Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 1: Das Deutsche Reich
unter Kaiser Wilhelm II. (1890 - 1909) (Forts.)
[548] 4. Die deutschen
Gegenstöße gegen die englisch-französische Verbindung
(1904 - 1907).
Eine neue Konstellation beherrschte seit den ersten Monaten des Jahres 1904 die
Welt: der Ausbruch des russisch-japanischen Krieges und der Abschluß des
englisch-französischen Abkommens. Die Kombination dieser beiden
Vorgänge samt den von ihnen ausgelösten Rückwirkungen
ließ eine Reihe politischer Probleme von höchster Tragweite
aufsteigen: denn daß aus dem Kriege, welchen Verlauf er immer nehmen
würde, eine neue und endgültige Gruppierung der Staatengesellschaft
aufsteigen würde, konnte keinem Weiterblickenden verborgen bleiben. Nur
eine Vorfrage war, ob es gelingen würde, die Verbündeten der
Russen und Japaner, Frankreich und England, vermöge ihrer
Verständigung untereinander der Gefahr zu entziehen, an dem Kriege der
anderen beteiligt zu werden. Aber darüber hinaus drängten sich erst
die eigentlichen Fragen auf. Würde das
russisch-französische Bündnis, das auf dem ostasiatischen
Kriegsschauplatze nicht zur Anwendung kam, diese Prüfung seiner inneren
Haltbarkeit überstehen oder einer Umbildung unterzogen werden: sei es,
daß das Bündnis sich zu einem Kontinentalbunde nach der deutschen
Seite erweiterte, sei es, daß es sich mit der
englisch-französischen Entente zu einer Kombination mit dem Drehpunkt
in Paris zusammenfaßte? Damit war schon gesagt, daß es sich
für die Politik des Deutschen Reiches um eine Lebensfrage handelte. Wenn
die amtlichen Kreise in London und Paris sich damals von der Absicht einer
Isolierung der deutschen Politik noch fern hielten, so bekannte doch ihre Presse
sich bereits herausfordernd zu dem, was die Sprache der Regierungen vorsichtig
unterdrückte. Als aber der Kaiser nach Beginn des Krieges in seinen Reden
einen ernsteren Ton anschlug,1 legte eines der führenden
antideutschen Blätter, der Spectator, seine Worte als Folge der
Isolierung Deutschlands aus: der Kaiser suche nur durch laute und
leidenschaftliche Worte diese Tatsache zu verbergen, damit man nicht bemerke,
"einen wie tiefen Fall in der Weltstellung es in den letzten Jahren getan habe".2 [549] Und allerdings war die
große Frage, ob die englisch-deutsche Rivalität durch den Verlauf des
ostasiatischen Krieges sich nicht noch weiter verschärfen und die von ihr
ausgelöste Isolierungstendenz zur vollen Entfaltung bringen würde.
So mußte sich für die deutsche Politik aus der Verwicklung, deren
Dauer noch niemand absehen konnte, aller Wahrscheinlichkeit nach die letzte
Entscheidung der Probleme ergeben, die seit der Wende des Jahrhunderts auf ihr
lasteten. Es waren ebenso viele Aussichten wie
Gefahren - sie ließen sich nicht prophezeien, wie denn der Verlauf
des russisch-japanischen Krieges eine große Unbekannte war, die keine
Partei in Rechnung zu stellen vermochte. Nur daß die Machtstellung und
Sicherheit des Deutschen Reiches mit dieser Entscheidung verflochten war,
drängt sich dem Rückblickenden heute auf das eindrucksvollste
auf.
Kaiser Wilhelm II. hatte in den letzten Jahren, entsprechend der
vollzogenen Abwendung Englands, die Verbindung mit dem Zaren wieder fester
geknüpft und war dabei auf ein wachsendes Entgegenkommen auf der
anderen Seite gestoßen.3 Der Briefwechsel zwischen Kaiser
Wilhelm II. und Nikolaus II. entfaltete niemals eine solche
Lebhaftigkeit und Vertraulichkeit wie in den nächsten Jahren;4 während der Kaiser durchweg in
vollem Einverständnis mit dem Auswärtigen Amte handelte, war es
jetzt zuweilen der Zar, der über die Intentionen seiner Ratgeber hinweg die
enge Fühlung mit dem Kaiser pflegte. Nach dem Ausbruch des Krieges gab
es für den Kaiser keine Wahl: innerlich hatte er von vornherein Partei
genommen. Die Solidarität der Monarchien auf der einen, die gelbe Gefahr
auf der anderen Seite entschieden über seine Stimmung. Er war ganz zu den
Vorstellungen von 1895/96 zurückgekehrt5 und meinte, der Endkampf der gelben
und weißen Rasse, ja, des Buddhismus und des Christentums ziehe herauf;
eben daher sei es eigenstes deutsches Interesse, daß alle Sympathien auf
Rußland Seite ständen. Er konnte sich zu der Vorstellung steigern:
"Ich weiß genau, daß wir einst mit Japan auf Tod und Leben werden
fechten müssen".6 Auch die amtliche Politik des
Auswärtigen Amtes, wenn sie gleich diese temperamentvolle Parteinahme
nach Kräften realpolitisch verdünnte, verfolgte die Linie der
wohlwollenden Haltung gegen Rußland. Es kam hinzu, daß der
Kaiser und die militärischen Kreise Berlins fest an die Überlegenheit
der russischen Waffen glaubten - in einem Siege Rußlands
über Japan vermeinten sie die eigentliche Chance der deutschen
Außenpolitik zu erkennen.
[550] Aus voller
Überzeugung hatte ein Brief Wilhelms II. an Nikolaus II. vom 6. Juni
ausgesprochen: der Zar könne auf ihn rechnen wie auf einen Freund. Auch
für den Zaren gab es, so vernahm man jetzt aus Petersburg, nur noch eine
Autorität: den deutschen Kaiser. Auf beiden Seiten sah man nunmehr den
Weg zu dem Kontinentalbündnis, das sowohl der Kaiser als auch russische
Staatsmänner wie Witte ernstlich betrieben, weiter geöffnet als
bisher: in der Mächtelage, die sich während des Krieges
herausstellte, besaß es jedenfalls eine bessere Aussicht auf Verwirklichung
als jemals früher. Wilhelm hatte schon im März 1904 den Russen
deutlich nahegelegt, daß sie sein Entgegenkommen mit Wiederaufnahme
der Handelsvertragsverhandlungen erwidern möchten.7 Als Minister Witte bei dem
Reichskanzler Fürsten Bülow zu diesem Zwecke im Juli 1904 in
Norderney eintraf, bekannte auch er sich zu der Überzeugung, daß ein
intimes Verhältnis zwischen Deutschland und Rußland die einzig
richtige Politik sei: "Il faut revenir aux temps de Nicolas I. et
Alexandre II. et oublier les malentendus de la fin du siècle
dernier."8 Die Tonart hatte man in Petersburg,
wenn die Zeitläufte es verlangten, immer gern
angeschlagen - aber war nicht zu erwarten, daß der wenig
glücklich einsetzende Verlauf des Feldzuges diese Stimmung noch weiter
vertiefen würde? Diesem neuen Vertrauensverhältnis entsprach die
mit der Zeit ansteigende Entblößung der russischen Westgrenze von
Soldaten. Schon am 19./20. April stellte Graf Schlieffen fest, daß
Rußland zwar noch keine Truppenverbände abgezogen, aber doch
alle Truppenverbände an der Grenze geschwächt hätte. Das
ging nicht nur das Verhältnis zwischen Rußland und Deutschland,
sondern auch das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland an. Graf
Schlieffen zog damals schon die theoretische Schlußfolgerung: "Wenn die
Notwendigkeit eines Krieges mit Frankreich sich für uns ergeben sollte, so
wäre der gegenwärtige Augenblick wohl zweifellos günstig."
In Paris hatte man schon von Anfang an die Politik Delcassés kritisiert,
die Frankreich in eine schwierige Situation bringe; als die russischen Niederlagen
des Sommers folgten, fuhr zwar die Presse fort, sich für Rußland
einzusetzen, aber die Meinungen in der Gesellschaft schlugen bedenklich um, und
die Schwarzseher sahen schon ein für zehn oder zwanzig Jahre
gelähmtes Rußland vor sich. Dieser Zustand vertiefte sich mehr und
mehr. Im September 1904 waren schon sämtliche fünf
Schützendivisionen, die unter Alexander III. lediglich für
Einfälle in Ostpreußen an die Grenze verteilt waren, nach Ostasien
abgezogen. Der Kaiser selbst stand unter dem tiefen Eindruck: "Das ist ein
Ereignis, welches der alte Moltke - der
die Formation dieser Truppenteile
erlebte, - und der alte Bismarck mit Sehnen und Hoffen sich
herbeiwünschten und ich zu erleben schon aufgegeben [551] hatte."9 Die militärische
Zweifrontensituation, wie sie seit 1891/92 auf dem deutschen Reichskörper
lastete, begann allmählich ihre Gefahren zu verringern. Im Sommer 1905
schien diese Sorge für längere Zeit völlig beseitigt.
Das war die eine Seite der Medaille, die nächste Augenblickswirkung. Aber
schon einige Wochen bevor der Kaiser, nach der Schlacht bei Liau Yang,
die Erleichterung an der Ostgrenze feststellte, kam der deutsche Botschafter in
Petersburg zu dem Ergebnis, daß die Siege der Japaner der Todesstoß
für Rußlands ostasiatische Position seien und daß das russische
Expansionsbedürfnis gezwungen sein würde, sich wieder den Fragen
des mittleren und nahen Orients zuzuwenden: alles spreche dafür, daß
Rußland die im fernen Osten erlittenen Niederlagen hier auszugleichen
versuchen werde.10 Gewiß konnte eine solche
Rückbiegung einen russisch-englischen Gegensatz an anderer Stelle wieder
aufwecken; aber es war auch möglich, daß die in Asien
enttäuschten russischen Machtinstinkte sich zu der ihnen einst so vertrauten
Welt des Balkans zurückwandten und den seit einem Jahrzehnt fast
befriedeten Gegensatz zu Österreich von neuem ins Leben riefen.
Diejenigen Elemente, die seit Jahren in London am Werke waren, die
Vereinbarkeit der russischen und englischen Interessen in der Welt nachzuweisen,
waren auf unterirdischen Wegen längst damit beschäftigt, eine
derartige Frontverschiebung der russischen Offensivkräfte
vorzubereiten.
Die Gruppierung der Staatengesellschaft, wie sie aus diesem Kriege emporsteigen
würde, war das Geheimnis, das in der Luft lag und alle, auch die
Unbeteiligten, mit höchster Spannung erfüllte. Während Japan
durch seine Siege seinen Eintritt in den großmächtlichen Kreis
erzwang, waren auch die Vereinigten Staaten als ostasiatische Macht angesichts
des Welthorizontes genötigt, sich tiefer als vordem in das Spiel der
Mächte zu versenken. Schon bei Beginn des Krieges führte eine
unter der Hand gegebene deutsche Anregung dazu, daß Amerika bei
Rußland und Japan einen Wunsch der Neutralen zur Annahme brachte,
daß die Kriegführenden den Fortbestand und die Neutralität
des Chinesischen Reiches unter Ausscheidung der Kriegszone garantieren
möchten. Und mit der Zeit entwickelte sich zwischen dem Deutschen
Kaiser und dem Präsidenten Roosevelt ein näherer Verkehr, als er
bisher zwischen dem Berliner Schlosse und dem Weißen Hause
möglich gewesen war. Der temperamentvolle Präsident sah in dem
Kaiser "den einzigen Mann, den er verstehe, und der ihn verstehe",11 und noch rückblickend pries er
später den Kaiser als den einzigen Herrscher Europas, mit dem er
während der äußerst kritischen Periode des
russisch-japanischen Krieges eine [552] gemeinsame Politik
hätte treiben können.12 In Berlin entzog man sich den
weiteren Verlockungen, an denen es auch in Washington nicht fehlte,
während Bülow mehr als einen vorsichtigen Anlauf nahm, in dem
gemeinsamen chinesischen Interesse zu einer Vereinbarung zu kommen, ja sogar
die Möglichkeit eines deutsch-amerikanischen
Defensivbündnisses - gegenüber der Gefahr einer
englisch-japanisch-russisch-französischen
Gruppe - anzudeuten. Die enge Fühlung endete in einer
gemeinschaftlichen vertraulichen Arbeit an der Herbeiführung des
russisch-japanischen Friedensschlusses - eben mit Ablauf des Krieges
sollte auch diese in sich einzigartige Situation wieder zurücktreten.
Wer den ganzen, durch den Krieg eröffneten weltgeschichtlichen
Problemkreis übersieht, wird begreifen, daß im Verhältnis
dazu für den Gesichtswinkel der deutschen Politik die sachliche
Auswirkung des englisch-französischen Abkommens vom April 1904
zunächst fast in den Hintergrund trat. Ob dieses Abkommen durch seine
einzelnen Inhalte in den deutschen Interessenkreis eingriff, ließ sich erst
dann genau erkennen, wenn man seinen amtlichen Wortlaut von den Beteiligten
erfuhr - und Mr. Delcassé beging ja den schweren Fehler,
eine solche Information überhaupt zu unterlassen. Darüber
hinaus - und das wog an sich unvergleichlich schwerer als marokkanische
und ägyptische Handelsinteressen - war aber auch ein nahes
Zusammenwirken zweier Großmächte angebahnt, mit deren
Unverbundenheit man bisher gerechnet hatte: von welchem Geiste ihre
Verbindung erfüllt sein würde, mochte erst an dem Verhalten der
Vertragsschließenden allmählich erkennbar werden. Das Abkommen
mochte, solange man es nicht im einzelnen kannte, als eine friedlich farblose Liste
von allerhand über die Welt ausgedehnten Interessenausgleichen
erscheinen: ob es darüber hinaus noch etwas anderes bedeutete,
mußte sich enthüllen, sobald in den Einzelfragen auch ein deutsches
Interesse berührt wurde.
Die deutsche Aktion setzte nicht bei Marokko ein, wo man abwartete, bis der
Franzose zu sprechen begann, sondern bei der durch den französischen
Verzicht verbesserten Stellung der Engländer in Ägypten, also auf
einem völkerrechtlich sehr sauber bestellten Boden. England erbat
für das Khedivialdekret, das nunmehr der englischen Verwaltung auf dem
Gebiete Ägyptens eine größere Freiheit gewährte, und
für die Befugnisse der internationalen Schuldenkommission auch die
deutsche Zustimmung, wie die der übrigen Mächte. Während
diese angesichts der englisch-französischen Übereinstimmung
bedingungslos zustimmten, verlangte die deutsche Regierung für ihre
Zustimmung als Gegengabe gewisse Zusicherungen: die Gewährung
gleicher Handelsfreiheit wie für Frankreich, und einige Zusagen, die
Schulen und Institute betrafen. Man konnte sich deutscherseits darauf berufen,
daß man seit dem Jahre 1882 die Entwicklung der englischen
Ausnahmestellung rückhaltlos gedeckt habe und Berücksichtigung
dieser [553] Wünsche
verlangen dürfe. Während die mit Lord Cromer in Kairo
geführten privaten Unterhandlungen ohne Mühe zum Erfolge
führten, stieß man aber in der amtlichen Verhandlung in London auf
unerwarteten Widerstand; es schien, als ob man hier fürchtete, Frankreich
zu verstimmen, wenn man Deutschland das gleiche gewähre, und daher aus
prinzipiellen Gründen von den anfangs zugesagten Konzessionen
zurückzukommen suchte. Aber eben in dem Prinzipiellen lag auch die
über das Objekt hinausreichende Bedeutung des Falles für die
deutsche Seite: ein Zurückweichen Deutschlands vor dem
englisch-französischen Widerstande würde keineswegs geeignet
sein - so argumentierte Holstein -, bessere
deutsch-englische Beziehungen hervorzurufen, sondern im Gegenteil den
Engländern, den Franzosen und auch der übrigen Welt den
praktischen Beweis liefern, daß man durch schroffe Behandlung bei
Deutschland am meisten erreiche, und daß Deutschland nach der
französisch-englischen Entente um jeden Preis Reibungen mit einer der
beiden Mächte vermeiden wolle.13 Auch der englische Botschafter in
Berlin bezeichnete das Verhalten seiner Regierung als unbegreiflich, und wollte in
der schärfsten Form nach England berichtet haben; der Kaiser meinte, ein
solches Verhalten, kurz vor dem Besuche König Eduards, müsse die
Schwarzseher in der Vermutung bestätigen, daß England und
Frankreich ernstlich Böses im Schilde führten, was er bisher nicht
hätte glauben wollen.14 Schließlich nahm dann die
englische Regierung die deutschen Forderungen am 17. Juni an. Es war eine kurze
Kraftprobe, sozusagen auf der Sonnenseite des
englisch-französischen Abkommens, aber von symptomatischer Bedeutung,
weil sie den Deutschen den Weg zeigte, auf dem sie auch auf der Gewitterseite, in
Marokko, mit den Franzosen unter Wahrung ihrer eigenen Rechte mit analogem
Verfahren zu einer vertragsmäßigen Übereinstimmung
gelangen könnten.
Wenige Tage darauf brachte König Eduard bei seinem Besuche in Kiel (25.
bis 30. Juni 1904) einen schwungvollen Trinkspruch auf die beiderseitigen
Flaggen aus, die bis in die fernsten Zeiten nebeneinander wehen würden. Er
versicherte dem Reichskanzler, daß die neue Entente ihre Spitze nicht gegen
Deutschland richte und daß er nicht daran denke, Deutschland isolieren zu
wollen; er wünsche im Gegenteil die Reibungsflächen zwischen allen
Großmächten zu verringern. Aber man konnte nicht verkennen,
daß der König mit diesem wohlmeinenden repräsentativen
Akte keineswegs die öffentliche Meinung seines Landes vertrat. Ein
Gegenbesuch der deutschen Flotte in Plymouth (10. Juli 1904) fand statt der
erwarteten eine umgekehrte Wirkung und eine sehr kühle Presse. Es stellte
sich heraus, daß jedes Mittel, mit dem man guten Willen zu zeigen
versuche, falsch gedeutet werde und alle Annäherungsversuche einstweilen
als unzeitgemäß gelten mußten. Die öffentliche Meinung
Englands, durch [554] das französische
Abkommen nach der einen Seite und den
russisch-japanischen Krieg nach der andern Seite jeder Sorge enthoben,
fühlte sich jetzt um so mehr berechtigt, in dem Deutschen, gegen den man
die neuen Freundschaften geschlossen hatte, den Störenfried Europas zu
sehen.15
Die neutrale Haltung der deutschen Politik begann erst von dem Augenblick an
auf eine stärkere Probe gestellt zu werden, als das Auslaufen der russischen
Ostseeflotte nach Ostasien näherrückte.16 Für die Kohlenversorgung auf
dieser Fahrt, die in neutralen (französischen) Häfen vorgenommen
werden sollte, hatte eine russische Firma Verträge, unter anderem mit der
Hamburg-Amerika-Linie geschlossen; daß nach den
völkerrechtlichen Gebräuchen über den privaten Handel der
Neutralen eine Versorgung zulässig war, wurde deutscherseits sofort
gegenüber den japanischen Einwendungen festgestellt; übrigens
waren auch englische Firmen an dem Geschäft beteiligt.17 Trotzdem setzte gerade in der
englischen Presse ein scharfer Hetzfeldzug ein, wohl zu dem Zweck, den Japaner
mit dem entfesselten Lärm über die eigene Beteiligung
hinwegzutäuschen, oder doch den Versuch zu machen, ob der Deutsche
nicht zurückweiche.18
Seitdem die Ostseeflotte am 15. Oktober ausgelaufen war, trat die prinzipielle
seerechtliche Frage hinter der besonderen Frage zurück, wie weit bis in die
Nähe des zu erwartenden Kriegsschauplatzes die Versorgung fortgesetzt
werden dürfe. Von Madagaskar an, behauptete die eine Seite, beginne das
Kriegsgebiet; schließlich hat sich die Versorgung bis Saigon erstreckt; je
weiter man fuhr, desto näher rückte immerhin die Möglichkeit,
daß ein Zwischenfall ein größeres Feuer zur Entzündung
bringen würde.
Aber lange bevor die Flotte dieses Ziel erreicht hatte, war die Kohlenfrage durch
ein anderes zufälliges Ereignis in den Schatten gedrängt worden, das
an sich die deutsche Regierung nicht im geringsten berührte, aber in seinen
Rückwirkungen trotzdem gegen sie zu wenden versucht wurde: das war
jener Vorfall, in dem durch die ausfahrende russische Flotte auf der Doggerbank
in der Nacht vom 21. zum 22. Oktober einige englische Fischerboote mit ihren
Insassen vernichtet wurden. Eine leidenschaftlich aufflammende, aber rasch
wieder verlöschende Kriegsstimmung war die Folge. Daß die
öffentliche Meinung der Engländer über die unsinnige
Schießerei der Russen in die wildeste Erregung [555] geriet, war begreiflich.
Die Politik aber verlangte, daß die englische Regierung sich mit
möglichster Gelassenheit dem Volkssturm entgegenstemmte, um nicht in
ganz ungewollte Verwicklungen hineingezogen zu werden. Sie forderte
natürlich schleunigste Genugtuung: das Schwierigste war Anhalten der
Flotte in Vigo, Ausschiffung und Bestrafung der schuldigen Offiziere. Schon gab
es am 27. Oktober einen Augenblick, wo die englische Admiralität
Maßregeln zur Bereithaltung der nächstverfügbaren
Geschwader traf und der Krieg nach der Sprache der Presse fast unvermeidlich
schien. Am andern Tage war die Krisis überwunden, unter beeiferter
Mitwirkung der Franzosen, die sich plötzlich in gefährlichem
Gedränge zwischen neuen Freunden und alten Verbündeten
erblickten, und unter klugem Entgegenkommen der Engländer, die in der
entscheidenden Frage den Schiedsgerichtsvorschlag des Zaren annahmen. Mochte
es für die öffentliche Meinung eine Enttäuschung, in den
Augen der Japaner sogar ein schlapper Rückzug
sein - die englisch-französische Entente hatte das dringende
Bedürfnis, diesen Konflikt schleunigst aus der Welt zu schaffen.
Nicht genug damit, sie ging sofort nach dem Ausgang der Krisis dazu über,
die Leidenschaften der seltsam zugespitzten Situation nach irgendeiner anderen
Richtung hin abzureagieren. Schon in den ersten Tagen war in der
englisch-französischen Presse die absurde Anklage aufgetaucht,
Deutschland habe, um sich als "Freund" zu erweisen, durch Warnungen an die
russische Flotte (vor japanischen Minen) eigentlich die Nervosität des
Admirals verschuldet und damit, für seine politischen Zwecke,
machiavellistisch das ganze Unheil heraufbeschworen.
Diese Anklage ist auf Grund des gesamten Aktenmaterials als durch nichts, aber
auch gar nichts begründet zu erweisen; tatsächlich sind Warnungen
von anderer Seite gekommen, aber das Berliner Auswärtige Amt selbst hat
solche Nachrichten absichtlich nicht, um die Neutralität nicht zu verletzen,
nach Petersburg weitergegeben.19 Die Erfindungen, die dann über
Paris - um allem die Krone aufzusetzen - sogar in die Petersburger
Presse gelangten, gehören in das System politischer Brunnenvergiftung, das
von einer publizistischen Gruppe mit bestimmten Endzielen ununterbrochen
betrieben wurde. So blieb aus der Erinnerung an dieses tragische
Nachtstück auf der herbstlichen Nordsee wiederum nur eine neue
englisch-deutsche Verhetzung zurück, eine neue Leistung der
Times, der National Review und aller der Organe, die an der
Störung des Friedens zwischen zwei Völkern arbeiteten.20
Die Aktion mündete, als der Anlaß mit der Weiterfahrt der russischen
Flotte von Vigo aus der Sehweite verschwand, in eine Flottenpanik. Denn
irgendwie hatte die englische Flotte in diesen Tagen einer plötzlichen
Kriegsmöglichkeit das bloße Vorhandensein der in den
Heimatgewässern konzentrierten deutschen Flotte als eine störende
und feindselige Unbekannte im Kriegsspiel empfunden, und [556] je mehr die politischen
Kreise das Bedürfnis hatten, die Volkserregung über die russischen
Seeoffiziere nach irgendeiner andern Seite hin abzulenken, desto leichter kam
man stillschweigend überein, daß das am besten nach der deutschen
Seite geschähe. Schon in den nächsten Wochen gingen englische
Zeitschriften dazu über, unter der beliebten Erinnerung an das Schicksal
Kopenhagens im Jahre 1807 das Thema zu behandeln, man müsse mit
der - doch nur gegen England
gebauten - deutschen Flotte rechtzeitig ein Ende machen.
Die Flottenpanik, sachlich unbegründet wie sie war, hing anscheinend mit
den Möglichkeiten einer politischen Neugruppierung in diesen Wochen
zusammen.
Auf der Höhe des Doggerbankkonfliktes schien einen Augenblick lang die
Stunde gekommen, das letzte Wort über das Verhältnis der
Mächte Deutschland - Rußland - England zu
sprechen. Man glaubte in Berlin nach Ausbruch des Konfliktes bemerkt zu haben,
daß die Franzosen ihre Vermittlertätigkeit in der Krisis in der
Richtung auf ein russisch-französisch-englisches Bündnis
auszudehnen suchten,21 und hielt es für angezeigt, diese
Gefahr zu durchkreuzen. Schon am 24. Oktober ließ Holstein den
russischen Botschafter wissen, daß es angesichts der englischen
Pressedrohungen nicht unmöglich sein würde, daß England
und Japan offiziell von Deutschland die Einstellung der Kohlenlieferungen
verlangen würden, um mit einer solchen Drohung die russische Flotte
stillzulegen. Dieser neuen Gefahr sollten Rußland und Deutschland ins
Auge sehen, und Frankreich an seine Bündnisverpflichtung erinnern. Im
Einverständnis mit diesem Vorgehen telegraphierte auch der Kaiser am 27.
Oktober an den Zaren;22 er betonte, Frankreich würde
sich einer solchen Aufforderung nicht entziehen können, und so
würde sich eine mächtige Kombination der drei stärksten
Kontinentalmächte bilden, die anzugreifen die
anglo-japanische Gruppe sich zweimal überlegen würde. Graf
Lamsdorff sah in dieser Sondierung, die nicht frei von der Künstlichkeit
mancher Holsteinscher Kombinationen ist, nur das Bestreben der deutschen
Diplomatie, die russische Freundschaft mit Frankreich zu stören. Aber der
Zar war entgegengesetzter Meinung. In seiner Antwort an den Kaiser vom 29.
Oktober nahm er nicht nur die Anregung auf, sondern griff, von der Erbitterung
im Augenblicke fortgerissen, nach der ganzen Hand. Der einzige Weg wäre
allerdings, wie der Kaiser sage, daß Deutschland, Rußland und
Frankreich sich über ein Übereinkommen verständigten, um
die englisch-japanische Arroganz aus der Welt zu schaffen. Nicht genug damit, er
bat Wilhelm II., den Entwurf eines solchen Vertrages aufzusetzen und ihm
zu übersenden: "Sobald dieser Vertrag von uns angenommen ist, ist
Frankreich gebunden, sich seinen
Ver- [557] bündeten
anzuschließen." Diese Kombination sei ihm, dem Zaren, schon oft durch
den Kopf gegangen.23
Rascher und unbedingter, als man in Berlin gedacht hatte, lag anscheinend ein
russisches Bündnisangebot auf dem Tisch. Das Tor zu einem
Kontinentalbunde schien nach dem entscheidenden Schlußworte des Zaren
weit geöffnet - es konnte ein weltgeschichtliches Ereignis
werden. Der Kaiser antwortete, in Übereinstimmung mit dem
Reichskanzler, schon am andern Tage in einem langen Schreiben und mit der
Übersendung eines Bündnisentwurfes.24 Das Bündnis würde
natürlich, darauf legte er Nachdruck, rein defensiv sein, und
ausschließlich gegen den oder die europäischen Angriffe gerichtet, in
der Gestalt einer Feuerversicherung auf Gegenseitigkeit gegen Brandstiftung.
"Das Hauptergebnis wird sein, wenn Du und ich Schulter an Schulter
zusammenstehen, daß Frankreich förmlich und öffentlich sich
mit uns verbündet und auf diese Weise seine Vertragspflicht gegen
Rußland erfüllt."
Es ist begreiflich, daß die Leiter der deutschen Außenpolitik sich,
angesichts der unabsehbaren Tragweite des Entschlusses, mit den
militärischen Autoritäten, mit dem General von Schlieffen und dem Admiral von Tirpitz
aussprachen. Es kam auf die doppelte Frage an, wie
Frankreich zum Beitritt zu gewinnen sei und ob es überhaupt einem
ausgeübten Drucke nachgeben würde, und des weiteren, wie England
auf einen solchen Zusammenschluß des Kontinents antworten
würde - das war der Gegenstand einer Besprechung der
militärischen und politischen Häupter am 31. Oktober.25 Die Kritik ging von Tirpitz aus, der
den Wert der russischen Allianz zu Lande und Wasser gering schätzte,
dagegen (wie häufig in ähnlichen Situationen) vor der englischen
Kriegsgefahr große Sorge verriet. Er hatte wohl recht, wenn er seine Zweifel
in ein "mit der Pistole erzwungenes Bündnis" mit Frankreich setzte; wenn
er aber am Ende der deutsch- [558] russischen Pression auf
Paris überhaupt eine Anwendung von Gewalt für nützlich
hielt,26 so schien er den wahren Sinn des
Kontinentalbundes zu verkennen.
Allerdings, die Möglichkeit des ganzen Vorgehens drehte sich um die
Einwirkung auf Frankreich. Der russische Gegenentwurf, den der Zar am 7.
November übersandte, hatte gerade an der entscheidenden Stelle eine
Änderung angebracht: statt einer
russisch-deutschen Aufforderung an Frankreich die zweckmäßigere
Formel, der Zar werde die nötigen Schritte tun, um Frankreich in dieses
Abkommen einzuweihen und es zum Anschluß als Verbündeten zu
verpflichten. Bülow und Holstein glaubten auch den Gegenentwurf noch
etwas vorsichtiger gestalten zu können; sie schlugen, statt des von ihnen
selbst formulierten Bündniszwecks "um den
russisch-japanischen Krieg nach Möglichkeit zu lokalisieren", die
allgemeinere und wuchtigere Fassung vor: "um den Frieden in Europa
aufrechtzuerhalten". Schon äußerte sich Bülow zu dem Kaiser
in einer diesem verwandten sanguinischen Hoffnungsseligkeit über die
"wirklich großartige und für die zuschauende Welt gänzlich
unerwartete Weichenstellung". Wenn man in Paris und London nur die geringste
Ahnung davon hätte, würde man alles daran setzen, um das
deutsch-russische Bündnis, "welches die Möglichkeit eines
russisch-französisch-englischen Bündnisses kontrekarrieren wird,
noch in letzter Stunde zu vereiteln". Auch der Kaiser glaubte fest an das Gelingen,
wenn er gleichzeitig (am 16. November) dem Zaren schrieb, er wolle die
Verhandlung mit Frankreich seiner Diplomatie überlassen; er war
überzeugt, daß, wenn einmal die
russisch-deutsche Abmachung Tatsache geworden sei, doch die Anziehung der
vereinten Kraft unwiderstehlich sei und auch die Franzosen alle Anstrengungen
machen würden, um England an dem Kriege zu verhindern. Wenn dieser
Brief unter den gegen England anzuwendenden Druckmitteln andeutete, daß
militärische Schritte an der persischen und afghanischen Grenze nicht
unzweckmäßig sein dürften, so mochte er die Grenze
staatsmännischer Vorsicht bereits überschreiten; das gilt schon von
dem Entwurfe Bülows, vollends aber von der schwungvollen Art, in der
Wilhelm II., von seiner Phantasie fortgerissen, den Verlust Indiens
für die Jingoes noch weiter ausmalte.27
Aber gleich darauf erwies sich dieses Spiel der Phantasie als leere Seifenblase. In
Petersburg siegte die Realpolitik Lamsdorffs über den Versuch des Zaren,
eigene Wege zu wandeln. Am 23. November war Nikolaus II.
genötigt, nach Berlin zu telegraphieren, daß er es vor der
Unterzeichnung des Vertrages für ratsam halte, die Franzosen davon in
Kenntnis zu setzen. Alles hatte darauf [559] beruht, die Franzosen
mit dem russisch-deutschen Abkommen vor eine vollendete Tatsache zu stellen;
wenn man aber vorher eine Verhandlung über die Möglichkeit des
Abkommens mit Paris eröffnete, so bedeutete das Indiskretion nach
London, Veröffentlichung in der Times, wie der tief
enttäuschte Kaiser meinte.28 Schon erwachte in ihm die Sorge, die
ganze Geschichte werde noch herauskommen, wenn sie noch lange weitergehe:
"die Situation fängt an, immer mehr derjenigen vor dem
Siebenjährigen Kriege zu gleichen." So warnte er den Zaren, nach
Bülows Vorschlag, sofort dringend vor einer vorzeitigen Mitteilung an
Frankreich. Wenn die französische Regierung sicher wisse, daß
Rußland und Deutschland vertragsmäßig verpflichtet seien,
sich zu unterstützen, werde sie die Engländer zum Frieden ermahnen;
wenn sie aber wisse, daß ein
deutsch-russischer Vertrag erst projektiert, aber noch nicht abgeschlossen sei, so
könnte sie der Versuchung unterliegen, den Engländern, solange es
noch Zeit sei, einen Wink zu geben. Dann aber könnten England und Japan
sich entschließen, Deutschland in Asien und Europa auf der ganzen Linie
anzugreifen und zur See zeitweilig lahm zu legen. Wenn der Zar ohne vorherige
Zustimmung Frankreichs keinen Vertrag schließen könne, dann sei es
weniger gefährlich für sie beide, "daß wir jetzt keinen Vertrag
abschließen" (November 24). Damit war das Thema erledigt.29
Die Sorge des Kaisers vor Indiskretionen schien allerdings berechtigt zu sein.
Schon in den nächsten Tagen sprachen allerhand Anzeichen dafür,
daß von den russisch-deutschen Verhandlungen etwas von der Newa an die
Seine durchgesickert sei,30 ja, die Annahme gewann an
Wahrscheinlichkeit, daß von hier aus auch Gerüchte, vielleicht von
übertriebener Art, nach London gelangt seien. Eine kriegerische Tonart
bemächtigte sich ohne ersichtlichen Anlaß eines großen Teils
der englischen Presse.31 Wir haben schon von der Flottenpanik
gesprochen, in die der Zwischenfall auf der Doggerbank ausmündete.
Daß sie sachlich unbegründet war, daß, wie der Kaiser damals
feststellte, den 43 Linienschiffen und 140 Kreuzern auf englischer Seite nur 14
Linienschiffe und 20 Kreuzer auf der deutschen Seite gegenüberstanden,
bedarf keines Nachweises. Es kennzeichnete zwar nicht die Berechtigung, wohl
aber den Ernst dieser Drohungen, daß sie sogar einen [560] sichtbaren Ausdruck in
der Aufstellung der Flotte fanden: am 10. Dezember wurden
4 Linienschiffe der englischen Mittelmeerflotte der Kanalflotte zugeteilt.
Dazu gesellten sich weitere Maßnahmen, die eine unmittelbar offensive
Tendenz verrieten.
Am 6. Dezember hatte England die Verfügung erlassen, durch welche die
in englischen Häfen Kohle einnehmenden Dampfer am Auslaufen mit ihrer
Fracht verhindert werden sollten. Damit war einerseits die Möglichkeit
eines deutschen Konflikts mit
England - Japan nähergerückt, anderseits die deutsche
Regierung in der Zwangslage, die Russen zu nötigen, Farbe zu
bekennen.32 Sie stellte am 6. Dezember die
amtliche Frage, ob die russische Regierung sich verpflichte, bei etwaigen aus der
Kohlenlieferung erwachsenden Schwierigkeiten Deutschland mit allen Mitteln
beizustehen - ohne eine solche Zusicherung müsse die Kaiserliche
Regierung diejenigen Maßnahmen ergreifen, welche die Sicherheit des
Deutschen Reiches erheische. Entsprechend telegraphierte anderntags auch Kaiser
Wilhelm II. dem Zaren, er müsse jetzt absolute, positive Garantie
haben, ob er im Falle eines Krieges, den England und Japan aus diesem
Anlaß erklären würden, ihn ununterstützt lassen wolle
oder nicht; könne der Zar nicht garantieren, Schulter an Schulter mit ihm zu
kämpfen, dann müsse er leider den deutschen Dampfern verbieten,
die Kohlenlieferung fortzusetzen. Zwar erklärte Nikolaus II. sich am
12. Dezember bereit, in allen aus der Kohlenfrage entstehenden Schwierigkeiten
Deutschland mit allen Mitteln beizustehen, aber man fand in Berlin diese
Deckung gegen einen bestimmten Kriegsgrund nicht ausreichend, da sie vom
Gegner umgangen werden könne; statt dessen verlangte man
Defensivbündnis auf Kriegsdauer und ein Jahr nachher.33 Auf der andern Seite schien die
russische Diplomatie das Abstoppen der Kohlenlieferung beinahe als einen
unfreundlichen Akt anzusehen - bei aller seiner Macht stand das Deutsche
Reich zwischen den Weltmächten fast wie Preußen im Jahre 1805.34 Der Reichskanzler hatte schon den
Botschafter in London nach Berlin berufen, um die Frage eines englischen
Krieges oder Überfalles im Zusammenhang mit einem
deutsch-russischen Abkommen zu erörtern.35 Der tief eindringende
Situationsbericht Metternichs vom [561] 18. Dezember setzte
mit den Worten ein: "In England ist die Ansicht weit verbreitet, daß sich
Deutschland mit kriegerischen Absichten gegen das Inselreich trage; in
Deutschland wird umgekehrt das Gleiche von England angenommen. Beides ist
falsch." Aber er warnte ernstlich, diese Gefahr, sei es durch ein Flottengesetz mit
chauvinistischer Agitation, sei es durch den Abschluß eines russischen
Bündnisses auf ein Jahr, künstlich zu schaffen oder näher zu
bringen, und riet dazu, die Kohlenversorgung nur solange fortzusetzen, wie die
eigene Sicherheit es erlaube: wann diese Grenze erreicht sei, sei wesentlich eine
praktische Frage. Unter dem Eindruck dieser wahrhaft staatsmännischen
Warnung (die vor allem auch mit der Illusion der
russisch-französisch-deutschen Entente unbarmherzig aufräumte),
ergingen von Berlin am 21. Dezember die entscheidenden Weisungen. Man
schlug in Berlin vor, die Vertragsfrage fallen zu lassen, und erklärte, in der
Kohlenfrage den Umständen gemäß handeln zu wollen, auch
weiterhin gemeinsam mit den Russen, aber "innerhalb der Grenzen, welche die
Sorge um unsere eigene Sicherheit uns vorschreibt".36 Um Weihnachten war die ganze
Episode abgeschlossen, und ein Brief des Zaren vom 25. Dezember glitt mit
leichter Hand über sie hinweg.37
Der Kaiser war schwer enttäuscht. Seine sanguinische Natur glaubte, jetzt
den ersten persönlichen Mißerfolg erlebt zu haben, und begehrte, so
wie er geartet war, nun nach der anderen Seite hin heftig umzuschlagen.38 Was zu denken gab, war die Tatsache,
daß in der allgemeinen Ordnung der Dinge die Stellung Frankreichs zu
Rußland und zu England schon allzu befestigt war, als daß der
einträchtige Wunsch des Kaisers und des Zaren daran etwas wesentliches
zu ändern vermocht hätte.
Zugleich hatte die Gefahr eines erkennbar anti-englischen Kurses in der deutschen
Politik sich zum ersten Male offen enthüllt, und sie
war - wenn wirklich kaiserliche Äußerungen über
England nach London durchgesickert waren,39 nicht mit der Vorsicht behandelt
worden, die nötig gewesen wäre. Sobald das
deutsch-englische Problem nur auftauchte, entzündete es sich an der
Flottenfrage. Bülow wußte zwar seinen zur Vorsicht mahnenden
Bericht an den Kaiser mit dem schönen historischen Beispiel zu
schließen: "Unsere Lage gleicht derjenigen der [562] Athener, als sie die
langen Mauern am Piräus aufführen mußten, ohne von den
übermächtigen Spartanern an der Fertigstellung dieser Schutzwehr
verhindert zu werden."40 Aber dieses Beispiel deutete doch nur
auf ein unentrinnbares Schicksal hin.
War es nicht ein bedenkliches Zeichen der Zeit, daß auf beiden Seiten des
Kanals Stimmen laut wurden, man fürchte - ohne einen ersichtlichen
Grund - von dem anderen angegriffen zu werden? Gewiß konnte
Lansdowne mit Recht betonen, daß in London niemand solche Organe ernst
nähme, aber der deutsche Botschafter antwortete ihm mit demselben Recht,
er könne die Beziehungen - trotz Mangels ernster Gegensätze
und trotz der guten Absichten beider
Regierungen - nicht für gesichert halten. Auch er meldete am 11.
Januar 1905 pflichtgemäß: "An Krieg gegen Deutschland denkt hier
kein vernünftiger Mensch." Niemals traf eine kaiserliche Randbemerkung
so ins Schwarze, wie dieses Mal: "Schade, daß die Unvernünftigen
meist im gegebenen Moment die Oberhand haben." Selbst König Eduard
sah sich am 12. Januar veranlaßt, dem deutschen Marineattaché
auszusprechen, daß England nie einen Krieg mit irgendeinem Lande
provozieren werde, mit Deutschland am allerwenigsten, denn einmal liege absolut
kein Grund dazu vor, und dann würde ein Krieg zwischen beiden
Ländern das größte Unglück für beide sein.41 Aber an den maßgebenden
Stellen der englischen öffentlichen Meinung mußte sich eine
Unmenge von Haß aufgesammelt haben,42 dem es nicht mehr auf die Mittel,
sondern nur noch auf den Zweck ankam. Präsident Roosevelt wenigstens
gestand dem deutschen Botschafter in diesen Tagen, er erhalte fortwährend
von Englands Seite oder von Englands Freunden Warnungen, daß das wahre
Angriffsziel Deutschlands Amerika und nicht England
sei - selbstverständlich lächle er darüber, aber seine
Mahner hielten ihn für blind und schwach.43
Sobald aber von friedlicher englischer Seite auf Wiederherstellung der
freundschaftlichen Beziehungen hingewirkt wurde, wurde diese Bemühung
sofort mit allen Künsten des publizistischen Sports durchkreuzt. Lehrreich
dafür sind die Memoiren von Sir Thomas Barclay, der an der
englisch-französischen Handelsfreundschaft einen führenden Anteil
hatte, aber eine englisch-deutsche Annäherung für sehr wohl
vereinbar mit der neuen Entente hielt; mit verletzender Schärfe schnitt ein
offiziöses Reuter-Telegramm vom 23. Dezember alle
Illu- [563] sionen solcher Art
entzwei. Dieselben Elemente waren auf dem Posten, als Barclay sich anschickte,
eine Versöhnungsrede auf einer Sitzung der Berliner Handelskammer am
15. Februar 1905 zu halten; noch bevor er den Mund geöffnet hatte, war sie
jeder politischen Wirkung beraubt durch eine Rede, die der erste Zivillord der
Admiralität Lee am 2. Februar hielt. Der Vorstoß Lees gipfelte, ohne
einen andern erkennbaren Anlaß als das Entladungsbedürfnis eines
beifallslüsternen Bramarbas, in der Prahlerei: die britische Flotte werde
gegebenenfalls den ersten Schlag führen, noch ehe man auf der andern Seite
der Nordsee Zeit gehabt hätte, die Kriegserklärung in der Zeitung zu
lesen.44 Die entsprechende Antwort blieb
nicht aus. Der Kaiser erklärte im ersten Augenblick dem über diesen
Ausbruch ganz zerschmetterten englischen Botschafter, daß "dieser
racheschnaubende Korsar morgen von seiner Regierung desavouiert und
offiziell rektifiziert werden müsse, sonst werde ein Pressesturm und ein
kolossales Neubautenprogramm darauf antworten".45 Aber während der
Reichskanzler bereit war, jeder angeforderten Summe für eine
Flottenverstärkung zuzustimmen, hielten sich die maßgebenden
Männer doch in bestimmten Grenzen. Als der Kaiser am 11. Februar seine
Einwilligung zu einer Mehrforderung von sechs großen Auslandskreuzern
und sieben Torpedodivisionen gab, schärfte er gleichzeitig dem
Staatssekretär von Tirpitz
ein: "Ich will keine politisch
gefährliche Vorlage mit Spitze gegen England."46
Derartige Spannungen, die sich vornehmlich in den Vordergründen der
Presse und der Reden austoben, pflegen hernach, wenn sie, ohne Unheil zu stiften,
abgelaufen sind, vergessen oder auf beiden Seiten friedlich aufgerechnet zu
werden. Aber die Stimmung in England schien einer Milderung nicht mehr
zugänglich zu sein. Um noch das Wort eines wahrhaft Unparteiischen
anzuführen, sei hier die Vorhaltung wiedergegeben, die Präsident
Roosevelt dem englischen Botschafter in Washington in den ersten Tagen des
März machte: "Daß Deutschland an einen Angriff auf England nicht
denke. Die fortgesetzten Hetzereien Englands gegen Deutschland könnten
England nicht nützen, sondern nur schaden. Falls dieser Zustand andaure,
riskiere England, eines Tages in einen Krieg mit Deutschland sich verwickelt zu
finden, und zwar lediglich aus gegenseitiger Furcht vor einem Angriff des
Anderen." Einige Wochen später wiederholte er seinen [564] Wunsch, daß
gute Beziehungen zwischen Deutschland und England bestehen möchten,
aber der Botschafter verharrte bei dem Bilde der dunklen Pläne
Deutschlands. Der Präsident antwortete ihm: "Ich gebe Ihnen die Garantie,
daß Deutschland keine derartigen Absichten hat."47 Am 19. Mai eröffnete der
Präsident dem deutschen Botschafter Speck von Sternburg, daß seine
Bemühungen, die englisch-deutschen Beziehungen zu verbessern,
gescheitert seien; die englische
Regierung - sowohl Lord Lansdowne wie der König
selbst - habe ihm zu verstehen gegeben, daß sie bessere Beziehungen
zu Deutschland nicht wünsche.48 Diese letzten Bemühungen
Roosevelts fielen allerdings in eine Zeit, wo die deutsche Politik die
Auseinandersetzung mit Frankreich in der marokkanischen Frage eröffnet
hatte und die englische Regierung allein darauf Wert legte, als der bedingungslose
und kampfbereite Helfer der Franzosen vor aller Welt zu erscheinen.
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