Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
[653] Kapitel 2: Das
Nahen des Weltkrieges
[654=Trennblatt] [655] 1. Politisch geistige Atmosphäre um
1910.
Wer die fünf Jahre von dem Sturze Bülows bis zu dem Ausbruch des
Weltkrieges unter einem beherrschenden Gesichtspunkt zu durchdringen sucht,
läßt sich leicht verführen, sie als die Epoche eines
zwangsläufig abrollenden Schicksals, als die Vorbereitung eines
unabwendbaren Krieges zu deuten. Eine solche Auffassung, so leicht sie sich
scheinbar durch eine Unsumme von Einzelheiten stützen ließe, trifft
einmal nicht für den ganzen Zeitraum zu; auch innerhalb seines Ablaufes
wird es immer wieder Momente der Entspannung geben, in denen der
Silberstreifen einer friedlichen Lösung am Horizonte sichtbar wird. Sie
trifft aber ebensowenig zu für den Gesamtkreis der die große
Verantwortung tragenden Staatsmänner. In diesem Kreise, in dem das
Wesen der Gefahr immer deutlicher erkannt wurde, ist doch eine sehr
differenzierte Stufenleiter der letzten Verhaltungsweisen zu bemerken: sie geht
aus von denen, die ehrlich entschlossen sind, dem drohenden Schicksal sich
entgegenzuwerfen, und führt durch alle Möglichkeiten derer, die
zwar dem kriegerischen Ausgang sich zunächst zu entziehen trachten, aber
mit der Zeit sich an seine Unvermeidbarkeit, oder doch an seine Gegebenheit
unter gewissen Umständen gewöhnen, um, nach der Salvierung des
Gewissens als des letzten Vorbehalts, den Entschluß zu vollziehen, leichten
Herzens oder mit zitternder Hand. Der eindeutige "Kriegswille" dagegen ist in der
Regel auf den militärischen Berufskreis beschränkt, überhaupt
nur in einzelnen Gestalten ungebrochen nachweisbar. Wer das ganze Geschehen
unaufhaltsam ansteigend in diesen fünf Jahren der Katastrophe
zudrängen sieht, darf auch nicht außer acht lassen, daß damals
die dunkle Generalansicht keineswegs dominiert. Gewiß ist die Darstellung,
mit der Fürst Bülow im Sommer 1913 das
fünfundzwanzigjährige Jubiläum der Regierung Kaiser
Wilhelms II. begleitete, bewußt auf eine optimistische Deutung der
Dinge eingestellt; schon daß sie in dem Jahre vor dem Kriege von einem
Staatsmann, der noch ernsthaft mit der Rückkehr in die Staatsleitung
rechnete, geschrieben werden konnte, sollte doch davor warnen, dem verworrenen
Lauf der weltgeschichtlichen Ereignisse einzig und allein die furchtbare
Sinndeutung zu geben: den Niagara hinab!
[656] Mehr und mehr tritt
man in einen Problemkreis ein, der später vornehmlich von dem wilden
Parteigeist der Nationen, welcher nur eindeutige Urteilssprüche kannte oder
wollte, durchwühlt worden ist, also im Grunde von den Gewalten, in denen
sich die Kämpfe der Vorkriegszeit und Kriegszeit fortsetzen und steigern:
indem sie sich aus dieser Quelle ableiten lassen, ist über ihre Bewertung
alles gesagt. Seitdem man in Versailles des Brennus Degen in die Waage der
Gerechtigkeit zu werfen suchte, ist zwar nicht alles Bemühen erloschen, die
Frage nach dem Ursprung des Krieges mit Gewalt zu entscheiden. In ihrer
Mehrheit aber ist die Welt sich darüber einig geworden, daß dieser
angebliche Richterspruch mit historischer Erkenntnis nichts zu tun hat; eine
Position dieses größten Fälschungsversuches in der
Weltgeschichte nach der andern ist verlassen worden; der Rückzug von der
Kriegsschuldthese von 1919 ist unaufhaltsam. Man fängt aber auch an,
allmählich die Beweisverfahren einzustellen, die mit scheinbar
wissenschaftlicher Methode unendlich viele "schuldhafte" Momente zu ermitteln
und aus der Summe solcher Rechtstatsachen ein letztes Urteil, ja sogar eine
Rangordnung des Schuldanteils der Völker, wenn auch mit sehr
verschiedenen Ergebnissen, aufzustellen suchen. Denn man kann sich nicht gegen
die Erkenntnis verschließen, daß ein derartiges
historisch-juristisches Ermittlungsverfahren selbst in den sterilisierten
Händen der Neutralen eine endgültige und allgemeinverbindliche
Entscheidung nicht zu fällen vermag.
Wir sehen uns in diesen Jahren vor dem Weltkriege einer doppelten Tatsache
gegenüber. Einmal einer fortschreitenden objektiven Verschärfung
des Spannungszustandes unter den
Völkern - daneben aber einem wachsenden Sichbewußtwerden
der Gefahr, in den Völkern und bei ihren verantwortlichen Führern,
einer Summe von Bestrebungen, dem Verhängnis zu entgehen. Ein
leidenschaftlicher Zweikampf der den Krieg fördernden und der ihn
hemmenden Triebkräfte ist seinem Ausbruch vorangegangen. Inmitten des
einen Lagers, wo der Zündstoff, der im ungünstigen Augenblick zur
Explosion führen muß, sich immer höher türmt, hat man
vor allem zu unterscheiden: welchen Anteil die Führung der Weltpolitik
durch England, der von ihr aus auf die Gegenseite ausgeübte Druck an
diesem Prozesse hat; welchen Anteil die anderen aktiven und ihre eigenen Ziele
verfolgenden Glieder der Gruppe, in stetem Zusammenspiel untereinander, im
weiteren Verlaufe an sich reißen; und welche Gegenkräfte
schließlich in dem ebenso aktiven, wenn auch bereits in die Defensive
gedrängten Lebenswillen der deutschen Politik entbunden werden.
Entsprechend ist in dem entgegengesetzten Lager, wo die Friedenspalme herrscht,
doch wieder abzuwägen, was positiv geleistet wird, um Friedensworte
durch einen wirklichen Friedenswillen zu ersetzen und diesen Willen zur Tat
werden zu lassen. Solche Untersuchung wird nicht immer scharf scheiden
können, was Friedensmittel und was Kriegsmittel sind. Eine Macht kann
mit drohender Stärke auftreten, um einen notorischen Kriegswillen auf der
anderen Seite einzuschüchtern oder
aus- [657] zulöschen; sie
kann aber mit denselben Mitteln auch eine umgekehrte Wirkung ausüben
auf eine Politik, die von Haus aus mehr friedlich als kriegerisch war und nur
durch diese Form des Dazwischentretens genötigt wird, nach dem Schwerte
zu greifen. Auch der reine Wille derer, die einen Krieg vermeiden wollen, kann
schließlich von den "Umstanden" hinweggeschwemmt werden: von den
traditionellen Geboten der Staatsräson, von dem objektiven Zwang
politischer Situationen, von den Instinkten und Leidenschaften der Tiefe, kurzum
von jener Atmosphäre der Vorkriegszeit, die, selber das Erzeugnis einer
verworrenen Entwicklung, dann doch wieder zu etwas Eigenwüchsigem
wird, dem Schicksal gleich, das man nicht fassen und verantwortlich machen
kann. Vor allem stellt sich heraus, daß unter den Kriegsmotiven
gefährlicher noch als der eingestandene eigene Offensivwille wirken kann
die Sorge vor einem fremden Offensivwillen und das Schreckbild, das
man - mit mehr oder minder Recht - sich davon vortäuscht,
die blasse Furcht vor den Folgen einer friedlichen Entschließung.
Daß in gewissen Situationen in der Politik der Mächte Stimmungen
friedlichen Durchhaltens und Regungen einer
bewußt-unbewußten Kriegsbereitschaft fast
unlösbar - so daß man kaum auf den Grund sehen
kann - ineinander verflochten sind, soll nicht bestritten werden: in der
Regel aber lassen sich die beiden Möglichkeiten doch scharf voneinander
scheiden. Dabei läßt sich immer von neuem feststellen, daß das
weiter und weiter um sich greifende System von Gruppenbildung mit der
Verfeinerung und Durchbildung des politischen Apparates auch zugleich seinen
kriegerischen Sinn auflockert und anregt. Insbesondere werden die kleineren
Völker oder gar die unterirdischen Gewalten halberwachter
Nationalitäten sich viel unbedingter dem offensiven Element in der Politik
der großen Mächte zu eigen geben und deren kühle
Berechnung mit ihrer revolutionären Ursprünglichkeit steigern. Dem
leitenden Staatsmann einer Großmacht kann man auch im tobenden Sturm
auf die Hände sehen, wie sie in die Speichen des Steuerrades
eingreifen - in den Leidenschaften der öffentlichen Meinung sucht
man schließlich vergeblich nach den eigentlichen Verantwortlichkeiten. So
ist nichts schwieriger als die Frage, unter welchen Bedingungen der immanente
Lebenswille der großen Staaten die den Krieg nicht mehr
verschmähende Färbung annimmt, bis er schließlich alle
anderen ethischen Antriebe der Menschen ohne jeden Widerstand in seinen
Strudel hineinreißt.
Der Lebenswille des deutschen Volkes schien in diesen letzten Friedensjahren in
besonderem Maße an die Erhaltung des Friedens in der Welt gebunden zu
sein. Die in dauerndem Steigen begriffene Wohlfahrt, das wachsende
Verhältnis, in dem sie sich in der ganzen Welt entfaltete und verwurzelte,
die zunehmende Gewagtheit dieser weltwirtschaftlichen und weltpolitischen
Anlage der Kräfte, [658] alles bedurfte des
Friedens. Jener wirtschaftlich-soziale Umbildungsprozeß, den wir immer
wieder verfolgt haben, war bis unmittelbar vor dem Kriege in
gleichmäßigem Wachstum begriffen. Die Bevölkerung wurde
im Jahre 1914 auf 67,8 Millionen geschätzt, und noch immer
vermochte die sich weiter industrialisierende Gesamtwirtschaft ihren
Überschuß aufzunehmen; die Auswanderung war seit den achtziger
Jahren immer sichtbarer zurückgegangen, sie betrug in den Jahren vor dem
Weltkrieg nur noch im Durchschnitt 20 000 Menschen.
Ohne stillezustehen war der Prozeß der Industrialisierung vorangeschritten.
Auch die Engländer vermochten mit nüchterner Beobachtung
festzustellen, welche Momente diesen beispiellosen Aufstieg im Verhältnis
zu ihrem alten Vorsprung begünstigten. In den alten Industrien war
Deutschland mit allen Vorteilen einer ganz neuen technischen Ausstattung der
Betriebe und ohne das Hindernis einer traditionellen Organisation
emporgekommen. Dabei hatte es von Anfang an den großen Wert der
Anwendung der Wissenschaft auf die Industrie und die Notwendigkeit ihrer engen
Zusammenarbeit erkannt.1 Der deutsche Handel entwickelte ein
Maß von Anpassung und Beweglichkeit, wie sie dem konservativen
Verhalten seines reicheren englischen Rivalen immer ferngelegen hatte. Wenn der
Wert der Ausfuhr Großbritanniens von 1873 bis 1912 von 7 425 auf
10 713 Millionen Mark gestiegen war, so wuchs er in demselben Zeitraum
in Deutschland von 2 302 auf 10 097 Millionen Mark; aber auf der
langen Linie dieses Wettbewerbes waren beide Völker wechselseitig ihre
besten Kunden geblieben. Der Anteil Deutschlands an der Handelsschiffahrt der
Welt stieg von 7,4% im Jahre 1891 auf 10,1% im Jahre 1911, die Zahlen der
Eisen- und Kohlenproduktion setzten ihren Marsch nach oben ohne
Unterbrechung fort; aus der Wirtschaftsstatistik jedes Jahres strahlte Zuversicht
und Verheißung.
So war der deutsche Volksreichtum in einem springenden Aufstieg begriffen.
Unmittelbar vor dem Weltkrieg wurde er auf 310 Milliarden Mark und
darüber geschätzt,2 er hatte den alten Reichtum
Frankreichs schon überflügelt und blieb nicht mehr
weit - so hatte es wenigstens den Anschein - hinter den Zahlen
Großbritanniens zurück. Die Sparkasseneinlagen zeugten davon, wie
tief die Verbreitung einer gewissen Wohlhabenheit in die mittleren und unteren
Schichten hinabreichte. Früher hatte die auswärtige Kritik mit
Vorliebe von den Hungerlöhnen und der geringen Lebenshaltung des
deutschen Arbeiters gesprochen. Jetzt kamen die englischen Arbeiter in die
deutschen Industriereviere herüber und überzeugten sich zu ihrer
Überraschung davon, daß die tragende Menschenschicht dieser
neudeutschen Industriewelt sich eines menschenwürdigen Daseins in
Wohnung, Kleidung und Ernährung erfreute. Lloyd George konnte sich
nicht genug tun, die heilsame Wirkung der deutschen staatlichen
Versicherungseinrichtungen (die damals noch die Schattenseiten weit
überwog) auf die soziale Lage [659] zu preisen, um
wesentliche Bestandteile in die englische Gesetzgebung zu
übernehmen.
Das ganze Gebäude dieses wilhelminischen Deutschlands hatte aber auch
seine Mängel und Kehrseiten. Sie hingen zum Teil mit der allgemeinen
geistig-sittlichen Haltung des Zeitalters zusammen, mit dem Anwachsen
oberflächlicher Genußsucht, mit der Verweltlichung und
Mechanisierung des Lebens. Sie waren auf deutschem Boden darum um so
sichtbarer, weil hier der Umschwung mit am raschesten erfolgt war und in die
historischen Werte der deutschen Art am rücksichtslosesten eingriff.
Manche lauten Gesten der Überheblichkeit, die durch alle Klassen gingen,
ließen erkennen, daß die innere politische Selbsterziehung der Nation
mit dem äußeren wirtschaftlichen Aufstieg nicht gleichen Schritt
gehalten hatte. Vor allem beunruhigte die Spannung zwischen den
anschwellenden ökonomisch-sozialen Energien,die einen neuen deutschen
Menschentypus schufen, und den politischen Formen, in denen sie einen Anteil an
der Entscheidung über die Lebensaufgaben der Nation fanden. Insbesondere
war man sich auf den Höhen des deutschen Lebens sehr wohl
bewußt, daß die äußere Macht, die dieser arbeitsame
Emporkömmling zu entfalten verstand, nicht eigentlich einen ihr
eigentümlichen Stil des deutschen Lebens als ein wertvolles Gut trug, und
bemühte sich, dem "deutschen Gedanken in der Welt" einen vertiefteren
Inhalt zu geben. Auch die unparteiischen Zuschauer unter den Völkern
waren nicht geneigt, den Deutschen die Gabe zuzubilligen, durch die Geistigkeit
und Beherrschtheit ihrer Machtausübung mit der Tatsache der Macht
auszusöhnen.
Es war nicht eigentlich die imperialistische Form der Betätigung, die der
Lebenswille dieses Reiches angenommen hatte, was Bedenken erregte: sie war in
diesem Zeitalter wohl unvermeidlich, wenn man nicht rettungslos
zurückbleiben wollte. Zwar bekämpfte die deutsche
sozialdemokratische Opposition die Stützen dieses Systems, die
hochgesteigerten Schutzzollmauern, die Last der militärischen und
maritimen Rüstung, und fürchtete vor allem die Verlockung zu
immer weiterem Ausgreifen in der Welt. Aber sie konnte nicht leugnen, daß
der aufsteigende vierte Stand seinen Anteil an den Früchten dieser Politik
hatte - wie einst der englische Arbeiter an dem industriellen Aufstieg in der
Freihandelsära. Ein orthodoxer marxistischer Kopf wie Rosa Luxemburg
mochte sich damit begnügen, den Imperialismus als den politischen
Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem Kampfe um die Reste
des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus zu
definieren und damit zu verurteilen. Aber gerade in den Jahren vor dem
Weltkriege waren vorgeschrittene sozialdemokratische Theoretiker damit
beschäftigt, der deutschen Arbeiterschaft die Notwendigkeit deutscher
Kolonialpolitik und imperialen Wettbewerbs in den Resten dieses "Weltmilieus"
zu erweisen. Es war kaum drei Jahre vor dem Weltkrieg, daß der Sozialist
Gerhard Hildebrand eine Stimme [660] erhob, die damals
zuerst wie eine Überraschung wirkte.3 Nach einem ersten Menschenalter
neudeutscher Kolonialpolitik war das Verständnis für diese Dinge
noch ein Stockwerk tiefer in die Fundamente des deutschen Hauses
hineingewandert, wenn es hier hieß: "Kein Volk, das in seiner eigenen
Entwicklung bedroht oder ungebührlich eingeschränkt wird, braucht
sich um des lieben Friedens willen die allmähliche, im einzelnen oft fast
mörderische Einschnürung seiner wirtschaftlichen
Bewegungsfreiheit widerstandslos gefallen zu lassen. Darum wäre es kein
unsozialistischer Schritt, kein Rückfall in nationalistische Tendenzen, keine
Unterstützung kapitalistischer Sonderinteressen, wenn die Arbeiter der
kolonial benachteiligten Länder Deutschland (und Italien) in der
gegenwärtigen Situation erklären würden: »Wir sind
für den Frieden, aber nur für einen Frieden auf der Grundlage der
Gleichberechtigung. Wir sind es der Zukunft unseres Volkes, der Zukunft unserer
Kinder schuldig, daß wir die koloniale Sicherung der benachteiligten
Volkswirtschaften erstreben und durchsetzen, mögen die Hindernisse so
groß sein, wie sie wollen.«"
Das war noch eine vereinzelte Stimme aus dem sozialdemokratischen Lager, aber
sie öffnete die Tore zu einer Stimmung, die sehr rasch um sich griff. Denn
diese Sozialdemokratie, die als Parteiorganisation im mächtigen Wachsen
blieb, hatte nun einmal ihren Anteil an der Sicherheit, die das starke Reich seinen
Arbeitermassen bot, und an dem wirtschaftlichen Aufschwung, der, von dem
Ganzen ausgehend, allen Teilen und insbesondere auch der sozialen Lage der
Arbeiterschaft zugute kam; unausgesprochen gewann sie einen Teil ihres
Selbstbewußtseins auch aus der Zugehörigkeit zu einer der
stärksten wirtschaftlich-politischen Organisationen der Welt. Wohl wandte
sie prinzipiell diesem Staate viel feindlicher den Rücken, als der politische
Sinn der englischen Arbeiterschaft es jemals auf sich genommen hätte; aber
gerade in den Jahren vor dem Kriege sieht man die verschwiegene Sehnsucht nach
einer Politik auf dem Boden des Staates und der nationalen Gemeinschaft immer
lebendiger durchbrechen.4
Die Kehrseiten des wilhelminischen Staates sind nach dem großen
Zusammenbruch in die grellste Beleuchtung getreten, aber man hat keinen Grund
anzunehmen, daß seine innerpolitischen Spannungen nicht auf dem Wege
einer normalen Entwicklung hätten überwunden werden
können. Der Weg, der hier vom März 1890 bis zum August 1914
zurückgelegt wurde, spricht für sich selber. Der Kaiser, mit seiner
beweglichen Mischung sehr rückständiger und sehr moderner
Züge, war doch vor allem ein Repräsentant dieser neudeutschen
Modernisierung des Lebens; er war längst dazu gelangt, die innere
Entwicklung ihren eigenen Lebensgesetzen zu überlassen und
sogar - wie es in der Stunde des Kriegsausbruchs
geschah - die Brücke in das Lager der Arbeiterschaft zu schlagen.
Das [661] eigentliche Problem
des deutschen Staates lag nicht im Innern, trotz der scheinbar weltweiten
Spannungen, sondern im Äußern.
Der kunstvoll verschlungene Interessenbereich dieses Reiches der Mitte war
über seine natürliche Lage weit hinausgewachsen. Als man mit
kolonialen Gründungen begann, hatte man sich unbekümmert gesagt,
daß man sie gegen England nicht werde behaupten können. Jetzt
reihte sich eine schwerwiegende Frage an die andere: ließ sich diese ganze
über die Welt verstreute Kolonialwelt, in der eine solche Summe deutscher
Arbeit und Energie steckte, in einem Kriegsfalle halten? ließ sich die
Handelsschiffahrt, in der ein großer Teil des Volksvermögens
angelegt war, mit allen überseeischen Kapitalanlagen vor der Wegnahme
sichern? konnte der Industrie der Bezug der unentbehrlichen Rohstoffe und der
Absatz ihrer Fabrikate sichergestellt werden? konnte in einem längeren
Kriege überhaupt die Ernährung des deutschen Volkes
gewährleistet werden? Die Antwort mochte nur immer lauten: daß
der Besitz einer starken Flotte die wirksamste Garantie dafür sein
würde, diesen Interessenbereich - der an das Leben der Nation selber
rührte - unter einen ausreichenden Schutz zu stellen. Wenn diese
Flotte so stark sein würde, daß auch die stärkste Seemacht sich
scheuen würde, sie anzugreifen, so sei das Ziel erreicht. Wenn nun aber die
stärkste Seemacht zu einer Politik der Abwehr griff und alle erreichbaren
Mächte der Erde mit der Front gegen Deutschland zusammenschloß,
dann konnte die Einschnürung vorher so weit getrieben werden, daß
der ehrlichste Friedenswille nicht mehr standhielt. In einem solchen Falle, mit
einer unterlegenen Flotte, drohten die ganzen weltwirtschaftlichen und
weltpolitischen Außenpositionen des Reichs, einem Turm zu Babel gleich,
zusammenzustürzen. Als man im Jahre 1879 im Deutschen Reiche zum
Schutzzoll überging, hatten die Nationalökonomen zum erstenmal
die Frage der Ernährung Deutschlands erörtert: bei einem Kriege
nach Osten stehe der Westen, bei einem Kriege nach Westen der Osten offen,
selbst einem Zweifrontenkrieg
(Rußland - Frankreich) gegenüber sei man durch die
englische Zufuhr gedeckt; wenn aber auch
England - so hatte man damals
hinzugefügt - sich zu unseren Feinden geselle, so sei man
überhaupt verloren. Jetzt mußte man auch dieser Möglichkeit
entgegensehen.
Und wenn dieser Abhängigkeit über See immer noch mit Recht
entgegengehalten wurde, daß die eigentliche Kriegsentscheidung doch auf
dem Kontinent erfolge, so war ernsthaft nachzuprüfen, wie neben der
machtvoll angewachsenen Stellung des Deutschen Reiches die Treue und die
Leistungsfähigkeit seiner Verbündeten im Dreibund sich entwickelt
hatte. Auch hier ergab sich eine problematische Ansicht der Dinge.
Wir haben zuvor einen Blick zu werfen auf den Kreis der Männer, denen in
diesen Jahren das Geschick des Reiches anvertraut war.
Von dem Kaiser hat kein Geringerer als sein eigener (ältester) Sohn es
ausgesprochen, daß sein Selbstvertrauen unter den Eindrücken der
November- [662] krisis im Jahre 1908
einen Bruch erlitten habe, von dem es sich niemals ganz erholt habe. Seine bis
dahin unverzagte Entschlußfreudigkeit und Willenskraft sei in jenen Tagen
geknickt worden; der Keim zu vielen der Unsicherheiten und Schwankungen im
letzten Jahrzehnt seiner Regierung liege in jenen Tagen; fortan habe er mehr und
mehr die Geschäfte an die verantwortlichen Ratgeber in den Kabinetten
gleiten lassen und die eigne Stimme bis zur völligen Ausschaltung seiner
Meinung zurückgehalten.5 So ausgesprochen war nun dieser
Umschwung nicht. Das Selbstvertrauen des Kaisers war schon in den Jahren vor
der Novemberkrisis - wie wir gesehen
haben - nicht mehr das alte, und er erscheint anderseits sogar in den
Wesenszügen seiner Natur auch später unverändert. Das Neue
ist nur, daß der Kaiser sich in Kundgebungen nach außen hin scharf
zurückhielt; er konnte in England gelegentlich ein Gespräch mit
einem Minister mit der Begründung ablehnen: ich bin ein konstitutioneller
Monarch. Er wünschte um keinen Preis sich in der öffentlichen
Meinung eine neue Blöße zu geben. In seinen Kompetenzen aber
erhob er denselben Anspruch wie früher. Daß der Souverän der
Leiter der äußeren Politik sei, hat er seinem neuen Kanzler schon im
ersten Jahre vorgehalten, und wo die äußere Politik, wie in der
Flottenfrage, sich mit seiner Stellung als oberstem Kriegsherrn berührte, hat
er nur um so unbedingter auf seiner Entscheidung bestanden. In seinen
Randbemerkungen äußert er sich mit
dem - zwischen den Gegensätzen sprunghaft
hin- und hergeworfenen - alten Temperament. Allerdings, die freudige
Unbekümmertheit der Anfänge ist vor dem Ernst der Zeit
gewichen.
Von seinem neuen Ratgeber, dem Reichskanzler v. Bethmann Hollweg, ist mit
Recht gesagt worden, er sei eine der wenigen völlig unangreifbaren
Gestalten in der Vorkriegszeit.6 Aber das deutsche Volk wird bei der
Bewertung des letzten Kanzlers der Kaiserzeit noch nach einem anderen als dem
hier gemeinten ethischen Maßstab suchen. Bethmann Hollweg war zwar
nicht so frei von Ehrgeiz, daß er ein Amt, für dessen eigentliche
Erfordernis er keine Erfahrung mitbrachte, darum abgelehnt hätte; aber er
hat es übernommen aus einer ethischen Verpflichtung. Ja, er trug das
übernommene Amt wie etwas ihm Auferlegtes, in einer stoischen Haltung,
ohne den vollen Glauben an sich selbst. Von dem tatfreudigen und leichtherzigen
Optimismus seines Vorgängers Bülow besaß er nichts, wohl
aber einen stark entwickelten Sinn für Verantwortlichkeit und einen
angeborenen Mangel an Entschlußfreudigkeit. Seine frühere
Laufbahn unterschied ihn von allen seinen Vorgängern. In dem
schicksalsvollen letzten Jahrzehnt hatte er als Verwaltungsbeamter dem Staate
gedient, als Landrat, Regierungspräsident,
Oberpräsident - das Verwalten war immer mehr seine Sache als das
Regieren. Wenn er anfangs erklärte, die äußere Politik liege
ihm fern, er wolle sie eifrig studieren, um sie selber zu leiten, so [663] mochte das wohl
Kopfschütteln erregen.7 Er war "ein schwerer Pflüger",
der jeder Sache auf den Grund ging, und sich nicht für einen Mann des
Glückes hielt. Die englischen Staatsmänner fühlten sich bei
seiner äußeren Erscheinung an Abraham Lincoln erinnert: die
hochragende Gestalt, die sorgenvollen Züge, das ethische Bedürfnis.
Inmitten der europäischen Diplomatie war er beinahe eine fremdartige
Erscheinung; daß auf dem Boden seiner Eigenschaften keine
Weltherrschaftspläne oder Präventivkriegsgedanken gediehen, bedarf
keines Nachweises. Es fehlte dem letzten Kanzler des kaiserlichen Deutschlands
an jeder Dämonie des Willens, die unerträgliche Spannungen zu
sprengen wagt, um eine geschichtliche Ordnung zu schaffen oder zu retten.
Das Gewicht der außenpolitischen Erfahrung Bethmann Hollwegs war nicht
so groß, daß er es dem Kaiser gegenüber mit Erfolg hätte
zur Geltung bringen können, der seit dem Sturze Bülows dem
Auswärtigen Amte gegenüber ein betontes Selbstgefühl zur
Schau trug.8 Zumal in der ersten Zeit ließ er
den Kanzler diese Stimmung fühlen und brachte seinen Willen in einer so
straffen Form zum Ausdruck, daß dieser sich fügte.9 Bei günstiger Gelegenheit
erinnerte er ihn daran, "daß der Leiter der auswärtigen Politik, der
Souverän", nicht im Dunkeln gelassen werden dürfe.10 Man beobachtet in der nächsten
Zeit bei wichtigen Gesprächen mit auswärtigen Staatsmännern
einen peinlichen Mangel an sachlicher Fühlung zwischen Kaiser und
Kanzler.11 Dem Auswärtigen Amt war
längst die Praxis geläufig geworden, den Kaiser zur Erleichterung
des Geschäftsganges aus einer laufenden Verhandlung auszuschalten, und
es hatte [664] sich mehr als einmal
herausgestellt, daß auch eine solche Ausschaltung zu schweren
Mißständen führen konnte. Sie verbot sich, wenn sie politische
Lebensfragen und Entscheidungen von Gewicht berührte.
Das Verhältnis Bethmann Hollwegs zum Kaiser in außenpolitischen
Fragen hing von der Wahl seines nächsten Mitarbeiters ab. Das
Auswärtige Amt war in diesem Augenblick zu arm an
Persönlichkeiten, als daß er nicht einen neuen
Mann - nach längerem Zögern - zum
Staatssekretär berufen hätte, den Gesandten in Bukarest, Herrn von
Kiderlen-Wächter, der vielleicht als der fähigste Kopf des
auswärtigen Dienstes galt. Herr von Kiderlen hatte, seitdem er im Jahre
1898 durch seine unvorsichtige Burschikosität in Ungnade bei
Wilhelm II. gefallen war, fast ein Jahrzehnt auf seinem entlegenen Posten
verbracht; aber er hatte in den letzten Jahren schon mehrfach den Botschafter von
Marschall in Konstantinopel vertreten, auch dem Staatssekretär
während der bosnischen Krisis zur Seite
gestanden - sein Anteil an dem Durchhauen des gordischen Knotens im
März 1909 ließ auf eine kräftige Hand schließen. Erst im
Sommer 1910 gelang es dem Reichskanzler, seine Ernennung
herbeizuführen. Um Ende Juli 1910 trat Kiderlen sein Amt an, um es bis zu
seinem plötzlichen Tode (Ende 1912) zu führen. Das Urteil
über den Mann, der "zu spät kam und allzu früh wieder ging",
ist nicht leicht zu formulieren - eben, weil eine abgeschlossene Leistung
nicht vorliegt. Dieser derbe und schlaue Schwabe verfügte über
manche Gaben: gesunden Menschenverstand, Mangel an Menschenfurcht und
kräftige Nerven. Daß er an Willenskraft und Intelligenz den
Durchschnitt der neuen Generation des Außendienstes überragte, ist
wohl nicht zu bestreiten; aber seiner Kraft waren auch brutale Züge nicht
fremd und seine Erfahrung verschmähte gewagte Mittel nicht. Daß
sein Menschentum ihn hoch über seine Umwelt erhoben hätte, kann
man nicht sagen, und übertriebene Verherrlichung hat nur berechtigten
Einspruch ausgelöst. Aber er erweckte von anderer Seite gewisse
Hoffnungen und kam mit dem Entschluß, das heruntergewirtschaftete
Prestige des Amtes wiederherzustellen.12
Und allerdings, nach den Spannungen und Krisen der letzten Jahre forderte das
ganze System der auswärtigen Beziehungen Deutschlands, der Kreis der
Freunde und der Kreis der Gegner, zu einer tiefgreifenden Nachprüfung der
Fundamente auf.
Der Dreibund war, kurz vor der bosnischen Krisis, in den alten Formen erneuert
worden, aber die Frage war, ob dieses älteste Gebilde in der
europä- [665] ischen
Staatengruppierung noch denselben Sinn besaß, wie in den Zeiten seiner
Begründung.
Schon das Bündnisverhältnis zu Österreich-Ungarn war
augenscheinlich auf dem Wege, seinen Wesensinhalt zu verschieben.
Während der bosnischen Krisis hatten die bismarckorthodoxen
Hamburger Nachrichten die deutsche Politik bekämpft, weil sie,
zumal in ihrem Vorgehen am 21. März 1909, die Grenzlinien der
Bismarckschen Bündnisauslegung überschritten habe; ob diese
Überschreitung aber nicht doch notwendig gewesen war, ob die
Unerschütterlichkeit des Bündnisses in der damaligen Weltlage nicht
vor Europa hätte erwiesen werden müssen, ließ sich nicht
allein durch das Anrufen des Reichsgründers entscheiden. Aber das
Problem selbst blieb bestehen und konnte in jedem Augenblick erneute
Entscheidung erheischen. Noch bei Beginn der bosnischen Krisis hatten die
deutschen Bundesfürsten unter Führung Kaiser Wilhelms II.
dem greisen Kaiser Franz Joseph zur Feier seines sechzigjährigen Regierungsjubiläums einen gemeinsamen Besuch
abgestattet - ein repräsentativer Huldigungsakt, der das
großdeutsche Empfinden an einem vorüberhuschenden Sonnentage
freudig erregte. Historische Erinnerungen mochten zurückspringen zu
jenem Frankfurter Fürstentag von 1863, als derselbe Habsburger noch die
politische Führung dieses selben Fürstenkreises zu
übernehmen versucht hatte. Konnte dem Hause Österreich, auch
nachdem es die Führung in dem kleineren Deutschland an Preußen
abgegeben hatte, mehr als die Nibelungentreue erwiesen werden, die in der Krisis
von 1909 ihren Mann stand? Oder konnte nicht gerade dieses schöne, aber
gefährliche Wort auch ganz andere Bilder deutscher Größe und
Tragik aus der Vergangenheit heraufzaubern? Denn von diesen Nibelungen, die
donauaufwärts in das Land Rüdigers von Pechlarn und weiter in das
Hunnenland zogen, war keiner zurückgekehrt, nur der unsterbliche Ruhm
im Liede war geblieben.
Aber lagen die Probleme des gegenwärtigen
österreichisch-ungarischen Staates noch an dieser
Stelle - war selbst das deutsch-österreichische Bündnis
vornehmlich unter dem Zeichen seiner weitreichenden Verwurzelung im
deutschen Volkstum zu rechtfertigen? Der Staat Franz Josephs empfing seine
europäische Signatur von dem Grade, in dem er seiner inneren
Nationalitätenkämpfe Herr wurde. Ganz Europa verfolgte gespannt,
wie der außenpolitische Gegensatz zu Serbien für die Monarchie zu
einer Frage auch des innenpolitischen Verhältnisses zu ihren serbischen
und kroatischen Untertanen wurde, und damit die Stellung des Slawentums zum
Gesamtstaat überhaupt immer mehr in den Mittelpunkt der Entscheidung
rückte. Indem die Opposition der Tschechen auf dem Boden
Böhmens und Mährens sich verschärfte, war sie zugleich Jahr
für Jahr in den Delegationen zu Vorstößen gegen die
Bündnispolitik der Monarchie übergegangen. Der Führer der
Jungtschechen, Kramarsch, hatte sich schon vor Jahren nicht gescheut, den
Dreibund als ein abgespieltes Luxusklavier zu bezeichnen. Als Kaiser Franz
Joseph sein sechzig- [666] jähriges
Regierungsjubiläum beging, folgten sich auch in Prag die Huldigungen des
Adels, der Staatsbeamten, des Parlamentes. In den Straßen Prags aber gab es
in diesen Tagen - es war der erste Höhepunkt der bosnischen
Krisis! - Barrikadenbau und Straßenkämpfe, wurde das
Standrecht wegen Aufruhrs verkündigt. Es war eine revolutionäre
Demonstration gegen die Balkanpolitik der Monarchie, aber wenn man tiefer auf
den Grund sah, gegen diesen Staat überhaupt, wenigstens gegen das
inner- und außenpolitische Gefüge, in dem seine Existenz seit mehr
als dreißig Jahren gesichert war.
Seit langem hatten die Mächte der Entente an dieser inneren Problematik
der Monarchie mit ihren Hoffnungen und Berechnungen eingesetzt. Der Franzose
Erneste Denis forderte in seiner Böhmischen Geschichte die Schüler
des Comenius auf, wieder zu Soldaten Ziskas zu werden: "Sie werden in diesem
letzten Kampfe alle diejenigen an ihrer Seite haben, die sich vor der brutalen
Gewalt zu beugen weigern und für die Völker das Recht der
Selbstbestimmung verlangen. Die Tschechen sind zu den höchsten Opfern
bereit, um das ruhmvolle Erbe ihrer Helden und Märtyrer
aufrechtzuerhalten, wenn die Stunde des Schicksals schlägt." Das war die
volle Aufnahme des panslawistischen Programms über die Aufteilung
Österreichs in das französische
Denken - die Glocken der französischen Revanche läuteten
schon den festlichen Tag ein, der mit der Zerschlagung der Habsburgischen
Monarchie zu der erhofften Isolierung des Deutschen Reichs führen
würde. Seit der bosnischen Krisis begann das kritische Interesse an der
inneren Entwicklung Österreich-Ungarns auch nach England
hinüberzuspringen - auch hier begann das Verhalten der amtlichen
Politik und die Färbung der öffentlichen Meinung sich wechselseitig
zu durchdringen.
In noch höherem
Grade war die Haltung der Serben und Kroaten im
Königreich Ungarn zu einer Angelegenheit Europas geworden, das den
Agramprozeß mit leidenschaftlichem Anteil verfolgte. Immer allgemeiner
wurde die Überzeugung in der Monarchie, daß es sich in diesen
Kämpfen um Lebensfragen handle, die in letzter Stunde
noch - wenn man nicht der Auflösung anheimfallen
wollte - selbstherrlich gemeistert werden mußten. Schon hatte der
Thronerbe, Erzherzog Franz Ferdinand, sich vollends mit dem Gedanken
durchdrungen, daß eine trialistische Umgliederung der dualistischen
Monarchie erfolgen müsse, wenn man der von den Südslawen
drohenden Gefahr begegnen wolle. An den greisen Kaiser Franz Joseph aber, der
den Dingen ihren Lauf ließ,
trat - wie einst in den Tagen des letzten männlichen Habsburgers,
Kaiser Karls VI., der Prinz Eugen von
Savoyen - der Chef des Generalstabs heran, Freiherr Conrad von
Hoetzendorf, und verlangte als militärischer Berater den
Präventivkrieg gegen Serbien, ja gegen
Italien - ehe es zu spät sei. Er mochte bei einem Eintritt in den Krieg,
der sofort zu einem allgemeinen Kriege werden mußte, schon die innere
Hemmung in der Leistungsfähigkeit
Österreich-Ungarns unterschätzen; aber er täuschte sich
tatsächlich über die Unbedingtheit, mit der [667] ihm der deutsche
Bündnispartner in der gegenwärtigen Weltlage für so
weitausschauende Unternehmungen zur Verfügung stand. Für das
deutsche Interesse kam es entscheidend darauf an, ob solche Konzeption im
Rahmen des Bündnisvertrags und Bündniszwecks angenommen
werden konnte. Wenn der Bundesgenosse, halb durch die innerpolitische
Spannung gelähmt, halb durch sie zur Aktion vorangetrieben, auf einen
Präventivkrieg zusteuerte, dann war auch die Frage des casus
foederis, ganz anders noch als im Jahre 1887/88, in Berlin gestellt. Für
Herrn von Kiderlen stand es nach der Übernahme seines Amtes fest, in
Zukunft eine Überschreitung der deutschen Bündnisverpflichtung
von Wien aus nicht mehr zuzulassen.
Wenn es bisher Tradition der reichsdeutschen Politik gewesen war, sich von den
innerpolitischen Verhältnissen der Nachbarmonarchie nach
Möglichkeit fernzuhalten, so mußte man sich in den nächsten
Jahren allerdings sagen, daß die Vorgänge in Budapest, Prag, ja in
Agram und Trient von wachsender Rückwirkung auf die
Außenpolitik sein konnten. Ja, man
möchte - von heute aus
gesehen - den Gedanken nicht unterdrücken, daß gegen diese
dem weiteren deutschen Volksboden nahegerückten
Schicksalsmöglichkeiten die überseeischen Abenteuer von Agadir
und Angola, Bagdad und Kiautschou in die zweite Linie rücken
mußten.
Auch die zweite Dreibundmacht, Italien, besaß ihre Problematik, aber sie
lag an einer anderen Stelle. Sie bestand geradezu in der Frage, ob und wie lange
noch die Ambitionen, die diesen Staat erfüllten, in der loyalen
Zugehörigkeit zum Dreibunde auf ihre Kosten kamen.
Italien war seit Beginn des Jahrhunderts dazu übergegangen, seine
Verpflichtungen im Dreibunde, an dem es festhielt, zu kombinieren mit
Verabredungen, die es mit Frankreich und England traf. Was ihm am Gewicht der
vollen Großmachtstellung fehlte, suchte es durch die Möglichkeiten
dieses Doppelspiels auszugleichen. Die Mittelmächte nahmen dieses
Verhältnis hin, weil ein formeller Austritt aus dem Dreibund eine
Minderung des Prestige in sich geschlossen haben würde.13 Wohl war im Jahre 1907 der
Dreibund stillschweigend erneuert worden. Aber es gab doch zu denken,
daß es damals unter den deutschen Diplomaten gerade der Botschafter in
Rom, Graf Monts, war, der die Kündigung des Verhältnisses zu
Italien in Anregung brachte, ohne in Berlin oder Wien Gehör zu finden.14
[668] Diese zweideutige
Stellung Italiens im Dreibunde war während der bosnischen Krisis noch
unverkennbarer hervorgetreten. So wenig auch die tatsächliche Macht
Österreich-Ungarns eine Verstärkung erfuhr, die öffentliche
Meinung Italiens ertrug es nicht, in dieser Krisis eine Sache zu vertreten, die auch
nur den Anschein erwecken konnte, die Habsburgische Stellung in der Adria auf
die Dauer zu befestigen; eher wandte sie ihre Sympathien, für die der
damals schon immer wieder gezogene Vergleich zwischen Piemont und Serbien
etwas Unwiderstehliches hatte, dem kampflustigen jungen Nationalstaat der
Serben zu. Daß dieses Südslawentum eines Tages der Rivale an der
Adria werden würde, ließ sich damals noch nicht voraussehen. So
lavierte die amtliche Politik zwischen den Parteien. Wenn sie sich
schließlich demjenigen anschloß, der im Ernstfall der Stärkere
war, so bereitete sie doch schon damals eine nähere Fühlung mit dem
russischen Gegner vor.15
Diese Annäherung erfolgte auf einer Zusammenkunft des Zaren
Nikolaus II. mit dem König Viktor Emanuel in Racconigi
(19. - 20. Oktober 1909). Es war ein Vorstoß der
Dreiverbandspolitik in den Bereich des Dreibundes, der allerdings eine
ungewöhnliche Tragweite annehmen konnte. Denn Italien und
Rußland verpflichteten sich wechselseitig, den status quo auf dem
Balkan aufrechtzuerhalten, für den Fall der Abänderung aber dem
Nationalitätenprinzip, durch normale und friedliche Entwicklung der
Balkanstaaten unter Ausschluß aller fremden Herrschaft, die Vorhand zu
lassen, und sich der Ausdehnung einer dritten Macht auf dem Balkan mit allen,
zunächst diplomatischen Mitteln zu widersetzen. In einem weiteren
Paragraphen gelobte man, in der Meerengenfrage und in Tripolis die Interessen
der anderen mit wohlwollenden Augen zu
betrachten.
[656a]
Zar Nikolaus II. in Racconigi 1909 (Italiens Abschwenken zur
Entente).
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Die Presse der beteiligten Länder legte den Vertrag als eine gegen den
Dreibund und hauptsächlich gegen Österreich gerichtete
Kundgebung aus. Man sprach höhnisch davon, daß jetzt das von Bismarck
erfundene Mittel der Rückversicherung auch von anderer Seite
zur Anwendung gebracht werde. Was es für das Schicksal des Orients
bedeutete, daß jetzt die italienische Adriapolitik mit dem Schlagwort: der
Balkan den Balkanstaaten, verknüpft wurde, wird sich in den
nächsten Jahren herausstellen. Noch bedeutsamer aber war die
Rückwirkung auf die Gruppierung der Mächte. Man hörte aus
russischen Kreisen, daß der Zar nach Italien nicht so sehr als das
Staatsoberhaupt Rußlands als vielmehr als der Vertreter und
Wortführer der Tripleentente gegangen sei.16 Unter diesem Gesichtspunkt gewann
es noch einen besonderen Sinn, daß er den Boden
Österreich-Ungarns umgangen hatte, um nach Racconigi zu gelangen. So
stellte man denn auch in England mit großer Befriedigung fest, daß
Italien in Zukunft der Entente näher stehe als dem Dreibunde; Grey und
Hardinge verschwiegen auch dem serbischen Ministerpräsidenten nicht,
welche [669] günstigen Folgen
sie von der Wendung erwarteten.17 In der Tat schien der Prozeß der
Herauslösung Italiens aus dem Dreibunde weiterzugehen. Die Entente
gewöhnte sich daran, den Italiener auch ferner als Mitglied des Dreibundes
zu betrachten,18 und dieser hütete sich wohl,
den Wert seines Flirts mit dem anderen Lager durch vorzeitige Klärung zu
verringern. Als im April 1910 der deutsche Reichskanzler in Italien erschien,
konnte sich der neue Minister - es war der Marquis di San
Giuliano - sogar nicht genugtun, den Dreibund, und daneben die
freundschaftlichen Beziehungen zu Frankreich und Rußland, als ein
Fundament der italienischen Politik zu bezeichnen. Aber auch der skeptischere
Aehrenthal gewann im September 1910 wieder den Eindruck, daß die
italienische Politik bestrebt sei, sich enger an die beiden verbündeten
Mächte zu halten.
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