Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 1: Das Deutsche Reich
unter Kaiser Wilhelm II. (1890 - 1909) (Forts.)
4. Die deutschen Gegenstöße gegen die
englisch-französische Verbindung
(1904 - 1907). (Forts.)
In allen diesen Monaten standen die deutsch-französischen Verhandlungen
über die Voraussetzungen, unter denen man in die internationale
Auseinandersetzung eintreten wollte, im Vordergrunde der diplomatischen
Geschäftigkeit und der Erregungen der öffentlichen Meinung, die auf
dem innersten Boden dieser Gespräche die Frage Krieg oder Frieden
witterte. Trotzdem haben wir uns entschlossen, alle diese Dinge nur knapp zu
berühren, weil sie nur Vordergründe sind und nicht eigentlich in den
Kern der Entscheidungen führen. Das
deutsch-französische Abkommen vom 8. Juli, in dem Frankreich
grundsätzlich die Entscheidung durch eine internationale Konferenz
zugestanden hatte, hatte sich nur als eine provisorische Lösung erwiesen.
Die deutsche Vertretung in Fez benutzte die Gelegenheit, neue Konzessionen zu
gewinnen, und die Franzosen sahen darin einen willkommenen Anlaß,
dagegen zu protestieren. Zu Anfang September begannen neue Verhandlungen in
Paris, die am 28. September zu einem neuen
deutsch-französischen Abkommen
führten92 - niemand drängte so
ungeduldig auf ihren Abschluß als der Kaiser, der dieses ekle Gezanke
gründlich satt zu haben erklärte. Man hat die deutsche Politik
während dieser ganzen Monate sehr als undurchsichtig getadelt. Ich lasse es
dahingestellt, ob diese Vorwürfe das Verfahren im einzelnen treffen,
obgleich man auch darin der zähen Verhandlungstaktik der Franzosen nicht
immer gewachsen war. Aber der eigentliche Vorwurf wird sich auf einen anderen
Gegenstand richten. Man hat den Eindruck, als ob die große Konzeption der
deutschen Politik in dieser gefährlichen Kraftprobe, die mit solchem Alarm
eingeleitet worden war, der wahren Einheitlichkeit entbehrte. Die Idee des
Kaisers, die auf den Kontinentalbund unter Einschluß Frankreichs abzielte
(und infolgedessen die Marokkosache sehr leicht nahm), und die
Fortführung [585] einer Marokkopolitik
auf die Gefahr eines Bruches mit Frankreich hin: das waren zwei Dinge, die nicht
in einem beherrschenden Kopfe zu einem großen Plan verschmolzen waren,
vielleicht gar nicht hätten verschmolzen werden können. Man
vermißt in dem Reichskanzler, der die Verantwortung trug, die
Überlegenheit des Führers, die nur aus innerer Klarheit und
Entschlossenheit entspringt. Und über dieser Uneinheitlichkeit, die man
mehr ahnt, als aus den Akten belegen kann, verschob sich allmählich das
Bild der Welt, verflüchtigte sich die Gunst der Stunde. Der Friede zu
Portsmouth im September 1905 war zugleich der erste Schritt, den Russen wieder
freie Hand zu geben, und wenn sie selber, von dem großen
revolutionären Sturm heimgesucht, auch noch kaum Gebrauch davon
machen konnten, so war doch für alle anderen Mächte die
Rücksicht auf die Unberechenbarkeiten des Krieges fortan
hinweggenommen. Unmerkbar war Deutschland in diesen Monaten aus der
Hinterhand im Weltspiel herausgekommen, und gerade die Erfahrungen, die man
in Berlin mit dem Zarenworte von Juli bis November 1905 gemacht hatte, waren
ein Anzeichen dafür, daß die Stellung der Gestirne sich
verändert hatte. Die Deutschen standen am Ausgang des Jahres 1905 nicht
mehr da, wo sie im Februar gestanden hatten.
Seit dem Sturze Delcassés und der Zusammenkunft von Björkoe
hatte König Eduard, von tiefer Erbitterung verzehrt, den
Rivalitätskampf mit seinem Neffen auch persönlich aufgenommen,
leidenschaftlich von dem Bedürfnis geführt, sich in dieser
schicksalsvollen Wende der Zeiten zur Geltung zu bringen. Für die
mißtrauische Gereiztheit, die sich zwischen England und Deutschland
entwickelt hatte, ist es bezeichnend, daß ein
deutsch-portugiesischer Entschädigungsstreit, bei dem es sich um eine
deutsche Sanatoriumskonzession in Madeira handelte, den Engländern zum
Anlaß wurde, wegen des falschen Verdachtes, daß hinter dem
Sanatorium der Erwerb einer Kohlenstation verborgen liege, im Herbst/Winter
1905 mehrere Male die Bereitschaft ihrer Flotte anzuordnen.93 Es konnte kein treffenderes Symbol
für die Lage geben!
Als die Konferenz von Algeciras, solange schon das Endziel der deutschen
Politik, endlich im Januar 1906 zusammentrat, hingen die Entscheidungen, die
hier gefällt werden sollten, an der Gestaltung zweier Tatbestände:
einmal und in erster Linie an der Festigkeit und Klarheit des politischen Willens,
der sich auf der deutschen und auf der
englisch-französischen Seite verkörperte, darüber hinaus an
dem Chor der anderen Mächte und der Parteinahme, die in der damaligen
Weltlage ihnen angezeigt schien. Wenn man nach unserer heutigen Kenntnis der
gesamten Aktenbestände diese Lage der Dinge ausdeutet und erfaßt,
wird man über den Verlauf und Ausgang der Konferenz nicht
überrascht sein.
[586] Die deutschen
Staatsmänner waren wohl im Besitze eines eindeutigen Planes dessen, was
sie in Marokko wollten, und mehr noch dessen, was sie in Marokko verhindern
wollten. Nicht aber waren sie einig über die Linie, bis zu der sie sich
für die Durchführung dieses Planes einsetzen wollten. Sobald die
letzte Frage auftauchte, ob man gesonnen sei, die eingenommene Stellung bis zum
bitteren Ende zu behaupten, war man in dem Kreise der Männer, welche die
deutsche Außenpolitik bestimmten, nichts weniger als einmütig.
Kaiser Wilhelm II. trat in das neue Jahr, das die Konferenz brachte, mit
einer schweren Enttäuschung hinüber, welche tiefer als alle
früheren Erlebnisse sein einst so lautes Selbstgefühl
unterhöhlte; er gab sich keinen Trugbildern über jene
Machtverschiebung auf der europäischen Bühne hin, die abzuwenden
ihm nicht geglückt war: "die Koalition ist de facto da". In
dieser ihn bedrückenden Überzeugung war er von vornherein
entschlossen, die Konferenz zu einer schleunigen und friedlichen Abwicklung der
Streitfrage zu gestalten und sie auf keinen Fall zu einer Machtprobe auf
ungünstigem diplomatischen Terrain sich auswachsen zu lassen. Einen
Krieg wollte er unter allen Umständen vermeiden. Er hatte seit seiner
Thronbesteigung niemals den Krieg mit Frankreich gewollt; halb wider Willen
war er in das Abenteuer von Tanger und in die ihm niemals sympathische
marokkanische Frage verwickelt worden; jeden Streit mit Frankreich hatte er als
eine unliebsame Störung seiner Kontinentalbundpläne empfunden.
Demgemäß liefen seine Anweisungen nach Madrid und an das
Auswärtige Amt auf den Grundsatz hinaus: die Konferenz von Algeciras
muß der Grundstein eines
französisch-deutschen Einvernehmens werden.94 Ob für ein solches Ziel auf der
französischen Seite ein Bedürfnis bestand, bleibe dahingestellt: dem
Kaiser schien das alles im Bereiche des Möglichen zu liegen.
Wie wenig er in dem bisherigen Verlauf der Krisis von kriegerischen Stimmungen
berührt war, haben wir gesehen. Wie tief aber in der Stunde von Algeciras
sein Abscheu gegen den Krieg ging, ließ er in vertraulicher Eröffnung
nur den Reichskanzler wissen, von dem er wohl fühlte, daß er auch
anderer Einwirkung ausgesetzt sei. Gewiß, wenn Wilhelm II. als
oberster Kriegsherr wie am Neujahrstage 1906 bei der Paroleausgabe im
Zeughaus zu den Offizieren sprach,95 dann pries er, mit einem ernsten
Unterton, laut sein Heer, das unüberwindliche Werkzeug: so kannte ihn die
Welt. Aber am Abend vorher hatte er Bülow einen vertraulichen Brief
geschrieben, dessen Aufgeregtheit eine unbedingte Ablehnung des Krieges
verriet.96 Er wolle keinen Krieg, bevor er nicht
ein festes Bündnis mit dem Sultan und allen Mächten des Islam
geschlossen [587] habe; allein
könne Deutschland überhaupt nicht, wenigstens nicht zur See, gegen
England und Frankreich Krieg führen; diesen mache die
ungenügende Bewaffnung der Artillerie für das nächste Jahr
ebenso unmöglich wie die sozialistische Gefahr im Innern. Also legte er
dem Reichskanzler ans
Herz - und das war so gut wie ein eindeutiger
Befehl, - die auswärtige Politik so zu führen, daß ihm so
weit als irgendmöglich und "jedenfalls für jetzt" die Entscheidung
zum Krieg erspart bliebe.97
Wenn die deutsche Politik bei den Verhandlungen in Algeciras unter
ungünstigen diplomatischen Gestirnen der französischen
Alleinherrschaft in Marokko ein Höchstmaß von Sonderrechten
entreißen wollte, dann mußte sie den Eindruck eherner
Geschlossenheit, der Bereitschaft auch zum Äußersten erwecken.
Daß bei dem Kaiser ein so ausgesprochenes Gegenteil eines Kriegswillens
lebte, gereicht ihm nicht zur Unehre. So wie die Dinge lagen, waren die
Einzelheiten der
Polizei- und Bankfragen in Marokko, über die in Algeciras gestritten
wurde, kein hinreichender Anlaß zu einem deutschen Volkskrieg und
wären als solcher auch von Bismarck wohl verworfen worden. Aber es war
kein gutes Vorzeichen, daß die deutsche Seite einen fast gebrochenen
Willen in der Verhandlung mit äußerlich unbeugsamer Haltung zu
verdecken suchte, - während auf
englisch-französischer Seite, wie wir sehen werden, eine kriegsbereite
Entschlossenheit vorhanden war.
Wenn es im Laufe der Zeit auch nach außen durchsickerte, daß der
Kaiser den Krieg um keinen Preis wolle, so konnte der Gang der Verhandlungen
dadurch nur ungünstig für uns beeinflußt werden. Wohl konnte
Herr von Holstein noch am 1. März dem englischen Botschafter
einen Bericht zeigen, auf dessen Rand der Kaiser geschrieben hatte, daß er
entschlossen sei, in der Polizeifrage fest zu
bleiben - "darin stehe ich fest" -, als aber die Abstimmung am 3.
März Deutschland in eine erdrückende Minderheit versetzte, hielt
diese Festigkeit nicht lange an. Wilhelm II. war viel zu temperamentvoll,
als daß er aus dem friedlichen Innern seines Herzens eine
Mördergrube hätte machen können (wie dem
französischen Botschaftsrat Lecomte gegenüber in Liebenberg); auch
wenn man selbst sich das friedliche Endziel des Kaisers aneignet, ist doch nicht
zu leugnen, daß die Art, wie er seinen Friedenswillen durchscheinen
ließ, die Einheitlichkeit des deutschen Auftretens in Algeciras
geschädigt hat.
Der Kaiser wußte sehr genau, daß die Quelle des scharfen
Widerstandes im Auswärtigen Amte bei Holstein lag. Noch ein Jahr
später hat er es in den Akten vermerkt: "Herr von Holstein hat meine
ganz bestimmten Befehle und Verabredungen mit dem Kanzler, in seiner
geschickten Art, dergestalt verdreht, daß schließlich das Gegenteil
herauskam. Er hat immer wieder das Gift gegen [588] Frankreich
aufgerührt und eingespritzt, und den Kanzler so bedrängt, daß
letzterer wiederholt mir in seinem Garten zu meinem Erstaunen dieselbe Frage
vorlegte, ob ich den Krieg mit Frankreich wolle oder wünsche."98 Statt dessen schärfte der Kaiser,
zumal noch in der letzten Krisis um Anfang April, dem Kanzler die Pflicht ein,
Konzessionen zu machen99 und es nicht zum Kriege kommen zu
lassen, für den zur Zeit aus militärisch-technischen Gründen
die Chancen so ungünstig wie möglich lägen. Er wolle und
könne es auf einen solchen Krieg nicht ankommen lassen, der Kanzler
möge ihn nicht im Stiche lassen, sondern "ohne Blamage" vor dem Kriege
bewahren.100
Wenn man von der Bismarckschen Tradition der Ablehnung jedes
Präventivkrieges herkommt, wird man den Kaiser dafür
rühmen, daß er sich nicht von diesem Gedanken verführen
ließ. Erwägt man aber, daß die eigentlichen Marokkofragen nur
im Vordergrund der Machtprobe standen und daß dahinter die Gefahr, das
Problem der Einkreisung mit allen ihren Rückwirkungen heraufzog, so wird
man den Präventivkriegsgedanken, auch wenn man den Kampfplatz
für unglücklich gewählt ansieht, nicht unter allen
Umständen verurteilen dürfen. Man ist noch kein machiavellistischer
Anbeter der reinen Macht, wenn man, von dem Standpunkte der Nachkriegszeit
aus und der seitdem gesammelten Erfahrungen, die Frage, so wie sie damals
gestellt war, einer Nachprüfung unterziehen möchte. Der
Generalstabschef Graf Schlieffen,
in dessen militärischem Denken die
Forderung des Präventivkriegs schon Raum gefunden haben würde,
war am 1. Januar 1906 zurückgetreten, und derjenige Staatsmann, der im
weiten politischen Zusammenhang für eine solche Idee Verständnis
hatte, Holstein, sah im Laufe der Algeciraskonferenz seinen Einfluß auf den
Kanzler, der seine Politik mit der Zeit den Wünschen des Kaisers
anpaßte, unaufhaltsam dahinschwinden.
Diesem Bilde steht, im Augenblicke der Eröffnung der Konferenz, eine
Befestigung der politischen Gemeinschaft zwischen England und Frankreich
gegenüber. Denn der englische Kabinettswechsel, der aus den Wahlen vom
Dezember 1905 hervorging und bis zum Weltkriege die Liberalen ans Regiment
brachte, führte zu einer Verstärkung des
englisch-französischen Kurses - und ist der beste Beweis
dafür, wie sehr die seit Anfang 1902 eingeschlagene Richtung der
englischen Außenpolitik eine Sache der Nation war. Obgleich die Liberalen
einen starken pazifistischen Flügel unter Führung des
Premierministers Campbell- [589] Bannerman
umfaßten, bemächtigte sich die Gruppe der liberalen Imperialisten
mit wohlüberlegter Ämterverteilung sofort der Außenpolitik.
Sie übernahm die in den letzten vier Jahren in den Händen der
Unionisten angewachsene außenpolitische Erbschaft als ein Ganzes und
ging dazu über, in einer Lage, in welcher es ein Zurück
überhaupt nicht mehr gab, die Verpflichtungen ihrer Vorgänger sogar
zu vertiefen.
Der neue Außenminister Sir Edward Grey war kein Staatslenker von
weitem Blick und großem Stil. Er besaß nur eine geringe
außenpolitische Erfahrung; er hatte wenig von der Welt gesehen und
ebensowenig gelesen; er sprach nicht französisch und entbehrte einer
eigentlichen Geistigkeit; seine Kritiker mochten ihm vorhalten, daß er das
Rote Meer mit dem Persischen Meerbusen verwechselte oder die
Rheinmündungen nach Deutschland verlege. Aber er besaß
Erscheinung und Haltung, alle Vorzüge eines typischen englischen
Gentleman, war ein glänzender Redner, und beherrschte in der
diplomatischen Kunst die Vorsicht des unverbindlichen Wortes, als wenn er sie
schon ein Menschenalter geübt hätte. Wenn er vom Auslande
überhaupt eine ganz ungenügende Vorstellung hatte, so entbehrte
er - und das ist von seinem vertrauten Freunde Haldane
bezeugt! - nicht nur jeder Kenntnis deutschen geistigen Lebens, sondern er
hegte ernste Zweifel, ob die Deutschen wirklich gute Menschen seien. Bei dieser
Grundlage war er bedingungslos dem Kreise deutschfeindlicher Politiker
ausgeliefert, den er im Foreign Office vorfand, und wenn irgend etwas
dazu beitrug, aus seinen Vorurteilen ein festes System zu machen, so war es der
Augenblick, in dem er in die Politik zurückkehrte. Sein politisches Denken
ruhte auf wenigen, aber unerschütterlichen Voraussetzungen; es hatte seine
Prägung bereits erfahren, als er das Ministerium übernahm, und hat
den Stempel, den es beim Eintritt in die Lage von Algeciras trug, nie wieder
verloren. So sah er sich veranlaßt, schon bevor er Minister wurde, den
deutschen Botschafter in Kenntnis zu setzen, daß im Fall eines deutschen
Angriffs auf Frankreich (in Verfolg des Marokkoabkommens) die
öffentliche Meinung Englands sich so stark geltend machen würde,
daß keine Regierung neutral bleiben könne. Noch während der
Wahlen erläuterte er sich das politische Problem, das in seine Hände
gelegt werden sollte: "Wenn es Frankreich gelingt, seine Sonderstellung in
Marokko mit unserer Hilfe zu erlangen, so wird das einen großen Erfolg
für die englisch-französische Entente bedeuten; wenn es ihm
mißlingt, wird das Prestige der Entente leiden und ihre Lebenskraft sich
verringern. Unser Hauptziel muß es daher sein, Frankreich auf der
Konferenz seine Sache durchsetzen zu helfen."101 Dieser Rechnung gemäß
war auf der Linie deutsch-französischer Beziehungen für ihn das
Urteil endgültig gesprochen. Grey hat, mit ganz geringen Ausnahmen, das
Recht immer auf der einen und das Unrecht immer auf der anderen Seite
gesehen.
[590] Wenn Grey sich
über seine Haltung völlig klar war, so unterschied er doch scharf die
Frage, wie weit er sich für sein Handeln den Franzosen verpflichten solle.
Er war viel zu sehr in englischen Traditionen aufgewachsen, als daß er nicht
Wert darauf gelegt hätte (und mit Rücksicht auf den
friedensfreundlichen Teil des Kabinetts mußte er sehr viel Wert darauf
legen!), grundsätzlich die freie Hand der Außenpolitik bis zur letzten
Entscheidung zu behalten. So hielt er bei der ersten Anfrage Cambons nach dem
Maß der englischen Hilfebindung am 10. Januar zurück. So sehr,
daß der englische Botschafter in Paris besorgt warnte: wenn seine Antwort
Frankreich nichts weiter als eine Fortdauer der diplomatischen
Unterstützung oder die Neutralität im Falle eines von Deutschland
provozierten Krieges zusichere, so bestehe die Gefahr eines vollständigen
Umschwunges in der Regierung und in der öffentlichen Meinung
Frankreichs: man würde dann das Wagnis eines Krieges ohne
Verbündete zu vermeiden suchen und Deutschland große
Zugeständnisse außerhalb Marokkos, vielleicht zum Nachteil der
englischen Interessen, machen.102 Schon waren die ersten Vorboten
einer immer wiederkehrenden Aufstellung zu erkennen: daß Frankreich es
war, das allmählich in die Hinterhand des Spieles rückte und von
hier aus einen Druck auf die englischen Zusagen auszuüben suchte. Und
schon begann auf der anderen Seite ein Spiel, in dem Grey zwar die
förmliche Zusicherung der Hilfe sich vorbehielt, aber durch eine Reihe
schlüssiger Handlungen den Franzosen den Glauben beizubringen
wußte, daß sie mit einer moralischen Unterstützung wie mit
einer sicheren Tatsache rechnen dürften.
Bereits in der ersten Besprechung war er an einer Stelle einen bedeutungsvollen
Schritt weitergegangen, indem er dem französischen Botschafter
gegenüber sich damit einverstanden erklärte, daß englische und
französische Heeres- und Marinesachverständige in einen
fortlaufenden Meinungsaustausch träten. Nach englischer politischer
Denkweise ging er davon aus, daß diese militärischen Untergebenen
nur in gehöriger Weise, d. h. mit Wissen ihres Vorgesetzten und
lediglich bis auf weiteres unverbindlich zu verhandeln ermächtigt seien. Er
verkannte dabei, daß dieses System der Vertraulichkeiten allmählich
sein eigenes Lebensgesetz und seinen eigenen Willen entwickeln würde, bis
es zwangsläufig zu einem Werkzeug der Ehre und Kriegsbereitschaft
geworden war, dem keine Politik sich versagen konnte. Besonders der neue
Kriegsminister, Mr. Haldane, der in der Regierung die wirksamste
Verbindung von Einsicht und Tatkraft verkörperte, schuf durch die [591] Zusammenarbeit der
englischen und französischen Generalstabsoffiziere eine Gemeinschaft des
Vertrauens, der Ziele, der Hoffnungen, wie sie
enger - und verpflichtender - kaum zu denken war. Der Neuaufbau
des englischen Heeres, das eigentliche Werk Haldanes in den nächsten
Jahren, war von vornherein in den Dienst einer ganz bestimmten, auch den
Kriegsfall eindeutig umschließenden Aufgabe gestellt. Schon Anfang 1906
sprach Haldane zu Vertrauten aus, seine Armeereform sei "in der bestimmten
Annahme, daß wir in einem Kontinentalkrieg intervenieren müssen"
festgelegt und darauf gerichtet, die englische Intervention so wirksam wie
möglich zu machen. Armeereform und Feldzugsplan an der Seite der
Franzosen waren von vornherein zwei Dinge, die auf das engste ineinandergriffen;
und die militärischen Mitarbeiter Haldanes erwuchsen in den
französischen Manövern zu vertrauten Eingeweihten in die
Geheimnisse der großen Offensive.
Das erste war eine unverbindliche englisch-französische
Übereinkunft103 über die Landung eines
englischen Expeditionsheeres in den Häfen Calais, Boulogne und
Cherbourg sowie die Festlegung von Aufmarsch- und Nachschublinien an den
linken französischen Flügel. Diese Vereinbarung war eine Vorarbeit
für eine zweite militärische Fühlungnahme: mit dem neutralen
Staate Belgien. An demselben 15. Januar 1906, an dem in London die amtliche
Ermächtigung zur Verhandlung mit dem französischen Generalstabe
erteilt wurde, beschloß man auch in eine geheime Aussprache mit dem
belgischen Generalstab einzutreten. Diese Verhandlung, am 18. Januar zwischen
dem belgischen Generalstabschef Ducarne und dem englischen
Militärattaché Barnardiston eröffnet, führte alsbald zu
einem Austausch der Operationspläne und zur Vereinbarung eines
gemeinschaftlichen Aufmarschplanes mit verschiedenen Möglichkeiten: der
leitende Gedanke war, das in den französischen Häfen gelandete
Expeditionsheer in Belgien zur Unterstützung Frankreichs einzusetzen. So
kam es in den nächsten Wochen zu einem dreiseitigen
englisch-französisch-belgischen Militärabkommen, bis in die
Einzelheiten ausgearbeitet und den Regierungen nicht unbekannt. Die
Engländer stellten darin das verbindende Mittelglied dar, denn die Basis
ihrer Aktion ruhte auf der Vereinbarung mit den Franzosen, ihr
selbständiger Operationsplan auf der Vereinbarung mit den Belgiern.
Daß Belgien auf diese Weise seine ihm vertraglich auferlegte
Neutralität verletzte, stand außer Frage: nicht nur dadurch, daß
es militärische Geheimnisse an einen Garanten der [592] Neutralität ohne
Wissen und zum Schaden der anderen pflichtwidrig preisgab,104 sondern vor allem dadurch,
daß es seine Kräfte in den militärischen Operationsplan zweier
Großmächte gegen eine dritte einbeziehen ließ. Das alles
geschah auch nicht, um eine bedrohte Neutralität zu
decken, - denn der große Plan Schlieffens, der den Aufmarsch des
rechten Flügels gegenüber der belgischen Grenze vorsah, wollte gar
nicht die belgische Neutralität als erster verletzen, sondern den Bruch der
anderen Seite überlassen. Schon die ersten militärischen
Maßnahmen der englischen Regierung entrollen somit unabsehbare
Perspektiven. Aber geben wir zu: sie waren gedacht als für die politische
Leitung nicht verbindlich, sondern einer freien letzten Entscheidung der Politik
unterworfen.
Greys Aufgabe aber war, Dinge, die eine Bindung aus sich selber heraus
entwickelten, als unverbindlich darzustellen und, wenn sie zu verbergen waren,
möglichst wenig von ihnen zu
wissen105 - die Franzosen aber zu
überzeugen, daß dieser Weg mehr in ihrem Interesse liege als
formulierte Verpflichtungen. So gelang es ihm, die erneute Anfrage Cambons am
31. Januar zu beruhigen. Obgleich der Franzose dringend um irgendeine
verbindliche Form der Hilfezusicherung, wenn auch nur gesprächsweise
gegeben, gebeten hatte, ließ er sich von dem Minister überzeugen,
daß es besser sei, das Kabinett, ohne welches eine solche förmliche
Zusicherung gar nicht möglich sei, bei der Art seiner Zusammensetzung
überhaupt nicht mit dieser delikaten Frage zu befassen und die ganze Sache
nicht den Wechselfällen ändernder Diskussion auszusetzen. Grey
fragte statt dessen vielsagend zurück: ob die Macht der Umstände,
die England und Frankreich zusammenbrächten, nicht stärker
wäre als jede mündliche Zusicherung, die gegeben werden
könnte? Damit gab er das Schlagwort, mit dem er zwar den
französischen Partner an das Inselreich band, auf die Dauer aber auch die
englische freie Hand an die französische Politik und die von dieser gelenkte
"Macht der Umstände" auslieferte.
So begann die englische Politik der freien Hand der Entschließungen, in
deren Kern die Politik einer entschlossenen Bindung
saß - es ist die Politik, die Grey vom Januar 1906 bis zum August
1914 hoch erhoben vor allem Volke getragen hat. Auf welches Endziel sein
politischer Wille von vornherein gerichtet war, mögen einige Sätze
erweisen, die er schon auf der Höhe der Spannung von Algeciras
niederschrieb. Er erwog zunächst die Möglichkeit, für
Frankreich einzutreten.
"Wenn es zum Kriege zwischen
Frankreich und Deutschland kommt, wird es für uns sehr schwer sein,
draußen zu bleiben. Die Entente und der Austausch der
Sympathie- [593] kundgebungen haben
bei den Franzosen den Glauben erweckt, daß wir sie in einem Kriege
unterstützen würden; würden diese Erwartungen
enttäuscht, so werden sie uns das nie vergeben; es würde auch in
allen Ländern allgemein das Empfinden vorherrschen, daß wir uns
niederträchtig benommen und Frankreich im Stiche gelassen hätten.
Wir würden ohne Freund dastehen und ohne die Macht, einen Freund zu
gewinnen. Es bleibt uns aber auch der Weg, den Krieg zu vermeiden; den
Deutschen eine Abfindung mit einem Hafen oder einer Kohlenstation
zuzubilligen. Die Franzosen würden allerdings diesen Weg
kleinmütig finden; für ihn würde sprechen, daß der
jetzige Augenblick am günstigsten für die Deutschen sei, wegen der
Schwäche Rußlands; sollte man es jetzt auf eine Entscheidung
ankommen lassen, bevor die Russen sich erholt hätten?"106
Grey erwägt diese Möglichkeit nur, um sie im Endergebnis doch zu
verwerfen: "wir können nicht draußen bleiben, ohne unseren guten
Namen und unsere Freunde zu verlieren und unsere Politik und unsere Stellung in
der Welt zugrunde zu richten."107 Während die amtliche Politik
den Weg beschritt, der sie am letzten Ende in den Weltkrieg hineinführte,
scheute sie sich nicht, gleichzeitig mit jenen geheimen Vorkehrungen auch alle
versöhnlichen Mittel anzuwenden, von denen man sich eine günstige
Einwirkung auf die friedensbedürftige Gesinnung des Kaisers versprach.108
Die Hauptsache ist, wie es bei den gegnerischen Parteien von Algeciras aussah,
wenn man bei ihnen auf den Grund ihres politischen Willens blickt. Hinter den
Kulissen des diplomatischen Kampfspiels sieht man den angeblichen Angreifer
friedenswillig und uneinheitlich, die beiden angeblich angegriffenen
Mächte aber klar über ihr Wollen und bis zum
Äußersten entschlossen.
Die allgemeine Weltlage konnte dieses Kräfteverhältnis nicht
ändern. Denn die deutsche Politik war nicht imstande, den Verlust alter
Freunde durch neue Freunde auf dem marokkanischen Schauplatze zu ersetzen.
Italien war infolge seiner Abmachungen mit Frankreich auf nordafrikanischem
Boden kein Bundesgenosse, auf den man rechnen konnte; und die neue
Freundschaft des Kaisers mit dem Präsidenten Roosevelt reichte nicht so
weit, um die amerikanische Politik ernsthafter auf dem ihr sehr fernliegenden
Boden zu engagieren. Die anderen aber waren gegen Deutschland interessiert.
Spanien so sehr, daß es von den Franzosen Geld forderte, um die
Opposition zu beschwichtigen, und
Rußland - so äußerte sich ein Erlaß
Greys - hat als Preis für seine Unterstützung eine [594] Anleihe unter
unangemessenen Bedingungen gefordert. Der Engländer hatte von diesen
Einzelheiten den Eindruck, der Schmutz der auswärtigen Politik sei tiefer
als jeder andere, in dem er bisher gestanden. Die internationale Gerechtigkeit aber,
als deren Anwalt die deutsche Politik in das Gefecht gegangen war, fand unter den
Konferenzmächten keine besonderen Liebhaber.
Als die Konferenz von Algeciras am 16. Januar 1906 eröffnet wurde,
bekannte sie sich zunächst zu dem dreifachen Grundsatz: der
Souveränität des Sultans, der Unverletzlichkeit seiner Staaten, der
gleichen Behandlung in Wirtschaftsfragen, der offenen Tür für alle.
Damit schien das deutsche Programm feierlich anerkannt. Noch glaubte der erste
deutsche Delegierte, Herr von Radowitz, das deutsche Bestreben, das
Vertrauen aller der Mächte zu gewinnen, die für gleiches Recht und
Wahrung gemeinsamer Interessen eintreten, sei von Erfolg gewesen.109 Als man aber dazu überging,
die Einzelfragen (Polizei, Bank) zu erörtern, konnte man sich auf deutscher
Seite nicht mehr verhehlen, daß die Lösungen, denen man
entgegentrieb, in Wirklichkeit nichts anderes besagten als eine
Durchlöcherung des deutschen Programms auf der ganzen Linie. Es wurde
immer deutlicher, daß der stärkste deutsche Erfolg mit dem Sturze
Delcassés und der Herbeiführung der Konferenz vorweggenommen
sei, und daß die allgemeine Stimmung immer mehr darauf hinauslief, von
der Macht, die in den Fragen der Form ihre stärkste Karte ausgespielt und
ihren Willen durchgesetzt hatte, in der Sache Nachgiebigkeit um des Weltfriedens
willen zu verlangen. Zwar war in der entscheidenden Polizeifrage von dem
Generalmandat Frankreichs nicht mehr die Rede, nur noch von einem
französisch-spanischen Mandat, doch dies war letzten Endes dasselbe;
wenn Deutschland dagegen die Beteiligung Dritter, auch die eigene, forderte, so
stand es mit diesem Verlangen fast allein, ja es setzte sich dem Verdacht aus, auf
eine Demütigung Frankreichs loszusteuern.110 Auf der anderen Seite sah Holstein
das Scheitern der Konferenz unvermeidlich werden und eine sehr unsichere Lage
heraufziehen. Wohl hatte man in der Welt allgemein das Gefühl, daß
hinter dem Feilschen um die marokkanischen Einzelfragen etwas ganz anderes,
der große Machtkampf in der Staatengesellschaft verborgen war, aber
gerade die unbeteiligten Mächte in Algeciras fragten sich, ob denn die
umkämpften Einzelheiten, an denen Deutschland festhielt, den ungeheuren
Einsatz des Weltfriedens wert seien. Auf diesem Schauplatz und um dieser Ziele
willen empfahl sich die Taktik des Bluffens auf die Dauer nicht, denn sie
nötigte Deutschland, sein Schwert in die Waagschale zu werfen, etwa
für die Polizeiorganisation in einem
Hafen - gleichviel ob man ihm den Ernst zutraute oder nicht, in beiden
Fällen fehlte es an Helfern, diese im Endziel nicht eindeutig erkennbare
Politik zu unterstützen.
[595] Am 3. März
enthüllte die erste Abstimmung, die herbeizuführen den Gegnern
glückte, das peinliche Ergebnis, daß Deutschland mit
Österreich-Ungarn und Marokko allein stand. Man befand sich vor der
Frage: Abbruch der Konferenz oder Nachgeben (Kompromiß). Am 8.
März machte der österreichische Vertreter Graf Welsersheimb einen
vermittelnden Vorschlag, der in den nächsten Tagen in Berlin Zustimmung
fand. Der Ausgleich, den der Kaiser von vornherein gewollt hatte, siegte
über eine weitergehende, auch den Konfliktsmöglichkeiten nicht
ausweichende Politik, wie sie Holstein bis zuletzt festhielt.111 Deutschland gestand damit, wie
Grey sofort erkannte, das Wesentliche zu.112 Radowitz mußte sich schon zu
der Bemerkung herbeilassen, es habe den Kaiser große Mühe
gekostet, auf dem Wege des Zugeständnisses so weit zu gehen, um der
französischen Regierung nahezulegen, aus Rücksicht auf den
Wunsch des Kaisers die Sache in möglichst annehmbarer Form zu Ende zu
bringen.113 Der Franzose glaubte nun aber nicht
nachgeben zu sollen, obgleich Grey es für falsch hielt, das Wesen dem
Schein zu opfern, und für einen großen Fehler, daß Frankreich
das deutsche Zugeständnis, statt es als einen diplomatischen Sieg zu feiern,
nicht sofort angenommen hätte. Der Schlußkampf stand schon mehr
unter dem Zeichen des Telegramms, in dem Bülow am 21. März den
Präsidenten Roosevelt wissen ließ: "Die unverzügliche
Beseitigung aller Mißverständnisse ist Deutschland weit wichtiger als
die ganze Marokkoangelegenheit."114
Als die Konferenz von Algeciras am 7. April geschlossen wurde, konnte man sich
nicht verhehlen, daß das Ergebnis für die deutsche Politik sehr
unbefriedigend war. Es war überwiegend fruchtlos geblieben in den Fragen
der politischen und wirtschaftlichen Ordnung Marokkos, um derentwillen ein so
großes Aufgebot der Kräfte unternommen war; und wenn sich dieser
negative Ausgang damals nicht sogleich bis auf den Grund durchschauen
ließ, so sollte er in den nächsten Jahren immer deutlicher sich
herausstellen. Darüber hinaus war die deutsche Politik auch gescheitert in
dem viel weiter ausschauenden Unternehmen, auf diesem anscheinend
günstigen Kampfplatze die
englisch-französische Entente aufzulockern und dem neuen
europäischen Kurs, der hier sein erstes Probestück geliefert hatte,
seinen Stillstand zu gebieten. Gerade hier, wo es um das Ganze ging, hatte das
neue Gebilde, der neue Schwerpunkt der europäischen Dinge sich befestigt,
und alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß diese Verschiebung
weiterginge. Ja, wenn man seinen Willen darauf gesetzt hatte, eine
europäische Kon- [596] ferenz darüber
entscheiden zu lassen, was die
englisch-französische Entente einseitig hatte regeln wollen, so hatte man
formell seinen Willen erreicht, aber im übrigen den in der Sache erfolgten
Umschwung sichtbar und eindrucksvoll zur Anschauung gebracht.
Man könnte sich durch die Einzelergebnisse über ihren wahren Sinn
hinwegtäuschen lassen. Wenn eine Großmacht sich entschließt,
das Gesamtergebnis einer Beratung aller ohne Widerspruch hinzunehmen, dann
liegt es für sie nahe, um ihrer Position willen nach innen wie nach
außen den Nachweis zu führen, daß sie allen Grund habe,
befriedigt zu sein. Der Reichskanzler war im Reichstage am 3. April mit dieser
Aufgabe beschäftigt, für die seine optimistische Art von der Natur
mit vielen Fähigkeiten ausgestattet war, als er während der Rede von
einem Ohnmachtsanfall betroffen wurde.
Während seiner Erkrankung schied Baron Holstein aus seinem Amte. Er
hatte vorher schon, wie oftmals zuvor, sein Abschiedsgesuch eingereicht, und sah
es dieses Mal zu seiner Überraschung von dem Stellvertreter des Kanzlers
und doch nicht ohne dessen Zustimmung angenommen. Damit verließ unter
allen denen, die seit dem Rücktritt Bismarcks an dem Webstuhl der
deutschen Außenpolitik gestanden hatten, der Erfahrenste, Sachlichste und
Unermüdlichste seinen Posten. Er mochte in seinen großen Ideen zu
logischen Überspitzungen und in dem inneren Betrieb zu einer Vorliebe
für die weniger geraden Wege neigen, wie sie sich leicht ergibt, wenn man
der Mächtigste nur in der Tat ist, nicht aber in der amtlichen Stellung; aber
das dunkle Bild, das man später unter dem Eindruck zweifelhafter
Quellen115 von seinem unsinnigen
Mißtrauen, von seinen krankhaften Schrullen und pathologischen
Zügen entwirft, wirkt doch nur als eine Verzerrung. Sie wird dem Gewicht
dieser Figur, die seit Bismarck die stärkste im Auswärtigen Amte
war, nicht gerecht. Auch den Engländern galt er als der Schüler
Bismarcks, und da jetzt die deutschfeindliche Richtung obenauf kam, als
derjenige, der die von seinem Meister erlernte Kunst, England auszuquetschen
und gering zu achten, am wirksamsten geübt hätte. Jetzt schied er,
der eigentliche Unterlegene in der Marokkosache, der wohl eine große
Konzeption im Stile seines Meisters zu entwerfen imstande war, aber sie weder
mit der Vielseitigkeit der Mittel noch mit der Konsequenz des Vorgehens noch
mit dem Glücke Bismarcks durchzuführen verstanden hatte.
Wie wenig Bülow, so sehr er das Gesicht wahrte, sich über die
veränderte Weltlage und ihre Rückwirkung auf die Sicherheit des
Deutschen Reiches Illusionen machte, verrät das merkwürdige
Schreiben, das er am 1. Juni 1906 aus Norderney an den preußischen
Kriegsminister von Einem und gleichlautend an den neuen Generalstabschef von
Moltke sandte - während er es dem Kaiser
vor- [597] enthielt.116 Wohl setzte er noch mit einem
befriedigten Rückblick auf die Marokkofrage ein, um dann die Schatten der
Zukunft auszumalen: die englische Eifersucht nicht endgültig
überwunden, in Frankreich die Revanche nicht erloschen, die russischen
Verhältnisse unberechenbar und den Westmächten zuneigend; dazu
die Bundesgenossen, militärisch nicht ebenbürtig oder im Innern
selbst belastet. So war sein Schluß ein Appell an die eigenen Kräfte,
nichts zu verabsäumen, damit die Nation, wenn früher oder
später sich ein Ungewitter entladen sollte, diesem so wohlgerüstet
wie nur immer entgegensehe: "Wie eintretendenfalls die Würfel auf dem
Schlachtfeld fallen, steht in Gottes Hand. Aber wir sind vor Gott und der
Geschichte verantwortlich, daß hinsichtlich der technischen
Ausrüstung der Armee nichts versäumt wird, damit das deutsche
Volk, wenn es den Kriegspfad beschreite, dies in tadelloser und lückenloser
Rüstung mit allen Chancen des Erfolges tue." Als solche technischen
Forderungen zählte er auf: Maschinengewehre, schnellere Umbewaffnung
der Artillerie, Ausgestaltung der Verkehrstruppen, Bespannung der schweren
Artillerie des Feldheeres, lenkbare Luftschiffe und praktische Felduniformen. In
der Behandlung der Vorlage müsse alles vermieden werden, was im
Auslande nur Mißtrauen erregen könne: weder lärmende
Agitation noch politische Argumente, nur technische Begründung. Man hat
mit Recht darauf hingewiesen, daß es seit der Kanzlerschaft Bismarcks das
erstemal sei und auch das einzige Mal geblieben sei, daß eine Anregung zur
Verstärkung der Heeresmacht unmittelbar vom Leiter der Gesamtpolitik
ausgegangen sei.117 Waren die Dinge schon so weit
gediehen, daß die Diplomatie im Augenblick und für die
nächste Zeit keinen andern Rat mehr wußte?
Obgleich der Ernst der Mahnung nicht zu verkennen war, ließ der
Kriegsminister den Plan schon an der Bedingung scheitern, daß von Politik
nicht gesprochen werden dürfe - solange Rußland und die
Zweifrontengefahr noch ausgeschaltet waren, ließ sich eine Vorlage
sowieso nicht leicht begründen. Und die amtlichen Methoden, die
außenpolitische Lage öffentlich rosafarben zu malen, waren mit dem
Maß von Wahrheit, das eine so weitgreifende Begründung der
Heeresvorlage erforderte, nicht leicht zu vereinen. Noch schwerer
verständlich ist die Tatsache, daß Bülow nach dem ersten
Anlauf alles liegenließ und schon im Februar 1907 von "Ersparnissen im
Militäretat" sprach. Auch Moltke stellte bald darauf dem Kriegsminister
gegenüber fest, daß die Hauptwaffen jetzt soweit gefördert
seien, daß der Rahmen als stetig angesehen werden dürfe. Das Neue
an der militärischen Gesamtlage, das Einrücken Englands in den
Kreis der Gegner, schien zunächst eine Verstärkung zu Wasser und
nicht zu Lande erforderlich zu machen, und hier geriet man allerdings in einen
Wettbewerb, auf den zurückzukommen sein wird.
[598] Jede vorausblickende
Erwägung der Außenpolitik stand vor der Frage, ob nach der
Beseitigung des Marokkoanlasses der friedlich-neutrale Charakter der Entente, der
so häufig in London betont worden war, tatsächlich sichtbar werden
oder ob die offensive Seite ihres Wesens, nachdem sie sich so erfolgreich
betätigt hatte, immer eindeutiger durchbrechen würde.
Während der Verhandlungen von Algeciras hatte Sir Edward Grey
mehrfach fallenlassen, daß er nach der Ausräumung dieses Streites
die Hand zur Besserung der deutsch-englischen Verhältnisse gern bieten
werde. Es kennzeichnet den aufrichtigen Friedenswillen der deutschen Regierung,
mit welcher - man ist versucht zu
sagen - Harmlosigkeit sie den (auch vom Botschafter für
verfrüht gehaltenen) Versuch machte, den Versöhnungsweg zu
beschreiten. Mußte man doch die Anerkennung der Entente als einer
Grundlage der englischen Politik stillschweigend hinnehmen, nachdem man sie
bisher zu sprengen gesucht hatte. An einzelnen Stellen war wohl
Entgegenkommen zu spüren: so zeigte sich Mr. Haldane stets
bestrebt, als Freund des geistigen Deutschlands zu erscheinen, überall guten
Willens, den Faden der Gespräche nicht abreißen zu lassen; er
verstand es, eine Einladung zu den deutschen Manövern zu erwirken. Aber
die leitenden Männer der Außenpolitik wichen aus. Hardinge meinte
bei dem ersten Anklopfen am 8. Mai noch vorsichtig, es werde sich im Laufe der
nächsten Monate eine Gelegenheit bieten, aber ein Besuch deutscher
Journalisten blieb ohne jeden Erfolg, und schon leise Ansätze zur
Annäherung erweckten ängstliches Mißtrauen in der
französischen Presse. Am 31. Juli nahm endlich Graf Metternich einen
Anlauf, Sir Edward Grey selbst auf sein erkennbares Bestreben anzureden,
Ausgleich und Vertrauensverhältnis mit allen Mächten, nur mit
Deutschland nicht, zu betreiben: an dieser Stelle lag der Nerv der englischen
Ententepolitik, die Europa in Bewegung setzte. Er wies den Minister mit Recht
darauf hin, daß die Politik der Ententen mit Ausschluß Deutschlands,
und um ein Gegengewicht in Europa gegen die deutsche Macht zu schaffen,
unsicher in ihrer Durchführung und gefährlich in ihren Folgen sei.
Grey aber verstand sich auf die Kunst, auf das Thema eines unwillkommenen
Gespräches nicht einzugehen, und überhörte die Vorhaltung,
daß auch der englisch-russische Ausgleich von einem Teil der
englisch-französischen Presse unter dem Gesichtspunkt befürwortet
werde, die drei Mächte und womöglich das übrige Europa
müßten sich zusammenschließen, um einen Schutzdamm gegen
das aggressive Deutschland zu bilden. Das Gespräch endete in einem
eleganten Degenkreuzen, das die neue Situation erleuchtete. Der Botschafter
stellte die Frage: "Sind offen eingestandene freundliche Beziehungen zu
Deutschland vereinbar mit Englands Freundschaft mit Frankreich?" Der Minister
wich einer geraden Antwort aus: "Das hängt von der deutschen Politik ab."
Metternich aber durchschlug diese Parade: "Nein, es scheint abzuhängen
von der französischen Auslegung der deutschen Politik." Er war im Recht,
wenn er in dieser Frage und Antwort den Kern der [599] englischen Politik
enthalten sah. Grey erbat dann von neuem Zeit, da erst drei Monate seit Algeciras
vergangen seien, und der Deutsche beschloß: "Nun, dann laßt uns
warten." Er war entschlossen, auf prinzipielle Erörterungen dieses Stils
nicht zurückzukommen.118
Als einen Nachklang dieser deutschen Fühler könnte man es deuten,
wenn König Eduard VII. bei einem Besuche in Friedrichshof im
August 1906 zu der Frage einer deutsch-englischen Verständigung
erklärte, er könne sich eine solche Entente nicht vorstellen, denn
England und Deutschland hätten keine widerstrebenden Interessen, die
eines Ausgleichs bedürften: "es gibt keine Reibungen zwischen uns, es
existiert nur Rivalität." Er beabsichtigte vermutlich nicht einmal darauf
anzuspielen, daß es zwischen rivalisierenden Mächten keinen
Ausgleich, sondern nur ein Ausfechten ihrer Gegensätze geben
könne, aber der Sinn seiner Worte war den Bemühungen um engere
Fühlung jedenfalls ungünstig. Es war begreiflich, daß der
Botschafter im Herbst den Rat gab, alle Versuche vorläufig ruhen zu lassen.
Sie wieder aufzunehmen wäre schon darum ein taktischer Fehler gewesen,
weil die englische Politik jetzt mit aller Energie dazu überging, den Kreis
der Ententen - so wie es von vornherein die Absicht gewesen
war - durch die Einbeziehung Rußlands zu erweitern. Schon im
September 1906 sah die vorauseilende Sorge des Kaisers resigniert das Ergebnis
heraufziehen: "man kann also in Zukunft mit der Alliance
Franco-Russe, Entente cordiale
Franco-Anglaise und Entente Anglo-Russe rechnen, mit Spanien,
Italien, Portugal als Anhängsel dazu im zweiten Treffen."119
Die Wiederherstellung freundlicher Beziehungen zu Deutschland wäre
für den neuen Kurs eine Abirrung gewesen. Sie lag überhaupt dem
Geiste einer Politik fern, die von ihrer früheren Praxis, von der Hand in den
Mund zu leben, vollständig zurückgekommen war, und jeden ihrer
Schritte weitblickend einem obersten Leitgedanken unterordnete. Diese Politik,
die in den Anfängen sich vielleicht ihres letzten Sinnes nicht ganz
bewußt gewesen war, war jetzt zu vollkommener Klarheit über ihre
Fronten und ihr Programm durchgedrungen.
[592a]
Kriegsminister Lord Haldane als Vertreter der englischen
Regierung in Berlin [September] 1906.
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Am Ende des Jahres 1906 wurde
im Auswärtigen Amte in London in einem
denkwürdigen Aktenstück von ungewöhnlichem Umfange die
Bilanz der neuen englischen Außenpolitik gezogen:120 in seiner Gesamtanlage fast
unenglisch, in seinem geschlossenen systematischen Aufbau, in seinem von einem
einzigen Gedanken bis in die letzte Wendung hinein beherrschten, von einem
zielsichern [600] politischen Willen
durchglühten Zusammenhange, sprach dieses Aktenstück alles das
aus, was weder in den Kabinettsverhandlungen noch in den Parlamentsdebatten,
und ebensowenig in dem vorsichtig abgewogenen diplomatischen Verkehr zu
Worte kam - aber die neue Seele des englischen Machtwillens in der Welt
lebte darin.
Der Verfasser war Sir Eyre Crowe, der während der Tagung von Algeciras
von Grey an die Spitze der "westlichen Abteilung" im Foreign Office
berufen war. Er galt als Deutschlandkenner, schon weil er in Deutschland erzogen
war, der Sohn einer deutschen Mutter und der Gatte einer deutschen Frau; er
vermochte den Nachweis zu liefern, daß man trotzdem der
leidenschaftlichste Deutschenfeind sein konnte
oder - wenn man die verflochtenen Irrgänge der menschlichen Seele
in Betracht zieht - gerade deswegen der Deutschenfeind sein
mußte.
Das Memorandum Crowes erblickt in der ganzen Richtung der Politik
Deutschlands den schlüssigen Beweis, daß es bewußt die
Errichtung einer deutschen Hegemonie zuerst in Europa und schließlich in
der Welt anstrebe. Diese deutsche Weltpolitik wird aus dem politischen, ethischen
und geistigen Charakter der Deutschen abgeleitet, dieser wiederum aus
der - unter einem einzigen Gesichtspunkt
angeschauten - deutschen Geschichte, aus dem Werden des deutschen
Staates erklärt. Für das also vorbereitete Urteil stellt sich das
englisch-deutsche Verhältnis dar als "die Geschichte einer systematischen
Politik freiwilliger Zugeständnisse", die zu dem höchst
enttäuschenden Ergebnis einer Dauerspannung geführt habe; man
glaubt wirklich das Verhältnis einer so wesenhaft eindeutigen Politik, wie
Deutschland sie seit einem Vierteljahrhundert gegen England betrieben habe, in
der immer wiederkehrenden Fabel von Wolf und Lamm abgebildet zu sehen. Aus
diesem ganzen Tatbestande ergibt sich als die einzige und allen andern
Rücksichten überzuordnende Zielsetzung der englischen Politik:
unbeugsame Entschlossenheit, britische Rechte und Interessen in jedem Teile des
Erdballes zu verteidigen. In seiner lückenlosen Geschlossenheit
mußte dieses Bild auf einen Mann wie Grey, der von Deutschland so gut
wie nichts wußte, einen geradezu überwältigenden Eindruck
machen. Seine grundsätzliche Zustimmung geht sowohl aus seinem
Gesamturteil hervor: "als Richtschnur für die Politik sehr nützlich",
als auch aus seiner Verfügung, daß das Memorandum in einem
engeren Kreise des Kabinetts umlaufen
solle - was um so bedeutsamer war, als die liberale Partei seit zwei
Jahrzehnten sehr wenig außenpolitische Tradition aufwies und die
Mitglieder des Kabinetts zu einem guten Teile überhaupt keinen Sinn
für außenpolitische Probleme besaßen.121 Für den kleinen Kreis der
[601] liberalen
Imperialisten,122 der die Außenpolitik
bestimmte, bedeutete das Memorandum, das, wie J. A. Spender sagt,
"alle Geheimnisse offen darlegte", ungemein viel. Zur objektiven
Würdigung der englischen Politik des nächsten Jahrzehnts ist es mit
höherem Rechte heranzuziehen als etwa die nichtssagenden amtlichen
Antworten auf die parlamentarischen Anfragen. Der Geist einer
Außenpolitik ist wahrlich nicht zu enträtseln aus einzelnen
Auskünften, die von einem der gewandtesten parlamentarischen Routiniers
für die Vielzuvielen geformt werden, sondern aus dem, was allen diesen
Entschließungen zugrunde liegt: aus jener Summe von Werten, Vorurteilen,
Sorgen und Ängsten, die in einem politischen Unterbewußtsein
durcheinanderflutet und die Gesetze des Handelns bestimmt. Das Memorandum,
das Grey selbst als Richtschnur bezeichnet hat, öffnet die Tore zu dieser
uns sonst verborgenen Innenwelt. Darum wird es zu allen Zeiten in die Zahl jener
großen Dokumente eingereiht werden müssen, auf die ein Staat, der
bewußt eine neue Ära seines außenpolitischen Willens
eröffnet, sein Tun und Lassen gründet. Es gehört freilich zu
denjenigen Beispielen dieser Gattung, die ihre eindeutige Zielsetzung nicht mit
einem Ton objektiven Verstehenwollens auch für den Gegner (so wie
Bismarck es in den berühmten Schriftstücken der fünfziger
Jahre Österreich gegenüber tat) verbinden, sondern zu denen, die ihre
Beweisführung vor allem durch Einseitigkeit und Gehässigkeit zu
steigern bemüht sind - aber das mag aus der Mischung des Blutes zu
erklären sein, in der dieser Mann zwischen der Rivalität zweier
großer Völker stand. Einige seiner Beweisstücke sind
allerdings nicht sein Sondereigentum, sondern hatten längst begonnen, in
das englische Denken überzugehen.
Crowe, selbst durch deutsche Schulen gegangen, spiegelte ein Bild
preußisch-deutscher Geschichtsanschauung wider, wie sie ihm daher
geläufig war; ohne sonderlich zu übertreiben, zeigte er, wie in dem
Aufstieg von der kleinen Markgrafschaft Brandenburg bis zu Friedrich dem
Großen und dann zu Bismarck eine zur Tradition werdende
Bewußtheit und Gewolltheit des Willens lebe, immer größer
und mächtiger zu werden. Daß dieser ganze Weg des Aufstiegs sich
im wesentlichen auf dem innerdeutschen Schauplatz abspielte und von den
Gesetzen des innerdeutschen Machtkampfes bestimmt
war - wie ihm denn vom 13. bis 18. Jahrhundert eine fast bis zuletzt
überlegen bleibende analoge österreichische Territorialentwicklung
zur Seite läuft - das mochte der Ausländer sich nicht so klar
machen. Ein Mann wie Seeley, der dem deutschen historischen Denken soviel
verdankte, hatte das begriffen, Crowe sah schon hier nichts als Warnung, und die
englischen Liberalen, denen das Zuwachsen ihres Imperiums immer als ein
natürlicher organischer Prozeß erschien, hatten sich über den
Weg von Blut und Eisen, den man in Mitteleuropa angeblich vorzog, immer gern
bekreuzigt.
[602] Die Stellungnahme zu
dem deutschen Staate gewann für das englische politische Denken erst dann
eine gewisse Bedeutung, wenn man sich ernsthaft mit ihm über materielle
Fragen auseinanderzusetzen hatte. So setzte denn Crowe mit dem unter Bismarck
in den Jahren 1884/85 vollzogenen Eintritt Deutschlands in die Kolonialpolitik,
mit wuchtigem Auftakt ein. Es gab dazu einen unmittelbaren Anlaß. Im
Jahre 1905 war die Biographie Lord Granvilles von Lord Fitzmaurice erschienen,
die zum ersten Male tiefer in die Kämpfe hineinleuchtete, durch die
Bismarck in den Jahren 1884/85 die deutschen Kolonien erworben hatte; in einem
fast verhängnisvollen Moment herausgegeben, rief die Darstellung, ohne
einen offensiven Zweck zu verfolgen, im historischen Rückblick jetzt viel
tiefere Erregung hervor als einst das Erleben jener Vorgänge. Von jetzt an
taucht eine Schuldrechnung Bismarcks - "diese Feindseligkeiten werden
mit einer Mißachtung der elementaren Regeln geraden und ehrenhaften
Verhaltens an den Tag gelegt"! - in der englischen Diplomatie und
Publizistik auf, an die man in der Zwischenzeit mit gutem Grunde (da man
über die fadenscheinigen Rechtstitel und die fehlerhafte Politik Granvilles
zumal im Lager der Konservativen genau Bescheid wußte) kaum
gerührt hatte. Jetzt erschien die Linie von Bismarck von 1884/85 bis zu
Bülow - Holstein von 1905/06 in einem großen
Zusammenhang;123 Holstein wurde beim Sturze als der
gelehrigste Schüler Bismarcks und seiner Politik angesehen. Mit tiefem
Ressentiment wurde die ganze Kette dieser Vorfälle als "die erste
Erfahrung eines britischen Kabinetts mit deutscher als gekränkte
Freundschaft und Unschuld verkleideten Feindseligkeit" aufgerollt.
Um nun den Nachweis der Welthegemoniepläne zu führen,
verfügte Crowe über ein dreifaches Beweismaterial. Zunächst
Schlagworte aus kaiserlichen Reden, die immer wenig glücklich waren,
wenn sie den herkömmlichen Fanfarenton militärischer Ansprachen
mit einem politischen Gegenstande verknüpften, bei dem die Welt eine
vorsichtige Instrumentierung gewohnt war. Sodann aber die alldeutsche Literatur,
die allerdings eine Fundgrube für unkluge und anmaßliche
Begehrlichkeiten war, wie sie nur auf dem Boden dieser unpolitischen Dilettanten
erwachsen konnten. Wenn Crowe von einem deutschen Staatsmann Klarheit
darüber verlangte, "daß der Bau des Alldeutschtums mit seinen
Außenbastionen in den Niederlanden, in den skandinavischen
Ländern, in der Schweiz, in den deutschen Provinzen Österreichs
und am Adriatischen Meer niemals auf einer anderen Grundlage als den
Trümmern der Freiheiten Europas aufgeführt werden könnte",
so unterschlug er die einfache Tatsache, daß niemals ein deutscher
Staatsmann alle diese Dinge auch nur annähernd so ernsthaft wie Crowe
selbst genommen hatte. Um so beeiferter wies er nach, wie der Erwerb von
Kolonien in Südamerika mit der Monroedoktrin nicht in Einklang zu
bringen sei; oder daß [603] "die Schaffung eines
deutschen Indien in Kleinasien letzten Endes entweder mit einer deutschen
Beherrschung der See oder einer deutschen Eroberung Konstantinopels und der
zwischen den gegenwärtigen Südostgrenzen Deutschlands und
dem Bosporus liegenden Länder stehen oder fallen müsse".124 Das sind einige der
Beweisstücke für den Weltherrschaftsplan. Wenn Crowe als drittes
Argument auch den deutschen Flottenbau anführte, so meinte er ihn sich
nur aus einer solchen Absicht erklären zu können. Aber er kam noch
nicht auf den Gedanken, in der Flotte eine Gefahr zu sehen, wozu die
Engländer im Jahre des Dreadnoughtbaus (1906/07) überhaupt keine
Neigung zeigten, und noch weniger, den Bau beschränken zu wollen: "es ist
das Kennzeichen eines unabhängigen Staates, daß er solche Dinge
selbst, frei von jeder äußeren Einmischung entscheidet, und es
würde England mit seinen großen Flotten schlecht anstehen, einem
anderen Staate vorzuschreiben, was in Angelegenheiten höchster nationaler
Wichtigkeit gut für ihn ist."
Es ist an sich nicht schwer, das Bild von der deutschen Politik, wie es Crowe gibt,
zu widerlegen, und doch wieder nicht leicht, ohne sich als Deutscher dem
Verdacht auszusetzen, in wesentlichen
Lebens- und Urteilsfragen ebenso Partei zu sein, wie Crowe im Interesse seines
Vaterlandes es ist oder zu sein glaubt. Um so dankbarer müssen wir es
begrüßen, daß wir einen Kronzeugen gegen ein so
grundlegendes Dokument anführen können, der nicht nur dem
englischen Lager angehört, sondern damals als einer der ersten
außenpolitischen Sachverständigen der englischen Nation zu
bezeichnen war. Der Zufall wollte, daß Hardinge einige Wochen
später das Memorandum Crowes auch zur Kenntnis von Lord Sanderson
brachte, der in den Jahren 1895 bis 1906 permanenter Unterstaatssekretär
im Foreign Office unter Salisbury und Lansdowne gewesen war und aus
dieser Zeit, der eigentlich kritischen Periode der
deutsch-englischen Beziehungen, die tiefste Kenntnis unter allen lebenden
Engländern besaß. Zu seiner Überraschung aber erlebte
Hardinge, daß gerade dieser zum Urteil berufene, wenngleich nicht mehr im
Dienst stehende hohe Beamte "für Deutschland Partei ergriff" und an der
ihm vorgelegten Anklageschrift eine vernichtende Kritik übte.125
Zu diesem Zwecke ging er zunächst alle diplomatischen
Einzelvorgänge wieder durch; knapp in der Bismarckperiode, aus der er
wenigstens die gröbsten Züge "unverkennbarer Feindseligkeit"
entfernte, eingehender während des letzten Jahrzehntes, für das er in
dem auf der ganzen Linie verzerrten Streitbilde den objektiven Verlauf
wiederherstellte. Das wog um so schwerer, als er die Abwendung von
Deutschland (1901), den Abschluß der Entente (1904) und das [604] erregende Jahr 1905 in
hervorragender amtlicher Stellung selbst mitgemacht hatte. Er konnte es wissen
und hatte den Mut es zu sagen, wenn er in der Samoafrage von 1898, in der
Crowe den deutschen Agenten "zynische Nichtachtung" vorgeworfen hatte, offen
gestand: "Ich habe den Eindruck, daß wir da nicht absolut sauber gehandelt
haben und daß Lord Salisbury zwar unserseits alle Ansprüche
zugestand, aber gleichzeitig sein Möglichstes tat, um den Widerstand der
Vereinigten Staaten zu wecken. Es ist kaum anzunehmen, daß die deutsche
Regierung das nicht wußte. Sie behauptete jedenfalls immer, daß wir
sie nicht fair behandelt hätten, und einige unserer eigenen Diplomaten
waren geneigt, diese Ansicht zu teilen." Die fast gleichzeitige Beschlagnahme von
drei großen deutschen Postdampfern zu Beginn des Burenkrieges
bezeichnete Sanderson ohne Umschweife als einen Akt, "der, wenn an uns selbst
begangen, sicherlich als unerträglich gebrandmarkt worden wäre".
Diese gewissenhafte Sachlichkeit ließ auch keinen Zweifel darüber,
daß Mr. Delcassé unentwegt eine Reihe von Manövern
betrieben habe, "um Deutschland zu isolieren und seine Bündnisse zu
schwächen." So kam er denn am Abschluß seiner eingehenden
Nachprüfung mit echtem Wahrheitssinn zu dem Ergebnis, "daß die
Geschichte der deutschen Politik unserm Land gegenüber nicht das
einförmige Bild (record) schwarzer Taten ist, wie das Memorandum
sie zu schildern scheint." Seine Erfahrungen liefen auf ein viel
abgetönteres, aber auch glaubhafteres Bild hinaus: "Es hat viele
Gelegenheiten gegeben, bei denen wir angenehm im Einvernehmen mit
Deutschland gearbeitet haben, und nicht wenige Fälle, in denen seine
Unterstützung uns nützlich war. Es hat andere Fälle gegeben,
in denen Deutschland äußerst aufreizend war, manchmal
unbewußt, manchmal mit Absicht. Die Deutschen sind sehr gerissene
Geschäftsleute und haben sich den Spitznamen »les juifs de la
diplomatie« erworben." Wenn man dieses Urteil (obgleich es immer
noch die eine Partei vertritt) annimmt, wird man es vermutlich dahin
ergänzen dürfen, daß, von der Wilhelmstraße aus
gesehen, das Verfahren der Engländer sich nicht viel anders dargestellt
haben wird. Auf dieser sachlichen Grundlage hatte Sanderson sich auch die
Fähigkeit bewahrt, dem deutschen Verhandlungsgegner persönlich
gerecht zu werden. Crowes Haß hatte sich hinreißen lassen, in die
Sphäre der moralischen Verdächtigung hinabzusteigen und das
übliche Verhalten Deutschlands zu vergleichen "mit einem
berufsmäßigen Erpresser, dessen Erpressungen im Falle einer
Weigerung seines Opfers durch die Drohung mit irgendwelchen vagen und
furchtbaren Folgen entrissen werden."126 Die Summe der Erfahrungen
Sandersons, über jene Selbstgerechtigkeiten schweigend hinweggehend,
stellt nach jenen zehn Schicksalsjahren von 1895 bis (Ende) 1905 fest: "Die Lehre
ist, daß Deutschland ein hilfreicher, wenn auch etwas anspruchsvoller
Freund ist, ein gerissener und zäher Geschäftsmann und ein
höchst unangenehmer Gegner."
[605] Nach diesen Proben
wird man nicht überrascht sein, daß Sanderson für die
furchtbare Anklage auf Welthegemonie nur ein ironisches Lächeln hatte.
Dieser Sohn des englischen Weltreiches besaß innere Überlegenheit
genug, um auf den Widerspruch aufmerksam zu machen, wenn dieses Weltreich
andere Mächte welthegemonischer Gelüste bezichtigen wolle. Er
wagte sogar den Satz, den ein Nichtengländer ihm kaum nachgemacht
hätte: "es ist mir manchmal so vorgekommen, daß einem
Ausländer, der unsere Presse liest, das britische Reich wie ein ungeheurer
Riese erscheinen muß, der sich über den Erdball reckt, mit
gichtischen dicken, sich nach allen Richtungen streckenden Fingern und Zehen,
denen man sich nicht nähern kann, ohne ihm ein Geschrei zu entlocken."
Also lautete sein Endurteil kurz und bündig: "Wenn der bloße
Gebietserwerb an sich unmoralisch wäre, so wiegen die Sünden
Deutschlands seit 1871 leicht im Vergleich zu den unsrigen."
Man wird nicht zweifeln, aus welchem Grunde diese beiden englischen
Denkschriften, beide nicht aus der Feder der leitenden Staatsmänner
stammend, hier so eingehend analysiert werden.
Unsere Darstellung verzichtet auf die billige Methode, bei dem Verhalten der
einen oder andern Macht in diesem Jahrzehnt laufende Schuldkonten anzulegen
und ihre schuldhaften Anteile an dem Ursprung des Weltkriegs einzutragen. Wir
denken, daß die Zeit, wo dieses Gewerbe blühte, vorüber ist.
Aber wir glauben in einem Moment, wo die Wege schon entschiedener
auseinander gehen, die zur Katastrophe führen, das Recht zu einigen
Betrachtungen zu haben. Mit dem Geiste Sandersons würde ein friedlicher
deutsch-englischer Ausgleich möglich gewesen
sein - er wußte, weshalb er mit den Worten schloß: es
wäre ein Unglück, wenn Deutschland sich zum Glauben
geführt sähe, daß es den britischen Löwen überall
auf seinen Wegen finden werde. Ebenso sicher darf man aussprechen, daß
der Geist des Croweschen Memorandums, in dem Grey eine Richtschnur
für seine Politik anerkannte, von jenen Verantwortlichkeiten nicht frei ist,
die zum Kriege trieben. Es ist damit nicht gesagt, daß er in den
nächsten acht Jahren unbedingt dominiert
hätte - immer wieder gab es in England, bis in das Kabinett hinein,
Elemente, die auf die andere Seite drängten. Aber in den entscheidenden
Augenblicken hat Grey sich immer wieder von der Denkweise lenken lassen, die
er zu Anfang des Jahres 1907 uneingeschränkt begrüßte. Der
unsinnige Vorwurf der deutschen Welthegemoniebestrebungen, der den Kern von
Crowes Anschauungen bildet, wurde gleichsam ein Sammelbecken für alte
und neuere Gegnerschaften gegen Deutschland, und die englische Politik forderte
die Völker der Erde auf, sich unter ihrer Führung dieser
unheimlichen Gefahr zu erwehren.
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