Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 2: Das Nahen des Weltkrieges
(Forts.)
[683] 2. Der
zweite Zusammenstoß zwischen Deutschland und den
Westmächten
1911 - 1912.
Seit dem Abkommen vom 9. Februar 1909 gab es zwischen den Franzosen und
Deutschen zwei verschiedene Möglichkeiten politischen Zusammenlebens.
Entweder die Franzosen hielten sich an das Marokkoabkommen, eröffneten
auch der deutschen Betätigung die darin vorgesehenen
Möglichkeiten und schalteten damit diesen Brandherd, wie es der Sachlage
entsprach, völlig aus; vielleicht um den Preis, daß die ihnen sichere
Durchdringung Marokkos dadurch etwas verlangsamt wurde, aber dafür mit
der Aussicht, auf diesem Wege eine friedliche Gemeinschaft mit dem Nachbarn,
so wie Bülow sie damals im Reichstag, die Tore weit öffnend,
ankündigte, allmählich herbeizuführen.
Oder aber die Franzosen ließen sich durch militärischen
Übereifer oder durch Eigennutz wirtschaftlicher Interessen verleiten, das
Tempo zu beschleunigen und die Algecirasakte wie das Abkommen zu
durchlöchern und damit die Marokkofrage als ganzes, mit allen ihren in die
großmächtlichen Beziehungen eingreifenden Rückwirkungen
wieder aufzurollen. Denn es ging ja, sobald der Rechtsstand in Marokko von
neuem in Frage gestellt wurde, nicht um das Verhältnis zwischen
Deutschland und Frankreich allein, sondern um den Weltfrieden.
Die Franzosen sollten einen Anlauf nehmen, den ersten Weg zu gehen, um dann
doch nach kurzer Frist den zweiten zu beschreiten.
Man war zunächst auf beiden Seiten, obgleich Reibungen auf dem
abenteuerlichen Schauplatz des Wettbewerbs nicht ausblieben, durchaus
bemüht, loyal zusammenzuarbeiten. Der Minister Pichon erklärte am
23. November 1909 in der Kammer, er zolle der Redlichkeit Anerkennung, mit
der man in Berlin das Abkommen ausführe; es habe sich daraus für
die europäische Lage eine Entspannung ergeben, wozu jeder sich
beglückwünschen dürfe. Der Kaiser war über diese
Erklärung so erfreut, daß er es gegen die Bedenken des
Reichskanzlers durchsetzte, in der Thronrede mit einigen entsprechenden
Sätzen auf die Artigkeit zu antworten.1 Das schien ein guter Anfang, und man
nahm auch auf deutscher Seite einzelne Übergriffe leicht hin, weil man
wußte, daß Pichon [684] fortfuhr, dem
militärischen Vorwärtsdrängen Widerstand zu leisten. Als im
September 1910 der Botschafter Fürst Radolin sein Abberufungsschreiben
überreichte, bestätigte ihm der Präsident der
französischen Republik, wie erfreut er sei, daß die jetzt
glücklicherweise beseitigten marokkanischen Schwierigkeiten nicht mehr
die Länder trennten. Ja, er scherzte, Frankreich müsse eigentlich den
Deutschen dankbar sein, daß sie es davor bewahrt hätten, in ganz
Marokko erobernd einzudringen.
Diese Stimmung schwand, als die Franzosen mit der allgemeinen Leitung ihrer
Außenpolitik infolge der Potsdamer Übereinkunft unzufrieden
wurden, als sie die Leistungsfähigkeit ihrer Bündnisse und Entente
nachprüften und wieder einmal Taten, Vormarsch, Aktivität
verlangten. Diese neue Welle des Tatendranges, aus der Gesamtpolitik
entsprungen und genährt, war es, die dem aktiveren Element der
Marokkomilitärs und Marokkointeressenten das Übergewicht gab.
Das neue Ministerium Monis (1. März 1911), in dem an Stelle Pichons der
bisherige Handelsminister Cruppi das Äußere übernahm, aber
auch Delcassé einen Platz als Marineminister fand, war berufen, eine
kräftigere Tonart anzuschlagen. Von demselben Augenblick an
häuften sich die Nachrichten, daß der Sicherheitszustand in Marokko
einen beunruhigenden, ja bedrohlichen Anschein annehme, und wenn diese
Nachrichten sich auch später als sehr übertrieben erwiesen, es stand
sofort für die Regierung fest, diesen Unruhen mit einer
größeren Tatkraft als bisher zu begegnen, und zu diesem Zwecke
auch den Wortlaut der Verträge von Algeciras und von 1909 im Notfall zu
überschreiten.
Man muß die in London stets als korrekt gebilligten Methoden der
Franzosen als ein Ganzes ansehen. Jeder einzelne Übergriff war an sich
unbedeutend. Die Franzosen hätten die ihnen eigentümlichen Gaben
verleugnen müssen, wenn sie nicht im
Einzelfall - wie etwa in der Festsetzung in
Casablanca - ziemlich plausible Gründe oder Vorwände
dafür hätten anführen können. So dehnten sie sich in der
Schauja "wie ein Ölfleck" aus, ohne daß ein Moment sich finden
ließ, in dem man hätte sagen können, nachdem man das
Vorhergehende hatte geschehen lassen: jetzt, gerade jetzt habt ihr die
Algecirasakte gebrochen.2 Es waren auch nicht die Deutschen
allein, die diese Feststellung machten. Die Spanier klagten schon seit Monaten
unaufhörlich, daß Frankreich immer deutlicher danach strebe, sich
Marokko endgültig, entgegen der Algecirasakte, zu unterwerfen.3
Wo aber für die Franzosen eine Möglichkeit vorgelegen hätte,
mit den Deutschen - im Sinne ihrer vertraglichen
Abmachungen - wirtschaftlich zusammenzuarbeiten, da versagte immer
wieder alle ihre Gewandtheit, und die [685] Dinge blieben in einem
Dickicht von Hindernissen stecken. Selbst da, wo es schon zu gelingen schien,
wie in der von der Société Maroccaine de travaux publics
eingeleiteten Beteiligung der Deutschen an dem Bau kleiner schmalspuriger
Eisenbahnen in Ostmarokko, stand plötzlich alles still. Freilich, gerade in
diesem Fall ist heute erkennbar, daß ein Dritter diesem Plane den Weg
vertrat: der Widerspruch Englands. So sehr man in London aus politischen
Gründen diese deutsch-französische Zusammenarbeit guthieß,
so scharf wandte man sich dagegen, wenn man glaubte, daß englische
wirtschaftliche Interessen darunter Schaden leiden könnten. Schon der erste
Schritt jenes Unternehmens wurde im Foreign Office scharf getadelt als
"flagrantes Beispiel für die von der französischen Regierung
betriebene üble Politik, unter Ausnutzung der freundschaftlichen
Gesinnung unseres Landes mit Deutschland wichtige politische Geschäfte
auf unsere Kosten zu machen".4 Wer also in Paris etwa einen Ausgleich
mit Deutschland suchte, erfuhr sehr bald, daß er auf geschäftliche
Sympathien jenseits des Kanals nicht würde zu rechnen
haben - es gibt doch sehr zu denken, daß gerade in diesem
Eisenbahnfall Kiderlen-Wächter, ohne ganz auf den Grund sehen zu
können, zu dem Ergebnis kam, daß mit den Franzosen nichts
Ernsthaftes anzufangen sei.5
So scheiterten denn auch, aus nicht erkennbaren Gründen, zwei
Ansätze zu einer weiter ausschauenden
deutsch-französischen Arbeit außerhalb Marokkos, das sogenannte
Ngoko-Sangha-Projekt, dessen Arbeitsgebiet in den Grenzstrichen von Kamerun
und Französisch-Kongo lag, und der Plan einer afrikanischen
Überlandbahn, die von Kamerun über
Französisch-Kongo und Belgisch-Kongo nach
Deutsch-Ostafrika führen sollte.6 Auch diese Pläne stießen
jedoch auf unsichtbare Hindernisse, bevor sie die Stufe ernsthafter Verhandlung
erreichten. Die Summe solcher Erfahrungen war es, die in
Kiderlen-Wächter den Entschluß zeitigte: in solcher Weise
können wir uns nicht von den Franzosen auf der Nase herumtanzen lassen.
Denn eben jetzt stellte sich heraus, daß die Franzosen sich nicht mehr
genügen lassen wollten, die Zeit für sich arbeiten zu lassen. Mit dem
Ministerium Monis-Cruppi übernahm die Draufgängerpartei7 die Führung, der das bisherige
Tempo nicht mehr zusagte. Ihre neuen Methoden waren es, die auch die deutsche
Politik nötigen sollten, ihnen eine veränderte Methode
entgegenzusetzen.8
[686] Die Franzosen
beschlossen, zur militärischen Durchdringung des Landes
überzugehen, und der Marsch auf Fez sollte ihnen die Grundlage liefern.9 Nachdem die beunruhigenden
Nachrichten über die gefährdete Lage der Europäer in Fez
unter der sorgsamen Pflege der Pariser Presse einen angemessenen Umfang
erreicht hatten,10 hielt die französische
Regierung die Lage für reif, um zum Handeln überzugehen.
Am 4. April erschien der Botschafter Jules Cambon im Auswärtigen Amte,
um die vorbereitende Ankündigung zu machen, wenn in der bedenklichen
Lage um Fez keine Besserung einträte, so werde es möglicherweise
notwendig sein, Maßnahmen zum Schutze der Europäer zu treffen.
Kiderlen zeigte im ersten Augenblicke eine kühle und kategorische Miene,
doch die deutsche amtliche Antwort vom 7. April war in der Form
entgegenkommend. Aber indem sie eine Besserung in den Nachrichten aus Fez
feststellte, verschwieg sie ihre Vorbehalte nicht: Bedenken gegen zeitweiliges
Besetzen eines weiteren Hafens, Sorge um Durchlöcherung der
Algecirasakte und neue Erregung der öffentlichen Meinung. Sie deutete
zum Schluß den Wunsch an, die Marokkofrage nicht in der Presse, sondern
direkt zwischen den Regierungen zu verhandeln; diese letzte Wendung, die, ohne
das Wort Kompensation auszusprechen, leise an diese Möglichkeit
rührte, wurde von Cambon voll erfaßt.11
Die französische Regierung war aber zunächst weit entfernt, diesem
leichten Winke Gehör zu geben, denn sie hatte gleichzeitig für den
beabsichtigten Marsch nach Fez sich um ganz andere Deckungsmittel
und -methoden gegen Deutschland bemüht. Einige Tage vorher hatte Grey im Unterhause auf eine Frage nach militärischen Verpflichtungen eine
seiner üblichen Auskünfte gegeben, daß solche unbekannten
Verpflichtungen nicht bestünden.12 Vertraulich gestand [687] er nachher, man
würde im Parlament Lärm geschlagen haben, wenn er Worte
gebraucht hätte, die eine solche Möglichkeit offenließen.
Vorsichtigerweise hielt man auch auf englischer Seite darauf, eine
Erklärung, die Cruppi am 6. April über die Beziehungen der beiden
Staaten abgab, vorher einer Prüfung und Einschränkung zu
unterziehen. Der französische Außenminister aber zog ein sehr
pessimistisches Gesicht und sprach sein Bedauern aus, daß Grey ein
unbekanntes Abkommen in Abrede gestellt habe, denn er würde es
vorgezogen haben, "wenn der Verdacht bestehe, daß doch eine
Vereinbarung für mögliche Eventualitäten bestehe".13 Er nahm sogar einen
stürmischen Anlauf, die schmerzliche Lücke auszufüllen.
Die Einleitung bestand darin, daß General Foch den englischen
Militärattaché Fairholme am 8. April aufsuchte und ihm, ohne das
Wort Marokko fallen zu lassen, einen längeren Vortrag über die
deutsche Gefahr (zumal auch für die kleineren Staaten Belgien, Holland,
Schweiz) hielt. Dagegen werde unentbehrlich sein, eine
englisch-französische Verständigung "über die Form, welche
eine gemeinsame Aktion im Falle eines Krieges zwischen Frankreich und
Deutschland nehmen sollte", rechtzeitig auszuarbeiten, nicht auf Kriegsausbruch
zu verschieben. Es handle sich darum, die Mitwirkung der englischen
Expeditionsarmee an der Seite des französischen Heeres bei dem auf der
Linie Namur - Epinal am 13. Mobilmachungstage erwarteten
Zusammenstoß mit dem deutschen Heere
sicherzustellen - bis in das kleinste Detail, bis auf die Stunde und Minute
müsse alles ausgearbeitet werden.14 Das war nichts Geringeres, als die
Forderung einer Militärkonvention. Dem Gespräch der
militärischen Fachmänner gab Cruppi einige Tage später das
politische Gesicht.15 Er erklärte es für beide
Regierungen als geboten - da jeden Augenblick eine Krise hereinbrechen
könnte -, die Frage ihres möglichen Zusammenwirkens "bei
gewissen Eventualitäten" weiter als bisher zu führen. Nicht eine
förmliche Konvention, aber ein Übereinkommen, das zwar die
Regierungen nicht zum Handeln verpflichte, aber doch bestimmen würde,
worin die gemeinsame Aktion im Falle des Zusammenwirkens bestehen solle.
Hinausschieben bis zum Eintritt der Krisis würde eine schlechte Politik
sein, denn "wenn unglücklicherweise der Krieg ausbreche", dürfte er
zu rasch verlaufen, als daß man auf den Abschluß warten
könne. Der Franzose rechnete also bei dem Marsch auf Fez von vornherein
mit der Möglichkeit des Krieges und wollte sich für den Kriegsfall
die Hilfe des englischen Heeres im voraus sichern. Schon die Aussprache der
Militärs hatte in dem Stabe Greys einmütige Zustimmung gefunden.
Als der formelle Antrag Cruppis folgte, erklärte Crowe sogleich, der
französische Gedanke, daß [688] zwischen England und
Frankreich ein engeres Übereinkommen - in welcher Gestalt auch
immer - über die Eventualität eines bewaffneten Konflikts mit
Deutschland wünschenswert sei, verdiene die sorgsamste Erwägung.
Grey behandelte die Angelegenheit, ohne sie dem Kabinett vorzulegen, in einem
kleineren Kreise mit Asquith, Haldane und Morley und schlug vor, sie ganz nach
Analogie der französischen Anfrage vom Januar 1906 zu entscheiden. In
seiner formalistischen Weise fügte er hinzu: "Die militärischen
Sachverständigen haben damals ihre Meinungen ausgetauscht. Was sie
beschlossen haben, habe ich nie
erfahren - die Lage war so, daß die Regierung ganz frei war, nur
daß die Militärs wußten, was sie zu tun hatten, wenn das
Stichwort fiel."16 Wir dürfen danach annehmen,
daß Haldane seinen Generalen die Ermächtigung zu neuen
Besprechungen erteilte, und des weiteren, daß die Minister auch dieses Mal
nicht erfuhren, was die Militärs besprochen hatten. Jedenfalls war die
militärische Fühlung erneuert, als der französische Ministerrat
am 23. April den Marsch nach Fez beschloß. Während es hinter den
Kulissen auf der Linie London - Paris schon leise von Waffen
klirrte, waren in Deutschland nur friedliche Töne zu
hören17 - um so unheimlicher ist die
Vorstellung, die man in diesen Tagen im Foreign Office sich mit
überreizter Phantasie von den schwarzen Plänen des
Störenfrieds Deutschland machte.18
Damit waren die Dinge so weit in Fluß gekommen (auch die Beunruhigung
um Fez hatte entsprechend zugenommen), daß die französische
Regierung die Zeit für gekommen hielt, die Notwendigkeit eines
militärischen Vorgehens amtlich in Berlin anzuzeigen (28. April).
Kiderlen-Wächter gab zur Antwort: er habe volles Vertrauen in die loyalen
Absichten der französischen Regierung, aber bisweilen seien die Ereignisse
stärker als man glaube; falls ihre Truppen in Fez bleiben sollten, so
daß der Sultan nur noch mit Hilfe französischer Bajonette regiere,
würde man ihn nicht mehr als den durch die Algecirasakte eingesetzten
Sultan betrachten können und die Freiheit des Handelns wieder
aufnehmen.19 Er hoffe aufrichtig, gestand er
Cambon, daß alles gut gehen werde, aber wenn [689] das Gegenteil eintrete
und die Besetzung sich unbegrenzt hinziehe, so werde dies das Ende der
Algecirasakte sein. Eine offiziöse Mitteilung in der Norddeutschen
Allgemeinen Zeitung brachte diesen Standpunkt des Abwartens unter
bestimmtem Vorbehalt zur allgemeinen Kenntnis.
Welches deutsche Programm aber verbarg sich hinter dieser Erklärung des
Abwartenwollens? Es lag auf der Hand, daß Kiderlen sich über die
Richtung des von ihm eingeschlagenen Weges klar war, und wenn auch das eine
oder andere Stück dieses Weges umstritten ist, so kann bei einem so
bestimmten und energischen Kopfe über alles Entscheidende in seinem
Wollen kein Zweifel sein.20 Er sagte sich, daß die
Algecirasakte sich mit dem Eintreffen der Franzosen nicht mehr werde halten
lassen, da ein Sultan, der unter den französischen Bajonetten stehe, nicht
mehr die in der Akte vorgesehene Autorität darstelle. Also plante er, wenn
die Franzosen eine Zeitlang in Fez ständen, in freundschaftlicher Weise in
Paris anzufragen, wie lange die Aktion noch dauern werde; wenn sie sich
hinauszögere, werde der Moment eintreten, wo Deutschland erkläre:
die Algecirasakte ist zerrissen, wir nehmen die Freiheit des Handelns
zurück. Kiderlen wollte sich dann aber nicht mit dem bloßen Protest
begnügen, sondern - nach den bisherigen
Erfahrungen - der Verhandlung dadurch einen stärkeren Nachdruck
geben, daß er sich ein Objekt sichere, Schiffe etwa nach Mogador oder
Agadir, Häfen mit fruchtbarem und erzreichem Hinterland sende, um dann
in Ruhe abzuwarten, ob etwa Frankreich aus seinem Kolonialbesitze geeignete
Kompensationen anbiete, für die wir die Häfen verlassen
würden. Seine Absicht war also von vornherein ohne jeden Zweifel: nicht
etwa ein Stück Marokkobesitz (Hafen, Hinterland, Konzessionen) zu
erstreben, sondern eine Kompensation außerhalb Marokkos in der
afrikanischen Kolonialwelt zu suchen. Sein politisches Endziel war
überhaupt, die problematische Marokkostellung aufzugeben und eine
völlige Vereinigung dieser Streitfrage zu schaffen. Daran ändert
nichts, daß er in dem ersten Stadium seiner Aktion mit dem Greifen nach
einem Marokkopfande zu operieren gewillt war (darin lag der Bluff), um das
wirklich erstrebte Ziel zu erreichen. Mochte die französische
öffentliche Meinung es fürchten, die deutsche öffentliche
Meinung es hoffen: er wollte das Scheinziel nicht, und wo seine
Äußerungen sich den Anschein gaben, es zu wollen, ging er auf
Täuschung aus. Sein wirkliches Endziel war ein anderes, ein höheres.
Wenn das Deutsche Reich jetzt endgültig dareinwilligte, daß die
Franzosen den lückenlosen Abschluß ihres riesigen Kolonialreichs
erlangten, das von den Grenzen von Tripolis bis nach Senegambien reichen
würde, dann sollte es sich seine Zustimmung nur durch ein wirkliches
Äquivalent abkaufen [690] lassen.21 Darüber, daß dieser Weg
nicht leicht bis zum Ende zu gehen sei, machte er sich keine Illusionen. Er dachte
zwar nicht an Krieg, aber er verhehlte sich nicht, daß wir einen
befriedigenden Abschluß nur dann erreichen würden, wenn wir bereit
seien, die letzte Konsequenz zu ziehen, d. h. wenn die andern diesen
Eindruck gewönnen. Aber die Drohung war nicht seine eigentliche Karte;
er wollte den Franzosen eine größere Abtretung dadurch erleichtern,
daß sie in die Form eines territorialen Kolonialtausches gekleidet wurde.
Die Preisgabe von Togo deutscherseits sollte die Franzosen für das
"Geschäft" im größeren Sinne gewinnen. Man kann der Politik
Kiderlens nicht ganz gerecht werden, wenn man nicht auch die Fühlung
hinzunimmt, die er inzwischen in Paris auf mehr als einem unterirdischen Wege,
vor allem wohl mit dem Finanzminister Caillaux, genommen hatte. Auf diese
Weise hoffte Kiderlen den ganzen französischen Kongo zu gewinnen,
jedenfalls bis an den belgischen Kongo heran, über dessen Zukunft das
letzte Wort noch nicht gesprochen war. So mochte er in seinen kühnsten
Träumen hoffen, für später eine Verbindung mit
Deutsch-Ostafrika vorzubereiten. Die geschlossene Abrundung des deutschen
Kolonialreiches, die Abstellung eines Mangels, der schwer auf unserer kolonialen
Betätigung lastete, war es, was ihm in weiter Ferne vorschwebte.
Nachdem diese weitausschauenden Ziele nicht erreicht worden sind, vielmehr nur
Teilziele, und auch sie nur vermöge einer Spannung, die in keinem
Verhältnis zu dem Ergebnis stand, wird
man - soweit nachträgliche historische Kritik dazu berechtigt
ist - nach den Fehlerquellen in diesem Programm fragen. Es wäre
falsch, Kiderlen vorzuwerfen, er habe überhaupt nicht mit England
gerechnet;22 er war sich vollständig klar
darüber, daß eine deutsche Niederlassung in Marokko schon wegen
des englischen Widerspruchs nicht möglich sei, und war eben deswegen
dafür, dieses ganze Objekt aufzugeben. Dennoch hat er nicht
genügend mit England gerechnet. Er übersah, daß England
nicht nur durch die formale Marokkoverpflichtung, sondern durch das allgemeine
politische Interesse seiner Weltstellung an Frankreich gebunden war; daß
diese politische Rechnung in Frankreich das zu erhaltende und zu
kräftigende, vor jeder Demütigung und jedem Druck zu bewahrende
Gegengewicht gegen Deutschland in dem ganzen europäischen
Mächtespiel erblickte. An irgendeinem Punkt mußte sich dieser
Gegenspieler erheben. Kiderlen gab sich überhaupt der Täuschung
hin, daß man ein so verwickeltes diplomatisches Machtspiel wie ein
Geschäft - auch mit Hilfe der von ihm bevorzugten geheimen Wege
geschäftlicher Verhandlung - ungestört von der
öffentlichen Meinung Frankreichs und Deutschlands durchführen
könne. Wenn er jedoch im Schlußstadium den vollen Ernst der Lage,
bis zur [691] Drohung hin,
durchblicken lassen mußte, so konnte das nicht geschehen, ohne die tiefen
Leidenschaften der Völker aufzurühren und ohne eine
Rückwirkung auf die Staatengesellschaft hervorzurufen. Die politische
Technik Kiderlens erinnert an diejenige Holsteins, insbesondere an dessen
Feldzug gegen die marokkanische Position der Franzosen von 1904/05. Sein
Ausgangspunkt war ein ganz unzweifelhaft deutsches Recht; die meisterhafte
Einleitung des Spiels, bei der die Franzosen sich immer weiter ins Unrecht
setzten, erregte scheue Bewunderung; es gelang ihm wirklich, in die Hinterhand
des Spieles zu kommen und in einer überlegenen Position zur Forderung
überzugehen. Aber auf dem Höhepunkt der Ausführung setzt,
ähnlich wie in der Politik von 1905, ein Umschlag ein, weil die
Imponderabilien der Weltlage die scharfe Rechnung durchkreuzen, und das
diplomatische Machtspiel, das es nun einmal in seinem letzten Stadium war,
stieß auf Schwierigkeiten, die so nicht vorgesehen waren, aber mehr und
mehr den Verteidiger eines legitimen Rechtsanspruchs ins Unrecht zu setzen
drohten. Gerade wenn man eine
gewisse - auch in dem äußeren Ablauf zu
verfolgende - Verwandtschaft der in den Jahren 1904/05 und 1911
angewandten Methoden zugibt, wird man die Frage zu prüfen haben, die
bei vielen ausländischen, aber auch bei einigen deutschen Kritikern eine
Rolle spielt: unterscheidet sich diese deutsche Methode von denen der anderen,
hat sie in der Tat einen unbequem metallischen, erpresserischen und
friedensstörenden Unterton, der sie ins Unrecht setzen muß und daher
zum Scheitern verurteilt? Ich würde antworten: nicht etwas Ethisches,
sondern etwas rein Dynamisches entscheidet den Umschlag. Wenn es England
gelang, die im Jahre 1902 eingeleitete Politik zum Abschluß zu
führen, in einem Jahrzehnt den riesigen Block Marokko (mit allen seinen
Zukunftsmöglichkeiten) in den französischen Machtbereich zu
wälzen, mit allen Künsten einer skrupellosen Machtpolitik die
Rechtsansprüche der Deutschen mit einer fragwürdigen Abtretung
abzufinden und sie nebenbei mit dem Odium des europäischen
Friedensstörers zu belasten, so ist das Ganze allein aus der seit 1904
vollzogenen Umgruppierung der Mächte zu erklären. Auf diesem
marokkanischen Schauplatz war die (im weitesten Sinne) politische Macht des
Deutschen Reiches nicht so unmittelbar wirksam, daß sie ohne gewagte
diplomatische Methoden die günstigere Kampfstellung der
Westmächte ausgleichen konnte. Kiderlen hatte wohl recht, dem Kaiser
zuzurufen: "Wer im voraus erklärt, daß er nicht fechten will, kann in
der Politik nichts erreichen." Aber war denn letzten Endes das Mehr oder Weniger
der französischen Kompensation am Kongo ein wirkliches
Kriegsmotiv - war die Abgrenzung in kolonialen Bereichen, die noch kaum
ein Deutscher betreten hatte, ein ausreichender Grund, die Wehrpflicht eines
großen Reiches bis zum äußersten anzuspannen? Das war auch
gar nicht gewollt, aber es läßt erkennen, daß das diplomatische
Bluffspiel, das einem unbedingten Kriegswillen auf der Gegenseite begegnen
wird, in seinem Aufbau etwas Künstliches und Fehlerhaftes hat, das nach
dem Ausbruch der Krisis sich immer weniger verdecken läßt.
[692] Diese Betrachtungen
sollen dem letzten Urteil noch nicht vorgreifen. Wer den Fortgang des raffinierten
Annexionsspiels von Frankreich und England verfolgt, wie es im Mai und Juni
fortschreitet, wird vielleicht mit dem Reichskanzler die Frage aufwerfen: welchen
anderen Weg die Deutschen hätten einschlagen sollen?
Während die Franzosen den Marsch auf Fez antraten, waren sie sich voll
bewußt, damit eine von ihnen anerkannte Rechtslage in Frage zu stellen und
eine ernste europäische Krisis heraufzubeschwören. Sie konnten sich
damit beruhigen, daß die Weltlage ihnen nicht ungünstig war.
England ließ überall wissen, daß es das französische
Vorgehen billige, und der russische Verbündete (wenngleich er
geflissentlich ein geringes Marokkointeresse zur Schau trug) gab doch formell
ähnliche Erklärungen ab. Demgegenüber schien der Deutsche
für die Politik, die man bei ihm voraussetzte, wenig Freunde zu besitzen.
Man fand die Haltung der Reichsregierung, auf die verstohlen alle Blicke gerichtet
waren, wohl korrekt, aber beunruhigend korrekt. Die Engländer
rühmten die kluge und besonnene Haltung
Kiderlens23 - solange sie von der Freiheit
des Handelns keinen Gebrauch machte. Aber es war die Frage, ob Deutschland,
wenn es dazu überging, sich seiner Freiheit zu bedienen, nicht ziemlich
allein stehen würde - sein österreichischer Verbündeter
zeigte schon bald nicht geringen Eifer, seine weite Entferntheit von allen
Marokkointeressen zur allgemeinen Kenntnis zu bringen, und Italien lauerte
überhaupt nur auf den Augenblick, wo es aus seinen
Marokko-Tripolis-Verträgen das Recht zu einem Eroberungszug nach einer
anderen Seite ableiten konnte.
So fuhr die französische Regierung - ohne sich allzu großer Sorge
hinzugeben - mit ihren bisherigen Methoden fort. Sie schwieg nach der
deutschen Seite hin; sie hörte ruhig an, daß hier und da von
Kompensationen geredet wurde, aber sie meinte, auch hier die besten
Geschäfte machen zu können, wenn sie den Mund nicht vorzeitig
öffne.
Um diese Zeit begann die von Kiderlen in Paris gesäte Saat aufzugehen.
Um Anfang Mai sprach die Presse plötzlich von der Möglichkeit, die
Deutschen durch Abtretung des französischen Kongo (gegen Verzicht auf
Togo) zu befriedigen, und es hieß, daß der Finanzminister Caillaux
solchen Plänen nicht fernstehe. Gegen Ende des Monats kehrte der Bankier
Ludwig Delbrück mit sehr hoffnungsvollen Nachrichten nach Berlin
zurück; jedenfalls waren gewisse französische Finanzkreise eifrig
darauf aus, solche deutsche Hoffnungen zu pflegen.24 Ob zwischen Kiderlen und Caillaux
noch festere Fäden und verbindlichere Abreden
hin- und herliefen, ist nicht sicher zu erkennen.25
[693] Die Leitung der
französischen Außenpolitik hatte mit jenen Geschäften nichts
zu tun. Um so mehr erinnerte sie sich, als ihre Truppen sich Fez näherten,
der anderen Karte, auf die sie ihr Spiel gesetzt hatte. Um Mitte Mai begann
Cruppi wieder eine verzagte Stimmung durchblicken zu lassen, um den
Engländern von neuem nahezubringen, daß man für gewisse
Eventualitäten doch noch nicht ganz nach Wunsch sichergestellt sei. Seine
Sorge äußerte sich in der Formel: "Wenn sich nur das Einvernehmen
zwischen Frankreich und Rußland und England aktivieren und
augenfälliger machen ließe, so würde die von Deutschland
drohende Gefahr einer Störung des europäischen Friedens
abgewendet werden." Er wollte sich nur in einer möglichst eindrucksvollen
Bündnisrüstung, wenn es sein mußte, an den
Verhandlungstisch setzen und den gefürchteten Partner auf die billigsten
Bedingungen herabdrücken. Sein Traum war "etwas für Deutschland
Sichtbareres und für Frankreich Nützlicheres als die derzeitige
Entente zwischen Frankreich und England". Er kam also am 14. Mai auf seinen
Antrag vom 8. April zurück. Der englische Botschafter empfahl in London
dringend, darauf einzugehen: "Alles Militärische und Maritime sollte
inoffiziell ausgemacht werden, um für den Fall vorzusorgen, daß
britische und französische Streitkräfte zusammenwirken
müssen. Sonst könnten wir in diesen Zeiten der raschen
Beförderung einen Tag zu spät für die Keilerei ankommen und
unsere Interessen bereits geschädigt finden."26 Der Ton ist nicht nur kennzeichnend
für die Gemütsruhe, mit der die Diplomatie auf der Linie
Paris - London auch den kriegerischen Möglichkeiten
entgegensah; er sollte allen denjenigen zu denken geben, die nur von der
Entsendung des "Panther" nach Agadir (sechs Wochen später) den
idyllischen Frieden eines Rokokoschäfertales gestört sahen. Zur
Beruhigung teilte Sir Arthur Nicolson dem Botschafter mit, daß
zwischen den beiderseitigen militärischen Autoritäten eine gewisse
Art von flüchtigem Gespräch stattgefunden habe, aber
Endgültiges scheine nicht niedergelegt zu sein.27 Daß auch damals schon die
lockere Fühlung so weit reichte, daß sie in jedem Augenblick binnen
vierundzwanzig Stunden in eine bis in das Kleinste durchgearbeitete
Militärkonvention verwandelt werden konnte, werden wir binnen kurzem
erfahren.
Während dieser Tage stattete Kaiser Wilhelm II. in London dem neuen König Georg V. aus Anlaß der Einweihung des
Victoria-Denkmals den ersten Staatsbesuch ab. Es ist später der Vorwurf
erhoben worden, der Kaiser habe kein Wort über seine finsteren
Marokkopläne fallen lassen; aber man darf dem
ent- [694] gegenhalten, daß
auch die Engländer nichts von ihrem vertraulichen militärischen
Gespräch mit den Franzosen (über die Deckung des Marsches auf
Fez) verrieten. Im übrigen liegt seitens des Kaisers die positive
Erklärung vor, er habe dem König Georg eine leise Andeutung
über eine Kompensation "vielleicht an der Grenze unseres afrikanischen
Besitzes"28 und auch über die
mögliche Entsendung eines Schiffes gemacht. Dagegen fand mit Grey kein
politisches Gespräch über Marokko statt.29
Am 21. Mai marschierten die Franzosen in Fez ein. "Der erste Akt des
Marokkoschauspiels ist glücklich zu Ende geführt; nun beginnt aber
das zweite und viel gefährlichere
Stadium" - meldete der russische Botschafter in Paris,30 der, wie die russische Politik
überhaupt, der Marokkoangelegenheit aus einer sehr unbeteiligten Ferne
zusah. Grey sprach den Franzosen seinen Glückwunsch zu dem
"großen Erfolg" aus - sehr diplomatisch allerdings zugleich für
den Fall, daß die Franzosen glaubten, nach friedlicher Schlichtung wieder
abziehen zu dürfen.
Jetzt mußte die Auseinandersetzung der Franzosen mit Deutschland
einsetzen. Ein Teil der europäischen Diplomatie war höchst
gespannt, wann die langmütigen Deutschen aus ihrer Rolle des Zuschauers
heraustreten würden. Selbst in London neigte man jetzt der Meinung zu,
daß ein "Gespräch" zwischen Frankreich und Deutschland beginnen
werde.31 Man rechnete auch mit einer
Kompensation für Deutschland und wünschte nur nicht, daß es
ein marokkanischer Hafen sein möchte. Besonders Grey verhehlte sich
nicht im geringsten, daß die Franzosen ihre Stellung ungeheuer
verstärkt hätten, und daß der Bruch der Algecirasakte nicht
mehr geleugnet werden könne. "Wir schlittern schon über sehr
dünnes Eis, indem wir behaupten, daß die Algecirasakte durch all
das, was geschehen ist, nicht berührt wird, und mit jeder Woche, die die
Franzosen in Fez bleiben, wird das Eis dünner werden. Wenn die
Algecirasakte wirklich über Bord geht, wird die Aufteilung Marokkos
zwischen Frankreich und Spanien erfolgen. Ich nehme nicht an, daß es
unmöglich wäre, hierzu Deutschlands Zustimmung zu erlangen; aber
man würde für diese Zustimmung einen Preis bezahlen
müssen: wenn dieser Preis auch nicht notwendigerweise irgend etwas in
Marokko zu sein braucht."32
Es kam darauf an, wie lange die Franzosen ihre Truppen "zur Wiederherstellung
der Ordnung" in Fez stehenlassen würden. Der Reichskanzler hatte
erklärt, man würde zu diesem Zweck gegen einen angemessenen
Zeitraum nichts einwenden; die andere Seite suchte herauszubekommen, was
unter einer an- [695] gemessenen Zeit zu
verstehen sei. War vorher von drei Wochen die Rede, so wurde jetzt auch von vier
Wochen und mehr gesprochen.33 Entscheidend war, ob diese Frist von
den Franzosen benutzt wurde, um den Deutschen einen entsprechenden Preis
für die beginnende Tunifikation von Marokko zu
bieten - um wenigstens eine ernsthafte Unterhaltung zu eröffnen.
Dies geschah nicht. Die Franzosen, die immer in vertraulicher Rücksprache
mit London begriffen waren, konnten nach Berlin das richtige Wort nicht finden;
auch wo sie grundsätzlich einem Angebot nicht aus dem Wege gingen,
blieben sie in der Vorstellung von einer kolonialen Grenzberichtigung stecken;34 die Engländer aber, die das
Ganze der französischen Aktion billigten, aber mit einer deutschen
Kompensation rechneten, vermieden ihrerseits, in Paris zu einem solchen Schritte
anzuregen. So nahmen die Dinge den vorgesehenen Verlauf. Kiderlen
beschloß, mit dem längst erwogenen Mittel einen kräftigeren
Anstoß zu einer Aussprache zu geben. Die zunehmende Aufdeckung des
französischen Programms, die Besetzung des Hafens Larrasch durch die
Spanier (8. Juni) brachten seinen Entschluß zur Reife. Man sagte sich,
daß bei einem normalen Anklopfen doch nur die übliche Antwort zu
erwarten sei, leidenschaftlicher Widerspruch in der französischen und dann
auch in der englischen Presse: "Wir werden, mögen unsere Forderungen
noch so gerecht sein, als die Friedensstörer verschrieen werden und haben,
da niemand einen europäischen Krieg wegen Marokko wünscht, sehr
bald die öffentliche Meinung der ganzen Welt jedenfalls nicht für
uns. Das Ende vom Liede würde sein, daß die so gestörten
Verhandlungen resultatlos verliefen und Frankreich ohne Kompensation das in
Marokko Erreichte behielte."35 Also Anwendung eines
stärkeren Mittels: Entsendung von Schiffen nach Mogador und Agadir, in
deren Hinterland reichliche Erzvorkommen von deutscher Seite entdeckt worden
seien, Vorgehen mit dem vollen Ernste auf der durch die Franzosen
neugeschaffenen Rechtsgrundlage und Mitsichredenlassen, "wenn Frankreich uns
geeignete Kompensationsobjekte in Französisch-Kongo anbieten
sollte".
In diesem Sinne machte Kiderlen am 20./21. Juni dem Botschafter Cambon die
wichtige Eröffnung: ohne erhebliche Kompensation werde die deutsche
Zustimmung nicht zu erlangen sein. Der Botschafter reiste nach Paris
zurück, wo in den nächsten Tagen der Ministerpräsident
Monis durch den bisherigen Finanzminister Caillaux (der schon seit einiger Zeit
mit Kiderlen in einer verborgenen Fühlung wegen der Kompensationsfrage
stand), und der Außenminister [696] Cruppi durch
de Selves abgelöst wurden. Gleichzeitig versicherten sich der
Reichskanzler und der Staatssekretär am 26. Juni der Zustimmung des
Kaisers, der seine Nordlandsreise antrat. Der Kaiser willigte nicht ohne
Widerstreben ein,36 wie er denn stets in der Marokkofrage
sich zurückgehalten hatte. Er verließ Deutschland ohne das volle
Gefühl für die Gewagtheit des Unternehmens37 und war für seine
Person - darin trafen wohl seine eigenen und die Wünsche des
Auswärtigen Amtes
zusammen - zunächst so gut wie ausgeschaltet. Kiderlen hatte das
Spiel allein in der Hand und ging vor, ehe die neue französische Regierung
zu einer amtlichen Äußerung gelangt war.38 Am Nachmittag des 1. Juli 1911 ging
das deutsche Kanonenboot "Panther" (später durch den Kreuzer "Berlin"
ersetzt) vor dem geschlossenen marokkanischen Hafen Agadir vor Anker.
Die Entsendung eines Kriegsschiffes wurde von der einen Seite als ein
Glockenzeichen zur Einleitung eines Meinungsaustausches bezeichnet, von der
andern Seite aber als ein Alarmschuß oder gar ein Kanonenschlag, der die
ganze Welt in Aufruhr brachte. So lebt denn Agadir fort als ein typischer Vorgang
in der sich stets in massiven Methoden übernehmenden deutschen
Vorkriegsdiplomatie. Selbst auf deutscher Seite wird er heute ungünstig
kritisiert.39 Diese Beurteilung trägt aber
viel zu sehr die Züge derer, die alles Interesse daran hatten, den Marsch der
Franzosen auf Fez als die vorhergehende militärische Gewalthandlung
gegen die internationale Rechtslage in Vergessenheit geraten zu lassen
gegenüber dem immerhin nur symbolischen Panthersprung. Zieht man die
Übertreibungen ab, so bleibt doch etwas weniger übrig, als die
Gegenseite aus diesem "Gewaltakt" machte, den selbst der gewiß nicht
deutschfreundliche Iswolski für einen ausgezeichneten Schritt
erklärte. Mit Recht gestand der unbefangene Lord Morley, als ein
Vierteljahr später das italienische Ultimatum an die Türkei erging:
verglichen mit diesem Streich war der "Panther" ein frommes
Lämmchen.40 Wenn aber Sir Edward Grey
damals sagen ließ, es sei wiederum ein echtes
procédé der Deutschen, "was immer sie erreichen wollen,
mit dem Maximum an Mitteln ein voraussichtliches Minimum an Erfolg
durchzusetzen",41 so ließ er dabei nur zweierlei
außer acht: einmal, daß allein die [697] von ihm und seinen
französischen Freunden unternommenen Schritte die Deutschen zur
Anwendung von drastischen Mitteln nötigten, und dann, daß es
allerdings das Leitmotiv der englischen Weltpolitik war, jede deutsche
Kraftanstrengung auf ein Minimum des Erfolges herabzudrücken. Wenn die
deutschen Methoden, was nicht geleugnet werden soll, auch ihre
"gefährliche" Seite hatten, so war das Unternehmen der
Westmächte - im weiteren politischen Sinne waren sie beide
beteiligt - ohne Zweifel auf die Gefahr des Krieges hin gewollt.
Die deutsche Regierung beschränkte sich bei der Notifizierung der
Entsendung des "Panther" amtlich auf das Motiv, die bedrohten deutschen
Interessen und deutschen Untertanen schützen zu wollen. Nur so lange, wie
das Bedürfnis zu diesem Schutze bestehe, werde das Schiff dort verbleiben.
Immerhin ließ die deutsche Diplomatie außeramtlich verlauten,
daß eine Absicht der Festsetzung in Marokko nicht damit
verbunden sei.42 Mit Rücksicht darauf gab Grey
auch den (ebenso wie in Paris) auftauchenden Gedanken auf, das eine oder andere
Schiff nach Agadir zu entsenden - womit er den weiteren friedlichen
Verlauf möglicherweise aus der Hand gegeben haben würde. Die
Stimmung des Foreign Office war, was ja bei der engen Fühlung
mit Frankreich nicht zu verwundern war, von vornherein derart, daß keine
Auskunft der Welt sie befriedigt haben würde.
Sir E. A. Crowe hatte schon bei der ersten Nachricht von der
Entsendung des Panther geurteilt: daß die Deutschen diesen Schritt nicht
getan haben würden, ohne zu erwägen, daß diese Politik zum
Kriege führen könne. Schon nach wenigen Tagen stand für ihn
fest, daß es sich nur um einen neuen Akt der wohlerprobten
Erpressungspolitik handle: "Für den Augenblick ist Frankreich das Opfer.
Aber es ist ganz sicher, daß - welchen Preis es jetzt auch
zahlt - dies Deutschland nicht an baldigen weiteren Erpressungen von
genau derselben Art hindern wird. Diesem Prozeß wird nichts ein Ende
machen, als ein fester Entschluß und die Kraft, nein zu sagen und, wenn
nötig, dafür zu kämpfen. Das ist die wirkliche Lehre, nicht
bloß für Frankreich, sondern auch für uns."43
Das Vorgehen Kiderlens ist getadelt worden, weil er nicht alsbald eine
beruhigende Erklärung über seine Absichten abgegeben hätte.
Wenn die englische Regierung sich später beklagte, daß sie im
Dunkeln gelassen sei, so darf man nicht außer acht lassen (und wenn man
will, kann man auch das tadeln),44 daß Grey absichtlich keine
Frage stellte. Seine Taktik bestand von vornherein [698] darin, der deutschen
Regierung in keiner Weise zu erkennen zu geben, welchen Weg England
einschlagen werde,45 sondern zu schweigen und im
entscheidenden Augenblick auf den Plan zu treten.
Der Augenblick war gekommen, wo Kiderlen in seinem, den Franzosen im
Umriß nicht unbekannten Spiel, die entscheidende Karte der
Kompensationsforderung aufdeckte.46 In dem gereizten Gespräch mit
Cambon am 9. Juli ließ er "rein hypothetisch" die Lösung
durchblicken: "Wir geben in Marokko Carte blanche, würden
dafür aber von Frankreich nicht moralische, sondern reale Kompensationen
auf kolonialem Gebiete verlangen." Darauf Cambon, lebhaft einfallend: "On a
parlé du congo." Kiderlen wies die Anregung nicht von der Hand:
"Wir müßten dann aber erhebliche Ansprüche machen;
vielleicht könnten wir den Franzosen die Sache dadurch erleichtern,
daß man einen Territorialaustausch vornähme, bei dem wir aber den
Löwenanteil haben müssen." Auf Cambons interessierte Frage
ließ er das Wort "Togo" fallen. Der Botschafter, sichtlich erleichtert durch
den Gedanken, daß die Deutschen auf territoriale Forderungen in Marokko
verzichteten, eilte zur Berichterstattung nach Paris. Einen Augenblick schien es,
als ob die Sache glatt verlaufen solle. Der Außenminister de Selves,
gleichfalls durch das Ausscheiden einer Marokkokompensation angenehm
berührt, sprach die Hoffnung aus, daß man zur vollen
Verständigung gelange, und erklärte sich einverstanden, die weitere
Besprechung ohne Teilnahme Spaniens oder anderer Mächte
durchzuführen.47 Als aber Kiderlen am 15. Juli dem
zurückgekehrten Botschafter eröffnete, daß
er - allerdings unter der Voraussetzung, daß Togo in die andere
Waagschale geworfen würde - den ganzen Kongo beanspruche,
wollte dieser auf den Rücken fallen: schon eine teilweise Abtretung des
Kongogebietes würde sehr schwer zu verteidigen sein. War es ein
Mißverständnis oder nur gespielt? Der Franzose stellte sich
überrascht, da er bisher nur an bescheidene Grenzveränderungen
gedacht hätte. Der Deutsche hatte immer auf die Erheblichkeit der
Gegenleistung hingewiesen, jetzt trat er mit der Maximalforderung hervor. Eine
Verständigung schien kaum möglich. Kiderlen stellte sofort fest,
daß man, um zu einem günstigen Resultat zu kommen, jedenfalls
noch sehr kräftig werde auftreten müssen.48 Auf diesen Ton war seine
nächste Besprechung mit Cambon gestellt.
Der 15. Juli hatte die Wendung gebracht. Er wirkte in mehr als einer Richtung als
ein Donnerschlag.
Zunächst war der Kaiser sehr betroffen. Er hatte sich die (ihm wohl zu
optimistisch dargestellte) Sache viel leichter vorgestellt und war schon seit
einigen Tagen sehr ungeduldig geworden, daß die reife Frucht sich nicht
vom [699] Baum schütteln
lasse. Als er jetzt von der Notwendigkeit kräftigen Auftretens hörte,
hatte er den richtigen Eindruck, daß er sofort nach Hause müsse.49 Auch nachdem er die erste Aufregung
überwunden hatte, telegraphierte er von neuem, wenn seine Ratgeber den
bisher verabredeten Rahmen überschritten und ein einer Drohung
gleichkommendes kräftiges Auftreten für geboten hielten,
müsse er sofort zurückkehren. Dagegen hielt Kiderlen an seinem
Programm - den ganzen Kongo zu
beanspruchen - fest. Indem er seinen Entschluß durch ein
Rücktrittsgesuch50 unterstützte, trug er dem
Kanzler vor, "daß wir einen befriedigenden Abschluß nur erreichen
würden, wenn wir bereit seien, die letzten Konsequenzen zu ziehen,
d. h. wenn die andern fühlen und wissen, daß wir es sind."51 Er konnte ihm allerdings nicht
verschweigen, daß er kein anderes Mittel habe: "Wir können nur
durch zähes Verhandeln über die Kompensationsfrage etwas
erreichen; denn das ist das einzige, bei dem wir keine fremde Einmischung zu
gewärtigen haben." Indem sich der
Kanzler - wie er nicht anders
konnte - auf die Seite des Staatssekretärs stellte, gelang es ihm, auch
die Ermächtigung des Kaisers zur Fortsetzung der Verhandlung zu
erlangen.
Viel dramatischer spielten sich die Dinge auf der Gegenseite ab. Die englische
Regierung war von Paris - trotz der verabredeten
Geheimhaltung - über die deutsche Forderung benachrichtigt und um
Hilfe angerufen worden. Sie war insofern in Verlegenheit, als sie gegen eine
für Frankreich tragbare Kongoabtretung nichts einzuwenden gehabt
hätte, einer nicht annehmbaren Forderung aber widerstrebte, weil sie sich
sagte, daß eine solche die Deutschen veranlassen könnte, wieder auf
Marokkoansprüche zurückzugreifen; und wenn man schon in einen
deutschen Handelshafen hier gewilligt hätte, so stieß die bloße
Andeutung auf die beweglichsten Gegenvorstellungen in Paris. So stand man denn
wieder an dem großen Kreuzweg der allgemeinen Politik. Die
Heißsporne im Auswärtigen Amt sahen jetzt klar: "Deutschland
spielt um die höchsten Einsätze. Wenn seine Forderungen entweder
am Kongo oder in Marokko oder in beiden Gebieten bewilligt werden, wird das
endgültig die Unterwerfung Frankreichs bedeuten. Die Niederlage
Frankreichs ist eine für unser Land lebenswichtige Sache. Das Maß
der Kompensationen ist Detail. Letzten Endes kommt es auf den Entschluß
an, ob man eine deutsche Aggression hinnehmen will oder sich ihr mit ganzer
Tatkraft widersetzen und die Folgen auf sich nehmen."52 Den Ausschlag gab eine
persönliche Einwirkung Nicolsons auf [700] den Minister.
"Würde es dahin kommen, daß Frankreich uns mißtraute, so
würde es wahrscheinlich versuchen, sich ohne Rücksicht auf uns mit
Deutschland zu verständigen, während Deutschland, das unser
Zaudern bald entdecken würde, geneigt wäre, weit härtere
Bedingungen aufzuerlegen, als gegenwärtig der Fall sein mag. Auf jeden
Fall würde Frankreich uns niemals verzeihen, daß wir es im Stiche
gelassen hätten, und der ganze Dreiverband würde in die
Brüche gehen. Das würde bedeuten, daß wir ein
triumphierendes Deutschland sowie ein unfreundliches Frankreich und
Rußland hätten und daß unsere Politik seit 1904, das
Gleichgewicht und infolgedessen den Frieden in Europa aufrechtzuerhalten,
gescheitert wäre" (21. Juli).53
Diese aus dem Kern der englischen Weltpolitik fließenden
Erwägungen gaben den Ausschlag. Noch an demselben Tage
eröffnete Grey dem deutschen Botschafter, ernst und sorgenvoll, daß
für ihn, da Deutschland weitgehende und augenscheinlich für
Frankreich unannehmbare Forderungen gestellt habe, die grundsätzliche
Frage nach den deutschen Absichten in Agadir wieder in den Vordergrund
trete - damit sei für England der Zeitpunkt gekommen, wo es in die
deutsch-französischen Verhandlungen hineingezogen zu werden
wünsche. Der Botschafter konnte zunächst nur erklären,
daß Deutschland in Agadir keine anderen Absichten verfolge, als es
seinerzeit angekündigt habe. Grey aber begnügte sich nicht mit der
geschäftlichen Anmeldung seines Willens, von jetzt an mitzureden, er
wartete eine amtliche deutsche Äußerung überhaupt nicht ab,
sondern hielt es für angemessen, seine Stellungnahme in den
nächsten Stunden auf die eindrucksvollste Weise vor aller Welt zu
verkünden.
Das geschah in der kriegerisch gestimmten Rede des Schatzkanzlers Lloyd
George, der bisher der friedlicheren Gruppe des Kabinetts zugerechnet wurde.54 Sie gipfelte in einer Drohung von
würdevoller Feierlichkeit: "Wenn der Friede sich nur aufrechterhalten
ließe durch Aufopferung der großen und wohltätigen Stellung,
die England im Laufe der Jahrhunderte erworben habe; wenn England sich so
behandeln lassen müsse, daß in Fällen, wo vitale Interessen auf
dem Spiele stünden, seine Stimme als unerheblich im Rate der
Völker zur Seite geschoben werde, dann sage er mit Nachdruck: Friede um
jeden Preis würde eine Demütigung sein, die ein großes Land
nicht ertragen könne." - Deutschland war in der Rede mit keinem
Worte genannt, wie man nachher von London aus geltend gemacht hat, und doch
herrschte nirgend in der Welt ein Zweifel darüber, wer getroffen werden
sollte. Wenn es keine Drohung war, so war es eine Warnung schärfster Art:
in dem schwebenden Streitfalle eine Lähmung der französischen
Ausgleichsbereitschaft,55 eine Ermutigung der
französischen [701]
Draufgängerpartei. Aber die Wirkung reichte weit über den
Marokkoschauplatz hinaus. So hoch hatte sich der weltpolitische Gegensatz
Englands zu Deutschland - das Endziel der im Jahre 1904 eingeleiteten
Politik - bisher noch nicht erhoben. Die Völker der Erde hielten den
Atem an.
Man war sich in London auch über diejenigen Konsequenzen klar, die man
sonst so gern vertagte. Schon zwei Tage vorher, am 19. Juli, war der Chef des
Generalstabs Sir Henry Wilson, nach Paris
geeilt - unzweifelhaft auf Anregung Haldanes. Er hatte mit den
militärischen Autoritäten eine Reihe von Besprechungen, die schon
am 20. Juli! - so weit hatten die früheren Aussprachen
vorbereitet! - zum Abschluß einer Militärkonvention
führten.56 Sie entbehrte zwar der formellen
Ratifikation der Regierungen und begann sogar mit dem Satze, daß sie
keinen offiziellen Charakter habe und die Regierungen nicht binden könne.
Aber alles das gehörte zu den spinnewebenen Formeln, mit denen Grey vor
dem Parlamente die Politik der freien Hand deckte. In Wirklichkeit wurden ihre
wechselseitigen Verpflichtungen von keiner Militärkonvention in der
Geschichte übertroffen: Genaue Bestimmung der Expeditionen (6900
Offiziere und 165 000 Mann), ihrer Landung und Ausschiffung, ihrer
Transporte, ihres Aufmarsches und ihrer Verpflegung, um am 16. Tage der
gleichzeitigen Mobilmachung in die Kampfhandlung eintreten zu können.
Es war genau das, was General Foch schon im April 1911 verlangt hatte. Indem
die Engländer ihre ganze Expeditionsarmee, das Rückgrat ihrer
künftigen nationalen Armee, nicht mehr in dem exponierten und
gefährlichen belgischen Aufmarschraum, sondern in völliger
Einordnung in die französischen Operationen, in dem Raume
Busigny - Hirson - Maubeuge aufmarschieren ließen,
verknüpften sie ihr Heer - nach den Bestimmungen, die wesentlich
noch im August 1914 in Kraft
waren - auf Gedeih und Verderb mit dem französischen Heer.
Gewiß, nur für den
Ernstfall - ob dieser eintreten würde, blieb noch eine Sache der
englischen Politik, die ihre Entschlüsse über Krieg und Frieden
anscheinend von dem Maß der deutschen Kompensationen abhängig
machte.
Die deutsche Reichsregierung wurde durch die englische Intervention
genötigt, sich zunächst - bevor sie die französische
Verhandlung fortsetzte - mit dem neuen Gegner auseinanderzusetzen. Sie
tat das in der Weise, daß sie die schwebende geschäftliche
Verhandlung von der Rede Lloyd Georges trennte. Somit beantwortete sie
zunächst am 24. Juli die Eröffnung Greys mit der Erklärung,
sie habe nie daran gedacht, einen Kriegshafen an der marokkanischen Küste
zu bauen, und gedenke überhaupt nur im äußersten Notfall zu
landen. Das seien "Halluzinationen". Statt dessen wies Kiderlen darauf hin,
daß in [702] der
deutsch-französischen Verhandlung der Tatbestand verabredungswidrig
durch ungenaue Nachrichten entstellt sei. Wenn die deutsche Forderung
unannehmbar erscheine, so müsse man bedenken, daß ja auch
Deutschland zu Konzessionen auf kolonialem Gebiet bereit sei. Komme man
nicht zur Einigung, so bleibe immer der Rückzug auf die Algecirasakte und
den status quo ante.
Was aber die Drohrede von Lloyd George anging, die inzwischen in der
englisch-französischen Presse einen Widerhall gefunden hatte, so versagte
Kiderlen es sich, hier gleichfalls öffentlich zu
antworten57 - was kaum ohne weitere
Verschärfung der Lage, ja, vielleicht nicht ohne Kriegsgefahr
möglich gewesen wäre -, sondern beschloß, auf
diplomatischem Wege, hier aber in schärfster Form, vorzugehen. Er hatte
schon dem englischen Botschafter entgegnet: Worte wie "unerträgliche
Demütigung für eine große Nation" könnten mit
demselben Recht von deutscher Seite gebraucht
werden - wenn man so fortfahre, "könne es nur schief gehen".58 So ließ er denn anderntags
durch den Grafen Metternich bei Grey Klage führen über die "an
Drohungen grenzende Warnung", die eine Verständigung mit Frankreich
nicht gefördert habe. "Wenn die englische Regierung die Absicht haben
sollte, die politische Lage einer gewaltsamen Entladung entgegenzuführen,
so konnte sie allerdings kein besseres Mittel wählen als die Rede des
Schatzkanzlers, die so wenig der von ihm für England vindizierten
Würde und Stellung einer Großmacht mit Rücksicht auf uns
Rechnung trug." Als Metternich sich dieses Auftrags am andern Tage entledigte,
nahm Grey die Rede von Lloyd George als maßvoll in Schutz, bezeichnete
aber den Ton der deutschen Mitteilung als derart, daß er seine Regierung
verstimmen müsse. Metternich beharrte darauf, daß, je mehr man uns
drohende Warnungen erteile, wir um so fester auftreten würden.59 Grey glaubte aus dem Tone sogar
schließen zu dürfen, daß er mit der Möglichkeit eines
sofortigen Überfalls durch die deutsche
Flotte - der Kaiser war noch nicht von seiner Nordlandsreise
zurückgekehrt! - rechnen müsse, und veranlaßte das
Marineamt, die atlantische Flotte in den Heimathäfen zu konzentrieren.60 Es lag auf der Hand, daß eine
Steigerung solcher Maßnahmen zu einer unmittelbaren
deutsch-englischen Kriegsgefahr führen konnte. Diese Zuspitzung wurde
dadurch vermieden, [703] daß
Kiderlen - jetzt selbst stärker
beunruhigt - am 27. Juli durch den Grafen Metternich61 eine weitere Eröffnung machen
ließ, die seine Mitteilung vom 24. Juli erläuterte. In
versöhnlichem Tone wurde Grey daran erinnert, daß er von den
deutschen "unmöglichen Forderungen" gesprochen habe, ohne zu wissen,
worin die deutschen Angebote beständen; dann aber wurde ihm nahegelegt,
daß eine weitere abfällige Haltung Englands die schwebende
Besprechung mit Frankreich erschwere, ein wohlwollender Ton einen
wohltätigen Einfluß ausüben würde; man habe selbst
den aufrichtigen Wunsch, alle
deutsch-französischen Reibungsflächen auf kolonialem Gebiete
möglichst verschwinden zu lassen. Unter dem Eindruck dieser
Erklärung setzte der englische Ministerrat noch im letzten Augenblick die
sehr maßvolle Antwort fest, die Asquith im Unterhause erteilte. Sie
umschrieb die englischen Interessen, stellte aber feindliche Absichten in Abrede
und drückte die Hoffnung auf eine friedliche Lösung aus.62 Mit dieser Wendung hing es
vermutlich zusammen, daß die englische Regierung davon absah, einen
Kreuzer nach Agadir zu entsenden, in der richtigen Erwägung, dadurch nur
gefährlichere deutsche Gegenmaßnahmen auszulösen.63
Während die unmittelbaren Gefahren des deutsch-englischen
Zusammenpralls wieder verflogen, blieb die Hauptfrage offen: welche
Rückwirkungen diese Vorgänge auf den Fortgang der
geschäftlichen Verhandlungen zwischen Deutschland und Frankreich haben
würden.
Es konnte nicht anders sein, als daß diese Rückwirkungen sehr
problematisch waren. Die friedliche Ausgleichsgruppe unter Caillaux wurde durch
eine so kräftige Rückendeckung eher gelähmt als
gestützt, und der ihr nahestehende Cambon war "ziemlich entsetzt"
über die Wirkung, die Lloyd Georges Rede auf die französischen
Kolonialchauvinisten hatte.64 Man mußte also mit einer
bedenklichen Versteifung rechnen, um so mehr, als die Franzosen große
Hoffnungen auf die Rückkehr des Kaisers setzten, dessen
grundsätzliche Zurückhaltung in der Marokkofrage nicht unbekannt
war. Diese Rechnung zerstörte man sich freilich selbst wieder, da die
Heißsporne der Presse es sich nicht versagen konnten, mit aufreizenden
Ausfällen gegen "Guillaume le Timide" zur Verständigung
beizutragen.
So fiel es dem Reichskanzler und dem Staatssekretär nicht schwer, die
Zustimmung des von der Nordlandsreise heimkehrenden Kaisers für die
Fort- [704] setzung ihrer Politik in
Swinemünde zu gewinnen (28. Juli). Man war sich darin einig, von dem
ganzen Kongo als Bedingung abzusehen, und sich mit dem
größeren Teile zu begnügen. Der Kaiser, der die ganze Aktion
von vornherein dem Kanzler - und das hieß in Wahrheit dem
Staatssekretär - überlassen hatte, war zwar durch den
englischen Gegenstoß nervös geworden, jedenfalls nicht kriegerisch
gesinnt,65 aber er stellte sich jetzt, wenn auch
ohne große Begeisterung, hinter seine Ratgeber, zum Durchhalten
entschlossen.
Die nächsten Tage erweckten nun allerdings den Eindruck, als ob die
Verständigungsmöglichkeiten, trotz der englischen Begleitmusik,
nach den in der Stille vorbereiteten Rezepten zwischen Berlin und Paris
weitergehen sollten. Auf der einen Seite griff Kiderlen nach allen den
dünnen Fäden, die er unter den Friedensfreunden in Paris
geknüpft hatte;66 auf der andern Seite zeigte sich der
Ministerpräsident Caillaux, der über die Kriegsaussichten
Frankreichs skeptischer dachte, bereit, einen Ausgleich mit Hilfe eines für
Deutschland vorteilhaften Gebietsaustausches und finanzieller Abmachungen zu
versuchen. Jedenfalls legte Cambon in den ersten Tagen des August ein Angebot
vor (Stück des mittleren Kongo mit Zugang zum Kongo), das Kiderlen als
Ausgangspunkt der weiteren Verhandlung annehmbar erschien.67 Noch am 3. August
äußerte sich Caillaux befriedigt über den Fortgang, da in der
deutschen Haltung ein Wandel eingetreten sei.68 Schon glaubte die offiziöse
Presse in Berlin eine prinzipielle Einigung ankündigen zu
können.
Aber am Morgen des 4. August stellte sich heraus, daß die beiden
Unterhändler noch weit voneinander entfernt waren: der Franzose konnte
keinen Zugang zum Kongo mehr bieten und Kiderlen war nicht imstande,
über Togo zu verfügen. Indiskretionen und
Mißverständnisse hatten auf beiden Seiten mitgespielt, und auf
einmal hieß es sogar, die Verhandlungen seien abgebrochen. Kiderlen hatte
sich das Endstadium von vornherein als ein Bluffspiel vorgestellt, aber welchen
Umfang dieses gefährliche Spiel mit dem Feuer annehmen würde,
wird auch er nicht vorhergesehen haben. Es ist ja das Eigentümliche dieses
Spieles, daß der Gegenspieler zu denselben Methoden des Bluffens greift,
und [705] schließlich
werden sich Berufene und Unberufene daran beteiligen, und die ganze Welt spielt
mit. Selbst die Verständigungspolitiker verschmähten nicht, mit
ernsten Nachrichten militärischer Art zu bluffen. Aber als die Franzosen die
mögliche Entsendung von Kriegsschiffen in die Debatte warfen, verlangte
Kiderlen, das zurückzunehmen, da er unter dem Druck einer Drohung nicht
verhandeln könne. Von beiden Seiten wurden unterirdische Kanäle
angelegt, die den Zweck verfolgten, ihr Nachrichtenmaterial dem Gegner in die
Hände zu spielen. Kiderlen scheute sich nicht, mit mehr als gewagten
Methoden die Grenzen der Vorsicht unbekümmert zu
überschreiten.69 Gefährlicher als diese
Künste - die dem Intrigenstück vergangener Zeiten
entnommen zu sein scheinen! - war der Ton, in dem ein Teil der
französischen und der deutschen Presse sich an dem diplomatischen
Kampfe zu beteiligen für gut hielt. Das wirkte geradezu lähmend auf
die Unterhandlungen, zumal wenn man
dabei - wie die alldeutsche Presse - mit dem Schlachtruf
"Westmarokko deutsch" gar die eigentlichen Geschäfte des
Auswärtigen Amtes zu besorgen meinte und in einzelnen Organen sogar zu
maßlosen Angriffen gegen den Friedenswillen des Kaisers
überging.70
Mitten in diesem Lärm, der das verborgene und zähe Ringen der
Kabinette begleitete, wirkte der Abbruch der Verhandlungen am 17. August wie
der Auftakt zur kriegerischen Lösung. Die Stille, die plötzlich eintrat,
war vollends beunruhigend. Grey urteilte mit Recht, daß ihm die
unnatürliche Verzögerung nicht gefalle. Er hielt die Stunde für
gekommen, die Russen zu fragen, was sie im Falle von Komplikationen zu tun
gedächten, denn wenn die Verhandlung scheitere, werde das der allgemeine
Krieg sein, dem man entgegengehe, und er könne seine Hoffnung nur auf
den Kaiser setzen, der das alles nicht zulassen werde.
[688a]
Zar Nikolaus II. und Zarin, geführt von Präsident
Loubet,
bei den französischen Manövern 1911.
|
Denn jetzt waren es die Franzosen, die, von allen nachgiebigen Anwandlungen
gründlich erholt, in der durch die Rede von Lloyd George geschaffenen
Weltlage durch ein bestimmtes Auftreten der gesamten Verhandlung ein ganz
anderes Gesicht zu geben versuchten. Am 22. August fand in Paris, unter
Zuziehung des Berliner und des Londoner Botschafters, eine Sitzung des
Gesamtministeriums statt, in der man sich über ein Gebietsangebot einigte,
das den Deutschen als äußerste Grenze des
Entgegenkommens - auf Ja oder [706]
Nein - mitgeteilt werden sollte. Wenn dann Deutschland, im Falle des
Abbruchs der Verhandlung, Truppen lande oder ähnliche Schritte tue, so
war man gewillt, für jeden solchen Fall auch ein Schiff zu entsenden. Aber
man fragte doch zunächst bei der englischen Regierung an, ob sie
nicht - vielleicht neben der Entsendung von
Schiffen - der deutschen Regierung auf eine indirekte Weise beibringen
könne, daß eine Landung oder Machtverstärkung die Dinge
unvermeidlich komplizieren müsse. Man wollte in Paris, bevor man die
neue Methode anwandte, sich mit einer neuen englischen Warnung bewaffnen.
Aber dieses Mal lehnte Grey unbedingt ab, eine so gefährliche moralische
Unterstützung zu leisten. Er sagte, die englische Regierung werde keinen
derartigen Schritt tun, ohne den Versuch einer Konferenz gemacht zu haben. Sei
es, daß er durch die Erfahrung mit der Rede Lloyd Georges darüber
belehrt worden war, daß ein zweiter drohender Vorstoß gegen die
Deutschen gerade den Krieg, den es zu verhindern galt, unvermeidlich machen
würde; sei es, daß die unzureichende Schlagfertigkeit des englischen
Heeres und die geringe Aussicht auf wirksame russische Hilfe überhaupt
zur Vorsicht mahnte:71 er ließ sich dieses Mal von den
Franzosen nicht ins Schlepptau nehmen. Vielmehr ließ er in Paris vor der
Entsendung von Schiffen warnen.72 Mit diesem gefährlichen
Gedanken verschwand auch die ultimative Haltung aus der Fassung des
französischen Angebots.
Denn auch die russische Politik, für die damals das Bedürfnis nach
einer Ruhepause alles andere überwog, war keineswegs gesonnen, die
Franzosen zu einem herausfordernden Vorgehen zu ermutigen.73 Vielmehr trug sie kein Bedenken, das
seit langem schwebende Abkommen mit Deutschland über Vorderasien
gerade jetzt zum Abschluß zu bringen. So sehr man den Franzosen auch das
Festhalten an den Bündnisverpflichtungen versicherte, so deutlich suchte
man ihnen zu machen, daß Rußland zur Zeit über eine
Kriegsbereitschaft nicht verfüge - das war das Ergebnis der
Konferenz der beiden Generalstäbe am 31. August. Ja, man hielt es in
Petersburg für angezeigt, den Tatendrang der Franzosen auch auf
diplomatischem Wege zu dämpfen. Schon am 29. August [707] hatte Iswolski die fast
verletzende Anregung in Paris vorgetragen, die Marokkofrage einem
Schiedsspruch des Kaisers von Österreich zu überlassen.74 Am 1. September ließ die
russische Regierung noch eine weitgehende Erklärung folgen. Sie sei
bestürzt über die Kriegsgefahr; der Umfang der zu leistenden
Abtretungen an Kolonialgebiet könne für Frankreich nicht von
Bedeutung sein, wenn es sich um die Vermeidung eines Krieges handele; ein
Krieg würde eine Gefahr für die neuen liberalen Institutionen sein,
die russische Armee sei noch nicht auf ihrer Höhe. Es ist begreiflich,
daß man in Paris diese eindeutige Mahnung zum
Frieden - mit der Petersburg zugleich für die französische
Zurückhaltung während der bosnischen Krisis höflich
quittierte - sehr verübelte.
Die Weltlage war einer herausfordernden Haltung Frankreichs nicht
günstig.75 So war die Grundlage der
Verhandlung, mit der Cambon am 4. September nach Berlin zurückkehrte,
wesentlich in der Richtung auf den Ausgleich verschoben.76 Zwar betonte Kiderlen, daß die
französischen Garantien in Marokko noch Schwierigkeiten machen
würden. Aber Grey gab doch in Paris den Rat, nachdem die deutsche Seite
einmal im Prinzip das französische Protektorat über Marokko
angenommen habe, die Verhandlungen nicht scheitern zu lassen. Das deutsche
Gegenprojekt vom 8. September verstärkte die Hoffnungen auf Ausgleich.
Zwar erklärte Cambon es nach seiner Prüfung für
unannehmbar, aber er hinterließ doch bei dem englischen Botschafter den
Eindruck, daß die Übereinkunft zustande kommen würde.77 Es kennzeichnete die Lage, daß
auch Aehrenthal, der auf die Fühlung nach beiden Seiten Wert legte, die
Zeit für gekommen hielt, in Paris einen leichten freundschaftlichen Druck
auszuüben.78
Je mehr die Kabinette auf die Einigung zusteuerten, um so hitziger geriet die
öffentliche Meinung auf beiden Seiten noch im letzten Stadium in
Bewegung. Wenn die Kölnische Zeitung auch am 5. September
noch unter der Überschrift "Krieg oder Frieden" schrieb, so erwiesen doch
Börsenpanik und Sparkassensturm, die in den nächsten Tagen an
manchen Stellen Deutschlands erfolgten, daß auch die Anwendung scharfer
Einschüchterung ihre zwei Seiten [708] hatte. Daß der
Gegenstoß der französischen Finanz, die unerwartete
Zurücknahme großer Geldbeträge, damals eine
vorübergehende Wirkung ausübte, ist nicht zu bestreiten; aber es
steht ebenso fest, daß eine entscheidende Einwirkung auf die Haltung der
deutschen Politik von dieser Seite nicht ausgegangen ist.79 Als am 15. September die neuen
Vorschläge der Franzosen einliefen, durfte der Reichskanzler dem Kaiser
vortragen, daß sie in wesentlichen Punkten auf die deutschen
Wünsche eingingen; da es nach Cambons Andeutung noch nicht das letzte
Wort sei, so werde weitere ruhige Beharrlichkeit zum gewünschten
Ergebnis führen, "wenn auch einzelne Modifikationen unserer
Wünsche erforderlich werden dürften".80 Wenige Tage später trug auch
das italienische Ultimatum an die Türkei dazu bei, das politische Interesse
auf einen andern Schauplatz zu lenken. Die Auseinandersetzungen traten in ein
ruhiges Stadium über.
Am 11. Oktober wurde das Marokkoabkommen unterzeichnet, am 14. Oktober
die Begleitbriefe. Am folgenden Tage begann die Spezialverhandlung über
das Kongoabkommen, über das man sich vorher schon grundsätzlich
geeinigt hatte: am 4. November wurde der ganze Vertrag unterzeichnet.
Man konnte die beiden Verträge an sich und zusammengenommen
gewiß sehr scharf kritisieren. Wenn das in mehr als einem Lager in Berlin
mit Unerbittlichkeit geschah, so mußte man doch Notiz davon nehmen,
daß die Urteile in Paris - aus entgegengesetzten
Gründen - ebenso vernichtend lauteten: aber an beiden Stellen nahm
die Volksvertretung die Verträge an. Die Deutschen konnten von ihrer Seite
die Frage aufwerfen, ob die in Marokko verbliebenen und verbrieften
Wirtschaftsgarantien sich auf die Dauer nicht doch als unwirksam herausstellen
würden. Wenn sie aber die für den Verzicht erhaltene Gegengabe
betrachteten, so stellten sie zunächst fest, daß sie hinter dem
ursprünglich Gewollten weit zurückgeblieben sei und statt des
ganzen Kongo nicht einmal den halben umfasse. Denjenigen aber, die zugunsten
der Regierung darauf hinwiesen, daß man immerhin für
12 000 qkm (im Tschadseegebiet) nicht weniger als
275 000 qkm, also ein Gebiet halb so groß wie Frankreich,
erhalten habe, trat eine Opposition entgegen, die die Wertlosigkeit dieses
tropischen Gebietes betonte und seine geographische Gestalt, die
künstlichen schmalen Korridore an den Kongo und den Ubangi, dem Spotte
preisgab. Das letzte Wort über das unfertige Ergebnis hing von den
vorbereiteten Ergänzungen (einer spanischen Enklave) und
überhaupt von dem Fortgang der Bemühungen ab, deren Endziel die
territoriale Zusammenlegung unserer afrikanischen Kolonien [709] zu einem
zusammenhängenden Gebiet sein sollte. Wer aber angesichts des
Kampfpreises, wie er damals erschien - freilich, wieviel Deutsche haben in
den nächsten Jahren überhaupt noch einen Blick in diesen dunklen
Teil Afrikas tun können! -, sich ernsthaft fragte, ob das alle die
Gefährdungen des Weltfriedens wert sei, mochte sehr skeptisch gestimmt
sein. Man kann, wenn man gerecht sein will, nur von den Möglichkeiten
aus urteilen, die man im Rahmen eines weitausschauenden Planes vorbereitet zu
haben glaubte und in den nächsten Jahren auszugestalten fortfuhr.
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