Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 1: Das Deutsche Reich
unter Kaiser Wilhelm II. (1890 - 1909) (Forts.)
5. Die Bildung des Dreiverbandes und die bosnische Krisis
(1906 - 1909). (Forts.)
Wir haben den Gang der durch die Annexion Bosniens ausgelösten
europäischen Krisis, die sich ein halbes Jahr hinschleppte, hier zu
unterbrechen, denn schon in ihrem Beginn schob sich eine schwere innerdeutsche
Krisis - die schwerste seit
1890! - in welche Persönlichkeit und Politik des Kaisers verflochten
waren.
Wilhelm II. hatte während seines letzten Aufenthalts in England sich
bemüht, an der Versöhnung der aufgepeitschten öffentlichen
Meinung mitzuarbeiten, aber wiederum, wie in dem
Tweedmouth-Fall, bewiesen, daß gerade er, selber im Innersten von
wechselnden Gefühlen hin und hergerissen, in dieser Auseinandersetzung
keine glückliche Hand hatte. In Gesprächen mit seinem englischen
Gastfreunde, dem Obersten Stuart Wortly, hatte er unter anderem auch seine
wirkliche Haltung im Burenkriege erörtert,62 und dieser glaubte der Sache der
deutsch-englischen Freundschaft ehrlich zu dienen, wenn er die von ihm
aufgezeichneten Gespräche in geschlossener Form, die gleichwohl ihre
Authentizität erkennen ließ, zur Veröffentlichung
brächte. Er übersandte seinen Entwurf dem Kaiser und erbat dessen
Zustimmung - von diesem Einfall eines wohlmeinenden Dilettanten sollten
dann die Ereignisse ins Rollen gebracht werden, die, springflutartig anschwellend,
einen Augenblick an die Kaiserkrone auf dem Haupte Wilhelms II.
rührten.
Niemals hielt der Kaiser sich so korrekt an die konstitutionelle Form wie in
diesem Falle. Er übersandte den englischen Entwurf dem Reichskanzler mit
dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer Durchsicht und mit der Aufforderung,
die zweckmäßigen Veränderungen vorzunehmen, das Ganze
aber geheim und vertraulich ohne das Auswärtige Amt zu erledigen (30.
September).63 Schon formell hielt sich Bülow,
im Seebad mit anderen schwerwiegenden Arbeiten überhäuft, wenig
an die kaiserliche Weisung; er ließ die Sache zunächst den [632] Instanzenweg durch
das Auswärtige Amt zur sorgfältigen Prüfung gehen; statt
persönlich einzugreifen, zeigte er sich schon hier ohne rechtes
Gefühl für die Tragweite einer Angelegenheit, in der jede Nuance
von Gewicht war. Vor allem unterließ er zu erwägen, ob nicht die
einem Interview gleichkommende Form den Kaiser ganz unnötig ohne
ministerielle Bekleidungsstücke erscheinen lasse. So kam es, wie es
kommen mußte. Der zuständige Geheimrat im Auswärtigen
Amt - einerseits durch den Entschluß des Kaisers beeinflußt,
anderseits durch die höhere politische Einsicht des Kanzlers sich gedeckt
fühlend - ließ es dabei bewenden, einiges Tatsächliche
unter Verweis auf andere offiziöse Äußerungen zu
beanstanden; in dieser Form ließ der vorgesetzte Unterstaatssekretär
trotz eines leisen Gefühls von
Unbehaglichkeit - wie vermißt man die scharfe und feste Hand
Holsteins! - die Sache zurückgehen. Der Reichskanzler aber
begnügte sich, auch durch die wenigen kritischen Monita nicht
veranlaßt, sich persönlich in den Fall zu vertiefen, dem Kaiser das
Aktenstück zustimmend zurückzugeben. Alle nachträglichen
geschäftlichen Entschuldigungen wiegen leicht gegenüber der
Tatsache, daß eine Prüfung des Ganzen und seiner Wirkung unter
einem höheren politischen Gesichtspunkt überhaupt nicht
stattgefunden hat.
Als nun der Artikel im Daily Telegraph am 28. Oktober - zur Zeit des
ersten Höhepunktes der bosnischen
Krisis - erschien, rief er in England einen sehr unerfreulichen und in
Deutschland einen niederschmetternden Eindruck hervor. Denn er enthielt trotz
der leise bessernden Hand des Auswärtigen Amtes nicht nur
Übertreibungen und Ungenauigkeiten, wie sie dem Kaiser immer wieder
unterliefen, sondern auch einige eindeutige Mißgriffe und
Ungeschicklichkeiten, die der Politik des Deutschen Reiches schädlich
waren. Im einzelnen, wie in den Mitteilungen, die im Lager der deutschen
Burenfreunde helle Empörung erregten, handelte es sich auch um Dinge, in
denen der Kaiser politisch das Richtige getan und die populäre Kritik das
Falsche gewollt hatte; wenn aber der Kaiser seine überflüssigen
"Militärischen Aphorismen"64 aus dem Beginn des Burenkrieges
erwähnte und sie ohne Grund mit dem Generalstab in Verbindung brachte,
so kränkte er mit einem Schlage das militärische Selbstgefühl
der Engländer und die menschlichen Burensympathien in seinem eigenen
Volke. Daß der Zar sich durch die Indiskretion über die geplante
Intervention im Burenkriege veranlaßt sah, damals dem englischen Vertreter
einen Einblick in den unvorsichtigen Brief des Kaisers mit den
Indienplänen zu gewähren,65 blieb zwar verborgen, aber man ahnte
doch, wie die Folgen aussehen würden. Mehr noch als die Einzelheiten war
es der Gesamteindruck, die Summe der kaiserlichen politischen Denkweise,
wovon eine so unheilvolle Wirkung ausging. Mit einem Male erschien das
unglückliche Interview als ein bezeichnendes Beweisstück für
jenes persönliche Regiment, das in die auswärtige Politik und gerade
in ihre [633] wichtigsten
Lebensfragen, in denen alles auf Takt und einheitliche Linie ankam, verwirrend
eingriff, wie es der peinliche Widerhall aus England zeigte und das
abschätzige Urteil der Welt bestätigte.
Im deutschen Volk brach eine lange zurückgehaltene Kritik elementar
durch. Sie fand in so maßvollen Körperschaften wie dem Deutschen
Bundesrat und einer von so fester Tradition erfüllten Behörde wie
dem Preußischen Staatsministerium einen gemessenen Ausdruck. Im
Reichstage aber kam es zu einer einmütigen Verurteilung bei allen Parteien,
gerade auch bei denen, die von einem streng monarchischem Standpunkt aus der
Volksvertretung das Recht der Kritik an dem Träger der Krone bestritten.
Es war ein beispielloser Vorgang in der
preußisch-deutschen Geschichte, daß die konservative Partei am 6.
November offen aussprach, sie sehe mit Sorge, daß
Äußerungen des Kaisers, gewiß stets von edlen Motiven
ausgehend, nicht selten dazu
beitrügen - zum Teil infolge mißverständlicher
Auslegung - unsere auswärtige Politik in schwierige Lagen zu
bringen. Sie verband damit den ehrfurchtsvollen Wunsch, daß in solchen
Äußerungen künftig eine größere
Zurückhaltung beobachtet werden möge. So aber erklang es, nur in
abgestufter Tonart, in der ganzen öffentlichen Meinung Deutschlands, ja, es
glich den ersten Sturmzeichen einer Volksbewegung,
die - nachdem man lange Zurückhaltung geübt
hatte - sich endlich einmal über etwas aussprechen wollte, was
mancher zu manchen Zeiten empfunden und in sich bewahrt hatte.
Es war im Grunde das Problem, das schon gestellt war seit dem Jahre 1890, als Bismarck
um seine politische Macht kämpfte: das Problem der
Machtverteilung in der Reichsregierung, die Bestimmung des Raumes, den der
persönliche Wille des Monarchen in der Verfassung für sich
beanspruchen konnte. Damals hatte Bismarck noch die Umbildung des Reiches
im autoritären Sinne, im Kampf mit dem Reichstag,
erwogen - der Kaiser aber hatte es vorgezogen, seine Front gegen seinen
höchsten Berater zu nehmen, statt gegen die Macht der Volksvertretung.
Der Gedanke einer Wiederaufnahme des Kampfes gegen die Sozialdemokratie
war dann in den neunziger Jahren aufgetaucht; Ausnahmegesetze politischer und
wirtschaftlicher Natur waren geplant worden, nach wiederholten Anläufen
aber doch nicht zur Durchführung gelangt. Die Krone hatte
schließlich jede Rückkehr zu gesetzgeberischen Maßregeln
aufgegeben - die letzten Endes nur mit Gewalt durchzusetzen
waren, - und war ohne Konflikt mit dem Reichstage ausgekommen. Sie
hatte sich darein gefunden, weil die beiden Faktoren, deren Mitwirkung
unerläßlich gewesen wäre, sich einer solchen Politik versagten.
Sowohl die Bundesfürsten, die auch nach dem Programm Bismarcks die
eigentlichen Träger eines solchen Verfassungsumbaues hätten sein
müssen,66 als
die - zwar [634] nicht
verfassungsmäßig berufene, aber doch praktisch
einflußreiche - hohe Beamtenschaft des Reiches und Preußens
fühlten immer weniger das Bedürfnis, die monarchische
Autorität auf Kosten des Reichstags auf dem Wege schwerer
Verfassungskämpfe zu stärken. So kam es, daß um die Wende
des Jahrhunderts der Gedanke an reaktionäre Experimente und
Staatsstreichpläne verschwand. Die politische Machtverteilung verharrte in
dem bisherigen Zustande.
Dieser verfassungsgeschichtliche Stillstand blieb nicht ohne unerwünschte
Begleiterscheinungen. Zu einer organischen Fortbildung der Reichseinrichtungen,
wie sie die politische Seele Bismarcks immer bewegt hatte, sollte es fortan
überhaupt nicht mehr kommen. Die Entwicklung des Systems der
Reichsfinanzen blieb zumal angesichts der steigenden Forderungen, die durch den
Flottenbau gestellt worden, allzu weit zurück. Jedenfalls schritt sie nicht
mit den Wandlungen in der sozialen und wirtschaftlichen Struktur des Volkes
vorwärts. Vor allem das preußische Problem, die scheinbar so
organische Verzahnung des führenden Gliedstaates in dem
Gesamtkörper des Reiches blieb völlig unverändert. Auf
diesem Beharrungsvermögen beruhte recht eigentlich das zwar
reibungsreiche, aber doch wieder ineinandergreifende Gefüge der doppelten
Maschinerie im Reiche und in Preußen. Die Spannung innerhalb des
preußisch-deutschen Problems war zwar im Wachsen, weil der politische
Geist, der hier und dort herrschte, sich immer mehr voneinander zu entfernen
schien. Man ertrug diese Quelle innerer Hemmungen, weil man im ganzen das
Gefühl hatte, in einer Zeit kräftigen Aufstiegs zu leben, und nicht
durch die Not auf den Weg der Reformen gedrängt wurde. Es waren Jahre
wirtschaftlicher Blüte, alles schien mit der Welle der Ausdehnung zu
gehen, die auch nach außen hin, unter den weltpolitischen Antrieben, die
Zuversicht eines tatkräftigen und erfolgreichen Geschlechtes trug.
Und dazu kam noch ein Anderes. Wer von einer Reform der Reichsverfassung
sprach, rührte an die Person des Monarchen. In dem innern Kerne der
Reichsgewalten, der nicht so einfach und durchsichtig vor den Augen der
Menschen lag, war die Auseinandersetzung mit der Person des Monarchen das
belebende, das aufreizende Motiv des
Alltags - von ihm waren die Reichsorgane zeitweilig mehr in Anspruch
genommen, als von den sachlichen Aufgaben des organisatorischen Aufbaus.
Hinter den Kulissen spielte sich auch ein Stück
preußisch-deutscher Verfassungsgeschichte ab, bei dem der Einsatz nicht
gering war: das war der Kampf zwischen dem Träger der Krone und seinen
vornehmsten Beratern im Reich und in Preußen um den Bereich ihres
politischen Willens. Es lag auf der Hand, daß dieses Ringen sich in viel
größerem Ausmaße auf dem Gebiete der auswärtigen als
der inneren Politik vollzog. Und wenn Wilhelm II. irgendwo das unter
Bismarcks Staatsleitung verlorengegangene Terrain für den Träger
der Krone zurückzuerobern trachtete, so war es dieses Lieblingsgebiet
fürstlicher Prärogative. Die Neigung des Kaisers, persönlich in
die Führung der Außen- [635] politik einzugreifen,
war in der Caprivi-Zeit, als der dunkle Schatten der Bismarckschen Fronde zur
Vorsicht nötigte, kaum bemerkbar gewesen. Während der
Kanzlerschaft Hohenlohes aber sollten die geheimen Zusammenstöße
in den obersten Regionen einen immer größeren Raum einnehmen.
Wir haben gesehen, wie für den Kaiser sein persönlicher
Briefwechsel mit dem Zaren Nikolaus II. gleichsam die erste Brücke
gewesen war, um auf das freie Feld unkontrollierter monarchischer
Willensäußerung zu gelangen - bei jedem Brief muß
man feststellen, wie die Verantwortlichkeit zwischen dem Monarchen und dem
Auswärtigen Amte verteilt war.
Im Auswärtigen Amte war dem Kaiser von Anfang an Baron Holstein als
ein völlig unsichtbarer, aber auch unbedingter Gegner
gegenübergetreten, um mit verzehrender Leidenschaft die Unantastbarkeit
der außenpolitischen Staatsräson, wie sie Bismarck einst nach allen
Seiten hin verteidigt hatte, zu vertreten. Gegen jede Art selbstherrlicher Initiative,
jedes Durchbrechen des Geschäftsganges und jede Form unverantwortlicher
Beratung: gegen eine Staatspraxis, in welcher der Monarch "mit den Kabinetten
gegen die konstitutionellen Organe regiere";67 gegen die militärischen
Unterströmungen, die jetzt nicht mehr, wie in den Zeiten Waldersees, vom
Generalstab, wohl aber von der Marine her sich die Neigungen und Urteile des
Kaisers unterwarfen, und gegen das System der Flügeladjutanten, die jeden
Ball kaiserlicher Laune, manchmal die Wirkung eines Einfalls noch
verstärkend, auffingen und weitergaben.68 Von Hause aus in
altpreußischer Beamtentradition aufgewachsen, hatte Holstein sich aus
Staatsgesinnung zum Anhänger eines modernen Verfassungsregimentes
fortentwickelt;69 er sprach wohl, im Bewußtsein
eines größeren historischen Zusammenhanges, im Namen derer, "die
nicht Lust haben, als Epigonen von Lombard in der Geschichte dazustehen".70 Immer wieder suchte er den alten
Reichskanzler Hohenlohe fest zu machen gegen kaiserliche Übergehung;
immer wieder schickte er den Freund des Kaisers, Grafen Philipp Eulenburg, als
geschickt und mutig warnenden Mentor vor; er brach mit Eulenburg, als dieser
eine solche Angriffsstellung nicht mit seinen monarchischen und
freundschaftlichen Gesinnungen vereinbaren zu können meinte: "Sie
denken an den Kaiser, ich denke an die Dynastie." Allerdings war Holstein, schon
vermöge seiner Dienststellung, darauf angewiesen, einen Kampf, den er
unmittelbar gar nicht führen konnte, auf unterirdischem Wege anzufechten;
der weichere Eulenburg meinte aus den leidenschaftlichen Ausbrüchen
seiner patriotischen Sorge sogar auf eine dunkle Verschwörernatur
schließen zu sollen. Dazu fehlten in der [636] Luft dieses hohen
Beamtentums allerdings die Charaktere. Es ist nicht dazu gekommen, daß
sich hier eine Revolte gegen den Kaiser vorbereitete, wie sie unter Steins
Führung im Jahre 1805 dem Könige
Friedrich Wilhelm III.
entgegentrat. Aber etwas von einer solchen Stimmung ist schon in der zweiten
Hälfte der neunziger Jahre an dem Manne zu spüren, der kein
Minister war und werden wollte, aber der das ihm anvertraute Instrument der
deutschen Außenpolitik gegen jede unsachliche Schädigung zu
sichern gewillt war.
Unter den Reichskanzlern verstand Fürst Hohenlohe in manchem
Zusammenstoß die Position seiner Überzeugungen ehrerbietig und
fest zu behaupten, aber doch mehr in Abwehrstellung als in aktivem Vorgehen.
Und wenn er auch wohl einmal auffuhr, daß er nicht ein Kanzleirat, sondern
der Reichskanzler sei, so war seine überhaupt nicht auf Initiative gestellte
Natur zu nichts weniger geschaffen, als nach dem Vorgange Steins die
vornehmsten Diener dieser Monarchie gegen den Monarchen zu führen.
Eine solche politische Aktion des hohen Beamtentums verbot sich schon
deswegen, weil es mit der Kritik, die im Kreise der Bundesfürsten
verborgen umlief, und der Kritik, die sich gelegentlich im Reichstag vernehmlich
erhob, gar keine Fühlung besaß. In dieser Trennung der Gewalten gab
es keine feste Plattform, von der aus sich die kaiserlichen Selbstherrlichkeiten
einengen ließen.
Es war nur eine Stimme, daß Bülow die Gabe besaß, den
Kaiser mit einem geringeren Grade von Reibung zu lenken, als seine
Vorgänger. Seinem leichten optimistischen Sinn fiel die Taktik der
Anbequemung so wenig schwer wie die Kunst der Schmeichelei; immer wieder
überraschte seine Eleganz, eine verfahrene Angelegenheit wieder
einzurenken oder die Folgen einer kaiserlichen Rede abzubiegen. Unmittelbar
nach dem Antritt seines Reichskanzleramts hatte er die Schritte zu decken, die
vom Kaiser gegen die chinesische Revolution vorgenommen oder
angekündigt worden waren, - nicht ohne Sorge, daß die Kritik
der Bundesfürsten sich diesmal mit der Kritik im Reichstage
zusammenfinden könnte.71 Wie seiner glücklichen Hand
diese erste Überbrückung einer schwierigen Lage gelang, so verstand
er immer wieder, da die Natur des Kaisers sich nicht änderte,72 einen Ausgleich zu finden und die
Scharten öffentlicher Kritik zu verwischen. Ein an sich harmloserer Fall
wie das Swinemünder Telegramm an den Prinzregenten Luitpold, das nicht
ohne politische Rückwirkung auf das Verhältnis Bayerns zum Reiche
blieb, gab Anfang 1903 den Anlaß zu dem ungewöhnlichen Schritt,
daß die führenden Parteien des Reichstages dem Kanzler eine
Denkschrift gegen die Gefahren des persönlichen Hervortretens des Kaisers
überreichten. Da dieser [637] Vorgang jedoch der
Öffentlichkeit fremd blieb, entbehrte er jeder politischen Nachwirkung.
Es war ja auch nicht so, daß Krone und Volksvertretung irgendwie in einen
Widerstreit der verfassungsmäßigen Zuständigkeiten geraten
wären. Wilhelm II. hatte es längst aufgegeben, eine
reichstägliche Opposition zu Paaren treiben zu wollen. Er regierte als
konstitutioneller Monarch in Preußen wie im Reiche, und man hätte
ihm nicht vorwerfen können, durch autoritäre Handlungen der
Willkür die Verfassung verletzt zu haben. Es war vielmehr die
persönliche impulsive Begleitmusik, die das Gleichgewicht im
öffentlichen Leben störte. In der auswärtigen Politik, in der
nach den Richtlinien des Auswärtigen Amtes zu handeln er im allgemeinen
durchaus bereit war, waren es Temperament und Stimmung, die ihm immer
wieder die Gewichte in einer Verhandlung verschoben; diese bewegliche
Lebhaftigkeit verdarb die Nuancen, entzündete die Mißstimmungen,
erschwerte den laufenden Dienst. Der Reichskanzler hatte sich längst
gewöhnt, eine gewisse Belastung des Geschäftsganges durch dieses
eigenwillige Eingreifen des Kaisers hinzunehmen; auch anderen leitenden
Staatsmännern war eine solche Aufgabe nicht fremd, und selbst dem klugen
Eduard VII. begegnete das Mißgeschick, ein Memorandum, das ihm
Lansdowne zur persönlichen Orientierung auf eine Reise nach Berlin
mitgegeben hatte, in die Hände des deutschen Reichskanzlers zu legen. Es
war die allgemeine Meinung, daß gerade die Gewandtheit Bülows,
der sich auf dem Boden des Reichstages sicher bewegte, wie geschaffen sei, den
Kaiser zu decken, zu ergänzen, zu führen. Den heftigen Angriffen
der Sozialdemokratie hatte er sich wenigstens als oratorisch gewachsen erwiesen;
er verstand es, mit Hilfe der geschickt bewegten öffentlichen Meinung die
Flottenvorlage zum Siege zu führen, und hatte sogar den
hochschutzzöllnerischen Zolltarif von 1902, so wenig ihm dabei
wirtschaftliche Vorkenntnisse zur Seite standen, durchgebracht. Er beherrschte
den Reichstag, und nach dem Bruche mit dem Zentrum im Winter 1906/07 schien
es sogar, als wenn er sich der parlamentarischen Praxis annähern und eine
dauernde konservativ-liberale Mehrheitsbildung anstreben wolle. Diese Stellung
zur Volksvertretung hatte ihm schon im Februar 1908, als der Brief des Kaisers an
Lord Tweedmouth die Gemüter erregte, das Anschlagen eines offenen und
freimütigen Tones im Reichstage nach beiden Seiten hin
ermöglicht.
Aber was bedeutete jenes Vorspiel gegenüber der Erregung, als im Oktober
1908 die Äußerungen des Daily Telegraph in die Welt gingen
und eine hochaufsteigende Welle der deutschen öffentlichen Meinung dazu
drängte, an diesem Beispiel eine grundsätzliche Auseinandersetzung
über die Frage herbeizuführen, welchen handelnden Anteil der
Kaiser an der Außenpolitik nehmen dürfe. Jetzt stand hinter dem
Tadel das dunkle Gefühl der Deutschen, daß sich die Weltlage zu
ihren Ungunsten verschoben habe und daß ein Zusammenschluß der
anderen großen Mächte mit der Front gegen Deutschland sichtbar
werde. Die [638] Sorge war es, die
nunmehr die Kritik an den kaiserlichen Äußerungen trug und durch
ein elegantes Ausweichen nicht mehr beschwichtigt werden konnte.
Fürst Bülow hatte im ersten Augenblick die Tragweite dieser Krisis
nicht voll erfaßt, dann aber gelang es ihm, der verworrenen und
beunruhigenden Lage der Dinge - obgleich er selbst durch den
geschäftlichen Anlaß der Angelegenheit belastet war und deshalb
sein Abschiedsgesuch einreichte - noch einmal Herr zu werden. Es lag am
Tage, daß es nicht allein um das Interview im Daily Telegraph ging,
in welchem der Kaiser obendrein nach dem konstitutionellen Schema von der
Verantwortung frei war. Es handelte sich vielmehr um den ganzen Kreis von
Fragen, der mit dem Eingreifen des Kaisers in den auswärtigen
Geschäftsgang verbunden war, um dieselben Nöte also, die im
Auswärtigen Amte längst die Gemüter erhitzten, bevor sich
die Nation eingehender damit beschäftigte. Der Reichskanzler erblickte
seine Aufgabe darin, zwar die heftigsten Stöße der gegen den Kaiser
gerichteten Kritik aufzufangen, aber die Gelegenheit wahrzunehmen, die
Führung der auswärtigen Geschäfte gegen alle Eingriffe
grundsätzlich sicherzustellen; es galt, für die künftige
sachgemäße Behandlung außenpolitischer Probleme einen
bleibenden Gewinn aus dieser öffentlichen Aussprache davonzutragen und
doch ohne Schädigung der staatlichen Autorität und des
monarchischen Ansehens, sowohl nach innen wie nach außen, über
die Krisis hinwegzukommen. Auf dieser schmalen Linie vorgehend, brachte
Bülow es fertig, auch die formelle Ermächtigung des Kaisers zu
gewinnen, der anfangs aus allen Wolken gestürzt, innerlich ganz gebrochen
von Abdankung sprach, dann zu jeder Art des Einlenkens bereit war, um nur den
Zwischenfall, der seine ganze Autorität in Frage stellte, aus der Welt zu
schaffen.
Auch die Mehrheit des Reichstages war nicht gewillt, über diese Linie
hinauszugehen. Selbst die schärfsten Kritiker dachten nicht an Abdankung
des Kaisers, die außer Verhältnis zu dem Anlaß der Krisis
gestanden hätte und nach innen wie nach außen als schwerer
Prestigeverlust des Reiches empfunden worden wäre. So unbedingt galt der
Kaiser als der Repräsentant des Reiches, daß für die Mehrheit
eine weitergehende Beschränkung der monarchischen Institution
überhaupt nicht in Frage kam: wenn sich der Träger der Krone nur zu
dem Versprechen bereit fand, hinfort größere Vorsicht zu
üben. Je ernster die Entwicklung der bosnischen Krisis sich anließ,
um so mehr wuchs doch auch das Bedürfnis, wenigstens diese erregende
innere Angelegenheit möglichst schnell abzuschließen. So erschien
Bülow in seiner Reichstagsrede vom 10. November, einem
Meisterstück diplomatischer und rednerischer Künste, als der Retter,
der mit seinem raschen Witterungsvermögen das aussprach, was die Nation
wollte und was der Kaiser hinzunehmen gewillt war. In der Form deckte er den
Monarchen im vorliegenden Falle; er führte Übertreibungen auf das
richtige Maß zurück und wahrte das individuelle Recht der
kaiserlichen Person; zugleich aber gab er mittelbar den Tatbestand der
Störungen zu und schnitt allem weiteren Tadel die Spitze durch [639] die Zusage des Kaisers
ab, auch in Privatgesprächen hinfort jene Zurückhaltung beobachten
zu wollen, die im Interesse einer einheitlichen Geschäftsführung wie
der Autorität der Krone gleich unentbehrlich sei; der Kanzler betonte
zugleich, daß er ohne eine Änderung der Praxis die Geschäfte
nicht würde fortführen können. Es gelang ihm, dem Kaiser
eine Erklärung abzunötigen, die am 17. November amtlich
veröffentlicht wurde und - unter Bezugnahme auf Bülows
Rede - den Willen des Monarchen aussprach, daß er unbeirrt durch
die von ihm als ungerecht empfundenen Übertreibungen der
öffentlichen Kritik seine vornehmste kaiserliche Pflicht darin erblicke, "die
Stetigkeit der Politik des Reiches unter Wahrung der
verfassungsmäßigen Verantwortlichkeiten zu sichern".73 Auf diese Weise waren die
innerdeutschen Schwierigkeiten so gut wie erledigt. Es mochte scheinen, als ob
das Ende des persönlichen Regimentes vor der Tür stehe. Hier und
da glaubte man schon einen Ansatz zu parlamentarischen Formen der
Staatsleitung zu erkennen: vom Reichskanzler und Reichstag herbeigeführt
und in übereinstimmender Willensmeinung festgestellt. Und doch handelte
es sich nur um eine abgebrochene Krisis, bei der allein die Risse im Bau verklebt
waren und die eigentliche Entscheidung zunächst vertagt wurde.
In Wirklichkeit hatte der Kaiser, im Augenblick qualvoll erschüttert und
fast zerbrochen, sich zwar unterworfen; er war auch zufrieden, durch einige
symbolische Handlungen sich zu dem Ergebnis zu bekennen. Aber er behielt sich
vor, seine alte Stellung bald wieder einzunehmen. Sobald er die Besinnung
wiederfand, bestärkte er sich in der Überzeugung, daß er in
diesem Falle überhaupt keine Schuld
habe - ohne sich die Frage zu stellen, in wieviel anderen Fällen er
nicht im Rechte gewesen war! Aus diesem Gefühl erwuchs der Vorwurf
(auch von manchen Stimmen nach dem Ablauf der Krisis geschäftig ihm
zugeflüstert), der Reichskanzler, der wahrlich alle Ursache dazu gehabt
hätte, habe ihn nicht genügend gedeckt und die monarchische Idee
ohne Grund preisgegeben. Der Kaiser hatte den Glauben an die Treue des
Kanzlers verloren, dessen Rücktrittsgesuch er noch vor kurzem so
fassungslos zurückgewiesen und den er in sein
Morgen- und Abendgebet eingeschlossen
hatte - die Empfindungen der Freundschaft begannen sich in der Stille in
einen tiefen Groll zu verwandeln. Er wußte, daß er ohne die
Biegsamkeit Bülows die ganzen Schwierigkeiten gar nicht hätte
überwinden können, und war bereit, an ihm festzuhalten, solange die
allgemeine gespannte Lage der Dinge fortdauerte; denn er verhehlte sich nicht,
innenpolitisch wie außenpolitisch an den Reichskanzler gebunden zu sein,
dessen [640] Unentbehrlichkeit
niemals größer war als in dem Augenblick der Kaiserkrisis. Aber die
Dauer der Unentbehrlichkeit war es, die über das Schicksal des Kanzlers
entschied.
Unmittelbar nach der formellen Erledigung dieser Angelegenheit, am 19.
November 1908, hatte Bülow die Vorlage der Reichsfinanzreform im
Reichstage eingebracht. Es war die Frage, ob er in diesem Reichstage, der soeben
eine beispiellose Haltung gegenüber der Krone eingenommen hatte, eine so
tief einschneidende und große Opfer verlangende Reform
durchführen konnte, wie sie von der augenblicklichen Finanzlage und der
grundsätzlichen Neuordnung der Reichseinnahmen erfordert
wurde - vor allem aber, ob diese Ziele mit der
konservativ-liberalen Parteiengruppierung erreicht werden konnten, die seit dem
Sylvester 1907 als das eigenste Gebilde Bülows, gleichsam als die
parlamentarische Verkörperung seiner politischen Überzeugungen
galt. An den Fortbestand und die Leistungsfähigkeit dieser "seiner"
Reichstagsmehrheit war Bülow fortan gebunden: mit einem Rückhalt
an der zustimmenden Volksvertretung konnte er selbst der Fortdauer kaiserlicher
Ungnade begegnen. Die Reichstagsverhandlungen im Winter 1908/09 und
Frühjahr 1909 erhielten dadurch ein ganz besonderes Gesicht, daß es
nicht allein um sachliche Aufgaben ging, sondern zugleich, wie in einem
parlamentarisch regierten Staatswesen, um das Amt und die Macht des leitenden
Ministers.
Aber bevor diese sich lange hinziehenden Entscheidungen fielen, kamen auf dem
Gebiet der äußeren Politik - und hier lag der Kern der
Unentbehrlichkeit Bülows - die europäischen Spannungen zur
Lösung: die noch immer weiter schwelende marokkanische Gefahr, die in
der jetzigen Weltlage den größten Teil ihrer Bedeutung verloren
hatte, und in der Ferne die schwarze Wolke der bosnischen Frage, aus der eine
Zeitlang ein verheerendes Gewitter über ganz Europa niederzugehen
drohte.
Der erste Gedanke Bülows war, die marokkanische Krisis möglichst
schnell zur Ruhe zu bringen und dadurch beruhigend auch auf die Stellung
Frankreichs zu der Orientfrage einzuwirken. Das geschah durch den Vertrag vom
9. Februar 1909, in dem sich Deutschland politisch desinteressierte,
während Frankreich die Verpflichtung einging, die wirtschaftliche
Gleichberechtigung zu wahren und die deutschen kaufmännischen und
industriellen Interessen nicht zu verletzen. Es mag richtig sein, daß man bei
dem etwas übereilten Abschluß dieses
Vertrages - man wollte die Sache damals bis zu dem Besuche König
Eduards VII. in Berlin aus der Welt geschafft
haben - allerhand Einzelheiten preisgegeben hat, die sich bei einer
sachlicheren Verhandlungsweise hätten behaupten lassen,74 aber an dem Grundcharakter des
ganzen Ergebnisses, das dieses Abkommen auf den ersten Blick als einen
kompensationslosen Verzicht Deutschlands erkennbar macht, würde kaum
etwas Wesentliches geändert worden sein. In einem Lande wie [641] Marokko, so wird von
einem Kenner, wie dem Gesandten Rosen, mit Recht betont, war eine erfolgreiche
wirtschaftliche Tätigkeit ohne politischen Einfluß nicht
möglich, wie man in Deutschland von Anfang an klar erkannt hatte; jetzt
aber willigte man unter dem Druck der Weltlage darein, daß die unteren
Stockwerke des Gebäudes abgerissen wurden, gegen das Versprechen, die
oberen Stockwerke stehenzulassen.75
Wenn man gerechnet hatte, mit der marokkanischen Befriedung mildernd auf die
Gesinnung König Eduards einzuwirken, so sollte man eine
Enttäuschung erleben. Es heißt sogar, daß er keineswegs erfreut
gewesen sei. Bezeichnend für die Ziele des Königs war, daß er
den bei dem Kaiser beobachteten Groll gegen Bülow zu steigern suchte.
Während seines ganzen Aufenthaltes ließ er sich nicht bewegen, mit
dem Reichskanzler nur ein einziges Wort über Politik zu sprechen, sondern
zog vor, ihn zu schneiden; jedenfalls versicherte er dem Kaiser, er könne
dem Fürsten Bülow seine Haltung während der
Novembervorgänge nicht verzeihen, nicht nur aus verwandtschaftlichem
Empfinden, sondern auch vom Standpunkte des monarchischen Prinzips.76 Es mußte also wohl ein
Interesse englischer Politik vorhanden sein, Bülows erschütterte
Stellung bei dem Kaiser, der damals bereits vom "Verräter"77 sprach, vollends zu untergraben.
Während der letzten Monate hatte die Entwicklung der bosnischen Krisis
ein immer gefährlicheres Gesicht angenommen. Es handelte sich dabei
allmählich weniger um den ursprünglichen Kern des Konflikts, die
europäische Rechtsfrage und die Annexion, insonderheit das Problem der
Konferenz, als vielmehr um eine zweite, anfangs nur peripherische Frage, die sich
allmählich aus dem Streit der Großmächte aus eigener Kraft
erhob: der serbische Nationalismus und die Annexion. Diese Gefahr blieb auch
dann bestehen, als es Aehrenthal gelang, den Einspruch der Türkei auf dem
Wege direkter Verhandlung abzubiegen. Bald nach Anfang Januar fand ein
finanzielles Angebot gute Aufnahme, und das Endergebnis war, daß am 26.
Februar 1909 die Türkei die Annexion Bosniens und der Herzegowina
anerkannte. Es war eine beginnende Erleichterung für die
österreichische Politik, daß damit der Gegner ausschied, der
immerhin mit gutem Rechte sich als durch die Annexion beeinträchtigt
hatte fühlen können.
Aber der serbische Widerspruch, nicht in einem vergilbten Rechtsanspruch,
sondern in einem elementaren Nationalgefühl wurzelnd, erhob sich nur um
so hemmungsloser. Die serbischen Rüstungen, von leidenschaftlichem
Lärm nach außen begleitet, nahmen einen solchen Umfang an,
daß auch Österreich-Ungarn [642] zu ausgedehnten
Rüstungen schreiten mußte. Rüstung und Kriegswille
begannen auf beiden Seiten einander immer heftiger zu steigern. War auf der
einen Seite eine urwüchsige Volksleidenschaft im Spiel, der ein Funke
genügte, um einen allgemeinen Brand zu entzünden, so erhob sich
auf der andern Seite in dem beherrschenden Kopfe des österreichischen
Generalstabschefs Conrad
von Hötzendorf der verwegene Gedanke, durch
die Entfesselung eines Präventivkrieges den Knoten zu zerhauen und den
ganzen serbischen Problemkomplex für die Monarchie zur Lösung
zu bringen, in letzter Stunde.
Je näher die Gefahr eines österreichisch-serbischen Krieges
rückte, schließlich schon wegen der Dauer und des Umfangs der
Mobilmachungen kaum noch aufzuhalten, desto unerträglicher wurde es
für Rußland, die Serben in ihrem gewagten Spiel auch nur
diplomatisch im Stiche zu lassen: sie mußten ihnen entweder in ihren
Kompensationsforderungen zur Seite stehen und damit einen ehrenvollen
Rückzug ermöglichen, oder aber mit einem Krieg an der Seite der
Serben rechnen.
Mit dieser Möglichkeit war die Gefahr eines deutsch-russischen Krieges
gegeben, ja der Horizont des Weltkriegs eröffnet. Es ist verständlich,
daß in diesen Sorgen der Zar und der Kaiser, zwischen denen noch das
halbverklungene Wort von Björkoe stand, sich zu nähern suchten. Im
Laufe des Dezember 1908 ließ der Kaiser dem Zaren eröffnen,
daß er bereit sei, der russischen Politik die Durchfahrt durch die Meerengen
zu bewilligen.78 Der Zar wollte zwar auf diesen
Vorschlag nicht eingehen, da er die Schwierigkeiten genügend
kennengelernt hatte, um so dringlicher aber bat er Wilhelm II. um seine
Hilfe bei der Abwehr österreichischer Gewalttaten gegen Serbien. Der
Kaiser hinwiederum mußte die ganze russische Politik der letzten zwei
Jahre und das unablässige Spiel mit der
Triple-Entente hervorholen, um die bei aller Fortdauer der Freundschaft doch
veränderte Wesensart ihrer Beziehungen zu erweisen. Die Hände der
Monarchen waren nicht stark genug, in dieser ernsten Stunde das mürbe
gewordene Band von neuem zu knüpfen.
Die Kriegsgefahr rückte immer näher heran. Obgleich solche Dinge
immer im Schatten liegenbleiben, kann man hier und da auch bei den
Westmächten in die Vorbereitungen hineinblicken. Wir sehen Lord Fisher
über Expeditionsentwürfen brüten, die ihm Lord Esher, der
Privatsekretär des Königs, übersandt hatte,79 und mit der Frage ringen, ob man die
britische Kontinentalarmee entsenden werde oder nicht, ob der blutige Kampf bei
Reims oder Amiens stattfinden werde. Und der belgische Gesandte in Paris
weiß in den nächsten Tagen [643] zu erzählen,
daß aus seinen Erkundigungen an bester Quelle hervorginge, daß
sowohl in Paris wie in London Verpflichtungen übernommen wären,
um Rußland im Falle des Kriegsausbruches zu unterstützen: "alles
war geregelt, um sich rasch in Marsch zu setzen".80 Und es versteht sich, daß auch
der deutsche und der österreichische Generalstabschef damals in engere
Fühlung untereinander getreten waren.
Die Kriegsgefahr des Winters 1908/09 nötigte den österreichischen
und den deutschen Generalstab, die militärischen Verpflichtungen des
Bündnisses nachzuprüfen. Bekanntlich war in dem
Bündnisvertrage von 1879 der casus foederis nur für den
Angriff Rußlands vorgesehen, aber die Frage, wie der Bündnisfall
auszulegen sei, war immerhin zu verschiedenen Zeiten verschieden beantwortet
worden. Wir erinnern uns, daß Bismarck im Jahre
1887/88 einen Versuch Moltke - Waldersees, das Eintreten des
casus foederis weitherziger zu interpretieren, mit dem entschiedensten
Nachdruck entgegengetreten war, weil er die politische Entwicklung nicht aus der
Hand geben und einen "Übergang der Politik auf die beiden
Generalstäbe" unter keinen Umständen zulassen wollte. Trotzdem
war unter Wilhelm II. im August 1889 eine andere Praxis zwischen den
Monarchen und ihren militärischen Räten vereinbart worden, man
kann aber nicht sagen, daß während der Geltungszeit dieser
weitergreifenden Verpflichtung ein erhöhter Kriegswille in Berlin oder
Wien geherrscht hätte. Schon nach wenigen Jahren wurde dann unter
Caprivi - Schlieffen
die Bündnisverpflichtung wieder in
einem engeren Sinne ausgelegt; ausdrücklich wurde die Besetzung
Konstantinopels durch die Russen als nicht den Bündnisfall hervorrufend
bezeichnet.81
Jetzt stellte der österreichische Generalstabschef Freiherr von
Conrad - im Einverständnis mit Kaiser Franz Joseph und
Aehrenthal - in Berlin am 1. Januar 1909 die formelle Frage, die in der
früheren Zeit der Bündnisverpflichtung als solche so gut wie gar
nicht bestanden hatte: er setzte den Fall, daß Österreich
genötigt sein könnte, in Serbien und Montenegro einzumarschieren,
und durch dieses Vorgehen sich den Angriff Rußlands zuziehen
würde. Die - im Einverständnis mit Kaiser Wilhelm II.
und Bülow - erteilte Antwort des Generalstabschefs Moltke unter
dem 21. Januar 1909 bestätigte, daß, wenn erst der Einmarsch
Österreichs in Serbien ein eventuell aktives Einschreiten Rußlands
auslösen würde, in diesem Falle der casus foederis für
Deutschland gegeben sein würde; entsprechend würde auch mit einer
Mobilmachung Rußlands diejenige Deutschlands gleichzeitig erfolgen. An
den Tatbestand dieses Briefwechsels, der hernach in weiterer Verhandlung vertieft
wurde, ist später der Vorwurf geknüpft worden, der
Bündnisvertrag sei im Januar 1909 aus einem rein defensiven in einen
offensiven umgewandelt oder uminterpretiert [644] worden.82 Die Kriegslust der
österreichischen Regierung sei dadurch nicht gewarnt oder
zurückgehalten, sondern aufgemuntert worden und seitdem das
stärkste Unruhezentrum in Europa - genug, die Pforten sind von
hieran bis zum Kriegsausbruch und vor allem zur Kriegsschuldfrage hin
geöffnet.
Der Meinungsaustausch - ob man ihn als Militärkonvention bezeichnet oder
nicht - ist von hoher Bedeutung. Er wird auch dadurch nicht belanglos,
daß innerhalb des Dreiverbandes viel weitergreifende Verpflichtungen
festgestellt werden. Aber er ist nicht isoliert, sondern in dem großen
Zusammenhange, der ihn erzeugte, zu verstehen. Zum ersten Male stand vor den
Augen der Welt die Tatsache, daß auch
Österreich-Ungarn einem Zweifrontenkriege ausgesetzt sei; man erlebte das
starke Bemühen Rußlands, von der serbischen Front her
Österreich zu kriegerischen Handlungen zu provozieren. Auf diese neue
Situation sollte der Bündnisfall angewandt werden. Wenn Konstantinopel,
wie Bismarck immer wieder betonte, keine "Lebensfrage" für die
Doppelmonarchie war, so war die serbische Gefahr schon jetzt zu einer
Lebensfrage geworden. Wenn der Bündnisfall formell wieder weiter
ausgedehnt wurde als früher, so war damit noch nicht gesagt, daß die
politische Leitung des Deutschen Reiches - und auf sie kommt es als die
entscheidende an - sich bei den dem Eintritt des casus foederis
vorausgehenden Schritten praktisch ausschalten würde. Vielmehr
läßt sich ohne Mühe der Nachweis führen, daß die
deutsche Politik, trotz der weiterreichenden Vertragsauslegung, immer wieder im
Sinne des Friedens gegen die Verlockungen österreichischer
Aktivität eingreifen wird. Trotz des
Moltke - Conradschen Briefwechsels wird es also darauf ankommen,
wie in jedem einzelnen Falle die obliegende
politisch-militärische Verpflichtung in Berlin beurteilt werden wird.
Aber die Russen waren sich inzwischen klar geworden, daß sie nichts
weniger als kriegsbereit waren: in der geheimen Sitzung der Reichsduma in der
Nacht vom 8. zum 9. März wurde die Tatsache von der Opposition
ausgesprochen, ohne daß die Regierung widersprach. Als es ganz Ernst
wurde, zog man vor, an den Rückzug zu denken und die deutsche
Unterstützung dafür anzurufen. Die damals von Aehrenthal geplante
Veröffentlichung der Akten zur Vorgeschichte der bosnischen Krisis
wäre für Iswolski und für die russische Politik eine untragbare
Bloßstellung gewesen. Als Iswolski am 13. März die deutsche
Vermittlung in Wien nachsuchte, daß diese Veröffentlichung
unterbliebe, erklärte sich Bülow zu jedem freundschaftlichen Schritte
bereit, falls Rußland Serbien tatsächlich und ernstlich zur Ruhe
bringen wolle. Sein Vorschlag würde darauf hinauslaufen, daß die
österreichische Regierung ihre Verständigung mit der Türkei
notifiziere und dabei [645] die Mächte um
die formelle Sanktion der Abänderung des Artikel 25 des Berliner
Vertrages angehe; wenn aber Iswolski von dem Entgegenkommen keinen
Gebrauch mache und sich gegen eine gemeinsame Sanktion der vollzogenen
Tatsachen sträube, so müsse er den Dingen ihren Lauf lassen.
Während in diesen Tagen Spannung und Kriegsgerücht noch weiter
stiegen, lehnte ein russischer Ministerrat die vorgeschlagene Teilmobilmachung
ab. Die Antwort Iswolskis auf den deutschen Vorschlag vom 20. März war
noch eine Halbheit: sie würdigte in hohem Maße den
freundschaftlichen Geist des Vorschlags und erklärte sich zur Annahme
bereit, aber meinte, die Notwendigkeit des Zusammentritts einer
europäischen Konferenz dadurch nicht auszuschließen. Daraufhin
entschloß sich Bülow, auf den entscheidenden Rat
Kiderlen-Wächters, den Russen den unvermeidlichen Rückzug durch
eine noch deutlichere Form zu erleichtern. Seine Note vom 21. März
erneuerte den Vorschlag; man müsse dabei aber bestimmt wissen,
daß Rußland ohne Vorbehalt zustimme; die Konferenzfrage sei eine
Frage für sich, ihre Hereinziehung ein Versuch der Verschleppung und
Ablehnung des deutschen Vorschlags. Der Botschafter wurde
demgemäß angewiesen, Iswolski in bestimmter Form zu sagen,
"daß wir eine präzise Antwort - ja oder
nein - erwarten; jede ausweichende, verklausulierte oder unklare Antwort
würden wir als eine Ablehnung betrachten müssen. Wir
würden uns dann zurückziehen und den Dingen ihren Lauf lassen;
die Verantwortung würde dann ausschließlich Herrn Iswolski
zufallen, nachdem wir einen letzten aufrichtigen Versuch gemacht, ihm behilflich
zu sein, die Situation zu klären in einer für ihn annehmbaren
Weise."83
Darauf tat Iswolski das, was er von vornherein gewollt hatte: ohne vorher den
französischen oder englischen Botschafter um Rat zu fragen, nahm er den
deutschen Vorschlag an. Am 24. März lief die vorbehaltlose Zustimmung
Rußlands zur Annexion Bosniens und der Herzegowina ein, und in den
nächsten Wochen verflüchtigten sich die letzten Ausläufer des
serbischen Kriegswillens.
Die Note vom 21. März hat den Ausgang der bosnischen Krisis ohne Krieg
entschieden. Welcher Charakter dieser deutschen "Vermittlung" zuzuschreiben
sei, ist seitdem viel umstritten worden. Daß formell von einem Ultimatum
oder einem ultimativen Schritt nicht die Rede sein kann, ergibt sich daraus,
daß eine Drohung mit einer Eventualhandlung nicht vorliegt; vielmehr
wurde eine erbetene Vermittlung an eine bestimmte Bedingung geknüpft;
daß schließlich der Wendung, man werde sonst den Dingen ihren
Lauf lassen, keine ausgesprochen ultimative Tendenz beiwohnt, wird dadurch
belegt, daß Sir Edward Grey damals eine Mahnung in Wien mit
denselben Worten begleitete.84 Jedenfalls war Zar [646] Nikolaus II. weit
entfernt, aus dem deutschen Schritte ultimative Nebentöne
herauszuhören.85
Eine andere Frage war freilich, ob Iswolski nicht alles Interesse daran hatte, die
Schuld an seiner verunglückten Politik nicht sich selber, sondern einem
andern zuzuschreiben, und ob seine neuen Freunde, die soeben noch
Rußland zu weiterem Vorgehen auf seinem falschen Wege ermutigt hatten,
nicht alles daran setzten, den deutschen Vermittler mit dem Vorwurf des
Ultimatums und der Schuld an dem russischen Rückzug zu belasten. Der
englische Botschafter konnte seinen Unwillen nicht verbergen und sprach davon,
die internationale Ehre sei doch mehr wert als der Friede. Schon in den
nächsten Tagen war in Petersburg eine - von der englischen
Botschaft ausgehende - Lesart verbreitet: Rußland sei die schwere
Demütigung zugefügt worden, den Erfolg des germanischen
"Dranges nach dem Osten", den "Raub slawischer Länder" anerkennen zu
müssen; Deutschland habe durch eine plumpe Drohung, daß es sonst
seinen Willen mit den Waffen durchsetzen würde, Rußland
gedemütigt und zur Kapitulation vor Aehrenthal gezwungen. Also
Anschluß an die Westmächte, um den großen Kampf zwischen
Slawentum und Germanentum86 für eine nicht ferne Zeit
wirksam vorzubereiten.
Eine Machtfrage war allerdings, wie alle Beteiligten empfanden, ausgetragen
worden, nur lag sie keineswegs zwischen Deutschland und Rußland,
sondern zwischen dem deutsch-österreichischen Bündnis und dem
Dreiverband. In diesem Augenblick hatte der Block der mitteleuropäischen
Mächte sich als stärker erwiesen, und wenn die ungünstige
Konstellation von Algeciras der andern Seite zugute gekommen war, so war diese
Schlappe durch eine noch ernsthaftere Probe wieder ausgeglichen.
Soweit es aufs Prestige ankam, konnte Bülow mit Recht triumphieren. Eine
andere Frage war es, wenn man die Nachwirkung der Krisis in einem weiten
Zusammenhange nachprüft - ob sie dann nicht dem Bemühen
derjenigen zugute kommen mußte, die dieses Mal weder einig noch
kräftig genug zur Offensive gegen die Mittelmächte gewesen
waren.
Ein Mann wie Nicolson, der überzeugt war, daß Deutschland und
Österreich ein lange vorbereitetes Spiel gespielt hatten, um den Ring zu
durchbrechen, kam zu dem niederschlagenden Ergebnis, daß die Hegemonie
der Mittelmächte jetzt in Europa aufgerichtet und England isoliert sein
werde; schon sah er Rußland und Frankreich zu den Mittelmächten
übergehen, die Entente aber ermatten - [647] wenn sie nicht einen
Bündnischarakter annehme.87 Was er fürchtete, klang wie bei
Sir Eyre Crowe: "Die letzten Ziele Deutschlands sind sicher, ein
Übergewicht auf dem Kontinent von Europa zu gewinnen, und wenn es
stark genug geworden ist, dann will es in einen Kampf mit uns um die Oberhoheit
zur See eintreten. In der Vergangenheit hatten wir mit Holland, Spanien,
Frankreich um diese Oberhoheit zu kämpfen, und persönlich bin ich
überzeugt, daß früher oder später, wir denselben Kampf
mit Deutschland zu wiederholen haben."88
Noch während der bosnischen Krisis hatte der Reichskanzler Fürst
Bülow es für angezeigt gehalten, wenigstens den Versuch zu
machen, sein völlig ungeklärt gebliebenes Verhältnis zum
Kaiser wieder sicherzustellen. Er erbat am 11. März von Wilhelm II.
die Ermächtigung zu einem Immediatvortrag, in welchem es zu
persönlicher Aussprache kam; darauf folgte am anderen Tage ein
Erscheinen des kaiserlichen Paares zum Diner im Hause Bülow; in aller
Form, sogar in herzlicher Weise schien das Verhältnis wiederhergestellt,
aber die Versöhnung war äußerlich, sie war befristet.
Der Abschluß der bosnischen Angelegenheit verstärkte zwar die
außenpolitische Autorität des Kanzlers, die der Kaiser trotz
gelegentlicher Zweifel noch immer anerkannte. Aber indem sich die Wolken vom
Balkan verzogen, war die Unentbehrlichkeit Bülows schon nicht mehr die
gleiche.
In den Tagen des englischen Besuches in Berlin hatte der Botschafter Metternich
dem Staatssekretär von Tirpitz
erklärt: Wenn Sie es dem
Fürsten Bülow nicht ermöglichen, das von ihm angestrebte
Flottenagreement mit England zustande zu bringen, so wird dies wohl das
letztemal sein, daß ein englischer König einem deutschen Kaiser
einen Besuch macht.
Unmittelbar nach dem Besuche König Eduards war in England im
Zusammenhange mit der Vorlage des neuen Marineetats eine alle ihre
Vorgänger weit überflügelnde Flottenpanik ausgebrochen, die
dadurch besonders gefährlich wurde, daß sie mit dem
Höhepunkt der bosnischen Krisis - wohl nicht
zufällig! - zeitlich zusammenfiel.89 Sie nahm ihren Ausgang von falschen
Nachrichten über eine deutsche Beschleunigung des Bautempos; daß
diese auf Spionage gegründeten Nachrichten90 irrig waren, ist später von
englischer [648] Seite selbst
zugestanden worden. Als der Marineminister McKenna am 16. März eine
den deutschen amtlichen Angaben scharf zuwiderlaufende Auskunft über
den deutschen Flottenbau erteilte91 und die Opposition noch weitere
Übertreibungen hinzufügte, war die Erregung nicht mehr zu
bändigen; nur Sir John Fisher gestand zynisch ein, Asquith habe eine
kleine Panik für die eigenen Radikalen gebraucht und nicht geahnt,
daß die Opposition sich der Frage bemächtigen würde. Aber
die Lage hatte sich ernst genug zugespitzt. Ein tiefes Mißtrauen war in den
meisten Lagern eingezogen. Wenn man sich vorstellt, daß die Panik sich
erhob gegenüber einem Gegner, der in diesem Augenblick überhaupt
noch keinen Dreadnought vom Stapel gelassen hatte, wird man auch die
Erbitterung des Kaisers über die unechte "Mache" nachfühlen. Aber
der deutsche Botschafter kam zu dem Schluß, wenn bisher anzunehmen
gewesen sei, daß England eine sich ohne sein Zutun bietende
Gelegenheit eines europäischen Krieges zum Losschlagen benutzen werde,
so werde es, wenn keine Verständigung zustande komme, fortan
voraussichtlich darauf ausgehen, eine solche Gelegenheit seinerseits
herbeizuführen.92 So machte Bülow, als Grey
erneut den Wunsch nach einer Verständigung durchblicken ließ, sich
mit dem Gedanken einer friedlichen Auseinandersetzung mit England vertraut: er
sah seine dringendste Aufgabe darin, den Kaiser für diesen notwendigen
Schritt zu gewinnen.
Der Kaiser dagegen suchte, sowohl um der Sache willen, die ihm am Herzen lag,
als um sein erschüttertes Selbstgefühl zurückzugewinnen,
Rückhalt an der Unerschütterlichkeit von Tirpitz. Als Bülow
um Ende März 1909 in einem Immediatvortrage das im Mittelpunkt der
deutschen Außenpolitik stehende Problem im Sinne einer vorsichtigen
Mahnung zur Mäßigung behandelte, antwortete ihm der Kaiser
Anfang April in einem Schreiben,93 das in der Sache sich "nach
Übereinkunft mit Admiral Tirpitz" nur dazu bereit erklärte: "wenn
England uns ehrlich um Verhandlung bittet, mit England zu verhandeln auf der
Relation 3 : 4 in Linienschiffen." Aber er wollte sich nur zu
Verhandlungen von gleich zu gleich hergeben, nicht zu einer unbedingten
Anerkennung des "Two Power Standard", die England von den Deutschen
erzwingen wollte. Es war nicht, so schreibt er weiter, "nur die leiseste Spur zu
entdecken, daß die Engländer auch selbst Abrüstung wirklich
beabsichtigten, sondern es wurde uns stets nur klargemacht, es läge im
englischen Interesse, daß wir mit Rüsten aufhörten." Auf
englische Zumutungen dieser Art wollte der Kaiser nicht eingehen, weil "wir das
ohne Kapitulation vor der Welt oder ohne Verletzung unserer nationalen Ehre
einfach nicht können, noch wollen, noch werden." Grundsätzlich
[649] war die Frage von dem
Kaiser in einer Weise behandelt, welche sie im Einverständnis mit Tirpitz
als eine marinetechnische Ressortangelegenheit entschied, ohne darüber
hinaus der diesen Einzelfragen übergeordneten allgemein politischen
Überlegung Raum zu lassen. Und was die Form anging, so wehte aus dem
kaiserlichen Schreiben eine so gereizte Bestimmtheit, ein so metallener Klang des
hoc volo, sic jubeo, daß Bülow seinem
Vorgehen kaum übersteigbare Schranken gesetzt sah. Aus dem Ton allein
mußte er die Folgerung ziehen, daß er der Gnade des Monarchen
keineswegs mehr sicher sein könne.
Die Flottenfrage war immerhin keine Sache unmittelbarer Entschließung.
Fürs erste wanderten alle politischen Entscheidungen nunmehr auf den
Kampfplatz der Innenpolitik. Der Kaiser konnte, da der europäische
Himmel sich zunächst aufgeheitert hatte, am 13. April seine
Mittelmeerreise antreten, die ihn bis zum 27. Mai von Berlin und den
Kämpfen im Reichstage fernhielt. Denn von jetzt an sammelte sich alles
politische Interesse um das Ergebnis der parlamentarischen Verhandlungen
über die Neuordnung der Reichsfinanzen. Gelang der glücklichen
Hand Bülows auch noch die Lösung dieser Aufgabe, so war es
für den Kaiser kaum möglich, sich von seinem Berater zu trennen,
der zugleich als der Vertrauensmann der Reichstagsmehrheit erschien. Wenn der
Kanzler aber scheiterte, wenn er den festen Rückhalt in der Volksvertretung
verlor, dann gewann der Kaiser die freie Hand, sich von ihm, sogar in
Übereinstimmung mit einer neuen parlamentarischen Mehrheit, loszusagen.
Diese Rechnung besaß eine Seite, welche sich schon während der
Verhandlungen für Bülow ungünstig auswirkte. Die Ungnade
des Kaisers war trotz der äußerlichen Versöhnung nicht so
unbekannt geblieben, als daß sie nicht gewisse Rückwirkungen auf
einzelne Gruppen im Reichstage gehabt hätte. Bei einem großen Teil
der Konservativen, die einem Kernstück der Finanzreform aus sachlichen
Gründen ohnehin abgeneigt waren, zeitigte die Mißstimmung
zwischen dem Kaiser und Bülow schon im Laufe des April den
Entschluß, die Vorlage nicht zusammen mit dem wankenden Kanzler zu
verabschieden.
Als der Kaiser am 27. Mai von seiner Korfureise zurückkehrte, stand die
Entscheidung unmittelbar bevor. Bülow unternahm damals zunächst
noch einen ernsthaften Versuch, durch eine Beratung die Flottenfrage ein
Stück vorwärts zu bringen. Am 3. Juni fand im Reichskanzlerpalais
eine Verhandlung zwischen den obersten Behörden statt.94 Der Kanzler ging davon aus,
daß Stimmung und Befürchtungen in England sehr ernst seien und
daß die englische Politik infolgedessen uns überall in der Welt
feindlich entgegentrete; eine Verständigung sei vielleicht auf der Grundlage
verlangsamter Baugeschwindigkeit erreichbar; in unseren Beziehungen zu
England erblicke er die einzige schwarze Wolke am Horizont. Tirpitz hielt an
seiner Bezeichnung der britischen Flottenpanik als einer künstlichen Mache
fest und bezeichnete es nach dem Verhalten der englischen [650] Regierung in diesem
Frühjahr als nicht angezeigt, eher als gefährlich, selbst die Initiative
der Verständigung zu ergreifen. Bülow betonte, daß keine
Diplomatie der Welt England dahinbringen könne, eine Formel
anzunehmen, die es als für seine Existenz bedrohlich ansehe. Ein
eigentliches Ergebnis wurde nicht festgestellt. Die ganze Beratung vom 3. Juni
stand schon im Zeichen eines Kanzlers, dessen Verbleiben im Amte zweifelhaft
geworden war. In seiner mündlichen Berichterstattung bei dem Kaiser
stieß Bülow auf völlige Ablehnung. Der Monarch antwortete
ihm, er könne an eine von England drohende Gefahr nicht glauben, sondern
müsse sich der Auffassung des Admirals von Tirpitz anschließen. Der
Reichskanzler mußte erkennen, daß er in der wichtigsten Lebensfrage
der Außenpolitik das Vertrauen des Kaisers nicht mehr besaß. Aber
noch am 23. Juni sprach er in einem Erlaß an Metternich seine
Überzeugung aus, daß man bei gutem Willen auf beiden Seiten zu
einer Flottenverständigung werde gelangen können; er wies den
Botschafter an, die Möglichkeit einer Verständigung jederzeit zu
betonen, sofern damit eine uns freundliche Orientierung der englischen Politik
verbunden sei; am besten sei die Erledigung der Finanzfrage abzuwarten, um den
Anschein zu vermeiden, daß uns der Atem auf finanziellem Gebiete
ausginge.95 Er glaubte noch fest im Sattel zu
sitzen und sah seinen Weg noch vor sich liegen, beweglich und optimistisch wie
nur je zuvor.
In den folgenden Tagen begann die zweite Lesung der Vorlage über die
Reichsfinanzreform. Die politische Lage des Kanzlers glich bis zu einem
gewissen Grade der eines parlamentarischen Ministers. Er hatte im Laufe der
letzten Jahre seinen Rückhalt stärker im Reichstage gesucht, und das
Programm, das er wohl in die Formel der Modernisierung der Konservativen und
der Politisierung der Liberalen brachte, wurde von vielen Seiten als eine tiefe
politische Notwendigkeit für die Entwicklung des Reiches empfunden. Es
erschien als das Gebot der Stunde - die Leistungsfähigkeit der
konservativ-liberalen Zusammenarbeit, auf welche Bülow sich
stützte, die Dauerhaftigkeit des neuen Kurses, der auf eine engere
organische Fühlung der ausführenden und der gesetzgebenden
Reichsgewalt hinstrebte, stand in der Finanzfrage zur Diskussion. Die Stunde ging
ungenützt vorüber. Es erwies sich, daß Bülow, vielleicht
weil ihm ein tieferes staatsmännisches Ethos fehlte, doch nicht über
das Maß des Vertrauens verfügte, das für eine so weit
ausschauende Politik erforderlich gewesen
wäre - und wenn er es vorher besessen hätte, er würde
es damals kaum behauptet haben, weil niemandem verborgen blieb, daß der
Kaiser, wenigstens im Falle eines Mißerfolges, nicht mehr hinter ihm stand.
Des Kanzlers letzte politische Rechnung schlug fehl, weil die Konservativen, die
aus grundsätzlichen Erwägungen der Erbschaftssteuer widerstrebten,
sich längst, ihr Vorgehen im November bedauernd, zu einer streng
monarchischen Haltung zurückgefunden hatten und sich nicht [651] mit dem Kanzler
verbinden wollten, für den der Kaiser keine Hand mehr aufhob. Mochte es
Bülow auch mit starkem Nachdruck als Pflicht ausgleichender
Gerechtigkeit und als sozialpolitische Notwendigkeit bezeichnen, die
fünfhundert Millionen neuer Belastung der Nation nicht nur in der Form
von Verbrauchssteuern und mittelbaren Steuern aufzulegen, welche mehr die
Minderbemittelten als die Begüterten träfen, mochte er noch so
feierlich betonen, daß er mit seiner Sache stehe und
falle - die Konservativen wußten, daß sie einen Minister
stürzten, der von der höchsten Stelle nicht gehalten wurde.
So wurde in zweiter Lesung am 24. Juni die Erbanfallsteuer mit 195 gegen 189
Stimmen abgelehnt. Die Finanzreform war damit gescheitert. Der Reichskanzler
reichte sein Rücktrittsgesuch ein. Der Kaiser aber griff mit Freuden nach
der Gelegenheit, scheinbar in Übereinstimmung mit dem Willen des
Volkes, das Gesuch anzunehmen. Es konnte so aussehen, als wenn der Kanzler
auf anderem Wege als seine drei Vorgänger, weil er das Vertrauen der
Parlamentsmehrheit nicht mehr besaß, zu Fall gekommen sei, und es fehlte
im In- und Auslande nicht an Stimmen, die bereits von einer neuen Ära und
von einer Parlamentarisierung der Reichsverfassung sprachen. In Wahrheit aber
war es doch der Kaiser, der aus freiem
Entschlusse - ein halbes Jahr nach der unter dem Druck der
Verhältnisse versprochenen Verminderung und Beschränkung
eigenwilligen Übergreifens - den obersten Reichsbeamten in dem
herkömmlichen Stile des Bismarckschen Reiches entließ. Er mochte
in dieser Entschließung eine Wiederherstellung seiner Autorität
gegenüber dem Bülow des November 1908, eine Rückkehr zu
dem alten Verhältnis zwischen Monarch und Kanzler erblicken. Mit einem
rohen Worte zerschnitt er das Band, das ihn am menschlichsten und
längsten mit diesem Kanzler verknüpft hatte, und dieser sollte die
Erbitterung des Monarchen mit einem Hasse erwidern, der über das Grab
hinaus sich nicht genug tun konnte.
Indem der Kaiser den Oberpräsidenten von Bethmann Hollweg zum
Reichskanzler ernannte, der nach seiner Laufbahn der auswärtigen Politik
ebenso fremd gegenüberstand wie einst der General von Caprivi, ersetzte er
die erprobte diplomatische Gewandtheit Bülows, welche bei allen ihren
zweifelhaften Seiten auch ihre unleugbare Stärke besaß, durch einen
hohen Verwaltungsbeamten von starkem ethischen Verantwortungsgefühl,
aber geringer Entschlußkraft. Ob das Wort des Kaisers beim Abschied von
Bülow - "die auswärtige Politik überlassen Sie
mir" - so gefallen ist, wie es überliefert wird, sei dahingestellt. Es ist
nicht sicher zu belegen, daß eine solche Absicht, die auswärtigen
Angelegenheiten künftig in höherem Grade zu bestimmen, bei der
Wahl eines Kanzlers von allein innenpolitischer Vergangenheit mitgespielt
habe.96 Wilhelm II. war aus der
Novemberkrisis eher mit einem geschwächten Selbstvertrauen
hervorgegangen, [652] und sein
Entschluß ging doch auch dahin, Anstöße nach außen zu
vermeiden. Bülow will dem Kaiser einen doppelten Rat hinterlassen haben:
die bosnische Politik nicht zum zweiten Male zu machen und in der Flottenfrage
einzulenken. Wieweit der politische Abschied der beiden Männer
tatsächlich auf diesen Ton eingestellt war, läßt sich nicht
beurteilen.
Die beiden Gefahrenkreise, welche dem Reiche zum Schicksal werden konnten,
waren allerdings damit bezeichnet. Sie verschwanden nicht mit dem
Kanzlerwechsel, sondern blieben die Erbschaft für die neuen
Männer. Die Brandherde nach Möglichkeit zur Ruhe zu bringen und
unter allen Umständen auseinanderzuhalten, das war die Aufgabe einer
Reichspolitik, die einen Weltkrieg vermeiden wollte.
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