Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 2: Das Nahen des Weltkrieges
(Forts.)
3. Die Balkankriege
und das Anwachsen der europäischen Spannung
1912 - 1914. (Forts.)
Gleich in der ersten Sitzung der Botschafterkonferenz am 17. Dezember hatte
Rußland, indem es in ein autonomes, an Griechenland und Montenegro
angrenzendes Albanien willigte, die Serben zum Verzicht auf ihre
Adriaforderungen genötigt. Diesem Druck mußten die Serben sich
fügen und Kaiser Wilhelm versicherte den Österreichern aufatmend:
er hoffe, trotz des Kriegslärms, nunmehr ganz bestimmt, daß der
Friede aufrechterhalten bleibe.59 Während man auf allen Seiten
die wachsende Friedensaussicht begrüßte, war die französische
Kriegspartei tief enttäuscht. Sie lebte nur noch in der Vorstellung,
daß die österreichische Rüstung (die man ungebührlich
aufbauschte) die russische, diese die deutsche und französische nach sich
ziehen müsse. Poincaré trug dem Botschafter Iswolski vor: alle
Maßregeln seien getroffen, die Mobilmachung an der Ostgrenze
nachgeprüft, das Kriegsmaterial liege
bereit - um dann vorwurfsvoll zu fragen: "und gerade in diesem
Augenblick scheine Frankreich sich einer ganz andern Haltung seines
Verbündeten gegenüber zu befinden, und das in Anbetracht einer
Lage, an der dieser, sollte man meinen, am meisten interessiert sei."60 Der französische
Kriegsminister Millerand, Sozialist nach [760] seiner politischen
Herkunft, ließ sich an demselben Tage sogar hinreißen, dem
russischen Militärattaché Grafen
Ignatiew - der auftragsgemäß erklärte, daß
Rußland keinen Krieg oder kriegerische Maßnahmen
wolle - in erregtem Tone vorzuhalten: "Folglich werden Sie Serbien seinem
Schicksal überlassen müssen. Das ist natürlich Ihre Sache;
man muß nur wissen, daß dieses nicht nur durch unsre Schuld
geschieht; wir sind bereit und müssen in Rechnung gestellt werden."61 So wenig konnte die unbeherrschte
Gereiztheit des zivilen Kriegsministers sich in die Wendung finden, daß der
Weltkrieg, auf den die französische Politik hinarbeitete, ihr zu entgleiten
begann. Gewiß, auch Freiherr von Conrad
wollte den Krieg, um ein schwer
in seiner großmächtlichen Existenz gefährdetes Reich nach
innen und außen zu retten - aber die politische Leitung des Staates
hielt ihn zurück. In Paris dagegen waren die politischen und
militärischen Machthaber sich darüber einig, dem Weltkrieg aus
Anlaß eines Objektes, an dem man nicht im geringsten interessiert war,
nicht aus dem Wege zu gehen, um das primäre Ziel ihrer Revanche zu
erreichen.
Die französischen Generale hatten schon aufgehört, ihre Kriegslust
zu verbergen. Als der Engländer Wilson im Januar 1913 wieder in Paris
eintraf, konnte er feststellen, wie sehr sie sich jetzt als Herren der Lage
fühlten und den Engländer zur allgemeinen Wehrpflicht zu
drängen suchten.62 Vor allem aber sagten sie jetzt gerade
heraus, daß es weit besser für Frankreich wäre, wenn der
Konflikt nicht mehr allzulange hinausgeschoben würde. Den
entscheidenden Grund verhehlten sie nicht: entzünde sich der Krieg aus
diesem Balkananlaß, so sei man der unbedingten Unterstützung
Rußlands sicher, werde aber der Konflikt, jetzt vertagt, später aus
einem zwischen Deutschland und Frankreich liegenden Anlaß entspringen,
so könne man der Vertragstreue Rußlands nicht so sicher sein; eben
deswegen fürchteten sie, daß die gute Gelegenheit vorbeigehe. Es ist
die Politik, die Poincaré seit dem November 1912 verfolgte: Das Ziel der
Revanche mit dem Hebel der Orientpolitik.
Es war daher ein symbolischer Akt, daß Poincaré durch die Wahl
am 17. Januar 1913 zum Präsidenten der Republik aufstieg. In diesem
symbolischen Sinne erklärte er dem vertrauten Iswolski, daß er in
seiner Eigenschaft als Präsident der Republik volle Möglichkeit
haben werde, direkten Einfluß auf die französische
Außenpolitik zu gewinnen: es sei für die französische
Regierung von allerhöchster Wichtigkeit, die öffentliche Meinung
Frankreichs im voraus auf die Teilnahme an dem Kriege vorbereiten zu
können, der wegen der Balkanfrage ausbrechen könne. Wir sehen die
erblichen monarchischen Staatshäupter immer wieder mit der
Verantwortlichkeit ringen, wir sehen [761] Wilhelm II. und Franz Joseph - von dem unbedeutenden Zaren nicht zu
reden - immer wieder für den Frieden sich entscheiden. Dieser
fanatische Lothringer beglückwünscht sich, indem er zum
erwählten Staatshaupt aufsteigt, dazu, daß er für die Stunde des
Krieges der richtige Mann sei, und begnügt sich nicht, dieses furchtbare
Wissen in seiner Seele zu verschließen. Aber auch Grey verschloß
sich nicht gegen die Gefahr, als er dies Geständnis in einem Bericht
Nicolsons las, aber er stellte mit Schärfe fest: "Wir unsrerseits
können nicht der Bundesgenosse von Frankreich sein, das den Konflikt
überstürzt um der Revanche willen."63 Am Tage zuvor hatte einer der
urteilsfähigsten Diplomaten der Entente, der russische Botschafter Graf
Benckendorff, der die Spannungen der letzten Monate im Zentrum hatte verfolgen
können, ein eindeutiges Urteil über die Politik Frankreichs
abgegeben. "Wenn ich alle Unterredungen Cambons mit mir überdenke,
und dazu die Haltung Poincarés in Betracht ziehe, so kommt mir der
Gedanke, daß von allen Mächten nur Frankreich den Krieg, um nicht
zu sagen wünscht, so doch ohne großes Bedauern sehen würde.
Jedenfalls hat mir nichts gezeigt, daß Frankreich aktiv zur Arbeit im Sinne
eines Kompromisses beiträgt. Nun, der Kompromiß ist der Friede,
jenseits des Kompromisses liegt der Krieg. Von allen Mächten ist es
Frankreich, das den Krieg mit dem größten Gleichmut hinnehmen
würde."64
Die weiteren Balkankrisen - während der ersten Botschafterkonferenz, dann
nach ihrem Abbruch und dem erneuten Einsetzen des Krieges bis zu dem
Waffenstillstand am 16. April und zum Friedensschluß am 30. Mai
1913 - sind hier nicht nach ihrem sachlichen Gehalte zu erörtern,
sondern nur in Hinblick auf ihre allgemeine Rückwirkung auf die
österreichische und damit auch auf die deutsche Politik knapp zu
bestimmen.
Die Leitung der deutschen Außenpolitik erlitt durch den plötzlichen
Tod des Staatssekretärs von
Kiderlen-Wächter am 30. Dezember 1912 einen schweren Schlag. Und
wenn auch das letzte Wort über seine kurze Amtsführung noch nicht
gesprochen werden kann, so entzieht man sich doch kaum dem Eindruck,
daß sein Nachfolger, Herr von Jagow, ihm an geistiger und
willensmäßiger Energie nicht gewachsen war. Es soll damit nicht von
vornherein ausgesprochen werden, daß infolgedessen in den letzten
anderthalb Jahren bis zum Weltkriege besondere Mißgriffe im
Auswärtigen Amt erfolgt seien. Die außenpolitische Machtstellung
Bethmann Hollwegs, die seit der Haldane-Episode überhaupt etwas
geschwächt war, erfuhr immerhin durch die Persönlichkeit Jagows
keine innere Ergänzung; gerade in dem Kreise der Männer, in dem
sich die außenpolitische Willensbildung vollzog, vom Kaiser bis zu den
nam- [762] haften Botschaftern,
vermißt man im Zusammenwirken die Initiative einer klaren Linie und eines
großen Willens;65 und wenn Tirpitz insofern ein
stärkerer Mann war und als der stärkste Mann hätte
Reichskanzler sein sollen,66 so lagen seine Fähigkeiten eben
nicht auf dem Felde einer sachlichen Durchdringung der Weltlage.
Was die im Mittelpunkt stehende Frage betraf, der sich die deutsche
Außenpolitik auf Schritt und Tritt gegenübersah, so war Jagow
grundsätzlich bestrebt, die Selbständigkeit der Wilhelmstraße,
die sein Vorgänger wiederhergestellt hatte, fortdauernd zu behaupten. Die
neuen Situationen, in denen man vor einer Entscheidung stand, ähnelten
sich immer wieder. Am 23./24. April 1913 hatten die Montenegriner zur
Überraschung der europäischen Diplomatie sich der türkischen
Festung Skutari in Albanien bemächtigt, und damit trat die Gefahr, welche
von den Österreichern schon seit dem Dezember beseitigt schien, noch
einmal wieder hervor. Der General von Conrad triumphierte: "Ja, jetzt kommen
die Deutschen, früher haben sie sich passiv verhalten", und als der deutsche
Militärattaché ihm erwiderte: "Es ist aber schwer, dem deutschen
Bürger verständlich zu machen, daß man wegen Albanien
Krieg mit Frankreich führen soll", wurde der Österreicher deutlicher:
"Nein, nein! Nicht am deutschen Bürger liegt es, sondern der deutsche
Kaiser hat den Ausdruck gebraucht: wegen der albanischen Ziegenweiden wird
man doch keinen Krieg führen."67 Für den österreichischen
General handelte es sich nicht um "albanische Ziegenweiden", wie er grimmig
zurückgab, sondern "um
Österreich-Ungarns Machtstellung am Balkan, um seine eignen
südslawischen Gebiete, um seinen Küstenbesitz, damit aber um
Österreich-Ungarns Machtstellung überhaupt, also auch um seinen
Bündniswert für Deutschland, das isoliert inmitten seiner Feinde
stand". Er wollte sofort losschlagen, er wollte die Aktion im großen Stile.
Die Botschafterkonferenz unternahm zunächst einen Kollektivschritt in
Cetinje, aber König Nikita blieb hartnäckig. Österreich
erklärte, allein vorzugehen und verhandelte noch mit Italien über
gemeinsame Aktion. Plötzlich spitzte sich die Lage zwischen Dreiverband
und Dreibund doch bedrohlich zu. Es kam der Augenblick, daß Grey von
der Sorge erfaßt wurde, die öffentliche Meinung werde, wenn
Österreich, ohne alle Mittel erschöpft zu haben, zu den Waffen
greife, sich gegen Österreich wenden und er begann sich dieser Wendung
anzupassen. Schon sah der Kaiser in tiefer Erbitterung den Führer der
[763] europäischen
Konferenz "das Signal zum Weltenbrand" geben. Da gab der Montenegriner am 4.
Mai durch Räumung von Skutari nach, nachdem er eine Woche auf dem
explosionsgefährlichen Instrument der großmächtlichen
Gruppierung gespielt hatte, und die Episode war wie ein wüster Traum
wieder verflogen.
Ein typischer Vorgang für die Politik dieser Jahre. An einem Punkte, bis
dahin ganz im Dunkel liegend, entzündet sich ein Gegensatz, der in dem
einen Augenblick von den Mächten noch mit einer gewissen Sachlichkeit
behandelt, im nächsten unter dem ausschließlichen politischen
Gesichtspunkt der großen Gruppengegensätze gewertet wird. Diese
Fälle würden sich im Laufe des Jahres 1913 noch viel mehr
gehäuft haben, wenn nicht die Interessen, zumal seit dem Ausbruch des
serbisch-bulgarischen Krieges, sich immer verwickelter und sprunghafter
durcheinandergeschoben hätten. Der eigentliche Sinn des
Balkangeschehens war nicht nur die äußere territoriale
Neugestaltung, die sich schließlich aus dem Kriegsjahre erhob, sondern die
sich vorbereitende Umordnung der balkanischen Welt im Anschluß an das
System der großen Staatengruppen - eine Entwicklung, die der
Feindlichkeit dieser Gruppen neue Triebkräfte zuführt und an mehr
als einer Stelle in den Weltkrieg selbst hineinreicht. Und damit gewinnen diese
Orientangelegenheiten auch für die deutsche Politik erhöhte
Bedeutung. Sie spürt den heißen Atem, der in diesen fortdauernden
Machtverschiebungen lebt und die Atmosphäre des Weltkrieges
vorwegnimmt.
Die Welterschütterungen blieben nicht ohne Rückwirkung auf die
Rüstungen der Mächte. Schon im Laufe des Oktober und November
1912 hatten in den entscheidenden deutschen Kreisen Beratungen darüber
stattgefunden, ob nicht bei der Unsicherheit der Lage weitere militärische
Verstärkungsmaßregeln getroffen werden müßten. Noch
hielt der preußische Kriegsminister nach dem Heeresgesetz vom 14. Juni
1912 - so sehr dieses durch den gleichzeitigen Flottenaufwand eingeengt
worden war - eine erneute Vermehrung für ebenso unnötig
wie undurchführbar. Erst die einschneidende Veränderung, die durch
den Zusammenbruch der Türkei und durch den Aufschwung der
Balkanstaaten in der militär-politischen Lage des Reiches eintrat,
nötigte zu sofortiger eingreifender Nachprüfung.68 Die von Frankreich einlaufenden
Alarmnachrichten, der Beginn der russischen und darauf der
österreichischen Rüstungsmaßnahmen, der
überraschende englische Warnungsschuß Anfang Dezember
1912 - der bei dem Kaiser einen tiefen Eindruck
zurückließ - alles kam zusammen, um den Ernst der Lage noch
eindrucksvoller zu machen. Schon am 25. November hatte der [764] Chef des Generalstabs,
General von Moltke, besonders auf die Gefahren hingewiesen, die sich aus
plötzlichen Einfällen und weitreichenden Störungen der
Mobilmachung ergeben könnten, und mit Nachdruck ausgesprochen: "Wir
müssen uns wieder entschließen, wenigstens unser Menschenmaterial
auszunutzen, wir müssen wieder ein Volk in Waffen werden." Am 14.
Dezember trug der Kriegsminister, General von Heeringen, dem
Reichskanzler die Motive vor, mit denen schon so bald nach der Heeresvorlage
des Frühjahrs eine neue Anforderung begründet werden
müsse. Ausschlaggebend war natürlich, daß infolge der
Erstarkung der Südslawen Österreich gezwungen sein würde,
starke Truppenmassen gegen Serbien stehen zu lassen, so daß die Hilfe, die
Österreich gegen Rußland leisten könne, stark vermindert sein
werde.
In den nunmehr beginnenden Auseinandersetzungen über die Aufstellung
der neuen Heeresvorlage war die politische Leitung so gut wie ausgeschaltet, oder
sie ging mit. Wenn der Reichskanzler anfangs den Standpunkt vertrat, daß
eine Veröffentlichung der Heeresvorlage, solange noch die
Botschafterkonferenz in London tage, "durchaus inopportun und direkt bedenklich
sei", so läßt sich der Einwand begreifen; und wenn er die weitere
Bedingung stellte, daß gleichzeitig mit einer so weitreichenden
Heeresvorlage von einer Flottenvorlage keine Rede sein dürfe (und
dafür die Zustimmung des Kaisers erwirkte), so ergab sich diese Lehre
allerdings aus dem Charakter der Weltlage. Aber auch der Reichstag hat in voller
Erkenntnis des tiefen Ernstes und mit patriotischer Bereitschaft in seiner Mehrheit
die Bewilligung der Opfer ausgesprochen, die das deutsche Volk nun auf sich
nahm. Um so bemerkenswerter ist die überraschende Tatsache, daß
dieser "Kampf um die Militärvorlage" sich eher im Kreise der
Militärs selber abspielte. Es kam zu einem wochenlangen Ringen zwischen
dem Kriegsministerium und dem Generalstab, das nicht ohne Schärfe
ausgefochten wurde und auch einer gewissen Grundsätzlichkeit nicht
entbehrte. Es handelt sich dabei weniger um den Gegensatz von Ressorts und
Personen, der selten ausbleibt, sondern um die verschiedene Einstellung des
Blickes, die verschiedene Urteilweise derer, die das Heer aufzubauen und zu
organisieren, den Aufbau öffentlich zu begründen und zu vertreten
haben, und derer, die die fertige Waffe des Heeres als Führer
übernehmen, sie anwenden, mit ihr siegen sollen. Es ist weder meine
Aufgabe noch meine Kompetenz, hier für die eine oder die andre Seite
einzutreten, doch darf vielleicht das eine Argument besonders betont werden, das
die tiefsten Gründe des damaligen Meinungskampfes erhellt: der
militär-politische Druck auf das Deutsche Reich war in wenigen Jahren so
schnell angestiegen (nachdem die Ausschaltung oder Verminderung des
russischen Drucks lange darüber hinweggetäuscht hatte), daß
jetzt - wo man die Lage in unbarmherziger Beleuchtung
sah - die von der Führung erkannte Notwendigkeit für den
Umfang der Verstärkung eher über die organisatorischen
Möglichkeiten hinausgriff, oder, um es ganz laienmäßig
[765] auszudrücken:
die Anforderungen für den Ernstfall, um die Sicherheit des Reiches
siegreich zu behaupten, überstiegen beinahe die Fähigkeit, das
ungeheure Verteidigungsinstrument mit einem Schlage so hinzustellen, wie es der
Sorge und Berechnung der obersten Heeresleitung entsprach.
Es geschah in der Geschichte des Heeres zum ersten Male, daß der
Generalstab von sich aus den Anlauf unternahm, eine umfassende
Heeresverstärkung herbeizuführen, und es ergibt sich aus dem
Angedeuteten, daß sein Rüstungsprogramm einen noch
großzügigeren Charakter trug, als die Pläne des
Kriegsministeriums. Es war nun nicht so, daß bei dem Zwiespalt der
militärischen Instanzen über das Ausmaß der
Heeresverstärkung ein größerer oder geringerer Drang
mitgespielt hätte, die blanker gewordene Waffe bewußt im Ernstfall
zu ergreifen; es handelt sich hier gar nicht um einen düsteren Gegensatz im
Schoß eines eroberungslüsternen Militarismus. Gerade das war das
Eigentümliche dieses preußisch-deutschen Militärgeistes,
daß er in sich zwischen dem Vorbereitetsein auf den Krieg und der
Leidenschaft, die kriegerische Entscheidung für den Staat zu suchen, die
schärfste Scheidung vollzogen hatte. In dem Entwurf eines
Operationsplanes von 1901/2 erklärte Graf Schlieffen: "Wir wollen nichts
erobern, sondern nur verteidigen, was wir besitzen. Wir werden wohl nie die
Angreifenden, stets die Angegriffenen sein." Auch bei seinem Nachfolger, dem
General von Moltke, findet man den Gedanken vertreten: Das Reich sei
"nur auf die Wahrung des Erworbenen bedacht". Und so ist denn die Denkschrift
des Großen Generalstabs über eine Heeresverstärkung, und
zwar über eine Heeresverstärkung von gewaltigem Umfange, ein
Dokument tiefer Verantwortlichkeit in allen Fragen des Krieges und des Friedens,
und ein um so stärkerer Beweis für den friedlichen Grundzug unsrer
Politik, als er gerade an dieser Stelle kaum gesucht werden dürfte:
"Ebenso wie der Dreibund bezeichnet
sich die Triple-Entente als ein Defensivbündnis, aber, während der
Gedanke der Abwehr dem Dreibundabkommen in ausgesprochenster Weise
zugrunde liegt, sind in der Triple-Entente starke offensive Tendenzen vorhanden,
d. h. positive Ziele, deren Erreichung den in ihr vereinigten Staaten
erstrebenswert erscheinen muß: Rußland hat den begreiflichen
Wunsch, sich durch Niederwerfung Österreichs als slawische Vormacht in
Europa durchzusetzen, durch Vermittlung Serbiens sich den Weg zur Adria zu
öffnen. Österreich hat das defensive Interesse, dies zu hindern.
Frankreich hat den Wunsch, die verlorenen Provinzen wiederzugewinnen und
Revanche zu nehmen für die Niederlagen von 1870. Deutschland will
dagegen nur seinen Besitzstand wahren. England hat den Wunsch, sich mit Hilfe
seiner Verbündeten von dem Alpdruck der deutschen Seemacht zu befreien.
Deutschland denkt nicht an eine Vernichtung der englischen Flotte, auch hier will
es sich nur verteidigen. Überall also offensive Ziele auf der einen, defensive
auf der andern Seite. Das bedeutet für den Kriegsfall eine
größere innere Stärke [766] der
Triple-Entente dem Dreibund gegenüber, denn in dem Streben nach
bestimmten Zielen, also in der Offensive, liegt ebenso wie auf dem politischen
Gebiet auch in der Kriegführung die stärkere Kampfform. Man kann
das Wesen des Dreibundes nicht nur in der gegenwärtigen politischen
Spannung, sondern voraussichtlich auch auf weiter hinaus kurz so
charakterisieren: der politisch am meisten bedrohte Teil der drei Kontrahenten
Österreich, der militärisch bedrohteste Teil Deutschland, der
politisch und militärisch am wenigsten interessierte Italien. Kommt es zum
Krieg, so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß seine Hauptlast auf den
Schultern des von drei Seiten her durch seine Gegner umklammerten Deutschland
liegen wird."
Der Generalstab hatte gehofft, bei gleicher Anspannung der Wehrkräfte wie
in Frankreich, jährlich 150 000 Retruten mehr erhalten, die
Friedensstärke des Heeres um etwa 300 000 Mann erhöhen zu
können; auf dieser Grundlage hatte er eine Erweiterung der
Friedensorganisation durch Aufstellung von mindestens drei neuen Armeekorps
beantragt. In der schließlichen Entscheidung wurden die neuen Armeekorps
aufgegeben; man blieb bei einer Erhöhung der jährlichen
Rekrutenquote um rund 68 500 Mann stehen. Das Gesamtergebnis war ein
Zuwachs von 4 000 Offizieren, 14 850 Unteroffizieren und
117 000 Mann. Die Gesamtstärke des Heeres war mit Ablauf des
Quinquennats auf rund 819 000 Mann anzusetzen (die französischen
Angaben übertrieben meist:
860 - 870 000). Der Hauptteil der Reformen sollte am 1.
Oktober 1913 in Kraft treten.
Nachdem gegen Ende Januar 1913 zum ersten Male Nachrichten durchgesickert
waren, war der Gesetzentwurf gegen Ende Februar fertiggestellt worden. Aber
noch bevor er amtlich bekanntgegeben wurde,69 und noch bevor man in Frankreich
eine Vorstellung von dem Charakter und dem Ausmaß der Vorlage haben
konnte, war hier die öffentliche Meinung dazu übergegangen, von
ihrer Regierung sofortige Gegenmaßregeln zu verlangen. Und da die
Franzosen ihre Friedenspräsenzstärke nicht mehr steigern
konnten - schon der letzte einigermaßen Taugliche stand bereits unter
den Fahnen -, so stürzten sie sich auf den einzigen radikalen
Ausweg, der ihnen blieb. Schon Ende Februar erfuhr man in Berlin, daß in
Frankreich die dreijährige Dienstzeit für alle Waffengattungen
wieder eingeführt werden würde. Diese Nachricht veranlaßte
den deutschen Generalstab noch zu einem letzten Vorstoß zugunsten seines
ursprünglichen Antrages, doch blieb es bei dem inzwischen festgesetzten
Entwurf.
Es war ein Triumph für die französische Volksseele - dessen sie zu
bedürfen scheint -, daß man, indem man diese ungeheure Last
nun auch noch auf sich nahm, mit dem Gegenschlag wenigstens noch
früher auf den Plan trat als der Gegner, und bereits am 6. März,
bevor noch der deutsche Entwurf vorlag, den amtlichen Entwurf eines Gesetzes
veröffentlichen konnte. Schon in den [767]
Rüstungsmaßnahmen durfte keine Atempause
eintreten - gerade als wenn es sich um kriegerische Operationen
handle - und die Rückwirkung des Entschlusses auf das Land war
derart, daß die Welt annahm: lange würden die Franzosen diesen
Zustand nicht ertragen können, sondern den Krieg dieser dauernden
Belastung vorziehen.70
Die Franzosen begnügten sich nicht, selbst bis an die äußerste
Grenze ihrer Wehrfähigkeit vorzudringen, sondern sie versicherten sich
gleichzeitig, daß der Russe eine sofortige und über jeden
europäischen Vergleich erhabene Heeresverstärkung ins Leben
rief.71
Das Ereignis der europäischen Geschichte in dem Jahr nach dem
Balkankriege bestand darin: Rußland erschien wieder auf dem Kampfplatze,
mit dem vollen Schwergewicht des Kolosses, zum Schlagen noch nicht ganz
fertig, aber zum Schlagen bereit. Wie lange Zeit war vergangen, wo
Rußland nicht bereit und nicht gewillt gewesen war! Das Jahrzehnt, in dem
es das Schwergewicht seines offensiven Lebenswillens aus Europa hinaus, in den
fernen Osten verlegt hatte. Und dann das Jahrzehnt, in dem es sich unter den
Nachwehen des japanischen Krieges und der Revolution nur langsam erholt hatte.
Es waren die Jahre der bosnischen Krisis (1908/9), auf deren Höhe das
große Reich eingestand, daß es militärisch nicht bereit sei, oder
das Jahr von Agadir (1911), in dem man unter der Hand den Franzosen dasselbe
Geständnis machen mußte; es war die Zeit, in der man immer wieder
in freundschaftlichen Monarchenzusammenkünften das alte
Vertrauensverhältnis zu dem deutschen Nachbar auffrischte oder auch nur
hinschleppte. Noch während des Balkankrieges 1912/13 war die russische
Politik darauf hinausgelaufen, die Früchte reifen zu lassen, ohne daß
sie selber zum militärischen Eingreifen genötigt wurde. In diese
Jahre fällt die Reorganisation der russischen Armee durch den
Kriegsminister Suchomlinow, der seit dem März
1909 - seit den Tagen, da der deutsche Rat die Russen auf den Weg des
Friedens nötigte - "das Wunder der Wunder", eine Reorganisation
von Grund auf, unter völliger Umgestaltung der Bedingungen für die
Mobilmachung und den Aufmarsch, in die Hand genommen hatte.
Die Grundlagen dieser Organisation waren gelegt, der Ausbau noch nicht
völlig abgeschlossen. Um das Werk mit größter
Beschleunigung zu vollenden, griffen jetzt auch Willensstärke und
verschlagene Hände von außen ein: der in der Führung
Poincarés verkörperte Offensivwille des französischen
Staates, der von dem Beginn des Balkankrieges an so vermessene Hoffnungen auf
den allgemeinen Losbruch gesetzt hatte und immer wieder enttäuscht
worden war. [768] Jetzt war er
entschlossen, dem Russen, wenn auch mit den größten Opfern, alles
zu bewilligen, was ihm für die Durchführung seiner Operationen
gegen Deutschland und für die Erlangung der vollen Zuversicht in die eigne
Überlegenheit noch fehlen mochte. Als Poincaré, unmittelbar nach
seiner Präsidentenwahl, den bisherigen Marineminister Delcassé als
Botschafter nach Petersburg entsandte, "als Persönlichkeit von ganz
besonderer Autorität, gewissermaßen als Personifikation des
Bündnisses",72 gab er ihm einen besonderen Auftrag
mit, der das Geheimnis dieser Mission war. Für die Franzosen kam alles
darauf an, im Kriegsfalle durch eine möglichst schnelle und weite
Entfaltung der russischen Angriffsoperationen gegen Deutschland eine wirksame
Entlastung gegenüber dem deutschen Angriff zu gewinnen.
Delcassé sollte nun die Russen von der Notwendigkeit überzeugen,
durch eine Vermehrung der strategischen Bahnen den Aufmarsch des russischen
Heeres an der Westgrenze entscheidend zu beschleunigen; er war
bevollmächtigt, alle hierzu erforderlichen Geldmittel in Form von
entsprechenden Eisenbahnanleihen anzubieten. Daß eine Reihe von neuen
Eisenbahnlinien zu diesem Zwecke nötig sei, hatten die beiderseitigen
Generalstäbe noch im Sommer 1912 gemeinsam festgestellt: sie zu bauen,
d. h. ihren Bau zu ermöglichen, wurde jetzt eine Sache der
zielbewußten französischen
militärisch-politischen Initiative. Dieser Entschluß, der zu den ganz
eindeutigen Tatsachen aus der Vorgeschichte des Weltkrieges gehört, war
ausgelöst durch die peinliche Feststellung, daß die auf den
Balkankrieg und seine Auswirkung gesetzten Hoffnungen fehlgeschlagen seien,
daß - wie die französische Presse sich
ausdrückte - "das Bündnis während der letzten Monate
die Probe auf den Gang der Ereignisse nicht bestanden habe" (23. Februar 1913).
Das Unrecht, das dadurch der französischen Nation geschehen war, die
Bedrohungen, denen sie sich durch den Fehlschlag dieser Erwartungen ausgesetzt
sah, mußte aus der Welt geschafft werden. Man muß schon den
verlogenen Gedankengang dieser Presse buchstäblich hierhersetzen, um
eine Vorstellung von dieser politischen Mentalität zu geben, die sich zu
einem bedingungslosen Kampfwillen unter voller Wahrung des
europäisch-friedlichen Dekorums bekennt: "Die Folge ist gewesen", so sagt
die Dépêche de Toulouse, "daß Frankreich trotz des
Bündnisses in Europa in gewisser Weise vereinzelt dasteht und dem
deutschen Drucke ausgeliefert ist. Damit dieser beklagenswerte und
gefährliche Zustand aufhört, ist es durchaus notwendig, daß
Rußland eine Reihe militärischer Maßnahmen trifft, die mit
denen in Einklang stehen, die es schon beschlossen hat und die Frankreich noch
vorbereitet, sowie daß es durch eine Bedrohung der deutschen Ostgrenze ein
Gewicht ausübt, wie es Deutschland gegen unsre Vogesengrenze
ausüben muß. Für das europäische Gleichgewicht
muß Rußland klar und entschlossen zu seiner Aufgabe [769] als europäische
Großmacht zurückkehren." Zu diesem Zwecke bewilligte Frankreich
im Herbst 1913 für vier, später fünf Jahre der russischen
Regierung eine Anleihe von jährlich einer halben Milliarde Franken, zum
Bau der strategischen Bahnen an ihren Westgrenzen und zu einer weiteren
Erhöhung der Friedenspräsenzstärke. Oder, wie es
Präsident Poincaré in einem Schreiben an den Zaren vom 30.
März 1913 ausdrückte: die große militärische
Anstrengung, die Frankreich zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der
europäischen Streitkräfte zu machen beabsichtige (Einführung
der dreijährigen Dienstzeit), bewirke, daß entsprechende
Maßnahmen, über deren Notwendigkeit die Generalstäbe sich
geeinigt hätten, gegenwärtig besonders dringlich seien; er
kündigte dem Zaren zugleich an, daß Delcassé seine
Regierung auf dem laufenden über diese wichtige und alle andern Fragen
halten werde, die diese Betätigung des Bündnisses
beträfen.
Wie weit sich diese Betätigung erstreckte, bleibt nur der Vermutung
überlassen. Wir würden mehr von dem Geiste der Verhandlungen
des Kriegsbotschafters Delcassé in Petersburg wissen, wenn
Poincaré nach dem Weltkrieg den Mut als Mann bewiesen hätte,
sich zu dem, was er und seine Gehilfen mit schließlichem Erfolge betrieben
hatten, zu bekennen, statt die Kriegsschuldlügen mit zu decken. Es
wäre sehr natürlich, wenn Delcassé und Suchomlinow (oder
wer sonst sein Verhandlungspartner war) in den Verhandlungen über die
strategischen Bahnen in Polen auch schon über die Kriegsoperationen
gesprochen hätten. Und an einer Stelle wenigstens lüftet sich der
Schleier, hinter dem wir die Franzosen so geschäftig am Werke sehen, das
Fell des Bären zu verteilen. Während des Weltkrieges ergab sich im
Oktober 1914 in Bordeaux eine Situation, in der Delcassé und Iswolski
über die Kriegsziele verhandelten, wobei Delcassé nach Iswolskis
Meldung ausdrücklich bestand: "auf Rückerstattung
Elsaß-Lothringens, einige koloniale Forderungen, und als Hauptsache
darauf, daß das Deutsche Reich vernichtet und die militärische Kraft
Preußens so viel wie möglich geschwächt werde". "Hierbei
berief sich Delcassé - so berichtet der russische
Botschafter - "auf die Verhandlungen, die in Petersburg im Jahre 1913
stattgefunden haben, und bat inständigst, Ihre Aufmerksamkeit auf die
Tatsache zu lenken, daß diese Forderungen und Wünsche das
Notwendige darstellten, die politische und ökonomische Kraft
Deutschlands zu vernichten." Wenn die eine, die treibende Seite, ihre
Bedingungen nennt, wird auch die andre, die sich treiben ließ, die ihrigen
nicht verschwiegen haben.
Die "Hauptsache" Delcassés wird nicht weiter überraschen. Die
Vernichtung des Deutschen Reiches und die Schwächung der
militärischen Kraft Preußens waren schon die Kriegsziele
Napoleons III. in den Jahren 1868/70 gewesen, und sollten es auch
unverändert für die französische Generation nach dem
Weltkriege bleiben. Die Russen sprachen wohl in ihrer Überhebung von
Österreich als von der "zweiten Türkei", die zerschlagen werden
müsse. [770] Hier aber hört
man als Kriegsziel auch das Zerschlagen des Deutschen Reiches, als wenn es noch
eine "dritte Türkei" gäbe, und zwar von einem Politiker, der zur
Empfehlung dieses Unternehmens mit 2½ Milliarden Franken
ausgerüstet ist. Im übrigen wurden die finanziellen Verhandlungen
durch den russischen Ministerpräsidenten Kokowzow im Herbst 1913 in
Paris abgeschlossen. Seine Versuche, wenigstens einen Teil dieser Summe
für andre als strategische russische Bahnen verwenden zu dürfen,
scheiterten an dem unerbittlichen Militarismus seines französischen
Verbündeten - jeder Mißbrauch zu Friedenszwecken blieb, bei
der harten Konsequenz der Darlehnsgeber, verboten.
Die Geschichte der russischen Anleihen in Frankreich ist ein interessantes Kapitel
vor allem wegen ihrer Verflechtung mit der Politik, und so wenig das im
einzelnen für alle Beteiligten an diesem ungeheuren Geschäft
nachzuweisen ist, so hinterläßt es doch in großen Zügen
eine Lehre, bei der es jedem überlassen wird, die Schlußfolgerungen
zu ziehen. In den Jahren vor und während des Abschlusses des
russisch-französischen Bündnisses, als der junge Revanchetraum die
Verwirklichung eines glühenden Wunschbildes noch für so leicht
und nahe hielt, in den Jahren 1888 - 1894, betrug die Summe der
Anleihen Frankreichs an Rußland 7012 Millionen Franken. In dem dann
folgenden Jahrzehnt, in dem die Russen - wie man in Paris
stöhnte - mit dem französischen Gelde nach Ostasien
"desertiert" waren, war der Anleihebetrag auf 1624 Millionen Franken gesunken.
Erst das Jahr von Algeciras brachte wieder eine Anleihe von 1365 Millionen und
das Jahr der bosnischen Krisis eine von 1120 Millionen Franken. Aber so
eindeutig hatten sich bisher die politischen und militärischen Ziele noch
niemals ineinander gefügt, wie bei den 2½ Milliarden
Franken, die nicht nur die russische Kriegsrüstung (sie sind für diese
kaum noch in wesentlichem Umfange praktisch geworden), sondern den
russischen Kriegswillen finanzierten. In dem Bericht Kokowzows wurde ohne
jeden Umschweif - selbst die Formen, in denen sich ein stolzer Staat
bewegt, waren bei diesem Handel unbeachtet zu Boden
gefallen - angegeben, daß die französische Regierung die
russische Bereitwilligkeit "erwarte", sofort mit dem Bau strategischer Bahnen zu
beginnen. Und damit wurde Suchomlinows großes Programm, auch in den
entscheidenden Verkehrsgrundlagen seiner künftigen kriegerischen
Operationen, von der Revanche im voraus finanziell gesichert.
Es hätte des Knallens der französischen Peitsche nicht bedurft, um
das kriegerische Selbstgefühl der Russen nach dem Balkankriege ins
Grenzenlose zu steigern. Schon im November 1912, als in diesem Kriege die
großen Entscheidungen gefallen waren, tauchte in den russischen
Ministerien eine Denkschrift nach der andern auf, in denen das große
historische Ziel der Meerengen als dasjenige bezeichnet wurde, das nunmehr
erstrebt werden müsse. Fast ihnen allen ist eigentümlich, daß
sie wohl um die Schwierigkeiten wissen, die [771] diesem Endziel von
westmächtlicher, vor allem von englischer Seite bereitet werden
können, und eben darum erfüllen sie sich mit der Vorstellung,
daß es nur durch einen Weltkrieg zu erreichen sein werde. Schon die erste
dieser Denkschriften fordert die Annexion der Meerengen des Bosporus und der
Dardanellen nebst den angrenzenden europäischen und kleinasiatischen
Landstrichen für das russische Reich. Eine zweite, von dem
Admiralstabschef Fürsten Lieven, geht in ihrem imperialistischen
Überschwang noch ein Stück weiter, indem sie nicht nur Kleinasien
und die Balkanhalbinsel, sondern auch alle Inseln des griechischen
Archipels - Kreta nicht ausgenommen - annektieren
möchte.73 Die Marine entwarf schon im Sommer
1913 einen gewaltigen Flottenbauplan. Die Diplomaten dagegen waren sich
wenigstens darüber klar, daß der Besitz der Meerengen "nur im Falle
eines allgemeinen Krieges in Europa oder eines großen europäischen
Krieges schlechthin zu erlangen sein würde".74
Die andre Möglichkeit betraf die Balkanwelt selbst. Zwar hatte man sich
darein gefunden, daß diese Gewalten fortan auf eignen Füßen
standen, aber in der Mitte dieser Kräfte hatte sich Rußland als der
Führer erhoben, bereit, sie zu lenken.
Es hatte auch in der letzten Krisis den Serben nicht alle Wünsche
erfüllen können, aber stand als verheißender Protektor hinter
ihnen. Nach altem russischen Brauche waren amtliche Kundgebung und heimliche
Ermunterung weit voneinander geschieden. Anfang Mai 1913 hatte Zar
Nikolaus II., dem Friedensschlusse gemäß, den status
quo im Osten feierlich mahnend anerkannt; unmittelbar darauf, und wie zum
Hohn auf die Versicherung des Zaren, schrieb Sasonow (6. Mai) nach Belgrad:
"Serbien hat erst das erste Stadium seines historischen Weges durchlaufen, und
zur Erreichung seines Zieles muß es noch einen furchtbaren Kampf
bestehen, bei dem seine ganze Existenz in Frage gestellt werden kann. Das
gelobte Land der Serben liegt im heutigen
Österreich-Ungarn." In denselben Tagen äußerte er sich zum
serbischen Gesandten, man müsse für die Zukunft arbeiten: sie
würden viel Land in Österreich bekommen.
Daß die nationalistischen Leidenschaften der Serben eine grenzenlose
Verantwortung tragen und von ihr niemals in dem Gedächtnis der
Weltgeschichte befreit werden können, bedarf keiner Erörterung. Es
ist aber selten mit voller Schärfe ausgesprochen worden, daß die
russische Staatskunst, von ihrer Leitung bis zu ihrem Gesandten in
Belgrad - der doch nur ein untergeordnetes Organ
war - im höheren Sinne mit dieser Verantwortung belastet ist. Die
serbische Hybris von 1913/14 ist auf dem Boden dieses neuen russischen
Imperialismus erwachsen: "Zu dem Hasse gegen die Monarchie", so schildert
[772] der
österreichisch-ungarische Militärattaché am 14. Februar
191475 die Situation, "gesellte sich,
insbesondre seit dem Kriege, eine unglaubliche Geringschätzung unsrer
politischen und militärischen Stärke. Täglich kann man in den
Zeitungen Äußerungen lesen, daß, wie ganz Europa
weiß, die Monarchie ihrem Zerfalle entgegengeht und ihrem Ende schon
nahe gekommen ist, oder zum Beispiel, daß in einem europäischen
Kriege Deutschland allein mit Rußland und Frankreich wird kämpfen
müssen, da zum Niederwerfen der »zweiten Türkei«
Rumänien, Serbien und Montenegro vollauf genügen."
Schon während des Jahres 1913 konnte eine weitere Frucht der
Umgestaltung auf dem Balkan gepflückt werden. Das Königreich
Rumänien, seit einem Menschenalter Bundesgenosse der
Mittelmächte, begann sich allmählich, aber unaufhaltsam aus dem
Dreibund herauszulösen. Der Rumäne konnte den
großserbischen Möglichkeiten durch ein Großrumänien,
das aus Ungarn und Siebenbürgen herausgeschnitten werden sollte, ein
zweites Beispiel hinzufügen; er war, nachdem einmal die Entscheidung
für diese Front gefallen war, der geborene Bundesgenosse für die
Serben, und der zweite Balkankrieg, den Rumänien zusammen mit Serbien
gegen Bulgarien führte, war nur die rasch durchschrittene Vorstufe zu einer
viel gefährlicheren Stellung, mit der auch Rumänien sich in die
große Front gegen Österreich einreihte.
Solange König Karl lebte, war der formelle Übertritt
Rumäniens in das andre Lager nicht zu erwarten. In Petersburg glaubte man
schon im Winter 1913/14 damit rechnen zu dürfen, daß der eiserne
Ring, mit dem das Habsburgerreich für den Kriegsfall eingeschlossen
war - von Krakau, nahe der deutschen Grenze, um Galizien, Bukowina,
Siebenbürgen bis zur Adria reichen würde. Die Deckung, die
Österreich-Ungarn seit vierzig Jahren nach dieser Seite besessen hatte, war
immerhin in Stücke zerbrochen, und diese Schwächung des
Bundesgenossen mußte auf das Deutsche Reich zurückwirken. Die
Balkanereignisse des Sommers und Herbstes 1913, die hier nur gestreift werden
können, sind auch deshalb von großer Tragweite für die
deutsche wie für die österreich-ungarische Politik, weil die beiden
Mittelmächte an diesem Punkte in eine tiefe Meinungsverschiedenheit
untereinander gerieten. Während Deutschland alles daran setzt,
Rumänien unter der verehrungswürdigen Gestalt seines greisen
Fürsten an der Seite des Dreibundes - über das
Mögliche hinaus - zu erhalten, und infolgedessen auch für die
Aufrechterhaltung des Friedens von Bukarest eintritt, ist
Österreich-Ungarn schon dazu übergegangen, sich für die
Revision des Friedens zu bemühen und im Bundesverhältnis den
Rumänen durch den Bulgaren zu ersetzen. In diesen neuen Gruppierungen
suchen auch die Griechen an der Seite des Dreibundes Fuß zu fassen. Man
glaubt bei diesen diplomatischen Anstrengungen schon die Luft des Kommenden
unmittelbar zu atmen; die Ereignisse gehören weniger der Vorgeschichte
des Weltkrieges an, insofern, als [773] sie nicht auf seine
Auslösung hinwirken, sondern schon in die Bindungen
hinüberspielen, die sich während des Krieges ergeben sollten.76
Wer aber diese politische Atmosphäre betrachtet, begreift, wie gierig das
jetzt hemmungslos sich entfaltende russische
Selbstgefühl - nach den Jahren gedämpften
Auftretens - sich an der stimulierenden Kost all dieser Vorgänge
nährt. Es findet seinen Ausdruck in den politischen Methoden, mit denen
ein an sich begrenztes Ereignis, wie die Mission Liman von Sanders,
wochenlang mit Vorbedacht zu einem Weltkonflikt zu steigern versucht wird
(November 1913 bis Januar 1914).
Noch während des ersten Balkankrieges, im April 1913, hatten zwischen
dem Berliner Auswärtigen Amte und der Türkei Verhandlungen
über Entsendung einer deutschen Militärmission nach
Konstantinopel begonnen; der Kaiser hatte den Zaren im Mai 1913 davon
unterrichtet, ohne jedoch die Bedenken dadurch zu zerstreuen. Die
Jungtürken, unter Führung des Großvezirs Mahmud Schewket,
waren entschlossen, einen umfassenden Versuch zu machen, den
Staatskörper des ihnen verbliebenen Reiches durch Reformen, mit Hilfe
europäischer Instrukteure, zu erneuern. Ein englischer Admiral sollte die
Flotte, ein französischer General die Gendarmerie, ein deutscher General
die Armee reformieren. Die Wahl der Instrukteure für die verschiedenen
Ressorts ließ auf vorsichtige Überlegung schließen; mit Recht
wurde von Sachkennern festgestellt, daß die Macht, welche die Armee
kontrolliere, in der Türkei immer die stärkste sein würde.77 So kam es zu der Berufung des
Generals Liman von Sanders, die nach späterem russischen Urteil
"gewissermaßen den Anfang der Verschlechterung der Beziehungen
zwischen den beiderseitigen Regierungen"
bildet78 - ja, die Episode hätte
beinahe den Anlaß gegeben, schon um die Wende des Jahres 1913/14 den
Weltkrieg zu entzünden.
Es hatte seit Jahrzehnten in der Türkei deutsche Militärmissionen
von wechselnder Stärke gegeben, und wenn ihr neuer Führer, General Liman von Sanders, seinen Wohnsitz in Konstantinopel nehmen wollte, so tat er nur dasselbe, wie zwölf Jahre hindurch vorher sein Vorgänger von der Goltz. Aber um die Mission durchgreifender zu
gestalten - und die Türken hatten auf diesem Gebiet ihre Erfahrungen
gesammelt - war dieses Mal vorgesehen, daß ihr Chef zugleich das
Kommando über das erste Armeekorps in Konstantinopel, das zu einem
Musterkorps für Lehrzwecke entwickelt werden sollte, übernahm.
Damit war für die Russen das Schlagwort gegeben. Sie hatten [774] die deutschen
Missionen nie geliebt, in ihrer Erneuerung sahen sie ein unmittelbares Hindernis
für Pläne, die sich jetzt mit unwiderstehlichem Zwange ihrer
Begehrlichkeit aufdrängten. Sie meinten, die "preußische Garnison in
Konstantinopel" oder "eine Art von deutscher Diktatur am Bosporus", wie der
Franzose es ausdrückte, nicht ertragen zu können.
Am 13. November 1913 eröffnete Sasonow den Angriff, "peinlich
berührt" von der Angelegenheit, wo doch die Beziehungen zwischen den
beiden Regierungen vertrauensvoller denn je seien: dies sei keine
militärische - urteilte er -, sondern eine politische Frage. In
den nächsten Tagen weilte in Berlin der Ministerpräsident
Kokowzow, von Paris kommend, wo er über die Unterbringung der
russischen Eisenbahnobligationen auf dem Pariser Geldmarkt verhandelt hatte.
Vergeblich bemühte sich Bethmann Hollweg, ihm
die - sozusagen - technischen Gründe zu erläutern, die
zu dem Entschlusse geführt hätten: die Fortsetzung einer alten
Einrichtung, die man - ohne einen Echec vor der Welt
einzugestehen - den bittenden Türken nicht hätten versagen
können; auch würde sonst eine andre Großmacht an die Stelle
getreten sein. Aber mit guten Gründen läßt sich keine Macht
überzeugen, wenn sie auf ihrem Wege ein Hindernis sieht. Erneut erging
von Sasonow an Bethmann Hollweg die Aufforderung, die eminent
politische Frage der Residenz und Kommandogewalt des Generals nicht
diesem selbst zu überlassen, sondern eine Entscheidung des Kaisers
darüber herbeizuführen. Schon regte die französische
Regierung - vom ersten Augenblick an in fester Front neben dem
Russen - einen Kollektivschritt des Dreiverbandes in Konstantinopel an; er
scheiterte daran, daß die englische Regierung nur in sehr harmloser Weise
mitmachen wollte. Es wurde indes erkennbar, daß die Dinge sich rasch zu
einer Prestigefrage - auch für
Deutschland - entwickeln konnten. Bethmann Hollweg meinte schon am
29. November: augenblicklich würde jede Konzession als ein
Zurückweichen vor französischen und russischen Drohungen
aufgefaßt werden und einen Sturm der Entrüstung
heraufbeschwören. Indem die europäische Presse sich des Streites
bemächtigte, stieg die Gefahr, und der Kaiser hatte Recht, Mitte Dezember
festzustellen: "Es handelt sich um unser Ansehen in der Welt, gegen das von allen
Seiten gehetzt wird! Also Nacken steif und Hand ans Schwert." Mit einem
Schlage ging es um eine Entscheidung, die bei den großen Mächten
lag, und diese waren es, die Krieg und Frieden in den Falten ihrer Toga
hielten.
Die Frage war, ob die den Balkankrieg beherrschende unterschiedliche Haltung
der beiden Westmächte fortdauern würde. Grey hatte von Haus aus
wenig Neigung, an der Protestaktion in Konstantinopel mitzuwirken. Es war
formell nicht einmal leicht für ihn, weil der englische Admiral in
Konstantinopel die gleiche Residenz und Kommandogewalt (was allerdings bei
der Flotte weniger besagte) wie der deutsche General besaß. Aber er
ließ sich doch [775] zur Beteiligung
bereitfinden, als der Russe dringlich warnte: er werde Greys Verhalten in dieser
Frage zum Prüfstein für die Gesinnungen der englischen Regierung
gegen Rußland machen. So erfolgte am 13. Dezember der gemeinsame
Schritt, daß die Vertreter der Mächte des Dreiverbandes dem
Großwesir eine Reihe von Fragen im Hinblick auf die deutsche Mission und
ihre Gefahren für die Unabhängigkeit der Türkei vorlegten.
Der Türke lehnte würdevoll ab, die Fragen zu beantworten.
Damit wurde die Lage vollends gefährlich. Nach welcher Seite
würde sich der Zündstoff entladen?79 Es klang schon sehr bedenklich, wenn
Rußland für den Fall, daß sich kein Ausweg finde,
Zwangsmaßregeln durch Besetzung einzelner Plätze anregte.
Daß Sasonow gerade in diesen
Tagen - am 8. Dezember - dem Zaren eine Denkschrift über
die Meerengenfrage unterbreitete, läßt auch darauf schließen,
daß er dem Lauf der Dinge rechtzeitig einen Hintergrund von
weltgeschichtlicher Tragweite zu geben wünschte.
Der Friede wurde nur dadurch erhalten, daß man auf deutscher wie auf
türkischer Seite den Ausweg wählte, Liman von Sanders zum
türkischen Marschall zu ernennen und kraft dieser Beförderung
über die Kommandogewalt eines Korpskommandeurs in Konstantinopel
hinauszuheben. Damit war die deutsche Politik, angesichts der unverkennbaren
Kriegsbereitschaft Rußlands und Frankreichs, bis hart an die
äußerste Grenze der Nachgiebigkeit gegangen, wenn man sich auch
damit abfinden konnte, daß in Wirklichkeit der Generalinspekteur gewinne,
was der kommandierende General verliere.80 Es ist wohl getadelt worden,
daß man sich auf deutscher Seite in ein Unternehmen eingelassen habe, das
so scharf in die russischen Empfindlichkeiten einschneiden mußte; aber die
Dinge liegen doch wohl so, daß die Russen, wenn Liman
ursprünglich nicht zum Kommandierenden General in Konstantinopel
ernannt worden wäre, nur einen andern Punkt des deutschen Programms
hervorgeholt haben würden. Um jede russische Empfindlichkeit zu
vermeiden, hätte jetzt eine Politik geführt werden müssen, die
den völligen Verzicht Deutschlands auf seine Orientstellung während
der letzten Jahrzehnte in sich geschlossen hätte.
Hinter dem Streit um Titel und Dienstauftrag eines deutschen Offiziers verbarg
sich, wie in einer am blauen Himmel auftauchenden dunklen Wolke, ein
großes Gewitter. Es handelt sich um die erste Ansage eines Kampfes um die
Herrschaft an einer der weltgeschichtlichen Stellen der Erde. Die Russen hatten
sich von neuem versichert, wen sie auf ihrem Wege als Freunde finden
würden: die französische Regierung hielt sich von vornherein auf das
engste an die russische Führung und verpflichtete sich, in sorgsam
abgewogener Formulierung, auch schriftlich, sich bei allen Schritten der
russischen Regierung [776] anzuschließen.
Der Präsident der Republik, Poincaré, der fortlaufend auf das
radikale Kabinett eingewirkt hatte, schloß sich "auf das allerbestimmteste"
dieser Erklärung an: mit Rußland in dem schwebenden Streitfall bis
zum Ende zusammenzugehen. Die Franzosen waren zum Kriege bereit, wie sie es
schon im Winter 1912/13 gewesen waren. Iswolski
stellte - nicht zum ersten Male - fest, daß in diesen Worten Poincarés "mit vollem Vorbedacht die ruhige Entschlossenheit
ausgedrückt wird, sich unter den obliegenden Verhältnissen nicht
den Verpflichtungen zu entziehen, die ihm das Bündnis mit uns
auferlegt".81 Dem entsprach, daß auf
russischer Seite - in jener Sonderkonferenz vom 13. Januar, die über
die gegen die Türkei zu treffenden Nötigungsmaßnahmen
beraten sollte - die einleitende, mit voller Präzision gestellte Frage:
"Ist der Krieg mit Deutschland erwünscht und kann Rußland ihn
führen?" vom Kriegsminister und Generalstabschef dahin beantwortet
wurde, daß Rußland die volle Bereitschaft besitze.
So begann sich Sasonow immer mehr der Vorbereitung einer großen
weltgeschichtlichen Aktion zu nähern. Am 8. Februar berief er die
Häupter der politischen, militärischen und maritimen
Sachverständigen zu einer Sonderkonferenz, die für den Fall,
daß irgendwelche Ereignisse die internationale Lage der Meerengen radikal
ändern könnten, ein bis ins kleinste ausgearbeitetes Programm
für die Durchführung der Besitzergreifung durchberaten sollte.82 Es ist dabei bemerkenswert, daß
er sich die Lösung nicht als einen isolierten Vorgang dachte, sondern sich
offen gegen die Annahme aussprach, "daß die russischen Operationen gegen
die Meerengen ohne einen allgemeinen europäischen Krieg erfolgen
würden"; dieselbe Annahme vertrat der Chef des Generalstabs. Es ergab
sich daraus, daß für das nächste konkrete Ziel der russischen
Außenpolitik der Weltkrieg als etwas Unvermeidliches in Rechnung gestellt
war, als Hintergrund und Konstellation des säkularen Unternehmens; wie
der Marinesachverständige es ausdrückte, hieß das Ziel jetzt:
"die deutschen und österreichischen Heere schlagen, worauf wir in Berlin
und Wien unseren Willen diktieren und die Meerengen erhalten". Die auf dieser
Voraussetzung ruhenden Beschlüsse wurden von Sasonow dem Zaren
unterbreitet und von diesem genehmigt.
Dabei war für Sasonow noch ein ungewisses Element in der diplomatischen
Rechnung übrig geblieben, das er vor dem weiteren Vorgehen geklärt
zu sehen wünschte: das war die immer wieder undurchsichtige, immer
wieder Zweifel erweckende Politik Englands.83 Wohl suchte ihn der Botschafter in
London, Graf [777] Benckendorff zu
beruhigen: man müsse Grey Zeit lassen und Vertrauen schenken; England
sei weder auf ein Bündnis mit Frankreich noch mit Rußland
vorbereitet; wenn Rußland die transpersische Bahn allzusehr betreibe, so
werde das insulare Vorurteil die Richtung auf Indien darin entdecken. Aber
Sasonow wollte sich nicht beruhigen lassen; er wünschte ein Organ zur
Vereinheitlichung der Ansichten und des Vorgehens der Mächte; vor allem
aber verlangte er eine solidere Basis für die Beziehungen, er verlangte das
Bündnis: "die Franzosen sind der gleichen Meinung." Er gab vor, unter der
Entmutigung wegen der schwankenden und unklaren Politik des englischen
Kabinetts zu leiden, und unter der Unmöglichkeit, etwas dagegen zu
unternehmen. So kam er immer wieder auf die Formel zurück, der
Weltfriede sei erst an dem Tage gesichert, an dem der Dreiverband sich in ein, in
allen Zeitungen der Welt angekündigtes Defensivbündnis ohne
Geheimklauseln verwandelt habe - an diesem Tage werde die Gefahr einer
deutschen Hegemonie verschwunden sein. Daß er einige Tage vorher dem
amtlichen Rußland und dem Zaren eine Unternehmung vorgeschlagen hatte,
bei der nicht der Weltfriede, sondern der Weltkrieg als Voraussetzung
angenommen würde, schien er vergessen zu haben. Es war für den
russischen Minister unerträglich: "sich am stärksten fühlen
und doch dauernd einem Gegner weichen, dessen Übermacht lediglich in
seiner Disziplin besteht, das ist nicht nur eine demütigende, sondern auch
eine gefährliche Sache". In diesem Satze wird also die angebliche deutsche
"Hegemonie" wieder außer Kraft
gesetzt - in den Aktenstücken der Entente in diesen letzten Monaten
erscheinen die deutsche Hegemoniegefahr und die Überlegenheit
gegenüber dem Deutschen so friedlich nebeneinander, daß man in
Verlegenheit gerät, diesen unwahren Seelenzustand richtig zu
bezeichnen.84
Benckendorff suchte dagegen seinen Minister durch den Nachweis zu
überzeugen, daß doch auch unter den Engländern die Schicht
derer viel breiter sei, die den natürlichen Ausgang der Ententepolitik in
ihrem Einmünden in einen Feuerkreis erblickten, der die Bombe zum
Platzen bringen würde. Dieser Auffassung huldige das Foreign
Office, die Nicolson und Buchanan, Hardinge, Mallet und Sir Eyre
Crowe, die Militärs und Marineleute größtenteils. Er war sogar
überzeugt, wenn Grey könnte, täte er es morgen, aber er
gehöre zu den Menschen, die selten von den Dingen reden, bevor sie sie
für spruchreif halten. In seinem anspielungsreichen Brief gab er, aus
nächster Nähe langjährigen Umgangs, ein Bild Greys, in dem
das berechnende, hinterhaltige, zweideutige Element stärker als von irgend
jemanden aus dem Feindeslager gesehen wird: "Die drohende deutsche
Hegemonie beschäftigt ihn andauernd, [778] allem Anschein zum
Trotze, er verfolgt deren Fortschritte mit Sorge. Glauben Sie nicht, er sei blind. Er
ist kein Mann der Initiative... vor allem nicht der Drohungen..., ehe der Dreibund
sich nicht ganz offenbar - was für das englische Publikum
nötig ist - und deutlich ins Unrecht gesetzt hat. Er ist beinahe dabei,
ihm Fallen zu stellen."
Immer eindeutiger schimmerte im Laufe des Jahres 1913 und in den ersten
Monaten des Jahres 1914 der Offensivwille Frankreichs und Rußlands
selbst durch die zurückhaltende Sprache der Akten
hindurch - wie viel undurchsichtiger mußte der Welt und bis zu
einem gewissen Grade sogar den Eingeweihten das Gespinst erscheinen, das
Edward Greys gelassene und beherrschte Hände woben.
Sein Programm bestand seit dem Beginn der Balkankriege darin, nach
Möglichkeit zu verhindern, daß sich aus dieser Krisis ein
großer Krieg entwickle, und, wenn es sich herausstellte, daß
Deutschland einen ähnlichen Weg verfolgen würde, zu diesem
Zwecke mit ihm, innerhalb gewisser Grenzen, in näherer Fühlung
zusammenzuwirken - das war der Ölzweig, den er im Oktober 1912
nach Berlin hinübergereicht hatte. Innerhalb gewisser Grenzen, denn wenn
Deutschland auf diesem Wege der mittleren Linie in der diplomatischen
Unterstützung Österreich-Ungarns nach Greys Meinung nur etwas zu
weit für Rußlands Empfindlichkeiten (und die dadurch
mögliche Gefährdung des Friedens) gehen sollte, dann wollte er es,
wie wir am 4. Dezember 1912 beobachten konnten, rechtzeitig in aller
Freundlichkeit vor den Folgen warnen; d. h. ohne viel Umschweife daran
erinnern, daß man auf diese Weise in den Weltkrieg hineinsteuere, und
daß dann allerdings, nach dem automatischen Ablauf der kontinentalen
Bündnisse, auch England auf dem Kampfplatz erscheinen und nach seiner
Auffassung vom europäischen Gleichgewicht Partei ergreifen würde.
Dann werde der Ölzweig von dem Orkan des Weltkriegs verschlungen.
Damit war das Verhältnis der beiden Mächte, nach allen
gefährlichen Spannungen, die ihr Zusammenleben über ein Jahrzehnt
vergiftet hatten, gekennzeichnet. Man konnte in den laufenden Welthändeln
freundschaftlich zusammengehen, einen gewissen gemeinsamen Einfluß
ausüben und dadurch das Verhältnis sogar noch vertiefen. Um
Anfang März sprach Grey sich zu dem englischen Botschafter in Berlin
anerkennend darüber aus, daß sich die Beziehungen zu Deutschland
gebessert hätten; Kiderlen-Wächter - dessen derbere Art
seinen geräuschlosen Methoden an sich kaum
zusagte - "habe für den Frieden gearbeitet und Jagow tue
dasselbe".85 Es ist möglich, daß man
[779] auch auf Umwegen auf
den Kaiser einzuwirken suchte, um ihn über die Absichten Englands zu
beruhigen.86 Der Verlauf der zweiten Balkankrisis
(März bis Mai 1913) bestärkte Grey in seiner Überzeugung,
und wer im April 1913 nach London kam, konnte sich dem Eindruck nicht
entziehen, daß der Wind umgeschlagen sei wie seit einem Jahrzehnt nicht.
Wenn ich aus einem Privatbriefe Lord Haldanes, den ich damals kennenlernte, aus
dem Mai 1913 hier einige Worte wiedergebe, so geschieht es, weil man so in den
leitenden Kreisen Englands damals allgemein zu den Deutschen sprach: "Es ist
eine wirkliche reine Freude für mich, zu fühlen, daß die
Beziehungen zwischen Deutschland und Großbritannien endlich
ausgezeichnet werden. Möge diese Entwicklung fortfahren und an
Stärke zunehmen." Es war gewiß nicht die ganze Wahrheit und
vielleicht nicht einmal die halbe Wahrheit, sondern eine begrenzte Teilwahrheit.
Denn alles, was hier an ehrlicher Überzeugung über das
gegenwärtige und zukünftige Verhältnis der beiden
Völker ausgesagt wurde, war und blieb eingebettet in einen großen
Vorbehalt, wenn man will Hintergedanken: Das alles gilt, solange dieses
freundschaftliche Verhältnis nicht auf eine ernstere Probe gestellt wird,
keinen Augenblick länger. Führt ein kontinentaler
Zusammenstoß, der die Bündnisverpflichtungen in Kraft treten
läßt, zu einem Kriege, dann wird auch England, aus freier
Entschließung, seinen vorgesehenen Platz unter den Kämpfenden
einnehmen: dann verschlingt ein Weltgegensatz, in dem alle Mächte nach
ihren Interessen zu handeln genötigt sind, alle freundschaftlichen
Rücksichten der zweiten Linie - dann wird Grey in dem ganzen
Umkreis der fälligen Verpflichtungen, Kombinationen und
Eventualitäten sich dem Gebote der Staatsräson unterwerfen.
Für dieses England von 1913 bestand die deutsche Rivalität noch
fort, insbesondere, als dominierende politische Tatsache, die
Flottenrivalität. Freilich, der verhetzende Flottenstreit von ehedem hatte
aufgehört. Man hörte die auf friedliches Entgegenkommen
gestimmten Ausführungen von Tirpitz
im Februar 1913 mit Achtung an;
nach einer gewissen Zeit antwortete Churchill mit dem akademischen Vorschlag
eines Feierjahres; aber alles das hatte, zumal da der Bau in dem stillschweigend
anerkannten Verhältnis 16 zu 10 weiterging, keine besondere
Bedeutung mehr. Es war daher ein Irrtum auf deutscher Seite, von der Marine
ausgehend,87 dem auch der Kaiser88 und sogar der [780] Reichskanzler von
Bethmann Hollweg89 verfielen: daß die
Engländer sich in diesen Gegensatz wie in ein Schicksal gefunden
hätten. Sie besaßen, um der deutschen Gefahr im Notfalle zu
begegnen, neben der eignen größeren Flotte, das System ihrer
Weltpolitik und waren entschlossen, mit Hilfe dieser Rückversicherung
ihres eignen Schicksals Meister zu bleiben.
Aus diesen Voraussetzungen ergibt sich, inwiefern die beiden nebeneinander
laufenden und sich scheinbar widersprechenden Linien der großen Politik
Englands gegenüber Deutschland in dem letzten Jahre vor dem Weltkriege
gleichzeitig möglich waren: die beiden großen
deutsch-englischen Abkommen auf dem afrikanischen und asiatischen
Schauplatze und die gegen Deutschland gerichtete Festerknüpfung des
Bandes mit den Ententegenossen.
Die deutschen Verhandlungen zerfielen in zwei Hauptgruppen: in eine
Wiederaufnahme des deutsch-englischen Vertrages über die
portugiesischen Kolonien, und ein Abkommen über die Endstrecke der
Bagdadbahn bis zum Persischen Golf; beide Angelegenheiten wurden in einem
Geiste geführt, den man in der Zeit von 1902 bis 1912 niemals zu hoffen
gewagt hätte, und gelangten noch vor der Schwelle des Weltkrieges zum
vertragsmäßigen Abschluß; sie erweckten in denen vor allem,
die sie auf deutscher Seite betrieben, unendliche Hoffnungen und
hinterließen die bittersten der Enttäuschungen.
Das Kolonialabkommen war von den weitausschauenden Versprechungen, die zur
Zeit der Haldane-Mission gefallen waren, eigentlich das letzte
Überbleibsel.90 Während der Balkankrisis hatte
Grey mit vollem Bedacht diese Karte wieder hervorgeholt, um auf dieser
Annäherungsbasis das zarte Gewächs des Vertrauens wieder zum
Wachsen zu bringen. Die Verhandlung ging darauf hinaus, das
unglückliche Abkommen von 1898 von seiner zweideutigen Verkoppelung
mit portugiesischen Anleihebedürfnissen zu befreien, ohne weiteres die
Teilung in wirtschaftliche Interessensphären der beiden Mächte
vorzunehmen und diese Aufteilung in einer für Deutschland
günstigen Weise zu verbessern. Der am 20. Oktober 1913 in London
paraphierte Vertrag war, technisch beurteilt, für Deutschland
günstig - gegen den Verzicht auf die portugiesische Hälfte der
Insel Timor und einen Streifen am Sambesi, wurde Deutschland das mittlere
Angola und die Zusage des englischen Desinteressements an den portugiesischen
Inseln São Thomé und Principe überwiesen; damit wurde in
[781] Südwestafrika
ein kompaktes Kolonialgebiet geschaffen mit einer Küstenausdehnung von
20 Breitengraden - also ein ernstlicher Schritt zu jenen kolonialen
Konzentrationsplänen, die schon bei dem Vorstoße Kiderlens im
Hintergrunde gestanden hatten - so wenig man heute auch an dem
Auftauchen dieser fernen Luftschlösser inmitten der europäischen
Kriegsatmosphäre Geschmack zu gewinnen vermag.
Nach der sachlichen Einigung ergab sich eine mehr formale Schwierigkeit daraus,
daß Grey die Veröffentlichung der Verträge von 1898 und
1913 nur gleichzeitig mit der Veröffentlichung des
englisch-portugiesischen Windsorvertrages von 1899 zulassen wollte; die
deutsche Regierung wünschte die letztere nicht, weil sie von ihr in der
öffentlichen Meinung eine bittere Kritik befürchtete und sich nicht
dem Verdacht aussetzen wollte, noch einmal betrogen zu werden. Darüber
zögerte sich die Ratifikation hin, zumal da auch das Mißtrauen der
Franzosen sich einzumischen begann;91 die Deutschen wünschten die
Unterzeichnung, während die Engländer sie ohne
Veröffentlichung für nicht möglich hielten.92 Der Gesandte Rosen bezeichnete das
Abkommen als "das Beste, was die kaiserliche
Politik - soweit sie eine schaffende und erwerbende sein
kann - seit dem großen Zeitalter der Gründung des Reiches
geleistet hat".93 Das mochte übertrieben sein,
aber die Berliner Bedenken, in denen allerhand politische Kampfscheu mitspielt,
können angesichts der Weltlage, die damals gewiß jede Art von
Entlastung brauchen konnte, wenig Stich halten.94 Schließlich wurde die Sache
erst in den Tagen von neuem angefaßt, als die Flammen des großen
Brandes schon um den Erdball züngelten.
Einen ähnlichen glücklichen und dann doch nicht ganz sich
vollendenden Lauf nahm die Einigung über das Bagdadbahnprojekt. Der
zeitliche Ausgangspunkt liegt hier fast an derselben Stelle, in den ersten Monaten
des Jahres 1913, als die Engländer mit den Türken darüber
verhandelten, den Bahnabschnitt Bagdad - Basra nur als
türkische Staatsbahn unter Zustimmung der britischen Regierung bauen zu
lassen. Damals gab Staatssekretär von Jagow die Erklärung ab: "Wir
sind nach wie vor bereit, uns mit dem Londoner Kabinett über die
Bagdadbahn zu verständigen, und werden es begrüßen, wenn
die einzige akute Frage, die zwischen Deutschland und England schwebt, zur
beiderseitigen Befriedigung aus der Welt geschafft wird." Man legte besonderen
Wert darauf, [782] daß diese Frage,
die gegen den deutschen Wunsch durch die Haltung der englischen Regierung und
Presse zu einer politischen Frage umgestempelt worden sei, von der
Tagesordnung verschwinde und dadurch der allgemeinen Besserung der
Beziehungen zugute käme. Gleich darauf begannen die Verhandlungen, auf
deren Einzelheiten in diesem weltgeschichtlichen Augenblick nicht mehr
einzugehen sein wird. Der große Vertrag ist in den Tagen von Serajewo
zum Abschluß gebracht und paraphiert worden. Eine von dem Berliner
Auswärtigen Amte an den Botschafter Fürsten Lichnowsky
übersandte undatierte Vollmacht zur Unterzeichnung ist das letzte
Aktenstück aus der Geschichte der
englisch-deutschen Weltbeziehungen.
Daß die Vertragsergebnisse der beiden Verhandlungen in beiden
Fällen nicht die allerletzte völkerrechtliche Form gefunden haben, ist
zu beklagen, macht aber für den Schicksalsgang der Ereignisse vom Juli
1914 nichts aus. Bedeutungsvoller ist die Tatsache, daß die Verträge
und der in ihnen geführte Nachweis der
deutsch-englischen Verständigungsmöglichkeit auf die
allgemeinpolitischen Ziele Greys im Juli 1914 keine Einwirkung geübt
haben. Die deutsche Außenpolitik hatte sich vielleicht einer solchen Illusion
hingegeben; wer heute, wo alle Zusammenhänge offen vor uns liegen, die
Entwicklung der englischen Politik überblickt, wird nicht mehr dadurch
überrascht sein.
Wir sahen, wie die Russen nach dem Übergang zur Aktion alles an den
Ausbau der Entente mit England setzten. Schon im Februar 1914 hatten sie in
London angeklopft, ob die lockere Entente nicht in eine festere Form gebracht
werden könnte.95 Am 15. April 1914 schrieb Sasonow
an Benckendorff: "Es ist nötig, daß die Engländer nicht die
unerbittliche Notwendigkeit aus dem Auge verlieren, einen aktiven Teil an dem
Kampf gegen Deutschland zu nehmen, an dem Tage, wo dieses einen Krieg
unternehmen wird, dessen Ziel nur der Umsturz des europäischen
Gleichgewichts sein kann."96 Die französische Diplomatie
nahm die russischen Wünsche mit besonderem Eifer auf, erwog die Art,
wie sich die Fäden würden fester ziehen lassen, und versprach, den
Besuch des englischen Königspaares in Paris (21./24. April 1914) zu diesen
Verhandlungen zu benutzen. Das geschah. In einer langen Besprechung am 23.
April trug der französische Ministerpräsident Doumergue die
russischen Wünsche mit einer Begründung, die auf sich beruhen
mag, dem englischen Außenminister vor. Das Überraschende war,
daß Grey, mit den üblichen Vorbehalten, sich sofort vollkommen
bereit erklärte. Er schlug vor, daß zu diesem Zwecke die beiden
Kabinette dem Petersburger Kabinett alle bestehenden Abkommen: die
Militär- und Marinekonventionen und den
Grey-Cambon-Briefwechsel mit- [783] teilen und damit den
Russen Anlaß geben sollten, in einen Meinungsaustausch mit England
über ein entsprechendes Abkommen zu treten; dieses werde offenbar nur
eine Marinekonvention sein können.97 Die Franzosen waren selbst erstaunt
über das rasche Eingehen Greys auf Pläne, die er noch im Oktober
1912 von der Hand gewiesen hatte; sie legten auf die Sache nicht viel Wert,
wollten aber den Russen bei guter Laune halten und ihn nicht durch Weigerung
kränken; und so hielt auch Grey die Flottenfrage in der Ostsee für
wenig bedeutsam, aber er fürchtete die Russen zu verletzen, indem sie
meinen könnten, nicht unter den gleichen Bedingungen wie die Franzosen
behandelt zu werden. Er fügte die Worte hinzu, die etwas tiefer in sein
Inneres blicken lassen: "es könnte ihnen sogar den Eindruck geben,
daß wir, seitdem wir zum ersten Male in militärische Besprechungen
mit Frankreich gewilligt hätten, unsre Gemüter gegen die Teilnahme
an einem Kriege verschlossen hätten; und diesen Eindruck hervorzurufen,
würde verwirrende Folgen haben können und der Wahrheit nicht
entsprechen." Fürchtete Grey, den kriegerischen Kredit Englands
einzubüßen, in diesen Zeitläufen und diesem Genossen
gegenüber?
Der weitere Verlauf der Verhandlung über die Marinekonvention ist
beinahe von geringerem Interesse. Sie wurde am 12. Mai in London zwischen
Grey, Cambon und Benckendorff eröffnet und beschloß, daß
der russische Marineattaché in London mit dem englischen Admiralstab in
Besprechung treten solle. Aber der Fortschritt zögerte sich hin, zum Teil
aus äußerlichen Gründen, zum Teil aus tiefliegenden
Ursachen. Das Geheimnis sickerte durch, Anfragen im Unterhaus blieben nicht
aus, auch die deutsche Diplomatie führte eine ernste
Sprache - man muß schließlich in London froh gewesen sein,
die Sache hinzuziehen oder zu vertagen. Jedenfalls ist es vor dem Weltkrieg nicht
mehr zu einem Abschluß gekommen. Nur die Bereitschaft Greys lag
uneingeschränkt vor, und zwar ohne daß sich aus der Weltlage ein
zwingender Grund für ihn ergeben hätte. Bis zu der letzten
Entscheidungsstunde schritt er auf dem Wege vor, der seine freien Hände
fester band. In immer rascherem Tempo erfüllte sich an ihm das Wort, das
Wilhelm II. im Mai von seiner Rolle im Dreiverband aussprach: "Je
suis leur chef, il faut que je les suive."
Während Grey sein diplomatisches Spiel weiterführte, war in
Rußland die publizistische Kriegshetze auf den Höhepunkt gestiegen.
Ein Artikel des Kriegsministers Suchomlinow vom 13. Juni 1914 gibt von diesem
Geist ein Bild. Er war beunruhigt durch die französische Ministerkrisis und
den Streit der politischen Parteien in Frankreich um die soeben eingeführte
dreijährige [784] Militärdienstzeit.
Und so wiederholte sich das herkömmliche Spiel der militärischen
Aufreizung auf der Linie Paris - Petersburg, mit veränderten
Vorzeichen, in umgekehrter Richtung.
"Rußland hat alles getan, wozu
es durch das Bündnis mit Frankreich verpflichtet ist, und muß
natürlich erwarten, daß auch unser Verbündeter seine
Verpflichtungen erfüllt. Es hat sein Rekrutenkontingent von 450 000
auf 580 000 Mann gebracht, und wird während jeden Winters vier
Rekrutenkontingente, gleich 2 320 000 Mann (im Vergleich zu den
880 000 Mann Deutschlands, den 500 000 Mann Österreichs,
den 400 000 Mann Italiens) unter der Fahne haben. Eines solchen Heeres
kann sich nur das große mächtige Rußland erfreuen. Es ist
daher ganz natürlich, daß wir erwarten, daß Frankreich jene
770 000 Mann stellt, die nur bei Beibehaltung der dreijährigen
Dienstzeit aufgebracht werden können. Rußland und Frankreich
wollen keinen Krieg, aber Rußland ist bereit und hofft, daß auch
Frankreich bereit sein wird."98
Am 26. Juni schilderte der Russe Fürst Kotschubey im
Correspondant die phantastische Tiefe des in der russischen Gesellschaft
und dem russischen Volkstum herrschenden Hasses gegen alles Deutschtum und
kündigte den Krieg an, wenn die Deutschen den Russen nicht gestatteten,
die Meerengen in Besitz zu nehmen und Österreich zu zertrümmern.
In diesen Tagen fielen die Schüsse von Serajewo.
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