinentalpolitik zerstört hätte. Ohne im Rahmen dieses Lebensbildes auf diese höchst wichtige Frage gründlich eingehen zu können, sei daran erinnert, daß schon der Berliner Kongreß 1878 gezeigt hatte, wie der erwachende Panslawismus in Rußland mit dem schnell wieder erstarkenden Frankreich zusammenstrebte. Bismarck stellte dieser Gefahr den Dreibund entgegen, dessen Schwäche so offensichtlich war, daß er den Rückversicherungsvertrag mit Rußland daneben festlegte. Unter Caprivi zerbrach diese Sicherung, und damit war der Dreibund auf sich allein gestellt. Das alles geschah, ehe auch nur von einer nennenswerten Flotte in Deutschland die Rede war. England behielt seine durch Jahrhunderte geübte Politik bei, das Gesicht gegen Europa gerichtet, dort die Kräfte sich gegeneinander verbrauchen zu lassen, während es selbst sein Weltreich ausbaute und festigte. Deutschland mit seiner überraschend emporsteigenden wirtschaftlichen Kraft mußte an England sich vorbei als freier Faktor im Bereich des britischen Imperiums durchsetzen. Eine politische Auseinandersetzung mit England war eine geschichtliche Notwendigkeit, nachdem das in weitem Maße geeinte Deutschtum auch mit geeinter Wirtschaftskraft in die große Welt hinauswirkte. Da aber dieses Weltreich in seine politische Rechnung nur Machtfaktoren einstellte, war für ein freies Deutschland die Zukunft nur zu gewinnen durch die Kraft einer achtunggebietenden Flotte, gestützt auf eine Heimat, die wehrbereit auch dem Zweibund Frankreich–Rußland gegenüberstand. Der Aufbau einer deutschen Flotte war also ein Gebot der Einheitsentwicklung der Deutschen. Tirpitz hat die hochpolitische Aufgabe des Flottenbaus in den Jahren 1897 bis 1913 in unnachahmlicher Meisterschaft gelöst, gestützt und gedeckt von seinem kaiserlichen Herrn, der bewußt diese große Verantwortung auf sich nahm und keine persönliche Einwirkung scheute oder vorübergehen ließ, um den Deutschen auf die große Welt hinzuweisen. Man ist leicht geneigt, heute über den Aufbau der Flottengesetze hinwegzulesen als über eine gegebene Selbstverständlichkeit, an der man dann nur gewisse Fehler zu erkennen für sich in Anspruch nimmt, so vielleicht zu stark ausgeprägte Systematik und damit Vernachlässigung der Rücksicht auf die politischen Spannungen. Man vergißt dabei, daß diese Selbstverständlichkeit der Flottengesetze allein Tirpitz erkannt hat, und daß er darum sechzehn Jahre gekämpft hat. Gewiß sind diese oder jene Fehler dabei vorgekommen, ich glaube aber, daß der falsch handelt, der über solche unvermeidlichen Nebenerscheinungen die hohe verantwortliche Linie vergißt, der Kaiser und Tirpitz, jeder in seiner Art, nachgegangen sind. Das kommende Verhängnis hat sich daraus entwickelt, daß zwischen dem Reichskanzler von Bethmann Hollweg und dem Großadmiral von Tirpitz politische Gedankenlinie und Einschätzung der großen Machtfaktoren der Weltentwicklung sich immer mehr voneinander entfernten. Dies verhängnisvolle Auseinanderstreben in der Auffassung der politisch höchstverantwortlichen Staatsbeamten hätte nur durch [524] Aufgabe des Flottenbaus oder dadurch beseitigt werden können, daß der Großadmiral als Reichskanzler berufen worden wäre. Es steht heute fest, daß diese Forderung nie amtliche Form angenommen hat. Tirpitz hat immer die höchstmögliche Steigerung der Kraft der Armee für die allein denkbare Basis deutscher Politik angesehen, aber er hielt die Wehrhaftigkeit unseres Volkes für stark genug, um daneben eine angemessene Flotte zu entwickeln. Die Manneskraft unseres Volkes hätte nur wirklich ausgeschöpft werden müssen, um so mehr als es galt, eine entscheidende Zeit hochpolitischer Spannung zu überwinden, wobei es für Tirpitz wesentlich war, daß durch den Ausbau der Flotte die Bündnisfähigkeit Deutschlands für die Weltfragen ungewöhnlich stark gehoben wurde. Er nahm aber sogar bewußt Nachteile in den Kauf, nur um nicht das Rüstungstempo anzugeben, und hat nie mit dem Gedanken der Rüstungsgleichheit gegen England gespielt, die heute auch Japan verlangt. Zur Deckung der gefährdeten Stellung Deutschlands war dem Großadmiral in seiner politischen Auffassung die Verbindung mit Rußland eine Notwendigkeit und eine Verständigung, wenn möglich eine Zusammenarbeit mit Japan ein Erfordernis. Er würde, um Rußland zu gewinnen, die Türkei und Konstantinopel drangegeben haben. Im Jahre 1912 schien mit der letzten Novelle zum Flottengesetz der genial erdachte und unbeirrt vorwärtsgetragene Flottenbau gesichert. Tirpitz hätte für ein festes Angebot Englands auch diese letzte nicht umfangreiche Novelle geopfert. Der unsicheren Unterlage der Haldane-Mission gegenüber hatte er aber durchgehalten. Nun schien mit dem Abschluß der Flottenvorlagen die damit tatsächlich eintretende Entspannung auch in England nicht ohne Wirkung zu bleiben. Die ruhige Sicherheit Tirpitzschen Kraftwillens wurde am 30. März 1914 von Churchill als Erstem Lord der Admiralität im Parlament anerkannt, indem er das von Tirpitz verantwortlich ausgesprochene Verhältnis der heimischen Geschwader mit fünf deutschen gegen acht englische als billig und maßvoll bezeichnete. Da brach vom Balkan her plötzlich der Weltbrand über Europa aus. Alle irgendwo etwa auflebenden Verständigungsgedanken waren verscheucht, allein die Faktoren der Macht traten in den Vordergrund mit der Richtung auf die gewaltigen Weltentscheidungen, die nun vor der ganzen Menschheit standen. Die Unausgeglichenheit der politischen Auffassung zwischen Bethmann Hollweg und Tirpitz mußte nun nicht nur für die Marine zu den schwersten Hemmungen führen. Der Großadmiral kannte den rücksichtslosen Willen englischer Staatsführung, der vor keiner Schranke haltmacht, wenn die Entscheidung der Waffen angerufen ist, während der Kanzler auch jetzt noch unentwegt danach suchte, durch Nachgeben Verständigung zu erreichen. Es ist kein Zweifel, daß nun für das gewaltige Machtinstrument der deutschen Flotte die Führung und Verantwortung dem Mann in die Hand gegeben werden mußte, der vor Kaiser und Volk diese Flotte aufzubauen übernommen hatte, um, durch Macht auf England einwirkend, dem Frieden zu dienen.
Die verhängnisvolle Zurückhaltung der Flotte widersprach völlig den politischen und militärischen Grundgedanken des Flottenbaus, dem Geist und der geschichtlichen Erfahrung, die Tirpitz beim Aufbau seines Lebenswerkes geleitet hatten, und an der über der U-Boot-Kriegführung ewig schwebenden Unsicherheit zerbrach schließlich sein Einfluß und sein Wirken. Dabei wissen wir heute aus allen Nachrichten unserer ehemaligen Feinde, daß nur das Zögern und Zaudern im U-Boot-Krieg uns die Zeit hat verlieren lassen, den Feind zu bezwingen. Churchill hat es am 12. Januar 1919 in einem Artikel im Sunday Pictorial ausgesprochen: "Ein wenig mehr, und der U-Boot-Krieg hätte uns, anstatt Amerika auf unsere Seite zu bringen, zur bedingungslosen Übergabe aushungern können." Am 15. März 1916, in einer der gespanntesten Zeiten des Weltkrieges, empfing der Großadmiral seinen Abschied. Die Auslandspresse nahm seine Verabschiedung als ein Zeichen für eine "nahe völlige Erschöpfung der militärischen Kräfte Deutschlands". Das Echo de Paris schrieb am 18. März 1916: "Der furchtsame Kanzler brachte den mutigen Tirpitz zur Strecke." Sein Inneres ließ dem Großadmiral keine Ruhe, er konnte in solch furchtbar ernsten Zeiten nicht stiller Zuschauer sein, und so trat er Anfang September 1917 an die Spitze der "Vaterlandspartei". Er wollte versuchen, von dort aus dem um sein Schicksal ringenden Volk die schwindende Kraft zu stärken, um es emporzureißen zum Heldentum letzter Kraft. Es war zu spät, die zersetzenden Einflüsse im falsch geleiteten Volk hatten sich schon zu tief gefressen, und die beschwörenden Mahnungen zu äußerstem Widerstand in letzter Stunde, als der Versailler Friede drohte, verhallten ergebnislos. Mir ist vom Großadmiral von Tirpitz das Vertrauen geschenkt worden, in mancher tiefernsten Stunde ihm zur Seite sein zu dürfen. In solchen geschichtlich [526] großen Stunden, wo er alle Überlegungen zweckmäßiger Taktik und klug-diplomatischen Abwägens beiseitewarf, stand der Großadmiral stets vor mir in ergreifender Größe seelischer Kraft und reinsten vaterländischen Willens. So habe ich auch den 16. Oktober 1918 bei ihm erlebt, als die letzte Wilson-Note unsere Ehre angriff, eine Ungeheuerlichkeit, gegen die es für Tirpitz nichts anderes gab als den Aufruf an das Volk zum Einsatz auf Leben und Tod. Sein heißes Wollen stand abseits und konnte sich nicht Gehör verschaffen. Das ganze Lebenswerk des Großadmirals brach zusammen. Übelwollen und Gehässigkeit hatten ihm gegenüber die Bahn frei. Aber so ungeheuer er auch litt unter all diesen furchtbaren Geschehnissen des Zusammenbruches, der Revolution, des Versailler Schandvertrages und was sich daraus ergab, unbeirrt und ruhelos arbeitete sein Geist, um aus den Trümmern wieder herauszusuchen, was zum Neuaufbau brauchbar wäre. Es ließ ihm keine Ruhe, abseits zu stehen, ohne seine Kraft miteinsetzen zu können im Ringen um einen neuen, verjüngenden Aufstieg. Wie stark er auch dem Parlamentarismus mit seinem verheerenden Einfluß gerade auf das deutsche Volk abgeneigt war, nahm er doch das, was damit zusammenhing, auf sich, um wenigstens sich Gehör und einen gewissen Einfluß verschaffen zu können in dem ihm so wesensfremden Staat von Weimar, bis er mit fast achtzig Jahren sich aus dem unmittelbaren Kampf des politischen Lebens zurückzog. Für ihn, dem klarer Wille und Verantwortungsbewußtsein die Grundkräfte des Staates bedeuteten, war diese Nachkriegszeit mit ihrer Würdelosigkeit, ihrer Scheu vor allem, was Selbstbewußtsein verlangt, ein zermürbendes und erniedrigendes Ringen. Aber nichts ließ ihn den Glauben verlieren, so ernst er auch in die Zukunft sah. "... Solange die jetzige Regierung die Zügel bei uns führt" – schrieb er am 20. September 1919 – "muß Deutschland mit Naturnotwendigkeit weiter sinken. Wenn wir nicht zum Geist zurückkehren, der uns einst groß gemacht hat, können wir nicht gesunden. Es sieht fast so aus, als daß wir hierzu erst durch das Chaos oder wenigstens durch den Versuch der Unabhängigen, das Chaos herbeizuführen, hindurchmüssen, ehe ein Gesunden einsetzen kann... Freilich, der Parlamentarismus könnte es nicht machen, dazu gehört ein Diktator oder ein Stein bzw. Bismarck, wenn ein wirklicher König da ist... Lassen Sie sich nur die Hoffnung nicht rauben." So hat er, ehe er am 6. März 1930 mit fast einundachtzig Jahren die Augen schloß, den Weg in der Ferne gesehen, auf dem die deutsche Lebenskraft, Parlamentarismus und undeutsche Einflüsse niederwerfend, bald nach seinem Heimgang im Glauben an einen Führer der neuen deutschen Zukunft entgegenschreiten sollte. In diesem neuen Werden deutscher Zukunft wird auch das Leben und Wirken des Großadmirals seine Vollendung finden. Sein schaffender, weitblickender und nimmermüder Geist wird über alle Geschehnisse hinweg Wegbereiter des Deutschtums sein, denn die wahre Freiheit des einigen Deutschtums ist nicht denkbar, ohne daß es die innere Verbundenheit mit dem Weltmeer gefunden hat.
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