Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 2: Das Nahen des Weltkrieges
(Forts.)
[785] 4.
Serajewo und der Zwang zum Kriege.
In den Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts verbirgt sich eine elementare
Urkraft, die zur letzten Auswirkung und Gestaltung um jeden Preis
drängt - das gibt ihrer Größe den unheilvollen Zug und
befleckt ihren Glanz mit Blut und Schmutz. Der große Staatsmann, der sich
in den Dienst einer nationalen Idee stellt, weiß, daß er sie nur ganz
allmählich und vielleicht nur innerhalb gewisser Grenzen verwirklichen
kann. Er lenkt die Flut, die ihn trägt, er ist sich dessen bewußt,
daß sie auch zerstörende Kräfte in sich birgt, sorgend
hält er sein Auge gerichtet auf die Gesamtheit der Völker, in deren
Mitte seine Nation leben soll. Diese tiefe Verantwortlichkeit war es, die Bismarck
empfand, als er am 19. Mai 1868 sagte: "Erreicht Deutschland sein nationales Ziel
noch im 19. Jahrhundert, so erscheint mir das als etwas Großes, und
wäre es in zehn oder gar fünf Jahren, so wäre das etwas
Außerordentliches, ein unverhofftes Gnadengeschenk von Gott."
Die großserbische Nationalbewegung wäre nach menschlichem
Ermessen im Laufe einiger Generationen zu irgendeinem Ergebnis gekommen, in
dem sie ihr Genüge hätte finden können. Jetzt aber
drängten fanatische Köpfe zum plötzlichen Handeln. Sie
bedienten sich verbrecherischer Hände, um mit einem Schlage ans Ziel zu
kommen, und befleckten dadurch ihren nationalen Aufstieg für immer mit
dem Morde, ja, sie belasteten ihn mit dem weltgeschichtlichen Odium des
Weltkrieges.
Die Vorgeschichte des Mordes von Serajewo, auch in ihren
zurückliegenden Verzweigungen, ist heute von allem Dunkel des
Geheimnisses ebenso befreit, wie jeder banale Mordprozeß, in dem der
juristische Scharfsinn frei sich hat entfalten können; insbesondere ist
über das, was in unsrem Zusammenhange allein von entscheidender
Bedeutung ist, taghelles Licht bis fast in die letzte versteckte Falte hinein
ausgegossen worden: über die Beteiligung und Mitwisserschaft amtlicher
serbischer Stellen an der Vorbereitung der Mordtat. Die äußeren
Vorgänge seien so knapp wie möglich zusammengefaßt.1
[786] Der erste Gedanke des
Mordprojektes ging aus von einem Manne, der an bevorzugter Stelle des
serbischen Heeres stand, von dem Generalstabsobersten Dragutin
Dimitrijević, dem Chef der Nachrichtenabteilung des Generalstabs und
Leiter der Geheimorganisation "Ujedinjenje ili smrt" ("Vereinigung oder
Tod"), auch "schwarze Hand" genannt. Dieser Mann, der seine Hände
schon in der Ermordung König Alexanders gehabt hatte, will infolge von
angeblichen Gerüchten, die nach dem Besuche Kaiser Wilhelms II.
bei dem Erzherzog Franz Ferdinand in Konopischt im Herbst 1913 von einem
dort geplanten "Überfall auf Serbien" sprachen, auf das politische
Heilmittel des Mordes verfallen sein. Er erteilte in den nächsten Monaten
einem andern Vorstandsmitglied der "Schwarzen Hand", dem Major
Tankosić, den Auftrag, ein Attentat vorzubereiten. Dieser veranlaßte
ein in Lausanne ansässiges Mitglied der Organisation, das geistige Haupt
der bosnischen Südslawen, Gačinović, eine Zusammenkunft
geeigneter Vertrauensleute aus der "Mlada Bosna" nach Toulouse zu berufen.
Hier wurde Mitte Januar 1914 ein Beschluß gefaßt, mit
Mordanschlägen gegen den Erzherzog und andre Persönlichkeiten
vorzugehen. Dieser Umweg wurde aber nach kurzer Zeit aufgegeben. Ein
Bosniake, Prinčip, der zu denen gehörte, die von den Umtrieben
Kenntnis erhielten, begab sich Anfang März nach Belgrad, wo er auf seine
Bereitschaftsmeldung hin von Major Tankosić erfuhr, daß die
Vorkehrungen sofort - unter Ausschaltung von
Lausanne/Toulouse - getroffen werden sollten; er trat gleich darauf auch
mit Cabrinović und Grabez in Verbindung, mit denen dann der Kreis der
Täter geschlossen war.
Sobald es bekannt wurde, daß der Erzherzog Franz Ferdinand an den
bosnischen Manövern im Sommer 1914 teilnehmen würde,
verdichtete sich die Verschwörung zu dem Plane, diese Gelegenheit zu dem
Anschlage zu benutzen. Die Einzelheiten des Attentates wurden von Major
Tankosić und dem Eisenbahnbeamten Ciganović, einem bekannten
Komitadschi, mit den Tätern festgestellt. Dieser Ciganović, der
übrigens von dem Ministerpräsidenten Pašić als Spitzel
in der "Schwarzen Hand" verwendet wurde (wie denn überhaupt amtliche
und oppositionelle Organe in dieser Sphäre bunt durcheinander liefen), war
der eigentliche Mittelsmann zwischen den Militärs und den Mördern.
Er vermittelte die Beschaffung der für den Mord bestimmten Waffen,
händigte sie auf Anweisung der Militärs aus und übernahm
auch die Unterweisung der Anfänger im Gebrauche. Während die
sechs Bomben aus militärischen Beständen stammten, über die
Major Tankosić verfügte, waren die vier
Browning- [787] pistolen von dem
Obersten Dimitrijević angekauft worden; es ist gut beglaubigt, daß er
die Quittung über die Kaufsumme während des Weltkrieges bei sich
trug und gelegentlich lächelnd vorzeigte.
Am 28. Mai verließen die drei Mordgesellen Belgrad, auf fest abgesteckten
Marschrouten durch die Grenzhauptleute in Sabac und Ložnica weiter
befördert; dann wurden sie nach des letzteren Anweisung mit Hilfe eines
beigegebenen Finanzwachmannes, sowie von Mitgliedern der "Narodna odbrana"
(ein Bauer, ein Lehrer), in der Nacht vom 1. auf den 2. Juni über die Grenze
nach Bosnien gebracht. Schon in diesem Augenblick war das Wesentliche des
Geheimnisses auch den Spitzen der Behörden in Serbien nicht mehr
unbekannt. Wie der serbische Unterrichtsminister, später Präsident
der Skupčina, Jovanović2 ausgesagt hat, hat der
Ministerpräsident Pašić in jenen Tagen, Ende Mai oder
Anfang Juni, im Ministerrat Mitteilung von dem in Vorbereitung befindlichen
Anschlag gemacht; daß zu ihm verborgene Wege aus dem Kreise der
Verschwörer führten, ist bereits erwähnt worden. Der
Beschluß des Ministerrats, die Mörder aufzuhalten, kam aber zu
spät: sie hatten bereits die beiden Grenzhauptleute passiert. Wenn dieser
schwache Versuch, das Verbrechen zu verhindern, seinen Erfolg verfehlte, so
schloß sich daran nicht etwa - wie zu erwarten gewesen
wäre - eine amtliche Warnung an die
österreichisch-ungarischen Behörden in Serajewo. Die serbischen
Minister haben vielmehr die folgenden Wochen bis zum Morde in dem dunklen
und belastenden Gefühle einer furchtbaren Mitwisserschaft durchlebt.
Von der ersten bis zur letzten Minute hat das amtliche und halbamtliche Serbien,
von den großserbischen Organisationen unterstützt, in der
Vorbereitung oder doch jedenfalls in der Mitwisserschaft des Verbrechens
mitgewirkt.3 Nur das ganze Ineinanderspiel der
Behörden hat die glatte und geräuschlose Vorbereitung des
Verbrechens ermöglicht. Wenn die österreichische Regierung nach
dem Morde eine Reihe wichtiger Verdachtsmomente sofort aufgreifen konnte, so
hatte sie doch von dem ganzen Umfange der Beteiligung des amtlichen Serbiens
noch keine zureichende Vorstellung. Man hat aber heute das Recht zu sagen, in
irgendeiner Weise, wenn auch in verschiedenem Grade, tragen serbische
Staatsbehörden überall die Verantwortung, und jene armseligen
Mordgesellen sind nichts als anonyme ausführende Hände, hinter
denen die eigentlich Schuldigen sich nicht verbergen können.
[784a]
Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand und Gattin verlassen,
unmittelbar vor dem Attentat,
das Rathaus in Serajewo, Juni 1914.
|
Das ist der Ursprung der Mordtaten von Serajewo vom 28. Juni 1914, die nicht
nur einen Einzelnen, sondern ein Reich, nicht nur die Gegenwart, sondern auch
die Zukunft einer Großmacht vernichtend treffen sollten. Erst eine
wohlberechnete Verwirrung hat dazu geführt, wenn die Kriegsschuld zur
De- [788] batte stand, gerade von
diesem einwandfreien Ausgangspunkt der Blutschuld das Licht abzulenken und
nach verschiedenen Nebenseiten zu zerstreuen. Von Rechts wegen hätten
die großserbische Revolutionspropaganda und die
russisch-serbische Gruppe derer, die die "Zerschlagung
Österreich-Ungarns" im Munde führten, neben den Prinčip,
Cabrinović und Grabez auf der Anklagebank sitzen müssen. Das
muß um so deutlicher ausgesprochen werden, als in vielen Ländern
das Gefühl für das Verbrecherische dieses Schlagwortes der
lebenden Generation fast abhanden gekommen zu sein scheint. Denn dieser
große Staat, der, seitdem er durch den Weltkrieg zerbrochen worden ist, fast
angesehen wird als etwas, was zugrunde gehen mußte, war damals
ein machtvolles historisches Gebilde, das mit seinen kulturpolitischen Leistungen
durch die Jahrhunderte hindurch, seiner sittlichen Geltung für alle seine
Glieder, seinem Anteil an der gemeinsamen Ordnung aller innerhalb der
Staatengesellschaft ein ebenbürtiges Daseinsrecht besaß. Er
gehörte zu den großen historischen Werten und Tatbeständen,
die in der neuen Geschichte geschaffen wurden waren, und ließ sich aus
diesem Kreise noch nicht dadurch entfernen, daß seit seiner Bildung die
nationalen Gewalten sich mit ursprünglicher Kraft erhoben hatten. Wer ihm
von der südslawischen "Idee" her heute das Daseinsrecht absprechen will,
kommt kaum darüber hinweg, daß die "Zerschlagung"
Österreich-Ungarns sogar für die Angehörigen der angeblich
einheitlichen serbo-kroatischen Nationalität ein nur von der Gewalt
ausgeübtes Herrschafts- und Dienstverhältnis in ihrer eigenen Mitte
aufgerichtet hat.
Es wäre ohne Beispiel in der Geschichte gewesen, wenn die
österreichisch-ungarische Monarchie nach den Erlebnissen der letzten Jahre
die ihnen entspringende Mordtat schweigend hingenommen hätte. Wenn
man damals in Wien den ganzen Tatbestand so überschaut hätte und
ihn den europäischen Großmächten so hätte vorlegen
können, wie wir ihn heute kennen, so vermag man kaum zu glauben,
daß unmittelbar nach dem Morde ein Einmarsch der Österreicher in
Serbien einem Einspruch der Weltmeinung begegnet wäre. Aber wenn auch
der ganze Tatbestand noch nicht vorlag - hatte denn etwa das
amerikanische Volk stärkere Gründe zum Kriege mit Spanien
gehabt, als die "Maine" im Hafen von Havanna in die Luft flog? Oder war
vielleicht das englische Weltreich von echteren ethischen Impulsen erfüllt
gewesen, als es das kleine Burenvolk in den Krieg trieb?
Es ist daher durchaus begreiflich, daß die
österreichisch-ungarischen Staatsmänner sich entschlossen, den
furchtbaren Stoß, der die Monarchie getroffen hatte, mit einem
Gegenstoß auf Serbien zu erwidern. So teilte Graf Berchtold dem Generalstabschef Freiherrn v. Conrad
schon am 29. Juni mit, die Stunde
[789] zur Lösung der
serbischen Frage habe nunmehr geschlagen; auch dem ungarischen
Ministerpräsidenten Grafen Stefan Tisza sprach er seine Absicht aus, die
Greueltat in Serajewo zum Anlaß der Abrechnung mit Serbien zu machen.
Wenn dieser Wille feststand, bedurfte es in Wien vor allem andern der
Gewißheit über die deutsche Bündnisleistung. Damit
kehrte - auf das äußerste
zugespitzt - eine Situation wieder, wie man sie in den letzten Jahren immer
wieder erlebt hatte.
Von Anfang an hatte das deutsch-österreichische Bündnis, bei aller
historischen Begründung und inneren Unbedingtheit, doch eine bestimmte
Grenze gehabt. Es war Bismarcks
eigentliches Motiv gewesen, daß es die
großmächtliche Existenz der Doppelmonarchie zu decken habe, nicht
mehr und nicht weniger - darauf hielt er schon in den ersten Jahren seines
Bestehens, daß es die Grenze dieser Verpflichtung nicht überschreite.
Ja, er ging so weit, daß er die Entscheidung darüber, was in diesem
Sinne als Existenzfrage aufgefaßt werden und in welchem Falle der
casus foederis eintreten müsse, der Entscheidung seines Kaisers,
d. h. seiner eigenen Beurteilung nicht entzogen wissen wollte. Er war sich
dabei bewußt, daß auch bei diesem höchst subjektiv
ausgelegten Vorbehalte die Hauptsicherheit Österreichs für die
Erfüllung der deutschen Bundesleistung in "der unzweifelhaften Tatsache
bestehe, daß seine ungeschwächte Existenz ein
Lebensbedürfnis für uns und das europäische Gleichgewicht
sei". Es war kein festeres Band denkbar, als wenn die Erhaltung des einen
zugleich das Lebensbedürfnis des andern war. Eben darum konnte
Bismarck auch den Gedanken verfolgen, dieses Bündnis als ein "ewiges",
verfassungsmäßig gesichertes, zu errichten. In der Entwicklung der
Bündnisgeschichte hat gleichwohl die Auffassung über seine
Anwendung leise geschwankt. Man ist wiederholt in Berlin und in Wien
verschiedener Meinung über die Praxis der Auslegung gewesen, und man
hat zu verschiedenen Zeiten auch in Berlin verschiedene politische
Schlußfolgerungen aus der Verpflichtung gezogen. Am erkennbarsten hatte
wohl Bülow während der bosnischen Krisis von 1908/09 in der
Sache und in der Form die bisher beobachtete Linie überschritten, mehr aus
europäischen Erwägungen heraus, als aus einer
grundsätzlichen Veränderung in seiner bundesgenössischen
Haltung. Ebendarum hatte Kiderlen-Wächter seit dem Beginn des ersten
Balkankrieges in die Bismarcksche Staatspraxis zurückgelenkt. Schon im
November 1912 hatte er mit Berchtold um die Auslegung des Bündnisses
heftig gerungen; er schien vor seinem Hingange auf dem besten Wege, die
bedrohte Parität (im deutschen Sinne) wiederherzustellen. Denn an diesem
innersten Punkte, von dem eigentlich alle deutsche Bündnispolitik
ausgegangen war, begegneten sich jetzt die Kernfragen unsrer ganzen
Außenpolitik. So weit man beobachten kann, war Herr v. Jagow in
diesen anderthalb Jahren in denselben Bahnen gewandelt, wenn auch ohne die
für den Erfolg wesentliche Rücksichtslosigkeit seines
Vorgängers.
[790] Auch nach Serajewo
war die deutsche Diplomatie sich klar bemüht, daß selbst dieses
Furchtbare unter seinem europäischen Aspekt zu sehen sei.4 In dem Kopfe Berchtolds war gleich
bei dem ersten Male, wo er den deutschen Botschafter empfing, die Reichweite
des Bündnisses der leitende Gedanke; er spielte auf den Verlauf der letzten
Balkankrisis an, in der man ihm die Bundestreue immer wieder versichert, aber in
der Praxis nicht immer die notwendige Unterstützung geleistet
habe - er könne daher nicht wissen, inwieweit er auf Deutschland
zählen könne. Die hiermit gestellte Frage wurde auch in der
Sphäre der Dynastie in einem Schreiben Kaiser Franz Josephs an Kaiser
Wilhelm II. gerichtet, das diesem am 5. Juli in Potsdam überreicht
wurde.5 Oder vielmehr wurde die Frage nicht
eigentlich gestellt, sondern gleich im voraus beantwortet: denn Kaiser Franz
Joseph ging davon aus, daß er in Wilhelm II. einen treuen,
verläßlichen Freund besitze, auf den er in jeder ernsten Stunde
rechnen dürfe. Im übrigen wies er darauf hin, daß die
großserbische Agitation, aus der das Attentat hervorgegangen sei, als
einziges Ziel die Schwächung des Dreibundes und die
Zertrümmerung der Monarchie verfolge, um dann ausführlicher auf
den Gedanken einzugehen, an Stelle Rumäniens, das dem Dreibunde kaum
werde erhalten werden können, den Anschluß Bulgariens in
Vorschlag zu bringen. Von den Aufgaben und Zielen der Zukunft wurde nur das
eine gesagt, daß sie "in Hinkunft auf die Isolierung und Verkleinerung
Serbiens gerichtet sein müssen" - diesem Ziele sollte offenbar die
Umgruppierung des Balkanbundes (Bulgarien, Griechenland) dienen.
Kaiser Wilhelm II. sprach bei dem Empfang des Handschreibens am 5.
Juli - welchen Staatsakt man in der früheren
Kriegsschulderörterung fälschlich zu einem Kronrat6 zu erweitern gesucht
hat - zunächst noch keine definitive und amtliche Antwort aus, da er
die Meinung des Reichskanzlers noch nicht kenne; aber er verhehlte schon jetzt
seine persönliche Ansicht nicht, daß er eine ernste Aktion
Österreichs gegen Serbien erwartet habe und seine volle
Unterstützung in Aussicht stelle. Seine Unterredung mit dem Reichskanzler
am 6. Juli erhob diese Meinung zum Entschluß. Bethmann Hollweg betonte,
Österreich müsse beurteilen, was zu geschehen habe; es würde
dabei - wie immer auch seine Entscheidung ausfallen
möge - mit Sicherheit darauf rechnen können, "daß
Deutschland als Freund und Bundesgenosse der
Mon- [791] archie hinter ihr
stünde". Im besonderen sprach der Kaiser sich für sofortiges
Einschreiten gegen Serbien als radikale und beste Lösung aus, im jetzigen
Augenblicke günstiger als in einem späteren; mit der Einleitung der
bulgarischen Verhandlung erklärte er sich einverstanden.7 In demselben Sinne ließ der
Reichskanzler an diesem Tage den deutschen Botschafter in Wien wissen: der
Kaiser könne zu den serbischen Fragen "naturgemäß keine
Stellung nehmen, da sie sich seiner Kompetenz entzögen".8 Kaiser Franz Joseph könne sich
aber darauf verlassen, daß Seine Majestät in Einklang mit seinen
Bündnispflichten und seiner alten Freundschaft,9 treu an der Seite
Österreich-Ungarns stehen würde.
Bei diesem ersten Schritt auf dem Wege der deutschen Entschließungen
bleiben wir stehen. Richtung und Gewicht dieses Schrittes haben damals viel
weniger Überraschendes an sich, als es vielleicht heute manchem Kritiker
erscheinen mag. Durch die öffentliche Meinung des von so viel
Gefährdungen heimgesuchten und immer wieder bewahrten Europa rollte
eine Welle der Empörung. Die Sympathien der Presse gingen anfangs in
warmen Untertönen mit dem Schicksal des schwergeprüften alten
Kaisers und seines Staates. Auch vom Standpunkt des deutschen Bundesgenossen
aus mußte man sich ein doppeltes sagen. Einmal: wenn
Österreich-Ungarn jemals gegen Serbien handeln wolle, werde es in diesem
Augenblick unter den günstigsten Vorzeichen handeln können, und
zweitens: wenn jemals eine Lebensfrage für die Doppelmonarchie
vorgelegen habe, so liege sie in dem jetzigen Augenblick vor, und wenn die
Bündnispflicht jemals gegolten habe, so gelte sie jetzt. War es nicht eine
Situation, von der Grey (im Januar 1906) gesagt haben würde: "wir
können nicht draußen bleiben, ohne unsern guten Namen und unsre
Freunde zu verlieren und unsre Politik und unsre Stellung in der Welt zugrunde zu
richten"10? Man gedachte dabei noch keine
carte blanche für das Vorgehen gegen Serbien zu
geben -, es ist überhaupt überraschend, wie viel mehr in dieser
ersten Woche zwischen Wien und Berlin von
Bulgarien/Rumänien als von Serbien die Rede
ist - sondern glaubte, daß das, was darunter zu verstehen sei, als
Ergebnis der Untersuchung sich natürlich entwickeln würde. Eines
aber wollte man unbedingt: wenn die serbische Verschuldung dieses Einschreiten
nötig und möglich mache, dann sofort, ohne Verzug, in dem denkbar
ersten Moment einschreiten. Es ist keine Frage, daß in der ersten Woche der
Ton, der Nachdruck von deutscher [792] Seite auf die
Schnelligkeit mehr als auf die Art des Einschreitens gelegt wird. So sprechen sich
der Kaiser und der Kanzler aus; so ist es anscheinend auch auf unkontrollierbaren
Umwegen an die Österreicher herangetragen,11 aber auch amtlich bis zum 8. Juli
einschließlich vertreten worden.12
Es sind die Motive des Augenblicks, die die Köpfe beherrschten und zum
sofortigen Losschlagen drängten. Wenn das frisch vergossene Blut des
Thronerben in der monarchischen Völkergesellschaft die sofortige
Sühne erheischte, wenn Recht und Unrecht so eindeutig verteilt lagen, dann
war allerdings schnellstes Vorgehen dasjenige, was in dieser Staatengesellschaft
sich am ehesten rechtfertigen ließ und den Einbruch der
verhängnisvollen Gruppeninteressen vielleicht verhindern konnte. Eine
vollendete Tatsache, etwa geschaffen durch sofortige Besetzung Belgrads, und die
Aufstellung eines Forderungsprogramms hätte im Moment vielleicht alle
Einwendungen zum Schweigen gebracht und die politisch brauchbarste Grundlage
für die weiteren Verhandlungen geschaffen. Das war der Sinn des
deutschen Drängens in diesen ersten
Tagen - mit einem darin verborgenen Kriegswillen nach weit
ausschauenden Zielen hatte es nicht das geringste zu tun.
Die erste Phase der deutschen Haltung war zu Ende, als man aus Wien erfuhr,
daß zwischen Berchtold und Tisza eine Meinungsverschiedenheit
bestände, und daß der Kaiser Franz Joseph am 9. Juli für den
Weg der konkreten Anforderungen an Serbien entschieden hätte. Das
raschere Tempo, ohnehin schon ausgeblieben, schied von jetzt an
grundsätzlich aus; die Entscheidung war auf
den - immerhin nur in gewissen Fristen
durchführbaren - ordentlichen Weg der diplomatischen Vorbereitung
geschoben. Freilich, wenn dieses Einlenken in den "ordentlichen" Weg nur darauf
hinauslief, daß die ultimativen Forderungen so hoch gespannt wurden,
daß sie von Serbien unmöglich angenommen werden konnten, dann
konnte man schließlich doch noch ebenso plötzlich vor die letzten
Entscheidungen gestellt werden, wie es bei der Herbeiführung einer
vollendeten Tatsache zu Anfang Juli der Fall gewesen sein würde.
[793] Ist somit die deutsche
politische Haltung des Drängens zu begreifen, so gibt sie doch zu einem
ernsten Einwand Veranlassung. Wenn man den Vortrag liest, in dem der
ungarische Ministerpräsident Graf Stefan Tisza seinem Monarchen nicht
die von Berchtold vorgeschlagene, sondern eine vorsichtigere Politik anrät
und vor allem die möglichen Perspektiven des Weltkriegs in seine
Rechnung einbezieht, so legt man sich die Frage vor: ob denn nicht solche
nüchternen und realpolitischen Erwägungen auch von den deutschen
Staatsmännern hätten angestellt werden sollen, in weitestem
Ausmaß und in schärfster Vertiefung? Danach aber sucht man in den
Akten vergebens. Wenn schon in den äußeren deutschen
Hergängen, in dem isolierten Einsetzen der Beteiligten im Ablauf der
Geschäfte irgend etwas liegt, was dem düstern Ernst der Dinge nicht
ganz gerecht wird, wenn der Antritt der Nordlandreise durch den
Kaiser - obgleich in ähnlichen Situationen vom Auswärtigen
Amt erprobt - rein psychologisch dazu beiträgt, diesen Ernst eher zu
verschleiern, so kommt man immer auf den Eindruck zurück, daß die
Staatsleitung des Reichskanzlers versagt, weil sie nicht in der vollen Anschauung
der Weltlage lebt, durch die jeder Schritt vorwärts einen andern Sinn
bekommt, als er ihn in normalen Zeiten gehabt haben würde. Bethmann
Hollweg ließ die Dinge an sich herankommen, anstatt in der Führung
zu bleiben und dadurch den Sturm zu beschwören.
War es nicht eine verkehrte Welt, wenn Stefan Tisza seinen vorsichtigeren
Standpunkt "trotz allem Optimismus in Berlin" vertrat, während nach Lage
der Dinge ein etwaiger optimistischer Aktionswille in Wien in dem Bremsen der
Berliner Politik seine natürliche Ergänzung hätte finden
sollen? Die Gründe, die für
Österreich-Ungarns Entschließung absolut zwingend waren, konnten
für das Deutsche Reich doch nur relativ wirksam sein. Und darum erwartet
man, daß der Eintritt des Bündnisfalls trotz allem, was moralisch
dafür ins Gewicht fiel, doch auch realpolitisch nach allen Seiten durchdacht
worden wäre; und wenn man dann zu dem Ergebnis kam, daß die
Gründe Wiens die gleiche absolut zwingende Kraft auch für Berlin
hätten, dann mußte man auch an der diplomatischen
Durchführung des gefährlichen Spiels verantwortlich teilnehmen
oder doch sich vorbehalten, entscheidend eingreifen zu können, solange das
noch möglich war. Man sucht vergebens nach der Figur des großen
Staatsmannes, der mit der letzten Schärfe des Erkennens und mit der
äußersten Härte des Willens den ganzen Kreis dieser Probleme
in sich verarbeitet und mit den Häuptern des Staates zusammen mit diesem
Schicksal gerungen hätte. Aber ob man von dem Kaiser ausgeht, der am 27.
Juli von der Nordlandreise zurückkehrte, von dem Reichskanzler Bethmann
Hollweg, von dem Staatssekretär v. Jagow und dem
Auswärtigen Amt, von den leitenden Männern in Heer und
Marine - als eine lebendige Organisation hatte sich ein derartiger Kreis der
höchsten Verantwortlichen unter Wilhelm II. nicht herausgebildet,
als eine lebendige Organisation fand er sich jedenfalls nicht in diesen Wochen
unheim- [794] lichster Spannung
zusammen. Nicht, als ob der heiße Atem des kommenden Weltkrieges
ihnen schon das nüchterne Urteil benommen hätte: es war eher so,
daß sie in den einzelnen Schritten ihrer Ressorts allzu lange in den
Maßstäben des Weltfriedens als des Selbstverständlichen
weiterlebten.
In den folgenden vierzehn Tagen stand das Auswärtige Amt vor der
Prüfung der Frage, ob man sich - auch wenn man sich bei der
Aufstellung des Ultimatums nicht beteiligte (für welches formale
Heraushalten sich ernste objektive Gründe anführen
ließen) -, nicht wenigstens vorbehalten sollte, bei der Beurteilung des
Verhaltens Serbiens zum Ultimatum irgendwie verbindlich mitzureden und damit
wenigstens die weitere Entwicklung mit zu beeinflussen.13 Jedenfalls vermißt man in den
deutschen Akten jede Bemerkung darüber, daß man sich von
vornherein damit abgefunden hätte, daß die österreichischen
Forderungen für Serbien unannehmbar gemacht werden sollten.14 Wenn man jetzt in Berlin die Formel
der Lokalisierung des Krieges aufstellte, so mußte man sich sagen,
daß sie höchstens in dem Falle anwendbar sein könne,
daß Serbien annehmbare Forderungen böswillig von der Hand weise.
Man mußte darauf gefaßt sein, daß im andern Falle die
Mächte des Dreiverbandes, nachdem sie sich von dem Schlag von Serajewo
erholt hatten, eines Tages wieder am Platze sein und ein Verdikt darüber
abgeben würden, ob die österreichischen Forderungen berechtigt
seien.
Vom Standpunkt des Rechtes und der Moral wird sich die Frage, so einfach
manchem die Antwort dünken wird, nicht endgültig entscheiden
lassen: steht der Anspruch Österreichs höher, den serbischen Staat in
gewissem Umfange für seine schuldhafte Duldung
national-revolutionärer Mordpropaganda zur Rechenschaft zu ziehen, oder
das Recht Rußlands, diesem Anspruch in den Weg zu treten und den
serbischen Staat gegen eine solche Bestrafung zu decken? Die Frage der
Sittlichkeit, die von Haus aus so günstig für das Wiener Vorgehen
stand, trat dann in Kollision mit der Frage der Macht, sobald Rußland
eindeutig erklärte, seinen Anspruch mit allen kriegerischen Mitteln zu
unterstützen: sobald also Österreich sein
militärisch-politisches Strafverfahren mit der Gefahr einer gleichzeitigen
Entfesselung des Weltkrieges belastet sah. Die Komplizierung des Problems
wurde durch die russische Staatsräson, so wie sie sich in den letzten zwei
Jahren gestaltet hatte, auf ihre eigene Verantwortung hineingetragen, aber indem
es geschah, wurden auch Österreich-Ungarn und Deutschland vor die
schwere Frage gestellt, die ganze Angelegenheit des
österreichisch-serbischen Konfliktes unter diesem unerwarteten Aspekte
nachzuprüfen.
[795] Das Deutsche Reich
hatte sich gezwungen gesehen, das geplante Einschreiten
Österreich-Ungarns gegen Serbien im Sinne des Bündnisses zu
decken - so wie sich Frankreich unbedingt verpflichtet fühlte, den
zur Deckung Serbiens entschlossenen russischen Bundesgenossen auf jede Gefahr
hin zu unterstützen. Diese Zusage wurde von vornherein ausgegeben als
etwas den Frieden allein Sicherndes, weil die Gegenseite auf die Gefahr
rechtzeitig aufmerksam Machendes, während die deutsche Zusage in den
Ruf gebracht wurde, friedensgefährlich gewirkt zu haben, weil sie, auch
ohne militärische Schritte damit zu verbinden, an eine leichten Herzens
gegebene carte blanche grenzte. Daß nur zufällig die
französische Bündnisverpflichtung an einem späteren
Verfallspunkt in dem automatischen Ablauf der Bündnisse liegt, sei hier
nur angedeutet: die deutsche Zusage steht nicht deshalb an der Spitze, weil die
Aktion von ihr ausgeht, sondern weil sie zuerst an eine Verpflichtung erinnert
werden konnte. Immerhin mußte die deutsche Staatsleitung am ehesten die
Vollmachten nachprüfen, die zu so unabsehbaren Konsequenzen
führen konnten, und das Urteil über ihre Politik vor dem Ausbruch
des Weltkrieges wird davon ausgehen, mit welchen letzten Absichten und
welchem Eifer sie diesen Weg betreten hat.
Daß die Mittelmächte nicht den Weltkrieg gewollt haben, bedarf
keines Wortes: sie zielten aber, wenn der Serbe sich nicht unterwarf, auf das
kriegerische Auskämpfen eines Konfliktes, den sie glaubten lokalisieren zu
können. Dieser Glaube stellte sich als ein Irrtum
heraus - es war ein weltgeschichtlicher Irrtum. Aber selbst wenn die
Lokalisierung eine Utopie war, die man in der Weltlage von 1913/14 als einen
schweren Fehler der politischen Einsicht bezeichnen muß, wenn damit auch
die deutsche Politik belastet werden müßte, so sind, auf dieser Ebene
der Verteilung der Verantwortlichkeiten, diejenigen Staatsmänner noch
schwerer zu belasten, die diese Lokalisierung von vornherein unmöglich
machten und, ohne ihre Durchführbarkeit in gewissen Grenzen zu
erwägen, sofort auf den großen Brand lossteuerten. Denn wenn es
sich herausstellte, daß selbst aus diesem außerordentlichen
Anlaß - den in seinem natürlichen Rahmen zu erledigen die
Staatengesellschaft einen fast solidarischen Anlaß
besaß - der Friede nicht aufrechterhalten werden konnte, dann war
allerdings sofort der Schluß unvermeidlich, daß der unterirdische
Kriegswille in Europa überhaupt nicht mehr erstickt werden könne,
sondern, wenn jetzt zurückgedrängt, bei nächster Gelegenheit
doch durchbrechen würde.
Wollte die deutsche Regierung sich ein sicheres Bild von der Weltlage
verschaffen, wollte sie sich insbesondere beizeiten darüber klar werden, ob
die von ihr eingenommene Position der "Lokalisierung des Krieges" als einer nur
die Österreicher und Serben angehenden Angelegenheit gehalten werden
könne, dann mochte sie versuchen, von der englischen Politik eine
unzweideutige Antwort auf die Frage herauszuholen: was habt ihr mit
Rußland? London konnte sich der Bemühung zur Lokalisierung
anschließen oder sie ablehnen. Es konnte [796] den Russen
zurückhalten, ermutigen oder gewähren
lassen - und schon das letztere war eine Ermutigung, die in Wahrheit das
bittere Ende hinnahm. Diese Gewissensfrage zu stellen, auf begründeter
Unterlage zu stellen, war Fürst Lichnowsky am 6. Juli beauftragt. Er
begann damit, die wahrscheinliche Verschärfung
Wien - Belgrad zur Sprache zu bringen. Als er Grey nahe zu legen
versuchte, er möge seinen Einfluß in Petersburg rechtzeitig dahin
geltend machen, daß von dort aus im Sinne der Nachgiebigkeit auf Serbien
gewirkt werde, enthielt sich dieser vorsichtig jeder bestimmten
Meinung - denn hier war der Punkt bezeichnet, an dem er für die
friedliche Lösung wirksam werden konnte. Das zweite Thema
Lichnowskys, die deutsche Beunruhigung über die Rüstungen und
den strategischen Bahnbau Rußlands, wurde ebenso negativ behandelt: Grey
waren keine Anzeichen bekannt. Als der Botschafter dann auf neue
Gerüchte über die
englisch-russische Marinekonvention15 zu sprechen kam, die den russischen
Nationalismus sehr beleben müßten, bezog sich Grey auf seine
negative Auskunft im Parlament, benutzte aber die Gelegenheit, den sehr intimen
Charakter der Beziehungen zu betonen. Der Deutsche konnte aus allem nur
entnehmen, daß Grey auf der ganzen Linie unzugänglich sein
würde. Auch die nächsten beiden Besprechungen (9. u. 15. Juli)
waren auf einen verwandten Ton gestimmt. Grey sprach wohl davon, daß
französisch-englische und
russisch-englische Abmachungen für den Kriegsfall nicht existierten, und
daß England freie Hand habe; aber er tat auch dies, um einfließen zu
lassen, die Beziehungen hätten nichts von ihrer früheren Innigkeit
verloren, seien vielmehr von Zeit zu Zeit durch neue Konversationen aufgefrischt
worden, natürlich nicht in offensivem, sondern in friedlichem Sinne. Als
der Botschafter vor Konventionen warnte, nahm Grey für sich in Anspruch:
er habe die Russen für eine versöhnliche Haltung gegenüber
Österreich zu gewinnen versucht. Aber auch hier hat man den Eindruck, es
komme dem englischen Minister vor allem darauf an, daß die
österreichische Maßnahme "nicht das slawische Gefühl in
einer Weise errege, die es Sasonow unmöglich machen würde, passiv
zu bleiben". Ja, er fügte das nächste Mal hinzu: sollte es in
Rußland wegen österreichischer militärischer
Maßnahmen zu einer gewaltigen Erregung kommen, so würde er gar
nicht in der Lage sein, die russische Politik in der Hand zu behalten, schon mit
Rücksicht auf schwebende
russisch-englische Empfindlichkeiten nicht.16
Wenn Grey schon dem Deutschen gegenüber seine Sprache über
Rußland so vorbedacht regelte, so wird man nicht überrascht sein,
daß er andern gegenüber auch noch deutlicher werden konnte. Ist es
nicht ungemein bezeichnend, daß er am 22.
Juli - am Tage vor der Überreichung der österreichischen
Begehrnote in Belgrad und auf dem Höhepunkt der
russisch-französischen
Verbrüderungsfeste! - in einem Erlaß an Buchanan den Fall
setzte: wenn er [797] Sasonow wäre,
so würde er den Österreicher kommen lassen, die Stärke des
proserbischen Gefühls in Rußland betonen und hervorheben, wie
gewaltig und unwiderstehlich diese Gefühle im Fall einer Krise werden
konnten.17 Konnte er eine deutlichere Form
wählen, um den Russen Gewißheit darüber zu geben,
daß seine Staatskunst ihnen den Weg nicht vertreten würde?
Die Stimmung der Mächte war in dem Augenblick, wo
Österreich-Ungarn sein Ultimatum nach Belgrad richtete und das Deutsche
Reich aus seiner Sekundantenrolle kein Hehl machte, schon ziemlich eindeutig
festzustellen. Es war bemerkenswert, daß der Temps und der
Matin gerade um Mitte Juli das Thema der russischen
Heeresverstärkung anschlugen: die ungeheure Vermehrung der
Militärmacht, die bis zum Winter 1916 das russische Heer auf
Friedensfuß nahezu verdoppele (von 1 200 000 auf
2 245 000 Mann), eine aktive Armee, deren Kopfzahl
größer sein würde, als die vereinigten Heere des Dreibunds.
Die französischen Journalisten schlossen daraus, daß man gewisse
Handlungen Deutschlands nicht länger zulassen werde; die russische
Diplomatie schlage im Verkehr mit der deutschen Diplomatie einen andern Ton
an und Deutschland fürchte seinen östlichen Nachbarn. Ihre Artikel
predigten, daß Frankreich mehr als eine andre Nation an der neuen Sachlage
interessiert sei. Grey zog aus diesen Nachrichten, die der englische
Militärattaché in Paris übermittelte,18 nicht etwa die beruhigende Folgerung,
daß die Sorge vor der deutschen Welthegemonie überflüssig
geworden sei, sondern eher den bedenklichen Schluß, daß es sich
für England nicht empfehle, mit der furchtbaren russischen Macht zu
brechen.
Sollte es schon dahin gekommen sein, daß auf dem Grunde der Seele Greys
sich die Wasser zu scheiden begannen? Er ließ am 23.
Juli - noch bevor in Belgrad die Entscheidung gefallen
war - den österreichischen Botschafter kommen (der wegen seiner
nahen Beziehungen zum englischen Königshof eine besondere Stellung in
London einnahm) und entwickelte ihm seine Gedanken über die
entsetzlichen Folgen eines Konflikts: "Wenn nicht weniger als vier
Großmächte Europas - z. B. Österreich,
Frankreich, Rußland und
Deutschland - in einen Krieg verwickelt würden", so müsse
dieses seines Erachtens solch ungeheure Geldsummen verschlingen,
Störung des Welthandels, Zusammenbruch des Kreditwesens und der
Industrie, schlimmerer Zustand der Industriestaaten als der von
1848 - er malte das furchtbare Zukunftsbild noch ohne eine Beteiligung
Englands bei seiner Entstehung,19 aber die ökonomischen Folgen
dergestalt, daß England sie augenscheinlich nicht werde hinnehmen
können. Diese Phantasie gab sich, als wenn sie nur ökonomisch
erregt sei, aber [798] sie ging darauf aus, bei
dem andern die Angst vor der
politisch-militärischen Stellungnahme Englands im Weltkrieg zu erwecken.
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