Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 2: Das Nahen des Weltkrieges
(Forts.)
2. Der zweite Zusammenstoß
zwischen Deutschland und den Westmächten
1911 - 1912. (Forts.)
Über den Wert des Erlangten und Preisgegebenen konnten sich damals nur
kleine Sachverständigen- und Interessentengruppen
streiten - die beiden lebendigen Nationen als Ganzes wurden davon im
Grunde wenig berührt. Viel tiefer senkten sich die gesamten
Vorgänge der Machtprobe des Sommers 1911 in das Empfinden und
Wollen der Völker - und hier wird sich alsbald der Engländer
als Dritter zu den beiden anderen gesellen. Es ist von weitreichender Bedeutung,
wie ihre verschiedenen politischen Individualitäten aus diesem Erlebnis
herauskamen.
Seit der Gründung des Deutschen Reichs waren die im Grunde
unpolitischen Gemüter unseres Volkes durch kein außenpolitisches
Ereignis so erschüttert worden, wie durch die Agadirepisode und ihre
Folgen. Diesmal ging es tiefer als in der Spannung von Algeciras oder in der
dramatisch bewegten bosnischen Krisis. Von der
Lloyd-George-Rede, von dieser wie ein Blitz aus heiterem Himmel
niedergehenden englischen Kriegsgefahr, blieb zunächst das richtige
Empfinden zurück: das Schicksal eines großen Volkes kann nicht in
dieser Weise an die Abwicklung eines diplomatischen Geheimspiels
geknüpft werden, das nur von wenigen durchschaut
wurde - in den Reden des Reichstags im November 1911 kam dieses
Gefühl berechtigter Unruhe, die sich nach irgendeiner Richtung hin zu
entladen strebte, im Unterton überall zur Geltung. Das zweite war: in dieser
schwierigen Auseinandersetzung, in der man von einer einwandfreien Rechtsbasis
aus auf den zähen Widerstand der Franzosen stieß, hatte die Stimme
Englands entscheidend eingegriffen. Die Nachwirkung dieses Erlebnisses war so
stark, daß die Front der nationalen Erregung den Franzosen
gegenüber - an deren Gegnerschaft man seit mehr als einem
Menschenalter als an etwas Schicksalsmäßiges gewohnt war, das man
in diesen Jahren aus Großmut und Unkenntnis eher zu leicht genommen
hatte - sich sofort auch gegen die Engländer wandte. "Wir wissen
jetzt, wo der Feind steht" - mit dieser Formel nahm der konservative
Führer, Herr von Heydebrand und der Lasa, jetzt vielen das Wort vom
Munde, ohne zu bedenken, daß ein Mann von der politischen Stellung, die
er nun einmal in Preußen besaß, seine Worte zu wägen hat,
wenn sie über [710] die Grenzen des
Vaterlandes hinaus auf eine fremde Großmacht zielen. Aber das war es ja,
daß in diesen Reden der Heydebrand und Wassermann nicht ein
beherrschter und durchdachter politischer Wille zum Ausdruck kam, sondern eine
erregte und unklare Stimmung, die auf ein peinigendes Erlebnis zunächst
einmal eine eindeutige und starke Antwort zu geben
trachtete - um damit nachzuholen, was die Reichsregierung im Juli
unterlassen hatte.
Gerade die Reichstagsverhandlungen im November, so sehr ihr
äußeres Niveau sich auch über ihre Durchschnittshaltung
erhob, lieferten doch den Beweis, daß der Reichstag nicht eigentlich der
Träger der Außenpolitik, sondern herkömmlicherweise nur die
Resonanz dieser Außenpolitik war. Die Vertrautheit mit den
außenpolitischen Problemen, die Erziehung im außenpolitischen
Denken, das Gefühl der Mitverantwortlichkeit an diesen nationalen
Angelegenheiten war im Reichstag und überhaupt in den politischen
Organen der Nation nicht eigentlich zu Hause.
Man hat in der deutschen öffentlichen Meinung zu unterscheiden zwischen
dem Geräusch, das von gewissen "nationalen" Bewegungen ausging, und
der politischen Eigenkraft, die ihnen innewohnte. Eine der mächtigsten
dieser Organisationen, der Flottenverein, war im Grunde nur eine ausgedehnte
Resonanz in der üblichen deutschen Vereinsform; er erfüllte seine
Aufgabe, solange er den Sinn der binnenländischen Deutschen für
See und Seemacht zu kräftigen suchte, und er überschritt seine
Grenzen, als er in Angelegenheiten mitsprechen wollte, die nur von dem
technischen Sachverstand oder dem politischen Weitblick einiger weniger zu
durchschauen waren. Wenn auf der Hauptversammlung im Herbst 1911 ein
erregter Pfarrer den Neubau von so und so vielen Panzern forderte, da die
Diplomatie versagt habe, und das Schwert nun sprechen müsse, so mochte
das anderen Nationen seltsam erscheinen. Bei der eigentlichen Vorhut der
Nationalisten, dem Alldeutschen Verband, überwogen vollends die guten
Leute und schlechten Musikanten; er hatte schon in seinen Anfängen im
Jahre 1890 eine unglückliche Hand gehabt, und trotz vieler bester
Absichten sie immer noch weiter betätigt. Wenn er als das eigentliche
Zentrum des imperialistischen Wollens der Deutschen galt, so wurde dabei
übersehen, daß er zwar die deutsche Politik häufig (zur Freude
der fremden Kabinette) kompromittierte, aber niemals auch nur einen
nachweislichen Einfluß auf die Führung unserer Außenpolitik
gewann. Der furchtbare Verband ist seitdem auch von sachkundigen
Ausländern längst als das erkannt worden, was er immer war: ein
Löwe aus Plüsch mit Pfötchen aus Plüsch und einem
Kassenbestand von ein paar Mark.81 Aber niemand las die
Alldeutschen Blätter, das Organ eines geschäftigen
Dilettantismus, so eifrig, wie Sir Eyre Crowe, der im englischen
Außenamt den Ruf des Spezialisten für Deutschland genoß und
seine antideutsche Monomanie an dieser Quelle nährte. Gefährlicher
noch war jene Publizistik, die schon [711] in den letzten Jahren
Bismarcks die Präventivkriegspolitik Waldersees unterstützt hatte.
Derselbe Major von Bernhardi, der gegen die Kriegsscheu des alten Bismarck
die anonyme Schrift Videant consules (1889) verfaßt
hatte, sollte noch 1912 durch ein gleichgerichtetes Buch zum anerkannten
Kronzeugen für den deutschen Kriegswillen werden. Der deutsche Aufstieg
zum Nationalstaat war das Werk eines einzigen gewesen: die
außenpolitische Erziehung, der Instinkt für das Mögliche und
Unmögliche, der Takt in allen Berührungen mit der
Lebenssphäre fremder Völker konnte nicht ererbt, sondern nur
erworben werden; vielleicht nicht in einer Generation, da sich der weltpolitische
Horizont so rapide erweitert hatte. Die Kenner wußten schon seit den Zeiten
der Burenkriege, daß bei uns in Fragen der auswärtigen Politik die
Druckerschwärze am billigsten war und die Lautsprecher an der Vierbank
oder in der Volksversammlung am hemmungslosesten zu werden pflegten.
Gewiß spielt eine solche vage Erregbarkeit auch in anderen Völkern
eine Rolle, und die Staatsmänner suchen sich ihrer zu bedienen oder sie zu
lenken. Aber es war doch ein spezifisch deutscher Fall, wenn
Kiderlen-Wächter, der den alldeutschen Lärm etwas zu burschikos
vor seinen Wagen hatte spannen wollen, hernach von dem Vorstande des
Alldeutschen Verbandes verklagt wurde, damit ein Amtsgericht feststelle, welche
Politik der Staatssekretär des Deutschen Reiches mit Agadir eigentlich
bezweckt habe.
So malte sich in diesen Köpfen das Erlebnis, daß die englische
Weltmacht mit ihrem Gefolge sich dem Deutschen Reiche kriegerisch in den Weg
gestellt hatte, und daß diese Tatsache allen anderen Gegnerschaften in der
Welt ein neues Gesicht und unabsehbare Möglichkeiten gab. Aber
irgendwie hatte sich jeder Deutsche mit dieser Tatsache auseinanderzusetzen. Der
erste Gedanke war: also müssen wir stärker werden zur Abwehr, und
da es gegen England ist, die Flotte verstärken; ein Gedanke, den Tirpitz
schon Ende Juli vertrat. Sobald man aber das Ganze der politischen Lage
übersah, konnte man nicht anders als vor allem eine Verstärkung des
Landheeres herbeiführen.
Während die Deutschen aus der großen Spannung mit einer
ausgesprochenen seelischen Front gegen die Engländer hervorgingen, blieb
bei den Franzosen ein erbitterter Haß gegen die Deutschen zurück.
Die alte Revanchestimmung, in den Untergründen niemals ganz erloschen,
bemächtigte sich - sobald die Rede von Lloyd George den
ermutigenden Anstoß gegeben
hatte - der Nation mit unwiderstehlicher Gewalt. Mit ihr verband sich
fortan ein hochgestiegenes militärisches Selbstgefühl, durch die
scharfe Anspannung dieser Monate entfesselt und durch den Glauben an die
Überlegenheit in der neuen Luftwaffe
beflügelt - was alles als Bitterkeit über den mit Agadir
verbundenen Zwang, den man der Draufgängerpartei verdankte,
zurückgeblieben war, schlug in dieses neue, heilende Selbstgefühl
um. Wenn der russische Verbündete erst zum Sommer 1913 schlagfertig
sein sollte, so gab die Gewißheit der englischen
Waffen- [712] hilfe (und alles dessen,
was hinter der ersten Expeditionsarmee stand) einen vollwertigen Ersatz. Dieser
"neue Geist", so achtungsvoll seine Antriebe waren, entlud sich nach außen
in einer kriegerischen Hetze gegen Deutschland. Die meisten Beobachter
stimmten darin überein, daß die französische Nation den Krieg
nicht wolle, daß die überwiegende Mehrheit ihn eher fürchte.
Aber mit Recht urteilte der
österreichisch-ungarische Botschafter beim Beginn des neuen Jahres,
daß dieses fortwährende Säbelrasseln auf die Dauer
gefährlich werde: "Wenn man immer wiederholt, daß man mit
einigen hundert Aeroplanen Deutschland erobern wird, so könnte es die
Bevölkerung schließlich doch glauben. Die Leute gewöhnen
sich an die Idee des Krieges mit Deutschland, der früher oder später
doch ausbrechen werde."82
Dieser Aufschwung des "neuen Geistes" in einer kriegerischen Nation trug dazu
bei, daß das Ministerium Caillaux, wenige Wochen nachdem es dem
Marokko-Kongo-Vertrag zur Annahme in der Kammer verholfen hatte,
gestürzt und durch ein aus starken Persönlichkeiten
zusammengesetztes Ministerium unter dem Vorsitz des Lothringers Poincaré ersetzt wurde (Januar 1912). Es handelte sich bei diesem
Ministerwechsel nicht wie so häufig um eine Ablösung der Personen
im innern Kampf um die Macht, sondern um eine neue Tonart in der Sprache der
nationalen Politik. Der Sturz Caillaux' erklärte sich viel weniger aus der
Unzufriedenheit mit den abgeschlossenen Verträgen, als aus dem Unmut
darüber, daß seine Regierung dem angeblich demütigenden
Vorgehen der deutschen Regierung nicht eine würdigere Haltung
entgegengesetzt und nicht größeres Vertrauen zu Frankreichs
Widerstandskraft an den Tag gelegt habe.83 War Caillaux der Ausgleich mit
Deutschland gewesen, der Friede unter Opfern (wenn nicht gar, wie die
Indiskretionen flüsterten, auf dunklen und unwürdigen Wegen), so
sollte Poincaré die nationale Selbstbesinnung, die unbeugsame Haltung
und die soldatische Ehre vertreten, auf die Gefahr des Krieges hin. Dieser
Zuversicht entsprach der militärische Entschluß, es bei
Kriegsausbruch nicht bei der Defensive bewenden zu lassen, sondern selbst zur
Offensive überzugehen und gegebenenfalls den Durchmarsch durch
Belgien zu wagen - nach einem Plane,
der - wie der Präsident Fallières befriedigt im Kriegsrat
erklärte - den großen französischen Traditionen
gemäß sei. Noch während des Winters 1911/12 kam General
Joffre zu dem Entschlusse, schon eine stärkere deutsche
Truppenkonzentration bei Aachen als eine tatsächliche Bedrohung Belgiens
zu betrachten und mit dem Einmarsch in Belgien zu beantworten. Sein Plan wurde
am 21. Februar 1912 auf einer Ministerkonferenz unter Vorsitz Poincarés
mit der Begründung vorgetragen, daß die Siegesaussichten
größer sein würden, wenn die französische Armee die
Freiheit hätte, die Offensive auf belgisches Gebiet zu
tragen - es verstand sich, daß man dem Plan
zu- [713] stimmte.84 Kam nicht alles zusammen, um den
Glauben zu erwecken, daß es mit der Überlegenheit der Deutschen zu
Ende sei? Wie triumphierte die France militaire, als in dem
ausgebrochenen Tripoliskriege die Ohnmacht der Türken im Felde, trotz
ihrer deutschen Lehrmeister, sich herausstellte! Herausfordernd schrieb sie:
"Dieser junge deutsche Koloß mit den tönernen Füßen
ist nichts als eine schlecht zementierte Masse, die sich mäßig
gesichert hält in der Mitte Europas, aber außerstande ist, auf
Entfernung wirksam zu handeln, ohne die Erlaubnis von England, Rußland
und Frankreich." Man rührte damit an die Grenzen der deutschen Macht,
die über ihren kontinentalen Bereich hinaus, in einem weiteren Radius in
der Welt dem einkreisenden Zusammenspiel des Dreiverbandes nicht gewachsen
war. War diese deutsche Macht nicht überhaupt überschätzt
worden? Das behaupteten in der Woche des Abflauens der Agadirkrisis die
glänzend geschriebenen Artikel des Obersten Repington über die
deutschen Kaisermanöver in der Times. Wenn seine wenig
schmeichelhafte Kritik fast wehmütig den einem neuen Jena
entgegengehenden Niedergang der einst so ruhmreichen
Armee - im Verhältnis zu dem Aufstieg der
Franzosen! - beklagte, so verfolgte er damit den durchsichtigen politischen
Zweck, mit dieser Gegenüberstellung das erwachte Selbstgefühl und
die Kriegslust der Franzosen noch weiter anzuspornen.85
Es kam darauf an, wie dieses militärische Selbstbewußtsein auf die
politischen Ziele der Nation zurückwirkte. Der deutsche
Militärattaché unterschied in seinen sehr maßvoll
geschriebenen Berichten zwischen der Militärpresse und den
Hetzblättern, nach denen Frankreich nur auf den Moment warte, um
Deutschland anzugreifen, und den besonneneren Elementen, die auch heute noch
einem Kriege mit Deutschland ausweichen würden, allerdings nicht um
jeden Preis, sondern nur, sofern es die nationale Ehre und die augenblicklich
besonders hochgesteigerte Empfindlichkeit gestatten.86 Auch der deutsche Botschafter in
Paris urteilte im März 1912, der Wunsch nach Wiedergewinnung
Elsaß-Lothringens sei in der französischen Volksseele keineswegs
erloschen, aber die Nation wolle keinen Krieg; was sie zur Zeit beherrsche, sei nur
das dunkle Gefühl, daß ihr ein Krieg durch europäische
Verwicklungen, durch einen Angriff oder eine unerträgliche Zumutung der
Deutschen aufgedrungen werden könnte.87 Aber in denselben Tagen gab ein
englischer Beobachter das Urteil ab:88 das Zentrum der Kriegsgefahr liege
jetzt in Frankreich. Niemand in England sollte in Unkenntnis bleiben über
den wachsenden Chauvinismus des französischen Volkes und der [714] Tatsache, daß er
bewußt von der französischen Regierung genährt werde. Man
müsse zugeben, daß er die ausgesprochenste Ermutigung von einem
vielgelesenen Teil der englischen Presse erhalte. Jeden Morgen und jeden Abend
wiesen gewisse Massenblätter auf den "neuen Geist" in Frankreich hin, auf
den schnell wachsenden Stolz auf die Armee und den eingestandenen Wunsch, die
verlorenen Provinzen zurückzugewinnen.
Dieses Ineinanderspielen der öffentlichen Meinung ist eine Erscheinung,
die eine eindringende Untersuchung wohl verdiente: sie zeigt die Presse Englands
in derselben Abhängigkeit, wie die politische Leitung. Dazu gesellt sich, als
etwas Neues, ein System militärisch-politischer Vertraulichkeiten, das sich
erst seit wenigen Jahren, seit dem Anfang der liberalen Regierung, entwickelt
hatte.
Die englische Geschichte kennt seit Jahrhunderten kein selbständiges
militärisches Element, das von sich aus in die Lebensfragen von Krieg und
Frieden eingriffe: seit Marlborough war es Tradition, daß die
militärische Kaste gleichsam von der Bildung des im Parlament
zusammengefaßten politischen Lebenswillens der Nation ausgeschlossen
war. Hier setzt jetzt eine denkwürdige Wendung ein. Eine Darstellung der
englischen Politik in diesen Jahren würde sehr unvollkommen sein, wenn
sie sich allein auf die amtlichen Äußerungen im Parlament und
diplomatischen Verkehr zu stützen suchte. Es ist eine im Zusammenhang
bisher selten gewürdigte Tatsache, daß der zielbewußte Geist
des englischen Offizierkorps, der politisch bisher nichts bedeutete, einen
maßgebenden Einfluß auf das politische Denken der Nation, ja auf die
Staatsleitung selber gewinnt.89
Der Ausgangspunkt liegt in den im Januar 1906 unter Haldanes Verantwortung
eingeleiteten Besprechungen mit dem französischen Generalstab.90 Während Grey noch immer
fortfuhr, von diesen Besprechungen nicht mehr zu wissen, als daß es sich
um einen unverbindlichen Meinungsaustausch zwischen Technikern, wie etwa
zwischen Feuerwehr und Wasserwerken,91 handele, war hier eine Macht
erstanden, die ihr eigenwüchsiges Leben besaß und nur eine
beherrschende Leidenschaft kannte.
Gerade das, was man in England früher als Eigenart des Militarismus
(military mind) zu verabscheuen pflegte, das Übergreifen
militärischer kriegerischer Denkweise in die außenpolitischen
Geschäfte eines Landes, sollte sich in wenigen Jahren, ohne daß man
diesen Umschwung sonderlich bemerkte, bis zu einem gewissen Grade
durchsetzen: eine Politisierung des Militärs, die letzten Endes auch zu einer
höchst unenglischen Militarisierung der Politik führen kann. Die
Generation der führenden Generale, der Roberts und French, der Haig
[715] und Robertson, der
Nicholson und H. Wilson, der Rawlinson und Grierson, lebte in der
Unvermeidlichkeit des Krieges gegen einen Feind, den man nicht zu nennen
brauchte. Sogar auf den indischen Generalstabsreisen wurde der deutsche Gegner
und seine Methode vorausgesetzt, bis der Vizekönig Lord Morley es
für richtiger hielt, diese Gewohnheit abzustellen.92 Der kraftvollste Vertreter dieses
neuen Geistes war Sir Henry Wilson, seit 1910 Leiter der
Operationsabteilung des Generalstabs, dem es gelang, in eine unbegrenzte
Vertraulichkeit mit dem anfänglich zurückhaltenden
französischen Generalstab zu gelangen.93 Nach seinen Tagebüchern
möchte man glauben, daß er die halbe Zeit in Verhandlung mit dem
französischen Generalstabe oder Informationsreisen auf
belgisch-lothringischen Schlachtfeldern und Anmarschstraßen verbrachte.
Alljährlich stattet dieser hagere, leidenschaftliche General der Statue der
"France" in Mars la Tour, hart an der deutschen Grenze, seinen
Huldigungsbesuch ab und im Oktober 1911 legt er zu ihren Füßen gar
ein Stückchen der Generalstabskarte nieder, die das vertragliche
Aufmarschgebiet der englischen Truppen umfaßte. Kann es für seine
Seelenverfassung ein treffenderes Bild geben? Wilson vor allem war es, der
zwischen den Generalstäben jene Intimität begründete, die
einer moralischen Verpflichtung
gleichkam - hier war allerdings Ehre im Spiele, wie Churchill der Greyschen Politik der freien Hand in den Tagen des Kriegsausbruches vorhielt.
Längst hatte der militärische Meinungsaustausch einen politischen
Charakter angenommen. Man lese nur die politischen Erwägungen, die der
Generalstabschef Joffre am 24. August
1911 - auf dem Höhepunkt der
Krisis! - dem englischen Militärattaché Obersten Fairholme
vortrug: daß Deutschland auf jeden Fall eine große Streitmacht nach
Elsaß-Lothringen hineinwerfen müsse, da die Bevölkerung
sich erheben werde, wenn man hier festen Fuß fasse ("das wissen wir
bestimmt"); daß man damit rechne, Italien werde sich nicht rühren,
und nur bedaure, daß - wenn Deutschland nicht mit starker Kraft
durch Belgien angreife - die Berührungsfront zweier so großer
Heere allzu eingeengt sei. Man begreift, daß selbst der Premierminister
Asquith eine solche Verhandlung beanstandete, da sie "sehr gefährlich in
der Krisis" sei und allzusehr zur Ermutigung der Franzosen diene.94
Gerade Belgien ist für die zunehmende Politisierung ein bezeichnendes
Beispiel. Sir Henry Wilson hatte während der Krisis nie
aufgehört, den englischen Staatsmännern die Notwendigkeit der
politischen Einbeziehung Belgiens klarzumachen und den französischen
Militärs zu predigen, wie unerläßlich es sei, [716] Belgien in das
gemeinsame Aufmarschgebiet aufzunehmen.95 Er hatte vermutlich einen
entscheidenden Anteil daran, daß die französische Heeresleitung den
Durchmarsch durch Belgien - nur für den Fall, daß die
Deutschen eine größere Truppenzusammenziehung bei Aachen
vornähmen - auf ihr Programm setzte.96 Es ist der Plan, der demnächst
auch in die deutsch-englischen Verhandlungen über die
Neutralitätsformel hineinspielen wird. Von Wilson wird die Anweisung an
den englischen Militärattaché in Brüssel ausgegangen sein,
dem belgischen Generalstabschef zu eröffnen, England habe schon in der
letzten Krisis - was in Wirklichkeit gar nicht der Fall gewesen
war! - die Absicht gehabt, seine Truppen auf belgischem Gebiet zu landen,
und werde vorkommendenfalls davon Gebrauch machen, da Belgien nicht
fähig sei, die Deutschen am Durchmarsch zu hindern. Diese
Vorgänge sind bisher wesentlich im Rahmen des Problems der belgischen
Neutralität behandelt und umstritten
worden - sie kommen in diesem Augenblick für Belgien nicht in
Betracht, weil der belgische General jedes Eingehen auf die englischen
Wünsche ablehnte. Sie sind aber ein unwiderlegliches Zeugnis für
die Methoden des militärischen Übergreifens in das politische
Gebiet, und wir werden im Laufe des folgenden Jahres sehen, wie
unbekümmert Wilson dieses Verfahren noch steigern wird.
Längst hatte er begonnen, die Politiker seines eigenen Landes mit
kriegerischen Absichten zu durchtränken. Im Zusammenwirken mit
Churchill - der von Natur den militärischen Gesichtspunkten
zuneigte -, verfocht er vor dem Außenminister die Notwendigkeit
einer Politik, die auf ein Offensiv- und Defensivbündnis von England,
Frankreich, Belgien, Dänemark und Rußland gegründet sei.
Selbst Grey gestand, nach Ablauf der Krisis den Plan ernstlich durchdenken zu
wollen (4. Sept.). Oder Wilson suchte Lloyd George von dem Werte eines
freundlichen, d. h. durchmarschfreundlichen Belgiens zu überzeugen
und fand ihn ganz zugunsten eines Krieges gestimmt (11. Sept.). Ja, dieser neue
Typ eines politischen Generals nötigte seinen eigenen Kriegsminister in der
Frage der allgemeinen Wehrpflicht dadurch zum Rückzuge im Unterhause,
daß er sich heimlich mit den Führern der Opposition, mit Bonar Law
und Balfour, in Verbindung setzte - beim Ausbruch des Weltkrieges wird
er durch dieselben Hintertüren den Zugang zur Opposition finden, um den
gefährdeten Kriegsentschluß durchdrücken zu helfen.
Daß hier eine tiefgreifende Änderung sich vorbereitete, blieb
weitblickenden politischen Köpfen nicht verborgen. Der führende
liberale Publizist, Spender, [717] führte Haldane
gegenüber den Nachweis, daß dieser Generalstab sich nicht mit der
Ausarbeitung möglicher Feldzüge beschäftige, sondern zu
einem Zentrum der Politik geworden sei und den Gedanken der allgemeinen
Wehrpflicht verbreite. Diese würde sicherlich erforderlich werden, wenn
ihre Politik die Oberhand gewinne, die alle klugen jungen Offiziere lehre, auf den
Feldzug gegen Deutschland als auf ihr Lebensziel zu blicken. Die
militärischen Besprechungen mit Frankreich seien von dieser Schule
geführt und hätten zweifellos in beiden Lagern die Vermutung
genährt, daß dieses die ausgesprochene Politik Großbritanniens
sei: diese Atmosphäre sei eine Gefahr, denn sie erzeuge ein Versprechen,
welches die Regierung einlösen müsse.97
Wie häufig hatten englische Minister sich fremden Kabinetten
gegenüber auf ihre Abhängigkeit von der "public opinion"
berufen, und die neue Außenpolitik seit 1904 war ohne Zweifel von einem
starken Strome der öffentlichen Meinung getragen. Aber in einer politisch
durchgebildeten Nation konnte es nicht ausbleiben, daß nach so
tiefgreifenden Erlebnissen auch eine starke und echte Gegenströmung
einsetzte - der Widerhall, den die Rede Lloyd Georges in Deutschland fand,
veranlaßte weite Kreise zu einer eindringenden Nachprüfung der
Außenpolitik von 1904 bis 1911. Die Kritik zog die Bilanz dieser Politik
und fand ihre Früchte nicht weniger als verlockend: eine tiefgehende
deutsche Erbitterung, eine chronische deutsche Kriegsgefahr, eine ungeheure
Steigerung der Flottenlasten und eine nicht endende Kostenrechnung in Asien;
gerade damals hatten die russisch-englischen Meinungsverschiedenheiten
über Persien einen großen Umfang angenommen. Viele
Engländer hatten im Sommer 1911 zum ersten Male die Möglichkeit
eines Weltkrieges erlebt, sie waren sich darüber klar, daß sie in einer
ungünstigen Stunde wiederkehren könne, und verlangten, daß
man sich dem Unheil beizeiten entgegenwerfe; die Erfahrungen mit der bisher als
Friedensgarantie gepriesenen Entente führten zu dem vor kurzem
unmöglichen Gedanken: wäre ein Übereinkommen mit
Deutschland nicht doch vorteilhafter für England? Sehr verschiedene
Motive fanden sich zu diesem Zwecke zusammen: die Reste der alten
deutschfreundlichen Partei, die Weltfriedensgedanken des freihändlerischen
und humanitären Liberalismus, die wirtschaftlichen Interessen weiter
Kreise, der natürliche Sinn des Engländers, einen vernünftigen
Ausgleich einem kostspieligeren Auskämpfen des Gegensatzes
vorzuziehen. Vor allem überwog die Empfindung, daß man nach all
den vergeblichen Versöhnungskomitees und Verbrüderungsreisen
jetzt mit praktischem politischem Handeln die Verständigung
herbeiführen müsse.
Die Opposition erhob sich im Parlament selbst. Am 11. November
überreichten 80 Mitglieder des Unterhauses, geführt von
E. D. Morel98 und F. W. Hirst, dem
Premierminister eine Denkschrift, welche die Folgen einer Politik darlegte,
[718] die
ausschließlich durch angebliche Interessen Frankreichs bestimmt werde. Sie
forderte eine gemeinsame Verständigung
(business-understanding) mit Deutschland, die auf der offenen
Anerkennung der Tatsache beruhen müsse, daß eine große
Nation, die jährlich an Bevölkerung, an industriellem Fortschritt, an
jeder Form edler menschlicher Tätigkeit wachse, das berechtigte
Bedürfnis habe, von Jahr zu Jahr freieren Zugang und billigere Behandlung
auf den Märkten der Welt zu beanspruchen, um der fruchtbaren Anlage
ihrer Kapitalien und dem Unternehmungsgeist ihrer Bürger Raum zu
schaffen. Die Bewegung kam diesmal nicht so bald zur Ruhe. Interpellationen im
Unterhause förderten Aufklärung über die bestehenden
englisch-französischen Geheimverträge. Die Gruppe der
"Grey-must-go-Radikalen" war im ständigen Wachsen.99 Selbst im Oberhause klagte der
radikale Lord Courtney die falsche Politik Greys an, die aus dem Rate der Nation
verschwinden müsse.100
Es konnte nicht ausbleiben, daß auch das amtliche England angesichts
dieser Bewegung eine gewisse Neigung zum Einlenken verriet! Der deutsche
Botschafter hatte noch kurz vor Weihnachten eine Aussprache mit Grey, ein
schwacher Anfang, der immerhin Keime zu einer möglichen Entwicklung
in sich trage - noch stieß er bei dem Kaiser auf eine kühle
Abweisung.101 Der Botschaftsrat von
Kühlmann glaubte, die günstige Konjunktur schon mit raschem
Zugreifen nutzen zu müssen. Seine Denkschrift vom 6. Januar
erklärte die deutsch-englischen Beziehungen als am entscheidenden
Wendepunkte angekommen und stellte die ernste Alternative: entweder gehe man
zu einer weiteren Flottenvermehrung über und zerstöre dadurch die
Verständigung, oder aber man vermehre allein die Landmacht, unter
Beibehaltung des Flottengesetzes, und suche die Zustimmung Englands, die jetzt
möglicher als früher sei, zu einem weitausschauenden
Kolonialabkommen herbeizuführen, dessen Bereich sich auf die
portugiesischen Kolonien und das Kongobecken zu erstrecken habe. Er erinnerte
daran, daß die dauernd wirksamen Faktoren des deutschen Aufstiegs uns
von jeder Störung dieser Entwicklung durch einen Rivalitätskampf
abraten sollten.
Die neue Sprache in London mußte auch in Berlin Aufmerksamkeit erregen.
Im Laufe des Dezember hatte eine Artikelreihe in der Westminster
Gazette in einer Untersuchung des
deutsch-englischen Problems auch den tiefsten Grund des Gegensatzes beim
Namen genannt. Der Autor meinte, wenn Deutschland dem Streit ein Ende zu
machen wünsche, so sollte es die Engländer davon [719] überzeugen,
daß es nicht nach einer Vorherrschaft in Europa strebe, bei der England das
nächste Opfer sein würde; aber er wollte Deutschland auch gar nicht
eines solchen Planes beschuldigen, sondern lehnte ausdrücklich den
Verdacht ab, der die tiefste Ursache der Reibereien während der letzten
Jahre gewesen sei. Darum forderte auch er: "die Hauptsache ist, daß wir zu
einer Politik des Gebens und Nehmens bereit sein und mit allen Mitteln, selbst
dem Opfer rein strategischer Erwägungen, den Verdacht vermeiden sollten,
daß wir ausdrücklich Deutschlands Ausdehnung blockieren". Der
Kaiser - dem dieser Artikel von Sir Ernest Cassel auf dem Wege
über Albert Ballin zuging - lehnte zwar die deutschen Gelüste
nach Welthegemonie wie immer mit starkem Unmut ab ("wir Hohenzollern haben
noch niemals nach so ehrgeizigen und nebelhaften Zielen gestrebt"), aber er
verschwieg seinem Hamburger Freunde nicht, daß in diesem Geiste eine
Verständigung möglich sei.102
Während die Draufgänger in London davon sprachen, daß ein
ernsthaftes deutsches Bauprogramm durch ein Ersuchen um Aufklärung
beantwortet werden müsse,103 begegneten sich
Cassel - der mit dem neuen Marineminister Winston Churchill in
Fühlung stand - und Ballin in dem Gedanken, daß es vor allem
wünschenswert sei, die abgerissenen Fäden zwischen London und
Berlin wieder anzuknüpfen. Es gelang dem Direktor der
Hamburg-Amerika-Linie, eine Äußerung des Kaisers nach London zu
leiten, die einen freundlichen Empfang Churchills in Berlin verhieß (20.
Januar).104
Darauf erfolgte in den letzten Tagen des Monats ein geheimer Besuch Cassels in
Berlin, bei dem das Einverständnis des Kaisers und des Kanzlers mit der
Einleitung einer Aussprache festgestellt wurde.105 Man hat hernach in London Wert
darauf gelegt, daß die Initiative von Berlin ausgegangen
sei - es liegt im ganzen wohl so, daß zwei Bereitwilligkeiten sich
trafen und sich stufenweise zu halbamtlichen und amtlichen Schritten
verdichteten, bis man zu einem Austausch von grundlegenden Sätzen als
Verhandlungsbasis schreiten konnte.106 Auf englischer Seite hat man das
Ergreifen des Ölzweigs naturgemäß mit
ver- [720] schiedener Stimmung
und Berechnung aufgenommen. Selbst Grey kam zum Schluß, daß
sowohl aus inneren als aus außenpolitischen Gründen eine solche
Möglichkeit nicht von der Hand gewiesen werden dürfe. Das
Kabinett beschloß aber, nicht Grey oder Churchill zu entsenden, sondern die
Besprechung mit einer Vorstufe zu eröffnen und zu ihr dasjenige Mitglied
abzuordnen, das sowohl der deutschfreundlichen als auch der deutschfeindlichen
Gruppe zugerechnet wurde und die deutsche Aussöhnung betreiben konnte,
ohne sich aus dem System der Politik Greys herauszulösen. So war es Lord
Haldane, der am 9. Februar 1912 in denkwürdiger Mission in Berlin
erschien - fast genau ein Jahrzehnt, nachdem man den vertraulichen
Verkehr zwischen den beiden Regierungen eingestellt hatte.
In den Besprechungen Haldanes in Berlin waren drei Themata vorgesehen: die
Frage der Flottenrüstung, der Entwurf einer Neutralitätsformel
(political agreement), ein koloniales Zukunftsprogramm. Das Ganze
bildete eine innere Einheit, wobei die beiden ersten Fragen nach dem Tenor der
Vorbesprechungen noch in einer inneren Wechselwirkung zueinander standen.
Auf allen diesen Gebieten war Haldane nur berechtigt zu hören, zu
sondieren, zu debattieren; er war ohne Vollmachten, wie man aus London den
Ententefreunden mitteilen ließ,107 in Berlin erschienen. Nun hatte die
deutsche Thronrede sich, schon am Tage vor Haldanes Ankunft in Berlin, auf eine
Flottenverstärkung grundsätzlich festgelegt und damit einer
Verständigung ein nicht geringes Hindernis in den Weg gewälzt.
Aber die Engländer hatten darin kein absolutes Hindernis sehen wollen,
freilich auch in Aussicht gestellt, daß sie, gleichviel wie weit die deutschen
Neuforderungen gingen, diese um 60% übertreffen würden. Die Zeit,
wo die beiden Flotten um ihr Stärkeverhältnis untereinander
gestritten hatten, war vorüber, und hierin lag auch in dem Kommenden
nicht die Schwierigkeit. Wohl aber hatten die Engländer, und mit einem
gewissen Recht, geltend gemacht, daß, wenn beide Seiten zu einer
erheblichen Flottenverstärkung schritten, sie schwer gleichzeitig den
Übergang zu einem politischen Gegenseitigkeitsvertrage vor ihren
Völkern begründen könnten. Sie hatten daher die Erwartung
ausgesprochen, der deutsche Neuaufwand werde sich so modifizieren lassen,
daß eine ernsthafte englische Vermehrung als Antwort nicht nötig
werden dürfte. Die deutsche Regierung hatte ein Entgegenkommen gegen
diese Wünsche als möglich bezeichnet, wenn sie gleichzeitig
ausreichende Bürgschaft für eine freundliche Orientierung der
englischen Politik erhalte. An dieser innersten Stelle war der Kern der
Verständigungsaufgabe zu erblicken.
Wir überblicken noch einmal in dieser Stunde die Elemente, die in dem
politischen Willen der deutschen Nation zusammenwirkten. Die sanguinische
Natur des Kaisers war bei dem ersten Besuche Cassels "kindlich entzückt"
gewesen und [721] hatte sich ganz der
Hoffnung hingegeben, diesmal den Weg aus der Wüste zu
finden - grundsätzlich war er bereit, die Politik des Reichskanzlers
zu unterstützen. Er war sich dessen bewußt, was davon abhing. Noch
am Morgen vor der ersten Besprechung ließ er Tirpitz an die Bedeutung des
Moments erinnern, von dem "das Schicksal Deutschlands und der ganzen Welt"
abhänge: wenn er den englischen Wünschen so weit
entgegenkomme, daß die Verständigung gelänge, so solle die
Welt erfahren, daß Deutschland und die Welt ihm den Frieden verdanke; er
"werde eine Position in der Welt wie seit Bismarck kein Deutscher" haben.108 Tirpitz sollte, das war der Sinn
dieser pathetischen Beschwörung, die Bedürfnisse der Flotte
vertreten, aber innerhalb der Grenzen, die eine Verständigung
möglich machen würden. Es war nicht anders: der Kaiser wollte zwei
Hasen jagen und die Verantwortung von sich selber abschieben.
Demgegenüber war die innere Haltung von Tirpitz sehr viel einfacher. Er
hatte schon Ende Juli die Stunde für eine neue Flottenvorlage kommen
sehen und wollte auf seinem Wege ein gut Stück weitergelangen, obgleich
er wußte, daß der Engländer zu einem dauernden Vorsprung
von 60% entschlossen war, und obwohl ein erkennbares politisches Endziel am
Schluß des Rennens nicht angegeben werden konnte. Sein Ziel blieb
relativ - eine respektable und gefährliche Macht in dem
Verhältnis zu dem andern -, und es gab für ihn keine
politische Gegengabe, die ihn hätte zum Einstellen des Wettkampfes
bewegen können. Wenn er nicht daran glauben wollte, daß Grey
überhaupt seine Ententepolitik abwandeln werde, so mochte er im Recht
sein. Wenn er aber die deutsche politische Forderung dahin auslegte: "Wir fordern
von England eine Neuorientierung seiner Gesamtpolitik in dem Sinn, daß es
seine bisherigen Ententen aufgibt, und wir an die Stelle Frankreichs treten",109 so zeigte er, daß sein Blick
für die politischen Wirklichkeiten und Möglichkeiten der Weltlage
nicht zureichte. Tirpitz war - wie schon Bülow gesehen
hatte - in politischen Dingen immer nur auf ein
Entweder/Oder eingestellt, indem er, mit einer Sturheit des Willens, und nicht
ohne Verschlagenheit in der Wahl seiner Mittel, dem mächtigen Gegner seit
fünfzehn Jahren eine Waffe, wie sie niemand erwartet hatte, entgegensetzte.
Die großartige Einseitigkeit, mit der er
dieses - und nur dieses - Ziel verfolgte, hatte ihm den Blick
dafür getrübt, daß jetzt vielleicht in dem flüssigen
Element der Politik die Stunde zu beweglicheren Mitteln gekommen war.
Ihm gegenüber sah der Reichskanzler von Bethmann Hollweg in der Verständigung "den Traum seines Lebens". Er hatte sogar einen
persönlichen Ehrgeiz daran gesetzt, mit seinem guten Willen die Frage zu
lösen, die allerdings die entscheidende Aufgabe seiner Reichskanzlerschaft
war. Man sieht nicht, ob er selbst dazu beigetragen hatte, sich seiner
stärksten Hilfe zu berauben: der Staats- [722] sekretär von
Kiderlen, der Gegner Tirpitzens,110 dessen Politik er in den Krieg mit
England münden sah, der Staatsmann, der schon vor Jahren "die Techniker"
aus dieser Frage hatte ausschalten wollen, wurde selbst aus dieser Verhandlung
ausgeschaltet. Bethmann hatte sich begnügt,111 den
Kaiser - als mäßigendes Korrektiv - dem
Staatssekretär des Reichsmarineamts zur Seite zu stellen.
So verliefen die Besprechungen in zwei gesonderten Abschnitten: Haldane mit
dem Kaiser und Tirpitz über das marinepolitische Thema; Haldane mit dem
Reichskanzler über die beiden anderen Themata. Man hat von vornherein
den Eindruck, daß die politische Leitung nicht die ganze Führung hat
(zumal die marinepolitische Frage eigentlich die allen anderen
übergeordnete politische Frage in sich schloß), und bedauert,
daß sie sich die militärischen Ressortentschließungen nicht
vorher unterworfen hatte - der Kanzler hätte vor den Besprechungen
um den Willen des Kaisers kämpfen müssen. So trat der politische
Wille des Reichs dem klugen Engländer von Anfang an nicht als Einheit
entgegen - er schied aus Berlin mit dem Eindruck, daß in diesem so
wundervoll durchorganisierten Reiche an der obersten Stelle das Chaos herrsche,
die Uneinheitlichkeit gegenüber der großen Lebensfrage.
Die erste Besprechung verlief anscheinend befriedigend. Der Kaiser und Tirpitz
kamen dem Engländer darin entgegen, daß sie sich auf Haldanes
Anregung bereit erklärten, den Bau der in der Flottennovelle vorgesehenen
drei neuen Linienschiffe um je ein Jahr zu verschieben. Da Haldane das Erbieten
mit Dank annahm, konnten sie glauben, das entscheidende Entgegenkommen
bezeigt zu haben. Nun lag aber der Schwerpunkt nicht in der Vermehrung,
sondern in der organisatorischen Umgestaltung, in der Bildung eines zur
Rekrutenausbildung bestimmten dritten Geschwaders unter Einstellung der noch
nicht in Bereitschaft gestellten Schiffe und einer starken Erhöhung des
Personalbestandes. Es mag sein, daß Haldane die volle Bedeutung dieses
Teils nicht ganz erfaßte oder sich zunächst begnügte, ihn zur
Kenntnis zu nehmen - die Deutschen jedenfalls waren der Meinung, ihn mit
ihren Vorschlägen befriedigt und den Weg für ein politisches
Abkommen geebnet zu haben.
Zu dem zweiten Teil der Besprechung - mit dem Reichskanzler - legte Haldane
eine Formel vor, deren Bindung er selbst als zu schwach bezeichnete: kein
improvisierter Angriff auf die andere Macht oder Teilnahme an einer Koalition
gegen die andere zu Angriffszwecken oder Teilnahme an kriegerischen
Unternehmen zu solchen Zwecken. Bethmann schlug eine von ihm mit Kiderlen
ausgearbeitete Formel vor, die in einer Verpflichtung gipfelte, daß jeder der
Vertragspartner, wenn er in einen Krieg mit einer oder mehreren Mächten
verwickelt werden sollte, sich verpflichtete, zum mindesten eine wohlwollende
Neutralität zu beobachten und für die Lokalisierung des Konfliktes
bemüht [723] zu
sein. - Das koloniale Angebot der Engländer war nicht gering; es
erstreckte sich auf Angola (durch Revision des portugiesischen Vertrages), um es
Deutschland zu ermöglichen, seine südwestafrikanischen
Besitzungen nach Norden bis zum belgischen Kongo auszudehnen, wogegen
England die portugiesische Insel Timor bekommen sollte; und des weiteren auf
ein Einverständnis, wenn Deutschland dermal einst Teile des belgischen
Kongo von Belgien kaufen sollte. Auch war England bereit, Sansibar und Pemba
abzutreten - gegen ein Entgegenkommen bei der Bagdadbahn, wobei den
englischen Wünschen in der Golflinie
Bagdad - Basra Rechnung getragen werden sollte. Haldane
ließ jedenfalls fallen, seine Regierung biete ihre volle Unterstützung
zur Erwerbung eines breiten Gürtels durch Afrika von Meer zu Meer.112
Bei diesen Besprechungen mit dem Kanzler verhehlte Haldane nicht, daß
die vorgeschlagene Verschiebung des Bautempos dem Kabinett wohl nicht
genügen würde; er würde den Verzicht auf Neubauten
während der nächsten Jahre vorziehen. Er ging dem Reichskanzler
gegenüber - dessen ernster Ausgleichswille ihm einen tiefen
Eindruck machte - weiter aus sich heraus als gegenüber dem Kaiser
und betonte seine Sorge, das Abkommen möchte erschwert werden, wenn
ein gesteigerter Schiffsbau folge, der, "ich würde keinen Augenblick sagen
der Schuld, aber der Initiative Deutschlands seinen Anlaß verdanke". Der
Kanzler konnte seine Niedergeschlagenheit nicht verbergen; in seiner
schwerblütigen Weise gestand er Haldane, was die Folge eines
Mißlingens sein werde, sei Schicksalssache. Eine solche resignierte
Formulierung würde Haldane vielleicht fern gelegen haben.
So schied man: viel Freundlichkeit und wachsendes Vertrauen; gewiß noch
viel Entfernung, die aber zu überbrücken war. Auch Haldane
verließ Berlin nicht ohne freudige Hoffnungen.113 Es heißt, daß er beim
Abschied in Berlin erklärte, man würde den Entwurf des
Abkommens in fünf oder sechs Tagen nach seiner Rückkehr
erwarten können.114 Als er am Morgen des 12. Februar in
London eintraf, schrieb er an Freunde im radikalen Lager: "Die Luft ist jetzt klar,
und unsere Aufgabe ist, sie so zu erhalten und die Pflanze im Sonnenschein zum
Wachstum zu bringen... Ich bin nicht sicher, ob die Aufgabe der deutschen
Regierung nicht noch größer als die unsrige ist. Aber Bethmann
Hollweg ist ein sehr großzügiger und guter Mann, und ich habe
Vertrauen zu seinem Geschick. Ein großer Teil des Kampfplatzes
muß noch durchschritten werden, aber er begreift unsere Schwierigkeiten
wie wir die seinigen."115 Selbst [724] die erste
Äußerung Greys war, er sei "immensely impressed",116 und in den nächsten Tagen
stimmte auch Asquith im Unterhause einen hoffnungsvollen Ton an, den
Bethmann Hollweg im Reichstage warm erwiderte.
Dann aber setzte in London der Widerstand, und zwar von zwei Seiten zugleich,
ein. Er kam vor allem von Paris. Auf Greys Mitteilungen sprach Cambon sich
über das Unbehagen in der französischen Öffentlichkeit aus:
wenn Deutschland den Engländern die Hände binde und seine
eigenen freihalten könne, würde es sehr bald in der Lage sein, einem
Kampf mit Frankreich gleichmütig entgegenzusehen. Er nahm sich sogar
heraus, die Rede von Asquith zu beanstanden, da sie in etwas positiveren
Ausdrücken, als er sie durch die Umstände für gerechtfertigt
halte, gefaßt sei (15. Februar).117 Und vermutlich schon bald darauf
erfolgte auch von seiten Poincarés ein kategorischer Einspruch: wo
zwischen Frankreich und England kein geschriebenes Abkommen von
allgemeinem politischem Charakter existiere, würde die Unterschrift
Englands unter ein ähnliches Abkommen mit Deutschland auf einen Schlag
den französisch-englischen Beziehungen ein Ende machen.118
Mit diesem vielleicht entscheidenden Stoß von außen, der ohne
Zweifel im Foreign Office eine starke Resonanz fand, begegnete sich ein
gewichtiges Bedenken der britischen Admiralität. Sie hatte festgestellt,
daß der Haldane übergebene Entwurf der deutschen Novelle, auch
abgesehen von den drei neuen Schiffen, eine ganz bedeutende Erweiterung
enthalte, vor allem hatte sie über die Bedeutung des dritten Geschwaders
und die über dessen Bedürfnisse noch hinausgehende
Verstärkung der Mannschaftsbestände eine ernstere Ansicht
gewonnen. Nachdem der Ministerrat die Vorschläge Haldanes mit diesen
Bedenken erwogen hatte, trugen Grey und Haldane dem deutschen Botschafter
vor allem die Flottensache vor: hier liege die einzige wirkliche Schwierigkeit. Nur
noch eindringlicher ließen sie sich jetzt hören: die deutsche Novelle
würde eine erhebliche Mehrbelastung des englischen Marinebudgets nach
sich ziehen, und dann werde es kaum möglich sein, ein Abkommen von so
weittragender Bedeutung zu treffen und eine neue Ära
deutsch-englischer Beziehungen zu eröffnen. In welchem Maße
hinter dieser einen Schwierigkeit noch jene andere, eben der erregte Einspruch
von Paris, wirksam war und vielleicht den Ausschlag gab, [725] läßt sich
nicht entscheiden. Genug, daß von derjenigen Seite, die man mit Worten
nannte, eine abkühlende Wirkung auch auf die anderen Teile der
Verhandlung übergriff, und der hoffnungsvolle Beginn plötzlich in
einer von Grund aus veränderten Beleuchtung erschien. Metternich glaubte
den Kanzler auch privatim warnen zu müssen: "Es steht um das
Abkommen schlecht, und meine ursprüngliche Befürchtung scheint
sich zu bewahrheiten, daß es an der Flottenvorlage scheitert."119
So war man in Berlin vor einen neuen Entschluß gestellt, und damit trat hier
der Zwiespalt hervor, der bisher verdeckt gelegen hatte.
Kiderlen-Wächter unternahm
zunächst - im Einverständnis mit dem
Kanzler - einen Versuch, Tirpitz zu bewegen, die drei Schiffe fallen zu
lassen, stieß aber bei ihm auf unbedingten Widerstand. Die
Zurückschiebung der Schiffe sei ja gerade von Haldane angeregt und ihm
bewilligt worden. Und was die Schädigung des politischen Abkommens
anging, so ließ diese Sorge Tirpitz völlig kühl, da er sich von
seiner Wirkung wenig oder nichts versprach.120 Der Kaiser aber, von dem Admiral
unverzüglich unterrichtet, nahm die plötzliche Wendung
höchst empfindlich. Er hatte die irrige Vorstellung, diese "Sache sei schon
abgeschlossen" und von Haldane "glatt akzeptiert"; er sah in der
Verhandlungsbasis des 9. Februar das letzte Wort, und in dem Bemühen
der Engländer, sie zu verlassen, ein illoyales Verhalten. Somit zog er sich
auf seine Autorität zurück und erblickte in den englischen
Wünschen nur eine "freche Ingerenz" in das freie Selbstbestimmungsrecht
einer großen Nation seitens einer anderen. Dem Staatssekretär des
Auswärtigen Amtes bedeutete er ungnädig, er sei gewillt, den
marinepolitischen Teil der Verhandlung persönlich, unabhängig in
der Hand zu behalten, "da sie leicht durch zu viel Diplomatie verfahren werden
könne."121
Als die weiteren Nachrichten aus England auf der ganzen Linie einen merkbar
zurückhaltenderen Ton verrieten, stieg die Gereiztheit in Berlin nur noch
höher. In dem Meinungsaustausch der Sachverständigen vermochte
die eine Seite die andere nicht zu überzeugen, vielmehr rief die
Einzelkritik, die in der englischen Admiralität an dem deutschen Entwurf
geübt wurde, neue Verstimmung hervor. Vor allem war der Kaiser durch
die persönliche Enttäuschung beim ersten Hindernis ganz in das
andere Extrem umgeschlagen. Er übte eine in der Sache nicht unberechtigte
Kritik und war jetzt wieder völlig dem Einfluß
der - von vornherein innerlich
widerstrebenden - Marine verfallen. Als er erfuhr, daß die
Engländer gegenüber der deutschen Verstärkung von dem
Plane [726] sprächen, ihre
Flotte durch Heranziehung der Mittelmeerflotte in der Nordsee stärker zu
konzentrieren, geriet er sogar in so hochgradige Erregung, daß er einen
solchen Schritt als Kriegsfall auffassen zu müssen erklärte.122
Auf der andern Seite hatte der Reichskanzler sich zwar auch zu der Auffassung
gewandelt, daß durch die Desavouierung Haldanes die Grundlage der
Verhandlung verschoben sei, aber er sah im englischen Kabinett eine Reihe von
Männern wie Haldane, Morley und Harcourt ernstlich um die Sache
bemüht123 und wollte einen vorzeitigen
Abbruch um jeden Preis vermeiden. Der Kaiser aber hatte schon den Glauben
verloren, er wollte nicht weiter entgegenkommen: "Meine und des deutschen
Volkes Geduld ist zu Ende" (5. März). So war der Zusammenstoß
zwischen dem Kaiser und dem Kanzler unvermeidlich. Da der Kaiser nicht nur
die geschäftliche Abwicklung mit London ungnädig an sich zu
reißen suchte, sondern zugleich halbwegs kriegerische Perspektiven
durchblicken ließ, hielt es der Reichskanzler für geboten, am 6.
März sein Entlassungsgesuch zu unterbreiten.
Der Kaiser verwarf das Gesuch, da er sich von Bethmann Hollweg gar nicht
trennen wollte; er schien sogar unter stärkerem Ansturm von allen Seiten
geneigt, den Zeitpunkt des Baus für alle drei Schiffe offen zu halten,
d. h. sie zunächst fallen zu lassen. Nur ein Rücktrittsgesuch
von Tirpitz führte ihn am 10. März auf die bisherige Position
zurück. Der Kanzler kämpfte bis zur endgültigen
Veröffentlichung der Flottenvorlage (mit der dieses eine Thema der
Aussprache ausschied) um jeden Tag, da er noch immer hoffte, in dem
Meinungsaustausch mit England über die Formel des political
agreement zu einem Ergebnis zu gelangen. Er ließ in London wissen,
daß Formel und Flottenausgaben voneinander abhängige Fragen
seien, und hoffte, daß die erstere voll befriedigen werde.
Darauf teilte Grey am 14. bzw. 16. März ihm den englischen Vorschlag
mit, der einschließlich einer nachträglichen Redaktion nunmehr
lautete: "Da die beiden Mächte beiderseits den Wunsch hegen, Frieden und
Freundschaft untereinander zu sichern, erklärt England, daß es weder
einen unprovozierten Angriff auf Deutschland machen noch an einem solchen
teilnehmen und keine aggressive Politik gegen Deutschland verfolgen wird. Eine
Aggression gegen Deutschland ist nicht Gegenstand und bildet keinen Teil
irgendeines Vertrages, irgendeiner Verständigung oder Kombination, an
denen England gegenwärtig beteiligt ist, [727] und es wird auch nicht
an etwas teilnehmen, was einen derartigen Zweck verfolgt." Damit war die
Neutralität, die den wichtigsten Teil des Entwurfes
Haldane - Bethmann gebildet hatte, beseitigt. Grey gestand offen ein,
ein direktes Neutralitätsabkommen würde unbedingt die
französische Empfindlichkeit reizen; er könne aber nicht soweit
gehen, die Freundschaft mit Frankreich zu gefährden. In dem
innerpolitischen Machtkampf in Berlin war die Entscheidung gefallen. Der
Reichskanzler war einer wachsenden Gegnerschaft unterlegen.124 Der Kaiser hatte besonders
empfindlich eine Wendung Greys genommen, daß er zu der deutschen
Staatsleitung, solange sie in den Händen Bethmann Hollweg ruhe, volles
Vertrauen habe.125
Die englische Formel vom 14. März gab den Deutschen bei weitem nicht
genug, nach der Meinung der Franzosen aber viel zu viel. So lange die
Verhandlungen schwebten, war die Stimmung in Paris immer nervöser
geworden, man wollte weder von einer engeren noch von einer weiteren
englischen Formel etwas wissen. Cambon klagte beweglich, die englische
Regierung möge nicht vergessen, daß sie es mit Leuten zu tun habe,
die äußerst gewandt und verschmitzt seien und die dasselbe Ziel
verfolgten, das sie während der letzten acht Jahre mit größter
Hartnäckigkeit angestrebt hätten, nämlich zwischen England
und Frankreich einen Riß, wenn nicht einen Bruch herbeizuführen.
Ebenso warnte der Botschafter Bertie, ganz im französischen Fahrwasser
schwimmend, daß jede nichtaggressive Formel für die
französische Öffentlichkeit eine unangenehme Überraschung
bedeute, die alle Bande der Freundschaft und des Vertrauens zwischen Frankreich
und England lockern und die englische Handlungsfreiheit in einer für
Frankreich nachteiligen Weise beeinträchtigen werde. Wer diese
Diskussion der deutsch-englischen Formel verfolgte, mochte auf den Gedanken
kommen, daß die Oberinstanz der Entscheidung in Paris läge. Im
Foreign Office war daher die führende Gruppe längst der
Meinung, es sei besser, sobald wie möglich in der Formelfrage eine
entscheidende Absage an Deutschland zu erteilen; aber das Kabinett wollte
höchst ungern den Anschein des Abbruchs erwecken. Schon
fürchtete Nicolson, daß die
englisch-französischen Beziehungen ernstlich unter irgendeinem
Abschluß mit Deutschland leiden würden, und er beschwor Grey, da
Deutschland die Formel vom 14. März so gut wie verworfen habe und mehr
verlange, die Formel wieder zurückzuziehen und jede Erweiterung "dieser
sehr gefährlichen und lästigen Dokumente" zu unterlassen. Auch
Asquith [728] war zweifelhaft
geworden, ob England und Deutschland zu einer Einigung gelangen
würden.126 Noch vergingen einige Wochen der
Spannung, bis auf Grund einer Weisung des Reichskanzlers der deutsche
Botschafter am 10. April die Entscheidung mitteilte, daß die von England
angebotene Formel unzulänglich sei und die Flottennovelle im Reichstag
ihren Lauf nehmen müsse. Wie atmete Nicolson auf, als er den Franzosen
die frohe Botschaft mitteilen konnte! Poincaré äußerte sich
sehr erleichtert, da die Deklaration ein Schlag für die französische
öffentliche Meinung gewesen sein würde.
Unzweifelhaft - denn sie enthüllte damals ihre absolute
Deutschfeindlichkeit immer rückhaltloser.127
Die Kritik der Politik Greys war davon ausgegangen, daß sie sich allzusehr
in ihren Beziehungen zu Deutschland den französischen Interessen
untergeordnet hätte. Es war, als wenn
man - in der Beschäftigung mit diesem zentralen
Problem - es im Kreise umgangen hätte und wieder an den
Ausgangspunkt zurückgelangt wäre.
In den nächsten Wochen entschied es sich, daß Graf Metternich
seinen Posten verlassen würde. Er hatte die Geschäfte in London
übernommen, als sich der große Umschlag gegen Deutschland
vorbereitete, und sie elf Jahre lang mit Pflichttreue, Sachkunde und hohem Mute
geführt, unbekümmert darum, daß seine warnende
Berichterstattung ihn beim Kaiser nur mißliebiger machte. Mochten ihn
Tirpitz und seine Leute als einen gefährlichen Gegner mit ihrem Haß
verfolgen - der aufrechte Mann hatte, ohne viel Dank zu ernten, seinem
Vaterlande große Dienste geleistet.
Zu seinem Nachfolger wurde Herr von Marschall bestimmt, Botschafter in
Konstantinopel seit fast fünfzehn Jahren, und vordem Staatssekretär;
nach Gewicht und Erfahrung der stärkste Mann im deutschen
Außendienst. Schon bei der ersten Nachricht von dieser Besetzung geriet
Poincaré in größte Aufregung: es könne nicht anders
sein, als daß die Deutschen mit dieser Ernennung etwas sehr Großes
bezweckten. Er scheute sich nicht - so sehr hatte sich in diesem zarten
Verhältnis das Schwergewicht
verschoben -, in London eine ernsthafte Beunruhigung für den Fall
anzumelden, daß diese Ernennung die Absicht einer Wiederaufnahme der
Ausgleichsformel bedeute; schon die Veröffentlichung, so harmlos sie auch
in den Absichten der englischen Regierung sein könne, werde gewiß
nicht harmlos in den Absichten Deutschlands sein, und daher in Frankreich die
unheilvollsten Folgen hervorrufen. Es würde unter diesen
Umständen [729] für die
französische Regierung sehr schwer sein, die öffentliche Meinung
aufrechtzuerhalten und der Entente cordiale ihre ganze Wirksamkeit zu
sichern.
Es war eine Mahnung, den Pfad der Tugend nicht wieder zu verlassen, sondern
die Front gegen Deutschland - was auch kommen
möge - als oberstes Gesetz zu ehren.
Das letzte Wort über die Mission Haldanes und das Scheitern des
deutsch-englischen Ausgleichs kann von dem Historiker nicht leicht gesprochen
werden. Wer dazu neigt, die "Schuld" an dem negativen Ausgang auf der einen
Seite zu sehen, darf nicht vergessen, daß auf beiden Seiten die Geister der
Annäherung und der Abstoßung am Werke sind. Eine Formel, die der
Summe des politischen Wollens auf beiden Seiten unparteiisch gerecht
würde, ist vielleicht ebenso schwer zu finden, wie jene Formel, die einen
kriegerischen Zusammenstoß Deutschlands und Englands verhindern sollte.
Selbst der Reichskanzler, der mit so viel Glauben in die Sache hineinging, schied
aus ihr mit dem zweifelvollen Empfinden, daß die Aufgabe innerlich
unlöslich sei.128 Eine verwandte Empfindung mochte
Churchill haben, wenn er nach dem Scheitern schrieb: "Für jedes der
beiden Länder ist es schwierig, sich richtig vorzustellen, wie furchtbar es in
den Augen der andern erscheint. Für Deutschland mit seiner
glänzenden Armee und kriegerischen Bevölkerung, die imstande ist,
ihren vaterländischen Boden gegen jeden der kommen mag, zu halten,
binnen Landes gelegen, mit Straßen und Eisenbahnverbindungen auf jeder
Seite, muß es sicherlich fast unmöglich sein, die Gefühle
richtig zu würdigen, mit denen ein Inselstaat wie Britannien die stolze und
unerbittliche Entwicklung eines Nebenbuhlers in der Seemacht von
höchster Lebensfähigkeit ansieht."129
Es bleibt die Frage zurück, ob die Aufgabe des Ausgleichs wenigstens in
gewissen Grenzen lösbar war und darum zu lösen versucht werden
sollte. Man darf darauf hinweisen, daß die jetzt eingeleitete koloniale
Besprechung tatsächlich mit Erfolg fortgesetzt werden konnte und noch
kurz vor dem Weltkrieg zu einem befriedigenden Ergebnis
führte - aber es steht doch die Tatsache unmittelbar daneben,
daß eine solche koloniale Teilverständigung eben nicht die
Bedeutung gewinnen konnte, entscheidend auf die Gesamtpolitik, auf Krieg und
Frieden, zurückzuwirken. In deutschen Marinekreisen hat man schon nach
kurzer Zeit betont, die Engländer hätten sich doch mit dem neuen
Stadium der Flottenrivalität, wie es von der Flottennovelle geschaffen war,
abgefunden und die Anbahnung besserer Beziehungen zu Deutschland nicht mehr
an die Bedingung einer vorgängigen Flottenverständigung
geknüpft; mit anderen Worten, daß man in England nicht
trotz der deutschen Flotte, sondern wegen ihrer anfange sich zu
[730] bequemen.130 Es ist das die Auffassung, mit der
Tirpitz noch im historischen Rückblick "die
deutsch-englische Entspannung 1912/14" ganz wesentlich auf die deutsche
"Machtbildung zur See" zurückzuführen sucht. Daß diese
Entspannung aber von andern vorübergehenden politischen Konstellationen
abhängig war und mit ihrem Verschwinden auch ihrerseits verschwand,
werden wir noch zu erörtern
haben - genug, daß sie gegenüber einer ernsten Probe der
großen Politik nicht stand hielt. Hier trifft das historische Urteil von
Churchill das Richtige: "Mit jeder Niete, die Tirpitz in seine Kriegsschiffe trieb,
einigte er britisches Denken in weitesten Kreisen des mächtigsten Volkes in
jedem Teile des Imperiums. Die Hämmer, die in Kiel und Wilhelmshaven
dröhnten, schweißten die Verbindung der Nationen, von denen
Deutschland einen Widerstand erfuhr und schließlich
überwältigt wurde." Um nur die eine nächste Wirkung zu
nennen: die im Sommer 1912 eingeleitete Verlegung des englischen
Mittelmeergeschwaders in die Nordsee trug dazu bei, die englische Macht
politisch wie moralisch noch fester an Frankreich zu binden.
Hätte dieser ganze Gang der Entwicklung, den wir von 1904 bis 1914 als
ein immanentes Gesetz der englischen Politik verfolgen können, im
Frühjahr 1912 aufgehalten werden können durch drei Schiffe
weniger und eine Formel, in der die Quadratur des Zirkels gelöst wurde? Es
hält schwer, auf diesen Glauben eine sichere Überzeugung zu bauen.
Es ist ja nicht zu leugnen, daß das
deutsch-englische Verhältnis trotz der weiterwachsenden
Flottenrivalität im Laufe des Jahres 1913, statt sich zu verschärfen,
sich ersichtlich besserte. Das lag aber an den Balkankriegen und der politischen
Haltung, die die beiden Mächte um ihres Interesses willen in dieser Krisis
einnahmen. Als diese Krisis in Serajewo zur Explosion kam und die
unerbittlichen Machtgegensätze Europas zum letzten Durchbruch brachte,
da setzte sich auch der englisch-deutsche Gegensatz, der sich als allen andern
Gegensätzen übergeordnet erwies, mit der Wucht einer
Naturnotwendigkeit durch. Insofern würde also Tirpitz recht behalten
haben? - und doch kommt man nicht um die Erwägung herum,
daß in diesem großen weltgeschichtlichen Zusammenhange, der sich
im Weltkrieg entlud, ein entschlossener deutscher Vorstoß auf dem Wege
der Verständigung die weitausschauendere Politik gewesen wäre.
Man muß es den Engländern überlassen, wenn sie ihr eigenes
Verhalten in den Zusammenhängen der Jahrhunderte betrachten, zu einem
ähnlichen nachdenklichen Urteil über ihre Politik zu gelangen.
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