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Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil


Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin

Kapitel 1: Das Deutsche Reich
unter Kaiser Wilhelm II. (1890 - 1909)
  (Forts.)

4. Die deutschen Gegenstöße gegen die englisch-französische Verbindung
(1904 - 1907).
  (Forts.)

Erst nachdem durch die Schlachten von Mukden (1. bis 10. März) die Entscheidung in dem russisch-japanischen Feldzuge zu Lande unwiderruflich gefallen und die Gefahr des Zweifrontenkrieges für längere Zeiten verschwunden49 war, hielt die deutsche Politik die Stunde für gekommen, die nunmehr dringlicher gewordene Aussprache mit Frankreich über die durch das Abkommen von 1904 in Marokko geschaffene Rechtslage zu eröffnen.

Die deutschen Interessen in Marokko waren im Laufe der neunziger Jahre schnell gewachsen. Auch fremde Beobachter stellen fest, daß Deutschland mit Riesenschritten vorwärtsgehe, und mit einer zielbewußten politischen und kommerziellen Vertretung die deutsche Gesandtschaft zu einem Mittelpunkt des europäischen Einflusses gemacht habe.50 Dem entsprach, daß in den deutsch-englischen Besprechungen wiederholt auch Marokko als Gebiet einer allgemeinen Verständigung der Interessen mit aller Vorsicht zur Erörterung gestellt wurde. Noch gegen Ende der neunziger Jahre hatten Salisbury und Hatzfeldt, wenn sie ihre imperialistische Phantasie über die verfügbaren Tiefdruckgebiete der Erde gleiten ließen, das Gespräch in akademischem Tone auch auf Marokko gelenkt; selbst der schweigsame Premierminister hatte, während der Faschoda-Krisis, lächelnd das geläufige Schlagwort "Divisons, divisons" fallen lassen und sich nicht abgeneigt gezeigt, sich über Zugeständnisse an der marokkanischen Küste zu verständigen (8. Februar 1899).51 Es gab aber auch Momente, wo er den Anspielungen auswich und von Verträgen über das Gut lebender Erblasser wenig hören mochte (Juli 1899). Mit voller Wucht suchte dagegen Chamberlain nach Beginn [565] des Burenkrieges das Marokkoeisen ins Feuer zu schieben. Er ließ sich im November zu dem Reichskanzler Bülow und dann auch zu dem Kaiser mit dem Vorschlage vernehmen, daß England und Deutschland eine geheime Verabredung über Marokko schließen sollten; wenn Deutschland keine Ansprüche auf die marokkanische Mittelmeerküste erheben wolle, würde England ihm an der atlantischen Küste weitgehende Konzessionen machen; dort würde es sich, wenn also England Tanger nehme, schadlos halten können. Es kam damals nicht zu einer amtlichen Rückäußerung von deutscher Seite, vor allem der Kaiser hielt sich sehr zurück, denn Marokko war immerhin ein Objekt, das wegen seiner Begrenzung durch Algier auch in die französische Interessensphäre hineinreichte und gegebenenfalls zu Reibungen führen konnte, welche die Gesamtpolitik nicht ohne Not hervorzurufen brauchte.52

Nach dem ersten Stadium des Burenkrieges regte Hatzfeldt von neuem an, die englische Regierung nicht im Zweifel darüber zu lassen, daß eine Regelung der marokkanischen Frage ohne deutsche Mitwirkung nicht stattfinden könne (21. Mai 1900). Damals erneuerte Chamberlain seine Bereitwilligkeit, im Kabinett alles für eine solche Lösung zu tun. Er riet dazu, Salisbury einen definitiven Vorschlag vorzulegen; aber Hatzfeldt mußte in seiner Unterredung mit dem Ministerpräsidenten feststellen, daß dieser einer Erwähnung Marokkos mit Vorbedacht aus dem Wege gehe und anscheinend keine Neigung zu Zugeständnissen mehr habe; er führte diese spröde Haltung auf das Bedürfnis zurück, "nach Umständen an Frankreich in Marokko die Konzessionen zu machen, die sich als notwendig herausstellten, um mit dieser Macht zu einer friedlichen Abmachung zu gelangen."53 Gerade an diesem Punkt stieß die gegensätzliche Außenpolitik der beiden Minister scharf aufeinander; während Marokko für Chamberlain eine Zeitlang eine Reserve war, mit der man die Freundschaft Deutschlands erkaufen könnte, wog es für Salisbury ebenso schwer als Kompensation, die Franzosen für Ägypten abzufinden. Daß man, ob man nun für den einen oder den anderen Partner optierte, die scharfe Gegnerschaft eines von ihnen in Kauf zu nehmen hatte, lag auf der Hand. Denn die Entscheidung über das Bündnisproblem mußte sich aller Wahrscheinlichkeit nach auf dieser Grundlage vollziehen.

So lag dieser delikate Gegenstand der Begehrlichkeit bis zuletzt auf dem Verhandlungstisch, ohne daß von deutscher Seite gedrängt worden wäre,54 ihn aufzuheben. Noch im August 1901 antwortete man auf eine vorgeschlagene Formel, daß die beiden Mächte in Marokko den status quo aufrechterhalten wollten, [566] die marokkanische Frage sei an sich nicht hinreichend wichtig, um eine Politik zu rechtfertigen, durch die Deutschland die Gefahr ernster internationaler Verwicklungen laufen könne.55 Wenige Monate darauf ging England dazu über, in die Verhandlungen mit Frankreich auch Marokko als die eigentliche Gegengabe für den französischen Verzicht auf Ägypten einzubeziehen.

Die englischen Staatsmänner mußten sich in diesen Verhandlungen bewußt sein, daß die geltende internationale Vertragsordnung auch die deutschen Rechte und Interessen, die in so starkem Maße angewachsen waren, schützte; und sie konnten noch weniger vergessen haben, daß sie zumeist den Deutschen als berechtigten Partner anzunehmen bereit gewesen waren. Sie hatten also in dem zweijährigen Gang der Verhandlungen Zeit genug, darüber nachzudenken, ob dieser aus seinem Rechtsanspruch und seinen Interessen ausgeschlossene Partner sich stillschweigend in eine Neuordnung Dritter fügen würde. Noch kurz vor dem Abschluß der Verhandlungen am 17. November 1903 schrieb Lord Lansdowne an Lord Cromer:

      "Ich habe von Anfang an gefühlt, und so auch Cambon, daß wir mit Deutschland werden zu rechnen haben. Metternich hat mehrere Fragen nach unseren Absichten getan, und die Zeitungen haben neuerdings so viel Enthüllungen gebracht, daß sie wahrscheinlich die ganze Geschichte wissen, selbst wenn sie sie vorher nicht wußten. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie (die Deutschen) Rabat (Hafen an der Westküste) verlangten. Ich weiß nicht, was unsere Admiralität dazu sagen würde, aber die Franzosen haben immer beansprucht, daß wir andere Mächte aus Marokko heraushalten müßten".56

Lansdowne stellte auch dem Franzosen Cambon die Frage, welche Haltung Deutschland wohl einnehmen werde. Aber dieser begnügte sich mit der Antwort, man habe neuerlich von deutschen Absichten in Marokko nichts gehört.57 Das war es eben: der Engländer nahm es - trotz innerer Unsicherheit, - hin, daß seine neuen Freunde die Nichtbeteiligung Deutschlands zur Bedingung machten, und der Franzose rechnete damit, daß sein Partner ihn später doch in seinem Vertragsrecht schützen werde. Daraufhin nahm er es auf sich, auch nach Abschluß des Vertrages dem Deutschen keine amtliche Mitteilung über den Vertragsinhalt zu machen.

Die deutsche Politik hatte trotz aller umlaufenden Gerüchte in die schwebende Verhandlung nicht eingegriffen,58 sondern abgewartet, bis ihr das Ergebnis mitgeteilt und ihre Zustimmung, soweit sie erforderlich war, eingeholt werde. Noch [567] kurz vor dem Bekanntwerden des englisch-französischen Abkommens - am 16. März 1904 - hatte Kaiser Wilhelm II. in einer Zusammenkunft in Vigo den König von Spanien zu seiner Abmachung mit Frankreich, die er billige, beglückwünscht. Seine Worte: "Wir wollten keinen Territorialerwerb dort. Offene Häfen, Eisenbahnkonzessionen und Import von Fabrikaten" enthielten ein Programm, in dem neben einem Verzicht ein ebenso bestimmter Rechtsanspruch stand.59 Es kam darauf an, ob er gegenüber dem Wortlaut und Geist des englisch-französischen Abkommens durchzuführen war. Einstweilen wartete man ab, ob der Franzose sich melde. Äußere Anlässe zur Einmischung hätten schon im Frühjahr 1904 nicht gefehlt, aber der russisch-japanische Krieg drängte sich dazwischen.

Holstein nahm dann die Auseinandersetzung mit England über die veränderte Rechtslage in Ägypten60 zum Ausgangspunkt seiner Denkschriften, die mit der ganzen Schärfe seines politischen Kopfes die doppelte Seite der Marokkofrage, die ökonomisch-lokale und die allgemein-politische zu analysieren versuchten. Er61 durfte davon ausgehen, daß die Einbußen, welche dritte Mächte infolge der allmählichen Aufsaugung von Marokko durch Frankreich erleiden würden, unendlich viel größer seien, als die Ausfälle infolge der Umgestaltung Ägyptens, denn es sei damit zu rechnen, daß der auswärtige Handel und die auswärtige Industrie aus Marokko ebenso verdrängt werden würden, wie aus allen anderen französischen Kolonien und Schutzgebieten: "Marokko ist heute noch eines der wenigen Länder, wo Deutschland für seinen Verkehr freie Konkurrenz hat. Da Marokko jetzt im Begriff ist, mit den Anfängen eines Eisenbahnbaues vorzugehen, so ist die Schädigung, welche Deutschland durch das französische Monopol erleiden würde, eine recht erhebliche." Dazu kam eine zweite politische Gedankenreihe: Noch bedenklicher wäre jedoch die Schädigung, welche das Ansehen Deutschlands erleiden würde, wenn wir uns stillschweigend gefallen ließen, daß über deutsche Interessen ohne deutsche Mitwirkung verfügt wird. Zu den Aufgaben einer Großmacht gehört nicht nur der Schutz ihrer Territorialgrenzen, sondern auch die Verteidigung der außerhalb dieser Grenzen gelegenen berechtigten Interessen. Aus diesen Voraussetzungen zog er den Schluß: "Deutschland hat nicht nur aus materiellen Gründen, sondern mehr noch zur Wahrung seines Prestiges gegen die beabsichtigte Aneignung Marokkos durch Frankreich Einspruch zu erheben. Frankreich hätte Verständigung suchen können - das ist nicht geschehen. Lassen wir uns jetzt in Marokko stillschweigend auf die Füße treten, so ermutigen wir zur Wiederholung anderswo."

[568] Wenn aber gegen diese Erwägungen geltend gemacht werden könnte, daß die Prestigefragen einen allzu großen Raum in ihr einnehmen, so gab es noch ein verborgenes, erst der Zukunft angehöriges Argument, bei dem es sich wirklich um ein deutsches Lebensinteresse handelte: die Möglichkeit der französischen Militarisierung Marokkos. Im Laufe der Verhandlungen hat die deutsche Diplomatie gerade die Engländer wissen lassen, ihr ganzer Einspruch beruhe auf dem Umstand, daß, solange die Franzosen an eine "Guerre de Revanche" dachten, Deutschland nicht dulden werde, daß Marokko zu einem Rekrutierungsgebiet gemacht würde, denn es müsse auf den Fall gefaßt sein, der im Jahre 1870 eingetreten sei: daß die gesamte afrikanische Armee der Franzosen Deutschland auf dem Kampfplatz entgegengeworfen würde. Jetzt sei Frankreich friedlich, aber die Verhältnisse könnten sich ändern - eben darum könne Deutschland nicht in die Erteilung eines Mandats an Frankreich willigen, den Polizeidienst an der ganzen Küste zu versehen.62 Diese Argumentation hatte damals vielleicht keinen geschäftlichen Verhandlungswert (und es ist fraglich, ob sie die Engländer überzeugte), aber sie fügt der Berechtigung des deutschen Vorgehens ein ernsthaftes politisches Motiv hinzu. Seitdem die deutschen Erfahrungen von 1870/71 durch die marokkanischen Heerscharen im Weltkriege und ihre Verwendung bei der Rheinlandbesetzung bereichert worden sind, sollten auch diejenigen Gemüter nachdenklich werden, die noch immer von der Vorstellung leben, der Deutsche sei wie ein Fähnrich aus leichtfertigem Übermut in das Marokko-Abenteuer hineingegangen.63

Der Gedankengang des Auswärtigen Amts war theoretisch unanfechtbar. Wenn man ihn auf seine praktische Durchführbarkeit nachprüft, so ergeben sich sofort weitreichende Fragen: welche Rückwirkung ein deutscher Einspruch nicht nur auf Frankreich, sondern auch auf seinen Vertragspartner England haben würde, und zweitens: in welcher Weise ein Stoß in dieser Richtung auf die durch den russisch-japanischen Krieg in Fluß geratene Gruppierung der Mächte und die Tendenzen der Allgemeinpolitik einwirken würde. Man konnte sich nicht verhehlen, daß das Programm des Kaisers, so zurückhaltend es formuliert war, doch nur - was den deutschen Handel betraf - durch die Madrider Konvention vom 3. Juli 1880 und den deutsch-marokkanischen Handelsvertrag vom 1. Juni 1900 gedeckt sei, daß aber alles, was die deutschen Konzessionen und die Eisenbahntarife anging, in Zukunft durch die monopolistische Tendenz der Franzosen praktisch gefährdet sein würde. Bülow war durchaus im Recht, wenn er meinte, [569] falls man das neue Privileg Frankreichs jetzt ohne weiteres anerkenne, so heiße das, sich ohne jede Gegenleistung selbst Schaden zufügen; wenn man aber diesen Anspruch Frankreichs bestritt, so stieß man sofort auf seinen neuen Freund England, der mit diesem politischen Anspruch die Verzichte der Franzosen in Ägypten bezahlt hatte. Man stieß auf die Haltbarkeit und Widerstandsfähigkeit der englisch-französischen Entente.

Es ist begreiflich, daß der Reichskanzler, als die allgemeine Lage einem Eingreifen günstiger wurde, doch nur nach sehr vorsichtiger Vorbereitung sich seiner schwierigen Aufgabe näherte und zunächst festzustellen suchte, in welchem Umfange England die neue und noch sehr problematische Position der Franzosen diplomatisch oder mit der Tat zu decken bereit sei. Er war von Hause aus geneigt, diese Möglichkeit nicht besonders schwer zu nehmen.64 Als aber Metternich am 15. August auftragsgemäß bei Lord Lansdowne festzustellen suchte, wie weit England seine durch die Deklaration vom 8. April 1904 übernommene Pflicht, Frankreich in Marokko zu unterstützen, auslege, kam er doch zu einem ernsteren Ergebnis. Wohl gewann er den Eindruck, daß man den Begriff der englischen Unterstützungspflicht im Einzelfall einzuengen, nicht auszudehnen versuchen werde, aber er machte doch eine scharfe Unterscheidung. Wenn Deutschland das Vertragsrecht auf seiner Seite habe, könne es unbekümmert um England gegen Frankreich fest auftreten, darüber hinaus aber - und darauf kam es an - liege die Sache anders: der Prozeß der Festsetzung der Franzosen in Marokko würde sich bei der gegenwärtigen Lage schwer aufhalten lassen, und auf eine wohlwollende Konnivenz Englands würde Deutschland bei einem Einspruch nicht rechnen dürfen.65 Das war noch milde ausgedrückt. Eigentlich mußte man sich in Berlin selbst sagen, daß England, nach der Genesis und den Motiven des Abkommens von 1904, wahrscheinlich alles daran setzen würde, den Franzosen - gerade im Hinblick auf den ihnen entgleitenden russischen Rückhalt - die Unterstützung der Marokko-Ansprüche als ersten Prüfstein der neuen Freundschaft zu erweisen.

Man schwankte in Berlin, auf welche Weise man technisch die Auseinandersetzung eröffnen solle. Sollte man der französischen Regierung bestimmte Fragen vorlegen, oder sie durch eine unzweideutige Geste nötigen, ihrerseits das Schweigen - durch das sie sich ins Unrecht setzte - zu brechen? Es hätte auch nicht an verschleppten Reklamationen gefehlt, die Deutschland gegen Marokko zu erheben [570] berechtigt war, und der deutsche Vertreter in Tanger würde gern in einem Hafen das Zeigen der Flagge - wie bei Agadir - gesehen haben. Aber der Kaiser erklärte sich - entsprechend seiner grundsätzlichen Haltung - fortdauernd bestimmt gegen jedes militärische Vorgehen durch Entsenden des einen oder anderen Kriegsschiffes.66 So setzte denn die deutsche Politik ihre "stumme und rätselhafte Haltung" fort, bis das aktive Vorgehen der Franzosen in Marokko sie aus der lange beobachteten Reserve herausdrängte.

Man erwartete in Fez zum Januar 1905 die Ankunft einer französischen Mission, deren Ziele sich bereits eine Weile vorher am Horizonte abzeichneten. Schon wurden in diesem Programm alle typischen Merkmale eines Protektoratsvertrages erkennbar: die Reorganisation der marokkanischen Armee durch französische Instrukteure, ein Staatsvertrag über Ausschluß alles fremden politischen Einflusses, eine französische Kontrolle der Finanzen. Gegenüber diesem politischen Ansinnen - so riet der Geschäftsträger in Tanger dem Reichskanzler - müsse man dem Machzen in Fez (d. h. dem Sultan und seinen Beratern) zu verstehen geben, daß eine solche französische Forderung durchaus nicht die anderen Mächte hinter sich habe. Die so wichtige Waffe im Kampf um die wirtschaftliche Gleichstellung mit England und Spanien sei rechtzeitig zu benutzen, um durch das Unterstreichen des deutschen Einflusses in Fez die französische Geneigtheit zu Konzessionen zu steigern - nach einem vollzogenen Protektoratsvertrage sei die Erwartung französischer wirtschaftlicher Garantien aussichtslos. Also: energische Sprache in Fez, um dem Aufmarsch der französischen Aktion zu begegnen. Bisher habe Delcassé die Vorsicht für der Tapferkeit besseren Teil gehalten, der Versuch werde sich lohnen, ob er einem solchen "game of bluff" gegenüber widerstandsfähig bliebe.67

Dieser Linienführung kamen bald die politischen Bedürfnisse des Sultans entgegen. Seine Ratgeber begannen seit Anfang Dezember zu erforschen, ob sie im Falle eines Widerstandes gegen weitgehende Zumutungen auf moralische Unterstützung Deutschlands zählen könnten. Die drohenden Anzeichen einer reaktionären islamitischen Bewegung wurden sichtbar, so daß vorübergehend die Franzosen und andere Nationen ihre Landsleute aus Fez abberiefen. In dieser kritischen Spannung setzten die ersten amtlichen Schritte seitens der deutschen Politik ein. Der deutsche Geschäftsträger wurde ermächtigt, die Pariser Sprache von einem einmütigen Vorgehen der europäischen Mächte zu dementieren und dabei einfließen zu lassen, "daß Deutschland ebenso wie verschiedene andere Großmächte mit der Umgestaltung der marokkanischen Frage noch gar nicht befaßt worden seien". Nachdem die französische Mission unter dem Gesandten [571] St. René Taillandier am 25. Januar in Fez eingetroffen und vom Sultan empfangen worden war, wurde der deutsche Konsul in Fez ermächtigt, dem Sultan zu eröffnen: die deutsche Regierung habe von Frankreich keine amtliche Mitteilung über eine beabsichtigte Neugestaltung Marokkos erhalten, habe also bisher keinen Anlaß, von dieser Neugestaltung Notiz zu nehmen.

Sobald dann der Abgesandte Frankreichs vor der marokkanischen Notabelnversammlung als Mandatar Europas zu sprechen begann, war der Augenblick für die deutsche Politik gekommen, von einer unanfechtbaren rechtlichen Grundlage aus den Einspruch gegen dieses Vorgehen anzumelden. Die Ordnung der Dinge, wie sie zur Zeit bestand, ruhte auf einem international anerkannten Vertrage, dem Madrider Abkommen von 1880, und jede Änderung konnte nur unter Mitwirkung der an dem früheren Vertrage beteiligten Mächte internationale Rechtskraft gewinnen. Wenn man hier mit dem Angriff einsetzte und Frankreich zum Rückzuge aus einer international nicht haltbaren Lage nötigte, boten sich in der Ausführung verschiedene Wege dar, die entweder auf eine Entscheidung durch eine neue internationale Konferenz oder auf eine engere Verbindung mit dem Sultan von Marokko hinausliefen. Jedenfalls war es wahrscheinlich, daß in dem weiteren Verlauf die Rechtslage doch auch durch die politischen Beziehungen der Mächte beeinflußt werden konnte. Um so mehr kam es für die deutsche Politik darauf an, auch nach Anmeldung ihres Anspruchs die Zustimmung der Mächte zu der Sachlichkeit und Uneigennützigkeit ihres Vorgehens zu gewinnen. So entschloß man sich in Berlin, die Marokkoaktion durch ein grundsätzliches Bekenntnis zum Programm der offenen Tür einzuleiten. Dieses war schon in der Erklärung Wilhelms II. an den König von Spanien vorweggenommen. Noch Ende Februar ließ der Reichskanzler dem Präsidenten Roosevelt sagen: "In der Gegenwart haben wir nirgends Sonderzwecke, weder in China, noch in Marokko. Nirgends erstreben wir Territorialerwerb, sondern sind lediglich bemüht, eine Verschlechterung der gegenwärtigen Lage zu vermeiden."68 Ja, man nahm einen Anlauf, dieses Programm weit über den einzelnen Marokkofall hinaus zu verallgemeinern, es gleichsam über das Eingangstor einer neuen friedlich-imperialistischen Politik zu setzen. Auf diesen Ton war die Rede gestimmt, mit der Kaiser Wilhelm II. vor Antritt seiner Mittelmeerfahrt in Bremen eine ethisch begründete Absage an die "öde Weltherrschaft" richtete: "Wenn man dereinst vielleicht von einem deutschen Weltreich in der Geschichte reden sollte, so solle es nicht auf Politik begründet sein durch das Schwert, sondern durch gegenseitiges Vertrauen der nach gleichen Zielen strebenden Nationen, kurz ausgedrückt, wie ein Dichter sagt: außenhin begrenzt, im Innern unbegrenzt." In diesem Geiste sollte der deutsche Marokkoeinspruch, so schien es beinahe, auch eine neue Ära friedlich-schiedlichen Wettbewerbs in der Welt einleiten.

[572] Dieser Verkündung sollte ein Schritt folgen, der in eindrucksvollster Weise den deutschen Standpunkt festlegte, daß die Souveränität des Sultans international anerkannt werde und Europa bisher in der marokkanischen Frage noch nicht gesprochen habe. Der Kaiser selbst sollte ihn, bei einer Landung in Tanger (die Mittelmeerfahrt war schon vordem geplant), auf marokkanischem Boden aussprechen. Das war die Einleitung des sehr genau überlegten Vorgehens, das wie ein Blitz aus heiterem Himmel niedergehend, im ersten Augenblick den rechtlichen Ausgangspunkt feierlich betonte und das eigene Zukunftsprogramm fast in den Schatten treten ließ.

Der Gedanke der Landung in Tanger war nicht von dem Kaiser, sondern von Bülow ausgegangen; wenn der Kaiser höchstens an den Abstecher eines "Inkognitotouristen" dachte - was allerdings auch nicht recht möglich war -, so widerstrebte er sofort, als er die Gefahr einer politischen Ausmünzung erkannte. Umgekehrt scheint Bülow gerade durch die Presseerörterungen über die Landungsmöglichkeit eher in dem Plane bestärkt worden zu sein, einen Coup (wie er gern sagte) daraus zu machen: den deutschen Rechtsstandpunkt in Marokko in der denkbar förmlichsten und unwiderruflichsten Weise vor aller Welt anzumelden. Es gab kein fremdes Recht, daß das Einschlagen dieses Weges verboten hätte, und doch war es sehr fraglich, ob der Schritt politisch klug war. Denn er verknüpfte die Persönlichkeit des Kaisers, die nun einmal in dem Ruf der plötzlichen Handlungen stand, viel zu sehr mit einer verwickelten politischen Aktion, deren nicht abzusehende Durchführung die äußerste Vorsicht erforderte. Der seltsame Vorgang der Landung in Tanger war aber dazu angetan, die ganz unanfechtbare Rechtslage der Deutschen durch Beimischung eines dekorativen Momentes scheinbarer kaiserlicher Laune zu ihren Ungunsten ein wenig zu verdunkeln. Diese Nebenwirkung war um so weniger erwünscht, als gerade der Kaiser in den letzten Tagen vorher aus äußerlichen Bedenken wie aus politischem Zweifel die Landung zu vermeiden suchte und nur von Berlin aus bei dem Unternehmen festgehalten wurde. Er schwankte, nach Vorwänden suchend, bis zum letzten Augenblick.69

Die politische Verantwortlichkeit lag also diesmal bei dem Auswärtigen Amt. Wenn man sonst immer die Neigung des Kaisers bekämpfte, ohne ministerielle Begleitungsstücke vor der Öffentlichkeit zu erscheinen, und ihn an die Maßnahmen der verantwortlichen Leitung zu binden suchte, drängte man ihn diesmal, obgleich er instinktiv widerstrebte, auf einem exponierten Schauplatz in die vorderste Linie und verfälschte dadurch die politische Situation - man könnte sogar auf den Gedanken kommen, daß der Kaiser bei seiner notorischen [573] Zurückhaltung auf marokkanischem Gebiet, von Anfang an festgelegt werden sollte. Wenn man den vom Reichskanzler dem Kaiser vorgeschlagenen Entwurf der Unterhaltung mit dem maurischen Delegierten liest,70 fragt man sich überhaupt, ob Bülow damals auf einen Konflikt mit den Franzosen hinarbeitete, und möchte es dem Kaiser hoch anrechnen, daß er diesen Ton vermied. Wenn Bülow aber die Marokkoaktion auf die internationale Rechtslage und das wirtschaftliche Interesse Deutschlands an der offenen Tür gründen wollte, so hätte es sich empfohlen, nur den Reichstag einmütig, so sachlich wie nur möglich, hinter diese Politik zu stellen. Gerade weil die Möglichkeit bestand, daß die ganze Angelegenheit sich weiter zuspitzen und daß der politische Kern der englisch-französischen Kombination durch die marokkanischen Vordergründe hindurchbrechen würde, mußte man die delikate Frage so friedlich-geschäftlich wie möglich einleiten und die Persönlichkeit des Kaisers herauszuhalten suchen. Man hat überhaupt den Eindruck, daß der politische Weitblick des Auswärtigen Amtes nicht der rechtlichen Begründung gleichkam, mit der sich das Vorgehen rechtfertigen ließ. Es war nach der Demonstration in Tanger nicht ganz sicher zu erkennen, ob man in erster Linie die Fühlung mit dem Sultan von Marokko (der nur als eine sehr unbestimmte Größe in die Rechnung eingesetzt werden konnte) suchen wollte, oder ob man den Schwerpunkt auf das angerufene internationale Recht legte, dessen Entscheidung von der politischen Weltlage nicht ganz unabhängig war. Diese politischen Aussichten sind in Berlin - in dem Vollgefühl des besseren Rechts, über das man verfügte - von vornherein zu leicht und zu optimistisch beurteilt worden. Die deutsche Politik der nächsten Wochen liegt um so mehr in einem gewissen Halbdunkel, als es bei den leitenden Männern an einer Einheitlichkeit über die Endziele fehlte. Während der Kaiser den nächsten und friedlichsten Kern der Aufgabe vor Augen hatte, war sich der Kanzler schon klarer darüber, daß in dem beginnendem Bluffspiel es sich um eine ernste Machtentscheidung handele, und hinter ihm gab es Faktoren, die auch die Möglichkeit eines Bruches mit Frankreich in ihre Rechnung eingestellt hatten.

Seit dem Frankfurter Frieden von 1871 war zum erstenmal eine konkrete Streitfrage zwischen Deutschland und Frankreich aufgerollt worden, bei der Anspruch auf Anspruch stieß. Der Zusammenstoß erfolgte auf einem Gebiete, das Bismarck als Reibungsfläche überhaupt hatte ausgeschaltet wissen wollen. Aber der Streitfall als solcher war durch Frankreich unter offenkundiger formaler und materieller Verletzung deutschen Rechts hervorgerufen worden, im vollen Be- [574] wußtsein des damit verbundenen Risikos. Für beide Völker ergab sich nach einem vollen Menschenalter zum erstenmal die Gefahr eines unmittelbaren Konflikts, in dem das Objekt sofort hinter dem allgemeinen Gegensatze verschwand. Selbst wenn Frankreich sich herbeiließ, die formelle Unterlassung gutzumachen, und in der marokkanischen Streitfrage befriedigende Konzessionen anbot, der ganze deutsch-französische Gegensatz, für lange Zeit in dem Verhältnis der europäischen Völker eine ruhende Größe, war wieder zu vollem Leben erwacht.

Die erste Frage war: wie nahm Frankreich den in Tanger geführten Gegenstoß der deutschen Politik auf? Sie verband sich sofort mit der zweiten Frage: in welchem Maße stellte sich England, um den deutschen Stoß aufzufangen, an Frankreichs Seite? Daß hier die eigentliche Entscheidung lag, sollte man in Berlin erst im Laufe der nächsten Monate erkennen.

Die Engländer kaufen nicht Zeitungen, schrieb damals ein französischer Politiker, sie kaufen eine Frage - zur gegenwärtigen Stunde haben sie die marokkanische Frage gekauft. Das Geheimnis dieser Frage war ihre dynamische Funktion in den Beziehungen der großen Mächte. Eben darum sahen die Engländer in der deutschen Marokkopolitik niemals die Vertretung berechtigter Interessen, sondern nur einen Angriff auf die Entente cordiale mit Frankreich. Und eben darum setzten sie jetzt alles daran, dem französischen Partner den Nachweis der Leistungsfähigkeit der Entente zu erbringen. Diese englische Politik der Rückenstärkung lief durch mehrere Stadien.

Es war wohl das Rücktrittsgesuch Delcassés vom 21. April, das andern Tags Lord Lansdowne zu dem Entschluß brachte, den Franzosen Zusammengehen und Unterstützung gegen das "höchst unvernünftige" Vorgehen der Deutschen anzubieten. Es sei nicht unwahrscheinlich, daß die deutsche Regierung einen Hafen an der marokkanischen Küste verlangen werde: gegen eine derartige Absicht sei England bereit, im Verein mit der französischen Regierung Einspruch zu erheben, und es bitte, ihm uneingeschränkte Gelegenheit zu geben, "mit ihm über die Schritte zu beraten, die dagegen etwa unternommen werden könnten".71 Die Macht Englands stellte sich, auf das unbegründete Gerücht von deutschen Hafenwünschen, weitreichend zur Verfügung und erwirkte zunächst, daß Delcassé andern Tags sein Rücktrittsgesuch zurückzog. Man hatte zwar in Paris von diesen Hafenwünschen noch nichts gehört, erklärte aber, daß man den Sultan warnen werde, - und setzte die Operation auf merkwürdige Weise fort. Gegen Anfang Mai ließ Delcassé durch die Vermittlung des italienischen Ministers Luzzatti den deutschen Botschafter Monts wissen, er sei bereit, dem Kaiser irgendeine von deutscher Seite zu bezeichnende eklatante Genugtuung zu gewähren, [575] um darauf die Marokkofrage in einer das französische Ehrgefühl nicht zu tief verletzenden Weise zu regeln; man ließ dabei fallen, daß zu dem französischen Angebot der Hafen von Casablanca und ein atlantischer Hafen, sowie ein Abkommen über die Bagdadbahn gehören sollten.72 Einige Tage später ließ der Ministerpräsident Rouvier dem Reichskanzler durch Vermittlung des Frhr. von Eckardstein sagen, daß er zu einer Verständigung bereit sei, bei der auch die Besitzergreifung eines marokkanischen Hafens an der atlantischen Küste freigestellt werden sollte.73 Bülow lehnte die eine wie die andere der auf Schleichwegen erfolgenden Annäherungen ab, vor allem weil sie dem deutschen Programm und der Konferenzidee widerspreche. Dieser Entschluß ist häufig getadelt worden, weil er eine wertvolle Kompensationsmöglichkeit im Entstehen zerstört und statt dessen aus Hartnäckigkeit den Weg nach Algeciras vorgezogen habe.

Aber wie steht es mit den Angeboten - in denen plötzlich die Marokkohäfen fast zur Auswahl auf dem Präsentierteller lagen - unmittelbar nachdem England seine Macht zur Bekämpfung solcher deutschen Pläne in Paris angeboten hatte? Sollten die französischen Angebote etwa nur die edle Absicht verfolgen, den Deutschen unter der Hand zum Geständnis seiner Hafenwünsche zu verführen, um ihm dann amtlich Arm in Arm mit England entgegenzutreten? Sollte das ganze Zwischenspiel, in dem Rouvier und Delcassé gesondert nach demselben Schlachtplan operierten, nicht nur eine Falle gewesen sein, den Deutschen von seiner geraden Linie abzubringen und gleichzeitig eine geschlossene englische Aktion in die Front des Widerstandes einzubeziehen?

Das englisch-französische Spiel blieb zunächst ein Stoß ins Leere. So glaubte Lansdowne am 17. Mai zum zweiten Male den Franzosen Mut machen zu müssen. Er wiederholte das Angebot der engen Fühlung und Unterstützung vom April, mit dem Hinzufügen: er habe die Befürchtung, Frankreich könne sich am Ende dazu bewegen lassen, die Einwilligung Deutschlands durch Zugeständnisse in anderen Weltteilen und von einer Art zu erkaufen, die England wahrscheinlich nicht mit freundlichen Augen betrachten würde. Es kam ihm offenbar darauf an, Frankreich auch solchen Verführungen gegenüber - es ließ sich an Konzessionen in der Bagdadbahnangelegenheit denken - schuß- und stichfest zu machen, oder, was dasselbe war, jede Möglichkeit einer deutsch-französischen Verständigung auf unerwünschter Grundlage zu zerblasen. Damit war der Sache ein solches Gewicht gegeben, daß der Botschafter Cambon am 25. Mai den Versuch machte,74 die sich bietende Hilfsverpflichtung in eine bestimmte Formel zu bringen, die den "Fall [576] eines unberechtigten Angriffs" mit der englischen Bereitschaft zur Verständigung über gemeinsam zu treffende Maßregeln in feste Beziehung setzte. Lansdowne sah darin eine zu weitgehende Bindung der englischen Politik,75 und wollte den vertraulichen Meinungsaustausch eintreten lassen, "zwar nicht so sehr infolge unprovozierter aggressiver Handlungen von seiten einer anderen Macht, als in Erwartung irgendwelcher Verwicklungen, die während der etwas unruhigen Zeitläufte zu befürchten seien".76 Man sieht zweierlei: beide Seiten hatten begonnen die Bündnisverpflichtung in weitem Kreise zu umgehen, und wenn sie von einem Meinungsaustausch über zu treffende Maßregeln sprachen, konnten nach dem Sprachgebrauch dieser Diplomatie nur militärische Maßregeln darunter verstanden werden - man fühlt sich zum ersten Male in der Atmosphäre des Grey-Cambon-Briefwechsels von 1912.

Daß die Engländer über diese Erbietungen des April und Mai noch hinausgegangen sind, ist von englischer Seite ebenso einmütig bestritten wie von französischer Seite - und zwar beide Male von den Hauptbeteiligten - behauptet worden. Lansdowne hat bestritten, ein Bündnisangebot gemacht zu haben (und in den englischen Akten findet sich nichts weiteres), aber die Franzosen, Delcassé an der Spitze, haben sich in publizistischen Erörterungen immer darauf berufen, daß sie schließlich noch weitere Zusicherungen von London erhalten hätten. Und zwar in den Tagen, als der Kampf um die Person Delcassés seinen Gipfelpunkt erreichte. In den letzten Tagen des Mai hatte die deutsche Diplomatie deutlicher auf die Gefahr seiner Geschäftsführung hingewiesen; noch am 31. Mai antwortete Rouvier, Delcassé sei jetzt nicht entbehrlich und er könne ihn auf ein Stirnrunzeln Deutschlands nicht fallenlassen; am 2. Juni war er im Besitz von Mitteilungen, daß eine Fortsetzung der Politik Delcassés Deutschland nicht mehr gleichgültig sein könne. Nach Delcassés Aussage ist er selbst noch am 4. Juni in den Besitz eines englischen Hilfsangebotes gekommen, über das er nur den Präsidenten Loubet und Rouvier in Kenntnis setzte. Im besonderen ist in späteren - auf Delcassé zurückzuführenden - Enthüllungen77 davon die Rede gewesen, daß England auch ein sofortiges Eingreifen in den Krieg, und zwar vermöge einer Landung von 100 000 Mann in Schleswig-Holstein versprochen habe. Daß Delcassé diese Zusage erfunden haben sollte, ist nicht anzunehmen. Daß aber Lansdowne, der sie in Abrede stellte, amtlich die Unwahrheit gesagt haben sollte, ist fast ebenso schwer zu glauben. Der harmlose Geschichtsleser sieht sich in [577] Verlegenheit und stellt nur fest, daß der Engländer ein Verfahren eingeschlagen haben muß, das dem kriegswilligen Flügel der Franzosen das absolute Vertrauen auf seine militärische Hilfsbereitschaft einflößte und ihm selbst trotzdem das formale Recht sicherte, diese Zusage als einen amtlichen Schritt den Deutschen gegenüber zu bestreiten. Die französische Seite aber sorgte dafür, daß noch während der Krisis entsprechende Mitteilungen nach Deutschland gelangten.78 Da es nicht nur amtliche Wege vertraulichen Meinungsaustausches gab, so besteht eine große Wahrscheinlichkeit, daß König Eduard selbst, der in diesen Wochen in nahem Verkehr mit Delcassé stand, ihm die Erläuterung dessen, was von englischer Seite unter "den zu treffenden Maßregeln" verstanden wurde, zu geben gewußt hat; die Lesart der (nicht wahrscheinlichen) Landung "in Schleswig-Holstein" könnte auch auf eine temperamentvolle Wunschtheorie Sir John Fishers schließen lassen. Jedenfalls besteht kein Zweifel, daß die Engländer ihre stärkste Trumpfkarte ausspielten, um den Mann der Entente an der Spitze der französischen Außenpolitik zu erhalten.79

Mit diesem Rückhalt wollte Delcassé es wagen: er schlug vor, einen Panzerkreuzer nach Marokko zu entsenden. Als Rouvier ihm entsetzt entgegenhielt: das wäre der Krieg mit Deutschland, blieb er gefaßt: "Glauben Sie das doch nicht, es ist ja alles Bluff." Aber am 6. Juni entschied der Ministerrat gegen Delcassé und seine Kriegspolitik. Gegen Mittag nahm Delcassé seine Entlassung. Bis in die Einzelheiten des Vorganges hinein fühlt man sich an den Sturz des Kriegsministers Boulanger im Frühjahr 1887 erinnert, und es mag sein, daß man in Berlin nach Bismarckschem Rezept verfuhr. Und doch war der tiefe Unterschied der beiden Situationen nicht zu verkennen. Boulanger war der Vertreter einer persönlichen Kriegspolitik gewesen, die sehnsüchtig, ohne schon einen Vertrag zu [578] besitzen, nach Rußland ausschaute; da es an einem sachlichen Streitobjekt fehlte, war mit der Beseitigung seiner Person die ganze Krisis beendet. Jetzt aber, im Jahre 1905, blieb das Streitobjekt auch nach dem Sturze des Ministers unverändert bestehen, und die Macht, die anfeuernd dahinterstand, beschloß ihre Anstrengungen zur Rückendeckung zu verdoppeln.80

So wenig Bismarck im Jahre 1887 den Krieg gewollt hatte, so wenig wollte die deutsche Politik, wollte vor allem der Kaiser dieses Mal den Krieg. Wir haben dafür gerade aus dieser Zeit ein ganz persönliches Zeugnis. Im Mai 1905 war in der Londoner Zeitschrift The XIX. Century ein Aufsatz erschienen, der im Hinblick auf die gefährdete europäische Lage den sofortigen Abschluß eines französischen Bündnisses forderte:81 das europäische Gleichgewicht sei durch Rußlands Niederlage zerstört und Frankreich isoliert; man müsse an Bismarcks Prophezeiung denken, daß der nächste große Krieg Frankreich auf der Karte Europas auslöschen würde. Der Dreibund sei absolut der Herr des Kontinents, und seine Glieder möchten jetzt unbekümmert an eine aktivere und abenteuerlichere Politik denken; man müsse damit rechnen, daß sie die sich darbietenden Gelegenheiten des Augenblicks zu ihrem Vorteil ausnützen würden. Wahrscheinlich gehe die lange Friedensperiode jetzt zu Ende und man stände am Eintritt in eine Ära politischer Unruhe, die Europa erschüttern würde.

Graf Schlieffen, in dessen innerstem Denken die Forderung des Präventivkrieges lebte,82 übersandte den Aufsatz - der seinerseits auch von der Notwendigkeit der Präventive für seine Sache sprach - dem Kaiser. Dieser aber bemerkte am Rande - vermutlich an jener Stelle: - "Nein! Niemals werde ich einer solchen Handlung fähig sein!"83 In einem Augenblick, wo die gegnerische Publizistik die große Chance der deutschen Politik, den Höhepunkt der politischen Über- [579] legenheit sah, widerstand der Kaiser, auch in vertraulicher Herzensergießung, jedem Spiel mit dem Gedanken des Kriegs und der Vorherrschaft - es war in den Wochen, wo die deutsche Politik in Paris auf die Entlassung Delcassés drückte, nicht um Krieg zu machen, sondern um eine Kriegsgefahr hinwegzuräumen.

Im Augenblick empfand man in London die Niederlage stark. Der englische Premierminister Balfour schrieb am 8. Juni an König Eduard VII.: "Delcassés auf Druck der deutschen Regierung erfolgter Rücktritt verriet eine Schwäche Frankreichs, die es unmöglich macht, mit ihm als einem wirksamen Faktor in der internationalen Politik zu rechnen. Man kann ihm nicht mehr das Vertrauen entgegenbringen, daß es im entscheidenden Augenblick einer Verhandlung nicht vor Drohungen zu Kreuze kriechen wird."84 Der erste deutsche Gegenstoß gegen die englisch-französische Entente war von einem offensichtlichen Erfolge begleitet.

Der Abschluß des deutsch-französischen Marokkoabkommens vom 8. Juli, das scheinbar dem Streit die schlimmsten Hörner und Zähne ausgebrochen hatte, und die gleichzeitige Übernahme der Friedensvermittlung durch den Präsidenten Roosevelt, ermutigten den Kaiser zu einer der persönlichsten Handlungen seines Lebens. Er kam auf den Gedanken - im Einverständnis mit dem Reichskanzler -, die im Dezember 1904 gescheiterte Bündnisbesprechung mit dem Zaren noch einmal unter günstigeren Voraussetzungen wieder aufzunehmen. Noch einmal den Versuch zu machen, das Gespenst eines englisch-französisch-russischen Zusammengehens zu bannen. Wenn es im Augenblick auch keine russische Gefahr gab, so war doch damit zu rechnen, daß König Eduard seine Bemühungen um die russische Verständigung, sobald erst Rußland wieder aktionsfähig geworden war, wieder aufgreifen werde; dann würde auch Frankreich seine gezwungen-friedliche Haltung wieder aufgeben.85 Die Absicht des Kaisers, psychologisch richtig berechnet, war, an Nikolaus II. in seiner seelischen Verlassenheit als Freund und Helfer heranzutreten und ihn noch einmal einzuladen, die Basis des früheren Vertragsentwurfes zu betreten. Zu diesem Zwecke machte er ihm in der zweiten Hälfte des Juli den Vorschlag, mit ihm auf einer Jachtfahrt in den Gewässern der Ostsee zusammenzutreffen, und der Zar - von der Niederlage gedrückt und durch die Revolutionsbewegung
Zusammenkunft Kaiser Wilhelms II. mit Zar Nikolaus II. in
Björkoe, Juli 1905.
[576a]      Zusammenkunft Kaiser Wilhelms II. mit Zar Nikolaus II.
in Björkoe, Juli 1905 (der Zar auf der "Hohenzollern").
beunruhigt - nahm den Vorschlag mit besonderer Wärme an. Die Ratgeber Kaiser Wilhelms II. hatten zwar seit dem vorjährigen Erlebnis ihre Zweifel, sie hätten auch - der Lage entsprechend - lieber eine Initiative von russischer Seite gesehen, aber sie erklärten [580] sich mit dem Gedanken einverstanden. Noch während Bülow und Holstein die Einzelheiten des Planes hin und her erwogen, traf am 24. Juli von Björkoe im finnischen Meerbusen (nahe Wiborg) die telegraphische Nachricht ein, daß das Unwahrscheinliche eingetroffen, das Unzulängliche Ereignis geworden sei: der Kaiser und der Zar hatten den Vertrag miteinander angenommen und unterzeichnet.

Schon bei der ersten Besprechung der beiden Monarchen am 23. Juli hatte sich gezeigt, daß der Kaiser den psychologischen Moment richtig gewählt hatte, um einen Zugang zu der schwachen und trostbedürftigen Seele des Zaren zu finden. Selbst in der schwierigen Frage der Ordnung des Verhältnisses zu Frankreich. Der Kaiser betonte, Frankreich habe der englischen Verführung Anfang Juni widerstanden und damit angezeigt, daß es sich um Elsaß-Lothringen nicht mehr schlagen wolle. Der Zar antwortete: "Ja, das sehe ich, es ist ganz klar, die elsaß-lothringische Frage ist jetzt ein für allemal, Gottseidank, geschlossen (incident clos)." Er war von tiefer Erbitterung gegen England erfüllt, und in der Klage über die Intrigen Eduards VII. als des Friedensstörers von Europa klangen ihre Überzeugungen zusammen: er versprach dem Kaiser in die Hand, niemals ein Bündnis oder eine Verabredung mit England gegen Deutschland zu schließen.86

Wilhelm II. hat wohl niemals in seinem Leben alle Kräfte seines Innern so zusammengerafft, wie hier, wo es galt, den Zaren zu gewinnen; mit Gebet zum Herrn suchte er sich zu sammeln. Er hatte den richtigen Instinkt, daß hinter den Entscheidungen die große Wende des Schicksals verborgen liege. Bevor er am nächsten Morgen zu der Jacht des Zaren hinüberfuhr, schlug er die Losungen auf und suchte nach einer Stärkung. Von neuem klagte der Zar über die englisch-französischen Vertraulichkeiten und auch darüber, daß die englische Flotte in den letzten Tagen in so überschwänglicher Weise in Brest gefeiert worden sei, ohne daß man ihn vorher gefragt habe - ob sie wohl etwas miteinander abgemacht hätten? Jetzt sah Wilhelm II. den Augenblick gekommen. Wenn der Bundesgenosse ohne vorherige Anfrage sich die Politik der freien Hand wahre, so sei es dem Zaren unbenommen, das Gleiche zu tun. Man könne ja, so schlug er vor, das im letzten Winter an Delcassés Widerspruch gescheiterte Übereinkommen wieder hervorholen. Auf die Frage des Zaren legte der Kaiser ihm eine Abschrift jenes Entwurfes vor, die er zur Hand hatte; er hatte darin die beiderseitige Hilfsverpflichtung auf Europa beschränkt. Der Zar las den Entwurf zweimal, dreimal. Selten gewinnt man einen so klaren, einen so persönlichen Eindruck von dem Innenleben des Kaisers, wie in seiner Schilderung dieses Vorgangs: "Ich betete ein Stoßgebet zum lieben Gott, Er möge jetzt bei uns sein und den jungen Herrscher lenken. Es war totenstill; nur das Meer rauschte und die Sonne schien [581] fröhlich und heiter in die trauliche Kabine, und gerade vor mir lag leuchtend weiß die 'Hohenzollern', und hoch in den Lüften flatterte im Morgenwind die Kaiserstandarte auf ihr; ich las gerade auf deren schwarzem Kreuz die Buchstaben 'Gott mit uns', da sagt des Zaren Stimme neben mir: »that is quite excellent. I quite agree.« Mein Herz schlägt so laut, daß ich es höre; ich raffe mich zusammen und sagte so ganz nebenhin: »Should you like to sign it? It would be a very nice souvenir of our entrevue.«" Der Zar willigte ein. Beide Monarchen unterzeichneten und umarmten einander; als Zeugen mußten der Admiral Birilew und der Unterstaatssekretär von Tschirschky ihre Unterschriften beifügen.87

Der Vertrag sah in Europa die wechselseitige Unterstützung der beiden Mächte für den Fall des Angriffs durch eine europäische Macht vor. Er sollte sogleich nach dem Friedensschluß mit Japan ins Leben treten und Bestand haben, solange er nicht ein Jahr zuvor gekündigt sei. Der Zar übernahm die notwendigen Schritte, nach dem Inkrafttreten des - bis zum Friedensschluß geheimzuhaltenden - Vertrages Frankreich in das Abkommen einzuweihen und es zu verpflichten, sich ihm als Verbündeter anzuschließen.

Der Kaiser war so erhoben von dem Gelingen, daß er triumphierend an den Reichskanzler schrieb: "So ist der Morgen des 24. Juli 1905, bei Björkoe, ein Wendepunkt in der Geschichte Europas geworden, dank der Gnade Gottes; und eine große Erleichterung der Lage für mein teures Vaterland, das endlich aus der scheußlichen Greifzange Gallien - Rußland befreit werden wird." Wenn das Wort des Zaren seine Kraft behielt, dann war allerdings der einst im Konflikt mit Bismarck voreilig preisgegebene Rückversicherungsvertrag wiederhergestellt, ein historischer Fehler wieder ausgelöscht -, und zwar, wie Bülows Glückwunsch von der Nordsee es am selben Tage ausdrückte: "Eure Majestät allein haben diese Wendung ermöglicht und herbeigeführt." In dem Leben dieses Monarchen, das stets von einem so heftigen Auf-und-Nieder der Empfindungen erfüllt war, war es vielleicht der glücklichste Augenblick, weil ein niemals ganz in sich selbst beruhigtes Selbstgefühl sich diesmal durch einen Erfolg belohnt sah, den es kaum zu erhoffen gewagt hatte. Gegen dieses menschliche, allzu menschliche Selbstgefühl des Kaisers aber sollten nun gleich darauf die stärksten Stöße, von zwei verschiedenen Seiten her, einsetzen.

Die Enttäuschung ging sogar von der deutschen Seite aus, obgleich hier doch das Gesamtergebnis höchst willkommen sein mußte. Aber der Reichskanzler erblickte in der Beschränkung der gegenseitigen Hilfsverpflichtung auf Europa, die der Kaiser in den Vertragsentwurf eingefügt hatte, eine Verringerung seines politischen Wertes. Er wünschte also den Zusatz "in Europa" zu streichen, und verbiß sich, aus welchen Gründen auch immer, in diese Kritik, obgleich er sich sagen mußte, daß jeder nachträgliche Abänderungsversuch die Gefahr mit sich [582] brachte, daß man auch in Petersburg versuchen werde, den Vertrag abzuändern. Holstein, der von jeder Diskussion einer Vertragsänderung abriet, war viel einsichtiger, wenn er die Tatsache, daß Rußland dem "Viererbunde" nicht mehr beitreten könne, doch höher einschätzte: "Der Kreis um Deutschland kann sich nicht mehr schließen. Damit ist immerhin schon etwas erreicht." Es scheint aber, daß dem Reichskanzler auch grundsätzlich daran lag, die Festigkeit seiner Stellung dem Eigenwillen des Kaisers gegenüber zu erproben: er weigerte sich, die Verantwortung für den Zusatz zu übernehmen, und erbat am 3. August 1905 seine Entlassung. Für den Kaiser, der in diesen Tagen in Kopenhagen eine gewagte Kontinentalpolitik fortgesetzt hatte,88 wirkte Kritik und Absage von dieser Seite wie ein Donnerschlag. Der Erregungszustand, den man auch sonst in diesen Tagen an ihm bemerkt, erfuhr eine derartige Steigerung, daß er nach seiner eigenen Aussage völlig zusammenbrach und eine schwere Nervenkrisis befürchtete. Sein Antwortschreiben vom 11. August, in dem er Bülow geradezu anflehte, im Amte zu bleiben und mit ihm gemeinschaftlich zu arbeiten, ad majorem Germaniae gloriam, verrät eine Haltlosigkeit, die nur Mitgefühl erregen kann.89 Auch der greise Wilhelm I. hat sich dem herrscherlichen Rücktrittsgesuch Bismarcks, zwar bittend, aber in souveränem Ton mit seinem "Niemals" entgegengestellt: bei seinem Enkel sieht man ein tief erschüttertes Selbstgefühl sich vor dem Entlassungsgesuch beugen, das Bülow anscheinend mit kalter Berechnung ins Gefecht geführt hatte. Man hat den Eindruck, als wenn der Kaiser in diesem Jahre, wo er mit sicherer Witterung eine dunkle Gefahr rings um Deutschland heransteigen fühlte, in seinem Innersten von heftigen Erschütterungen heimgesucht wurde. Der Umschlag von dem vermeintlichen Triumph zu der Kritik seiner Berater warf ihn seelisch um und offenbarte mit einem Schlage, daß er den Glauben an sich selber nicht mehr besaß.

Und dabei lag das ganze politische Problem gar nicht in dem, was zwischen Wilhelm II., dem Kanzler und Holstein erwogen wurde, nämlich in der Möglichkeit, den Vertrag von Björkoe von deutscher Seite zu "verbessern". Es lag auf der anderen Seite des Abgrunds: würde der Zar, wenn mit dem Friedensschluß die Ratifikation nahte, bei dem Vertrage, so wie er lautete, festgehalten werden können? Würde der Selbstherrscher aller Reußen, dessen Unterschrift für das russische Staatsrecht verbindlich war, sich gegen die russische Staatsräson und gegen die Männer, die sie amtlich vertraten, behaupten? Noch als Witte Ende September, von Amerika kommend, das kaiserliche Jagdschloß Rominten besuchte und vom Kaiser in das Geheimnis des Vertrages eingeweiht wurde, war er zunächst - oder er stellte sich wenigstens so - auf das freudigste überrascht [583] und ging ganz auf die Gedankengänge des kontinentalen Dreibunds ein.90 Aber auch er dachte nur an eine allmähliche Gewöhnung Frankreichs an den neuen Tatbestand. Als er an den Zarenhof zurückkehrte, sah er bereits den Vertrag von Björkoe im Mittelpunkt der geheimsten Erörterungen stehen. Die amtliche Formel lautete noch, der Zar habe in Björkoe die früheren Bündnisverträge nicht zur Hand gehabt, und man müsse jetzt an den langwierigen Versuch herantreten, Frankreich zum freiwilligen Anschluß zu vermögen, oder aber, wenn es ihn durchaus verweigere, die Artikel 1 und 4 des Vertrages ändern. Um Mitte Oktober ließ Graf Lamsdorff den französischen Botschafter wissen, daß der deutsche Kaiser sich eifrig bemühe, die russische Regierung zu einem bestimmten Schritt gegenüber dem neuen englisch-japanischen Abkommen zu veranlassen. Am 25. Oktober erfuhr man bereits in London, daß der russische Botschafter eine ähnliche Idee - Rußland, Deutschland, Frankreich als Gegengewicht gegen das englisch-japanische Bündnis - Herrn Rouvier vorgeschlagen, aber die Antwort erhalten habe, von einer französischen Beteiligung an einem solchen Plan könne nicht die Rede sein. Der französische Botschafter glaubte sich daher zu der Annahme berechtigt, daß der Vorschlag zwar im Auftrag Lamsdorffs gemacht worden sei, aber in der Erwartung, daß er eine Ablehnung erfahren werde.91 Nachdem die amtliche russische Politik diese Schwierigkeit festgestellt hatte, ging sie pflichtmäßig dazu über, dem Kaiser die bittere Enttäuschung nicht mehr vorzuenthalten. Am 28. November teilte der Zar dem kaiserlichen Freunde mit, daß die Ereignisse der letzten drei Wochen wenig Aussicht verrieten, Frankreich für einen Vertrag zu Dreien zu gewinnen.

Immerhin wahrte er, wie er mußte, die Form und schlug eine Deklaration vor, daß in Anbetracht dieser Schwierigkeiten Artikel 1 keine Anwendung auf den Fall eines Krieges mit Frankreich fände und daß die französisch-russischen Verpflichtungen bis zur Begründung eines Dreier-Einvernehmens in Kraft blieben. Der Kaiser sah mit Recht in diesem Vorschlag "eine direkte Annullierung des Vertrages im Fall eines Krieges mit Frankreich". Seine Stimmung suchte sich auf der Linie der Illusionen zu halten, "getrost auf unser klares Gewissen und die gute Sache bauend, die große Aufgabe, Gallien zu gewinnen, zu lösen", um dann doch wieder der Bitterkeit über den russischen Dank für die deutsche Haltung während der letzten Jahre zu verfallen. Und dann überkam ihn, nach dem Scheitern dieses letzten und persönlichsten seiner Anläufe, das dunkle Gefühl, das entscheidende Spiel verloren zu haben: "Die Koalition ist de facto da. Das hat [584] King Eduard VII. doch fein gefingert." Der Kampf war noch nicht zu Ende. Aber das Schwergewicht der englisch-französischen Entente hatte sich in dem Ringen um die Seele der russischen Politik als der stärkere Teil erwiesen. Der Form halber hielt man in Berlin an dem zerreißenden Faden noch fest. Der Kaiser betonte, daß der deutsch-russische Defensivvertrag nicht gegen ein französisch-russisches Bündnis verstoße, das doch auch lediglich defensiven Charakters sei. Und der Zar schlug am 2. Dezember vor, die Zusatzdeklaration zu dem Björkoe-Vertrag als in Geltung stehend zu betrachten. Man äußerte sich dazu in Berlin nicht. Da das Wort der Monarchen nicht ausgelöscht werden konnte, gab man sich den Anschein, als wenn es seine Geltung bewahre. Aber schon der nächste Akt, die Konferenz von Algeciras, sollte lehren, daß die politische Wirklichkeit über diese Episode längst hinweggeschritten war.


49 [3/564]Vgl. den Bericht des Grafen Schlieffen an Bülow vom 10. Juni 1905. ...zurück...

50 [4/564]So der österreichische Ministerresident (Große Politik 17, S. 328 ff.). ...zurück...

51 [5/564]Große Politik 17, S. 296, 304 f. ...zurück...

52 [1/565]Große Politik 17, S. 297 f. 15, S. 418. ...zurück...

53 [2/565]Vgl. S. 506. ...zurück...

54 [3/565]Daß noch im Juni 1901 durch Sir Arthur Nicolson an den deutschen Diplomaten Frhr. v. Eckardstein das Angebot einer deutsch-englischen Durchdringung von Marokko gemacht worden sei, war schon aus den deutschen Akten nirgends zu belegen und ist neuerdings von Harold Nicolson, Lord Carnock, als grobes Mißverständnis nachgewiesen worden. ...zurück...

55 [1/566]Große Politik 17, S. 339 ff. ...zurück...

56 [2/566]Lord Newton, Lord Lansdowne, S. 285 f. Lord Cromer antwortete am 27. November: "Ich sollte es beinahe für sicher halten, daß die Deutschen etwas verlangen werden - entweder Rabat oder vielleicht eine Kohlenstation im Roten Meer. Sie brauchen Kohlenstationen dringend. Man wird auf eine ziemlich unangenehme Forderung rechnen müssen." ...zurück...

57 [3/566]Harold Nicolson, Lord Carnock, S. 149. ...zurück...

58 [4/566]Metternich an Bülow, 4. Oktober 1903: "Wann der richtige Augenblick für uns eintritt, kann nur die Entwicklung der Dinge lehren, oder erst durch die genauere Kenntnis der englisch-französischen Abmachungen bestimmt werden." (Bülow, Denkwürdigkeiten 2, S. 5.) ...zurück...

59 [1/567]Darauf gründet sich die Formel in dem Erlaß Bülows vom 26. Juli 1904: "S. M. der Kaiser hat unsere künftige Stellung in Marokko dahin präzisiert, daß wir dort offene Türen, Eisenbahnkonzessionen und die Einfuhr von industriellen Erzeugnissen beanspruchen." ...zurück...

60 [2/567]S. o. S. 552 f. ...zurück...

61 [3/567]Aufzeichnung Holsteins (Große Politik 20, 1, S. 207 ff.). ...zurück...

62 [1/568]So der Gesandte Rosen zu Mr. Lowther. Mr. Lowther an Lord Lansdowne: 4. Dezember 1905 (Brit. Dokum. 3, S. 233 ff.). ...zurück...

63 [2/568]Die Engländer, wie z. B. Winston Churchill und General French, nahmen das deutsche Argument der schwarzen Armee nicht allzu schwer: bei einem Angriffskriege Frankreichs sei die Verwendung Schwarzer absolut unmoralisch, in einem Verteidigungskriege gegen eine Invasion sei jedes Mittel gestattet. Österr.-Ung. Außenpolitik 3, S. 362 ff., 405. ...zurück...

64 [1/569]Metternich, 4. Juni 1904: "Lord Lansdowne hat mir noch gestern ausdrücklich gesagt, daß England zwar den Franzosen Desinteressement in Marokko versprochen, aber damit keinenfalls die Verpflichtung übernommen habe, bei den etwaigen Beziehungen Dritter in Marokko zugunsten Frankreichs einzugreifen. Noch viel weniger wird England sich zu einem kontinentalen Krieg im voraus verpflichten." Dementsprechend sprach auch Radolin am 27. Juli 1904 von der Überzeugung des Reichskanzlers, daß die englische diplomatische Unterstützung Frankreichs nicht viel bedeuten würde. ...zurück...

65 [2/569]Metternich an Bülow: 15. August 1904 (Große Politik 20, 1, S. 219 ff.). ...zurück...

66 [1/570]Richthofen an Bülow: 7. Oktober 1904 (Große Politik 20, 1, S. 228). ...zurück...

67 [2/570]Kühlmann an Bülow: 28. November 1904 (Große Politik 20, 1, S. 237 ff.). Er traf in den Tagen in Berlin ein, wo die russische Hoffnung im Felde zerronnen war, dafür die englische Kriegspanik sich plötzlich zu unheimlicher Höhe erhob. ...zurück...

68 [1/571]Bülow an Speck von Sternburg: 25. Februar 1905 (Große Politik 20, 1, S. 256). ...zurück...

69 [1/572]Vgl. das Schreiben Wilhelms II. an Bülow vom 11. August 1905: "Vergessen Sie nicht, daß Sie mich persönlich gegen meinen Willen in Tanger eingesetzt haben... Ich bin Ihnen zuliebe, weil es das Vaterland erheischte, gelandet, auf ein fremdes Pferd trotz meiner durch den verkrüppelten linken Arm behinderten Reitfähigkeit gestiegen, und das Pferd hatte mich um ein Haar ums Leben gebracht, was Ihr Einsatz war" (Große Politik 19, 2. S. 497 f.). ...zurück...

70 [1/573]Bülow an Wilhelm II. vom 26. März 1905: "Falls ich heute fest verspräche, Euch zu unterstützen, würdet Ihr morgen die Franzosen angreifen. Ich möchte aber... den Frieden erhalten, obwohl ich ein sehr starkes Heer habe. Deshalb muß ich mir meine Entschließung vorbehalten für den Fall, daß es wirklich zum Kriege zwischen Marokko und Frankreich kommt... Aber Frankreich weiß, daß seine Lage eine gefährliche ist, wenn es Marokko angreift, ohne sich der Neutralität Deutschlands versichert zu haben" (Große Politik 20, 1, S. 276). ...zurück...

71 [1/574]Brit. Dokum. 3, S. 118. Spender, Sir H. Campbell-Bannermann 2, S. 248 (mit dem falschen Datum 25. April). Sidney Lee, König Eduard 2, S. 341 (Berties Bericht vom 22. April, Delcassé habe erwähnt, die deutsche Regierung wolle ihn "hinauswerfen"). Rosen, Aus einem diplomatischen Wanderleben 1, 137 ff. ...zurück...

72 [1/575]Große Politik 20, 2, S. 362 ff. Es ist begreiflich, daß Monts darnach den Marokkofeldzug schon für gewonnen hielt. - Vgl. Rosen, a. a. O. 1, S. 137 f. Das Urteil des Frhr. von der Lancken (Meine dreißig Dienstjahre, S. 42 f.) über den "tragischen Mißerfolg" von Monts steht unter dem Irrtum, daß eine ernsthafte Absicht Delcassés zugrunde gelegen hätte. ...zurück...

73 [2/575]Frhr. von Eckardstein, Lebenserinnerungen (Große Politik 20, 2, S. 368 ff.). ...zurück...

74 [3/575]Brit. Dokum. 3, S. 124 f. Spender, Campbell-Bannermann. ...zurück...

75 [1/576]In späterer Zeit hat er diesen Akten die Bemerkung zugefügt: "Dies war vermutlich der Ursprung des Offensiv- und Defensivbündnisses." ...zurück...

76 [2/576]Brit. Dokum. 3, S. 125 f. ...zurück...

77 [3/576]Im Gaulois vom 12. Juli und im Matin vom 6./13. Oktober 1905. Dazu in einem Briefe Delcassés an den Figaro vom 20. März 1922. Vgl. Roosevelts Urteil am 3. November 1905 über die "Machenschaften dieses unglaublichen Halunken Delcassé, der zum Glück für die Zivilisation abgetakelt ist. Dieser Mensch darf auf keinen Fall wieder ans Ruder kommen." (Große Politik 21, 10.) Vgl. Cambon an Poincaré 31.10. 1912. Doc. Dipl. Fr. sér. 3, t. 4, 318 ff. ...zurück...

78 [1/577]Am 6. Juni durch einen Mitarbeiter (und im Auftrag des Eigentümers) des Matin: "daß von englischer Seite hier in aller Form das Anerbieten einer Offensiv- und Defensivallianz mit antideutscher Spitze gemacht worden sei" (Große Politik 20, 2, S. 624, 627). Bezeichnend ist, daß Alfred Beit, der Freund König Eduards, dem Kaiser gegenüber das in Delcassés Enthüllung erwähnte Angebot bewaffneter Hilfe nicht bestritt: "so sei das nur im Falle gemeint gewesen, falls Deutschland Frankreich unrechtmäßig überfiele". Der Kaiser sah in dieser Einschränkung nur eine Bestätigung. Frhr. von Eckardstein bezieht sich auf eine Äußerung des Generals Sir John French vor Zeugen, es sei alles vorbereitet gewesen, um im Notfalle 3 Armeekorps (100 000 Mann) zur Unterstützung der Franzosen an die Maas zu werfen. Metternich an Bülow: 31. Januar 1907 (Große Politik 21, 2, S. 470). ...zurück...

79 [2/577]Als Tirpitz später, 1906, mit dem englischen Marineattaché Capt. Dumas auf die Erbietungen an Frankreich von 1905 zu sprechen kam, ließ sich dieser - in der Sache alles bestreitend - in ein Gespräch über die Opportunität des Schritts ein. Grey aber tadelte dieses Verhalten: "Keiner unserer Offiziere und Diplomaten sollte mit Deutschen erörtern, welche Unterstützung wir zu irgendeiner Zeit der Vergangenheit oder Zukunft Frankreich anbieten mögen oder etwa angeboten haben" (Brit. Dokum. 6, S. 3 ff.). Als Metternich am 20. Dezember 1905 in seinem ersten Gespräch mit Grey die Frage der bewaffneten Hilfe streifte, schwieg dieser dazu (Große Politik 20, S. 685 ff.). ...zurück...

80 [1/578]Daß der Kaiser aus diesem Anlaß den Reichskanzler Grafen Bülow in den Fürstenstand erhob, hätte - namentlich um die Demütigung der Franzosen nicht zu betonen - besser vermieden werden sollen. ...zurück...

81 [2/578]The Balance of Power, von O. Eltzbacher, Maiheft S. 787 - 804. ...zurück...

82 [3/578]Daß Graf Schlieffen in diesem Jahre den Präventivkrieg "betrieben" habe, ist quellenmäßig nicht zu belegen; die Angaben bei Rochs und Frhr. v. d. Lancken a. a. O. beziehen sich auf den Vorgang im Oktober 1904, s. oben S. 557. Kaiser Wilhelm II. war schon im Januar 1905 entschlossen, dem Grafen Schlieffen, der im Jahre 1903 sein siebzigstes Lebensjahr überschritten hatte, einen Nachfolger zu geben, und hatte damals schon den General von Moltke mit der Anlage der Kaisermanöver im Herbst 1905 betraut. Der "Schlieffensche Plan" verdankt diesen letzten Jahren (s. 1902) seine Entstehung. Aber daß der Chef des Generalstabs, der sich in seiner ganzen Dienstzeit von jeder politischen Einwirkung ferngehalten hatte, noch in diesem letzten Jahre einen stärkeren Einfluß auf den ihm innerlich fremden Monarchen zu nehmen versucht haben sollte, ist höchst unwahrscheinlich. ...zurück...

83 [4/578]Auf Grund einer Mitteilung des Generals von Haeften bei Frhr. v. d. Lancken, Aus dreißig Dienstjahren, S. 62 f. (Unter unbestimmter Wiedergabe des Anlasses.) Herrn General von Haeften bin ich für die Bezeichnung der Zeitschrift dankbar. Das Heft selbst ist in den Generalstabsakten nicht mehr erhalten. ...zurück...

84 [1/579]Lee, König Eduard VII. 2, S. 343 (deutsche Ausgabe). ...zurück...

85 [2/579]Bülow an Holstein: 20. Juli 1905. ...zurück...

86 [1/580]Diese Formulierung erst in dem späteren Briefe des Kaisers vom 12. August. ...zurück...

87 [1/581]Kaiser Wilhelm II. an Bülow (Große Politik 19, 2, S. 458 - 465). ...zurück...

88 [1/582]Seine damaligen Gespräche über den "europäischen Zollverein" sind es wohl, die hernach in der englischen Diplomatie als "napoleonische Tendenzen" wiederkehren. ...zurück...

89 [2/582]Vor allem der Passus: "Was ich nicht überleben kann. Denn der Morgen nach dem Eintreffen Ihres Abschiedes würde den Kaiser nicht mehr am Leben sehen." ...zurück...

90 [1/583]Nach dem Telegramm des Kaisers vom 27. September ist kein Zweifel über die völlige Orientierung Wittes über den Vertrag. Die Aussagen seiner eigenen Memoiren (S. 289 f.) und zu Dillon (Eclipse of Russia, S. 354) sind ganz unrichtig. ...zurück...

91 [2/583]Brit. Dokum. 4, S. 338 ff., 353, 357 ff.; vgl. auch den Bericht Metternichs vom 15. November 1905 über eine Äußerung Hardinges, das Bündnis sei am Widerstand der französischen Regierung gescheitert, die aus Rücksicht auf England dasselbe nicht habe perfekt werden lassen. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte