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Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil


Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin

Kapitel 1: Das Deutsche Reich
unter Kaiser Wilhelm II. (1890 - 1909)
  (Forts.)

[606] 5. Die Bildung des Dreiverbandes und die bosnische Krisis (1906 - 1909).

Es war nur scheinbar ein Moment friedlichen Atemholens, als die zweite Haager Konferenz im Sommer 1907 zusammentrat. Sie war im Verhältnis zu der ersten Konferenz eher noch stärker politisiert, und der eigentliche Kampf wird sich schon vor ihrem Zusammentritt, bei der Aufstellung der Tagesordnung, abspielen. Insbesondere wird sich bemerkbar machen, daß sie auf dem Hintergrunde der antideutschen Umgruppierung zusammentrat, die sich in Europa vollzog: die verborgene Wechselwirkung, in der sie mit der deutsch-englischen Spannung steht, wird daher ihr eigentliches Problem darstellen.

Es setzte damit ein, daß England sich gewillt zeigte, im Gegensatz zu den meisten Kontinentalmächten, die auf der ersten Konferenz unbestimmt vertagte Rüstungsbeschränkung von neuem zur Verhandlung zu bringen. Die deutsche Reichsregierung war zur Teilnahme nur dann bereit, wenn diese Frage weiter ausgeschaltet blieb. Sie sprach in einem Promemoria vom 24. März 1907 aus, sie habe "keine Formel zu finden vermocht, die geeignet wäre, der verschiedenen Lage der einzelnen Länder sowie der Verschiedenheit ihrer militärischen Organisation und wirtschaftlichen Interessen auch nur annähernd Rechnung zu tragen und demnächst als Grundlage für die internationale Abrüstung zu dienen". Dabei war Bülow sich durchaus darüber klar, daß Deutschland, der stärkste Militärstaat, nicht ohne Not das Odium auf sich laden dürfe: "wir haben jedes Interesse daran, die Friedensbewegung vor den Wagen unserer (Friedens-) Politik zu spannen, statt sie von anderen gegen uns verwerten zu lassen."1 Allerdings war die englische Regierung in der glücklichen Lage, in ihrer Mitte Anhänger humanitärer Friedensbestrebungen als auch Vertreter einer machtpolitischen Staatsräson aufweisen zu können: man sieht sie abwechselnd in die Arena steigen. Der Premierminister Sir Henry Campbell-Bannerman begann am 2. März 1907 mit einem berühmten Friedensartikel in der Nation, den der Pariser Temps ob seiner Phrasenhaftigkeit nicht scharf genug verurteilen konnte. Er sprach als ehrlicher Idealist. Bald darauf sagte er Clemenceau ins Gesicht (zu dessen Bestürzung), er glaube nicht, daß [607] die englische öffentliche Meinung die Verwendung britischer Truppen auf dem europäischen Festlande zulassen würde;2 er wußte tatsächlich weder von der Fortdauer der von Grey - Haldane veranlaßten militärischen Besprechungen,3 noch von einer Politik der antideutschen Gruppierung. Als Bülow nun erfuhr, daß Grey die "Beschränkung der Ausgaben für Rüstungen" (wie er sich ausdrückte) wieder auf die Tagesordnung bringen wollte, verhehlte er sich nicht, daß dieser Schritt seine Spitze gegen Deutschland richte.4 Doch gelang es nicht, unter der Hand das britische Kabinett zum Verzicht auf seine Absicht zu veranlassen; man legte vielmehr in London Wert darauf, eine deutsche Weigerung öffentlich zu konstatieren und auch innerpolitisch (z. B. bei neuen Flottenausgaben) zu verwerten. So ergab sich für den deutschen Reichskanzler doch die Notwendigkeit, in einer Reichstagsrede vom 30. April die deutsche Position in der Rüstungsbeschränkung grundsätzlich klarzustellen. In feiner Weise flocht Bülow ein, man habe ihm wohl geraten, den kriegerischen Schein zu vermeiden und an der Diskussion teilzunehmen, aber er glaube nicht, "daß wir durch eine solche Politik einen besseren Schutz gegen ungerechte Verdächtigungen unserer Friedensliebe, eine aufrichtigere Anerkennung der Schwierigkeiten unserer geographischen Lage und anderer Umstände, die uns zu Schutz und Wehr nötigen, erreicht haben würden". Die "Umstände" mochten sich auf die europäische Umgruppierung beziehen. Grey konnte sich nicht genugtun, den günstigen Eindruck dieser Rede zu rühmen. Nachdem sich der Deutsche vor der Welt bekannt hatte, konnte Campbell-Bannerman am 10. Mai wieder das Wort ergreifen und - das Friedensgesicht Englands wahrend - das tiefe Bedauern seiner Regierung aussprechen, daß Deutschland sich der Erörterung der Rüstungsbeschränkung versage.

Wenn man sich an diesem Beispiel vergegenwärtigt, wie tief diese Diskussionen mit taktischen Hintergedanken getränkt sind, wird man es nicht für ein ergiebiges Geschäft halten, das Verfahren der deutschen Vertretung auf der Friedenskonferenz, die in den gewandten Händen des Herrn von Marschall lag, unter dem Gesichtspunkt ihres Dienstes am Weltfrieden oder gar der Vermeidbarkeit des Weltkrieges nachzuprüfen.5 In der Rüstungsfrage wäre immerhin für die deutsche Taktik, ebenso wie im Jahre 1899, das Versäumnis einer glänzenden Gelegenheit zu beklagen, "vor dem Forum der Welt durch unanfechtbare Zahlen zu beweisen, wie gering die Anspannung der Wehrkraft Deutschlands, von Österreich-Ungarn ganz zu schweigen, gegenüber der in Frankreich wäre".6

[608] Wenn Deutschland sich schon im Jahre 1899 an der Errichtung eines Schiedshofes beteiligt hatte, so gab es diese grundsätzliche Haltung auch 1907 nicht auf. Es lehnte zwar das Obligatorium ab, und zwar auf Grund der schlechten Erfahrungen, die man inzwischen gemacht hatte, aber gab dafür den Anstoß zu dem Entwurf eines internationalen Prisenhofes, "der vollendetsten Ausgestaltung des Schiedsgerichtsgedankens, der jemals in der Welt hervorgetreten ist und damit zugleich der höchsten theoretischen Entwicklung des Völkerrechts seit Hugo Grotius".7

Im Anschluß an die Friedenskonferenz sei hier noch der - durch den norwegischen Integritätsvertrag vom 2. November 1907 ausgelöste - Abschluß des Nordseeabkommens (zwischen Deutschland, Rußland, Schweden und Dänemark) und des Ostseeabkommens (zwischen Deutschland, England, Frankreich, Holland und Dänemark) erwähnt. Vom ersten Moment an trug die deutsche Politik Sorge dafür, in dem Nordseeabkommen die Aufnahme von Holland und Dänemark offenzuhalten. Es heißt in einem deutschen Aktenstück: "durch die Garantie des status quo in Holland würde ein Moment des Mißtrauens gegen uns (unsere vermeintlichen Annexionsgelüste betreffs Holland) beseitigt werden, wir würden der Welt einen neuen Beweis unserer friedlichen, nicht auf territoriale Expansion gerichteten Politik geben".8

Während die Welt des Nordens gleichsam gegen jede Friedensstörung vertraglich abgeriegelt wurde, sollte der Südosten Europas allmählich in seine alte Funktion als gefährlichstes Tiefdruckgebiet eintreten.

Im Laufe der Marokkokrisis hatte die deutsche Politik vergeblich der englisch-französischen Entente den Weg nach Rußland zu verlegen gesucht. Der Ausgang zeigte, daß im Ernstfalle die Entfernung zwischen Rußland und der englisch-französischen Entente geringer und leichter zu überwinden war, als die Entfernung zwischen Rußland und Deutschland oder dem Dreibunde. So wuchs mit einer gewissen Naturnotwendigkeit aus jenem Zwischenspiel der dramatisch bewegten Vorstöße und Annäherungen die allmählich und sicher fortschreitende englisch-russische Verständigung hervor.

Das Jahr dieser Verhandlungen (Juni 1906 bis August 1907) ist den beiden Jahren der Verhandlungen über die englisch-französische Entente (Juni 1902 bis April 1904) vergleichbar. Vergleichbar in den sachlichen Schwierigkeiten, in der Ausdehnung und auch in den Hemmungen. Vergleichbar in den Begleit- [609] erscheinungen in der Presse, welche die zeitweiligen Stockungen durch eine lebendige Front gegen eine dritte Macht zu überwinden suchen. Vergleichbar schließlich durch die Aufgaben, die diese Vorgänge der deutschen Politik stellen.

Auch eine russisch-englische Verständigung hatte, wie vordem die englisch-französische, ihre Abmachungen, die nur die beiden Partner angingen, und konnte daneben einen Sinn haben, der eine Lebensfrage für Deutschland in sich schloß - gerade nach dem ganzen Vorspiel, das einem Wettlauf um die Gunst Rußlands gleichgesehen hatte, war schon anzunehmen, daß in dem allgemeinen politischen Zusammenschluß der drei Großmächte der eigentliche Schwerpunkt liegen werde.

Als der neue russische Minister Iswolski im Mai 1906 in Berlin ankündigte, daß er nach dem Abschluß des neuen Verfassungswerkes an eine Verhandlung mit England herantreten werde, deren Gegenstand die Türkei, Persien, Afghanistan und Tibet umfasse, erläuterte ihm Bülow die deutsche Stellung: "Wir werden ein Arrangement zwischen den beiden Mächten begrüßen, soweit es ausschließlich russisch-englische Interessen zum Gegenstande hat und durch Beseitigung russisch-englischer Reibungsflächen dem allgemeinen Frieden dient. Wir erwarten aber von der neuen Regierung, daß sie in Fragen, welche deutsche Interessen berühren, nicht ohne unser Zutun entscheidet und uns nicht vor ein fait accompli stellt. Als eine solche Frage betrachten wir die Bagdadbahn, da sie durch Konzession des Sultans deutsches Wertobjekt geworden ist."9 Dieser Auffassung stimmte Iswolski zu.

Das war ein eindeutiges Programm, aus dem eine deutsche Gegensätzlichkeit gegen die Übereinkunft an sich nicht herauszulesen war. Aber die Dinge dieser Welt verlaufen in der Regel nicht so reibungslos, wie sie der Sache nach sehr wohl verlaufen könnten. Während der ganzen Verhandlungszeit hörte die Presse in England und Rußland nicht auf, deutschfeindliche Artikel zu bringen, um der Öffentlichkeit auf beiden Seiten die neue Annäherung mundgerecht zu machen. Bei jeder Verzögerung der Verhandlungen tauchte die böswillige Behauptung auf, die deutsche Regierung intrigiere gegen den Abschluß eines Vertrages. Als die Verhandlungen sich dem Ende näherten, lautete hüben wie drüben das Schlagwort: England sei zu diesem Vertrage nicht veranlaßt worden durch die eingebildeten Gefahren in Asien, sondern durch das Wachsen einer drohenden Macht in Europa. Die Bedeutung des Abkommens liege daher nicht so sehr in Asien wie in Europa, wo seine Folgen sich auf längere Zeit hinaus bemerkbar machen dürften. Der Wunsch nach einer freundschaftlichen Abrechnung mit Rußland sei England aus diesem Grunde nahegelegt worden: der englische Einfluß in Europa [610] werde nach Beseitigung der Reibungsflächen mit Rußland steigen,10 und Rußland gewinne Muße zum Wiederaufbau, ohne von einer europäischen Macht hierbei gestört zu werden.10

Ein so riesiger Machtkörper wie das russische Weltreich lebt nicht, ohne dem Schwergewicht seiner Masse eine vorwiegende dynamische Ausrichtung zu geben. Nachdem das grenzenlose Ausgreifen im fernen Osten zum Stillstand und Rückzug genötigt worden war, nachdem man im mittleren Osten durch Ausgleich mit England die Reibungsflächen geglättet, mußten naturgemäß die aktiven Kräfte sich wieder dem altgewohnten Schauplatz des nahen Ostens zuwenden, der so lange - zumal durch die Abkommen mit Österreich-Ungarn von 1897 und 1903 - unter eine Glasglocke gestellt worden war: hier vermochte das schwer geschädigte Selbstbewußtsein der Russen sich am ehesten wieder aufzurichten. Und der neue Partner, mit dem man soeben alte weltweite Gegnerschaften in Asien friedlich zur Ruhe gebracht hatte, setzte alles daran, das Gesicht Rußlands wieder nach Europa (und das hieß nach dem Balkan) zurückzuwenden.

Reichskanzler Fürst Bülow und Außenminister
Iswolski bei der Kaiserzusammenkunft Swinemünde 1907.
[608a]      Reichskanzler Fürst Bülow und Außenminister Iswolski
bei der Kaiserzusammenkunft Swinemünde 1907.
Die Witterung des kommenden Umschlages liegt schon im Jahre 1907 über der Balkanhalbinsel. Überall regen sich unterirdische Kräfte, setzen sich Interessen in Bewegung, die bisher nach großmächtlicher Übereinkunft geschlummert hatten. Der allgemeine Eindruck war, daß Rußland seine lange unterbrochene herkömmliche Orientpolitik wieder aufgenommen habe und dabei vor internationalen Verträgen nicht stehenbleiben werde. An dieser Stelle setzte der neue Lenker der österreichisch-ungarischen Außenpolitik ein, Freiherr von Aehrenthal, der im Oktober 1906 an die Stelle des Grafen Goluchowski getreten war. Mit dem ehemaligen Botschafter in Petersburg, der dort die schweren Zeiten Rußlands mitdurchlebt hatte, trat an die Spitze der österreichisch-ungarischen Politik ein Mann, der die großmächtlichen Bedürfnisse und Sorgen der Doppelmonarchie - wie sie auch in der starken Seele des Erzherzog-Thronfolgers Franz Ferdinand und in dem feurigen Willen des Generalstabschefs Freiherrn Conrad von Hötzendorf lebten - wieder mit stärkerer Betonung zur Geltung zu bringen entschlossen war. Ehrgeizig, tatkräftig und gewandt, eine starke und doch wieder problematische Figur in der Schicksalsgeschichte seines Staates - jedenfalls auch für den deutschen Verbündeten eine neue und eigenwillige Verkörperung der Bündnistreue.11

Ende 1907 unterbreitete er der Pforte den Wunsch, Vorarbeiten für einen Bahnbau zu unternehmen, der von Bosnien in das - von Österreich besetzte, aber zur Türkei gehörige - Gebiet des Sandschak Novipasar (aus wirtschaftlichen Gründen) führen sollte. In einer berühmt gewordenen Delegationsrede [611] vom 27. Januar 1908 kündigte er an, daß der Plan darauf hinauslaufe, einen Anschluß der bosnischen Bahnen an das türkische und griechische Bahnnetz zu gewinnen - wie es der Sprache dieser Zeit gemäß war, fehlte es sogar nicht an weitgreifenden Wendungen, die von einem kürzesten Bahnweg Wien - Budapest - Serajewo - Athen - Piräus, von Zentraleuropa nach Ägypten und Indien sprachen. Wenn solche Zukunftsträumereien auch wirklich gute Weile hatten, so reichten sie doch aus, um Mißtrauen, Widerstand und Gegenpläne an mehr als einer Stelle auszulösen. In Rußland zeigte man sich sofort geneigt, über den Inhalt des eben geschlossenen Abkommens hinaus eine Verständigung mit England auch über Balkanfragen zu suchen. Iswolski eröffnete am 2. Februar eine denkwürdige Sitzung des Ministerrates12 mit der verlockenden Aussicht einer auch militärisch gemeinsamen englisch-russischen aktiven Außenpolitik, die zu glänzenden Ergebnissen und zur Verwirklichung der historischen Aufgaben Rußlands im nahen Osten führen könne. Schon trat er mit Worten dem Gedanken einer erneuten Aufrollung der ganzen türkischen Frage näher. Das waren alles zunächst nur Zukunftsbilder, aber sie deuteten auf eine Umgestaltung der europäischen Politik, aus der dieser erregende Fragenkreis einst, in den ersten Jahren der russischen Ostasienpolitik, herausgenommen worden war - jetzt tauchten am Horizonte wieder die Kräfte auf, die bis zum Anfange der neunziger Jahre die russische Politik gelenkt hatten. Es lag auf der Hand, daß darüber jene russisch-österreichische Verbundenheit, die auf der Erhaltung des status quo geruht hatte, in die Brüche gehen müsse. Als eine russische Note vom 16. März 1908 in der Frage der mazedonischen Reformen allen Signatarmächten des Berliner Kongresses die gleichen Rechte einzuräumen wünschte, deutete sie an, daß sie die Gemeinschaft der Vorhand mit Österreich-Ungarn aufgebe und damit eine neue Verhandlungsgrundlage zu schaffen gedenke. Aehrenthal meinte dann nur feststellen zu müssen, daß Rußland den Ententegedanken mit Österreich endgültig fallen lasse.13 Es wurde in Wien als ein Zeichen der Zeit gedeutet, wenn die großserbische Bewegung, die in Bosnien und der Herzegowina neben dem kroatischen Element an Boden gewonnen hatte, auch in der russischen Presse eine auffallende Begünstigung zu finden begann.

Während dieser allmählich sichtbarer werdenden Ansätze auf dem Balkan, war zwischen England und Deutschland fast unerwartet ein tiefes Mißtrauen, ausgelöst durch die Flottenrüstung, zum Ausdruck gekommen.

Die ersten deutschen Flottenprogramme hatten in England niemals eine sonderliche Beachtung und Beunruhigung hervorgerufen, da die Möglichkeit eines Wettbewerbes außer jeder Berechnung lag; die brutalen Drohungen des Februar 1905 kennzeichneten das unbedingte Überlegenheitsgefühl. Als dann [612] vollends der erste englische Dreadnought im Frühjahr 1906 in Dienst gestellt wurde, glaubte man die deutsche Gegnerschaft wie auch jede andere für immer hinter sich zu lassen; man rechnete damit, daß die hohen Kosten, vor allem aber auch die Abmessungen des Kaiser-Wilhelm-Kanals und der Docks die Deutschen dauernd verhindern würden, auf diesem Wege nachzukommen.14 Diese Rechnung, für die somit die englische Überlegenheit als ohne erhebliche Finanzlasten gesichert galt, sollte sich als ein Fehler von verhängnisvoller Tragweite herausstellen.

Die deutsche Marine war zunächst durch den Bau des neuen stärkeren Typs, der eine außerordentliche Entwertung der älteren Schiffsarten zur Folge hatte, so überrascht, daß zwei Jahre lang, vom Sommer 1905 bis zum Juli 1907 (in der Zeit der Marokkospannung und in den Tagen von Algeciras) in Deutschland überhaupt kein Kriegsschiff aufgelegt wurde; dann erst nahm sie, auf Grund einer im November 1905 eingebrachten und im Mai 1906 vom Reichstag angenommenen Flottenvorlage den Wettkampf auf. Wohl konnte Sir Edward Grey am 10. Mai 1906 die stolzen Worte sprechen, er glaube, es habe nie eine Zeit gegeben, in der die verhältnis- und vergleichsmäßige Überlegenheit der britischen Flotte größer gewesen sei als im gegenwärtigen Augenblick. Noch im Januar 1907 schrieb ein von Fisher unterrichteter Marinefachmann "The German Naval Policy has completely broken down" - eben wegen der Dreadnoughts. Aber wenn Deutschland trotz aller Schwierigkeiten dazu überging, Schiffe der gleichen Stärke zu bauen, dann war mit diesem neuen Typ, zumal für den Fall, daß alle Seemächte denselben Weg beschritten, ein neuer Ausgangspunkt des Wettbewerbes geschaffen, welcher gerade der ältesten und größten unter ihnen gefährlich werden konnte: wider Erwarten sollte sich die zur Vernichtung des Gegners bestimmte Waffe wie in der Sage auf den Schleudernden zurückwenden.15 Als Deutschland, nach langer Vorbereitung, im Juli 1907 zwei und im August 1907 wieder zwei Dreadnoughts auflegte (die im Mai bzw. September 1910 fertig sein sollten), begann sich das Bild zu verschieben; schon in der Parlamentsdebatte vom 28. Juli 1907 gestand Balfour, der Führer der Opposition, offen den Fehler der Rechnung ein, ohne daß die Regierung widersprochen hätte. Im Augenblick allerdings war der Vorsprung der britischen Flotte noch ganz erdrückend. Der Admiral Sir John Fisher, der erste Seelord, konnte sich König Eduard gegenüber im Herbst 1907 rühmen, daß Deutschland durch den Dreadnoughtbau gelähmt sei, denn die Wahrheit [613] sei jetzt: England habe sieben Dreadnoughts und drei Dreadnought-Schlachtkreuzer, im ganzen zehn Dreadnoughts, gebaut und im Bau, während Deutschland im März, ja im Mai des Jahres noch keinen einzigen Dreadnought aufgelegt habe: die englische Flotte sei daher, darin habe Tirpitz recht, viermal so stark wie die deutsche. Dieser augenblicklichen Überlegenheit entsprach es, wenn Sir John Fisher nur einen einzigen Schluß daraus gezogen wissen wollte. Er schlug dem König im März 1908 vor, die Überrumpelung Kopenhagens durch Nelson zu erneuern und die deutsche Flotte abzufassen - "aber ach, wir hatten keinen Pitt, keinen Bismarck, keinen Gambetta",16 grollte der gewalthungrige Seemann noch lange nachher.

Dieser piratenhafte Präventivgedanke ließ sich sachlich leicht begründen. Wenn die Deutschen tatsächlich nach ihrem umgearbeiteten Flottenplan dazu übergingen, jährlich mehrere Schiffe des neuen Typs aufzulegen, dann mußte sich das Stärkeverhältnis in wenigen Jahren verschieben. So geschah es, daß diese fernliegende Möglichkeit in der Zeit der Entspannung nach Algeciras von neuem Gefühle der "Beunruhigung" auslöste. Schon seit dem Januar 1907 begannen die englischen Staatsmänner in ihren Gesprächen mit dem deutschen Botschafter diese neue Quelle des Mißtrauens zu beklagen und - was im Augenblicke nur als unerhörte Verzerrung der Wirklichkeit erscheinen konnte - sich auf die Furcht vor dem Anwachsen der deutschen Flotte zu berufen.17 Mit einem Schlage hatte sich eine Panik der englischen öffentlichen Meinung bemächtigt, von einer skrupellosen Presse aufgepeitscht, aber in der Tiefe des Volkes widerhallend. Die deutsche Flottenpropaganda, zumal unter der zeitweilig ganz extremen Führung des Flottenvereins durch General Keim, tat an unvorsichtigen Übertreibungen und Herausforderungen nicht wenig, um den englischen Flottenagitatoren das nötige Material zu verschaffen und in ihnen verwandte Leidenschaften und große Worte zu entzünden. Die Erregtheit verschärfte sich, als der Bundesrat im November 1907 die Einbringung einer weiteren Flottennovelle genehmigte, die - neben einer Herabsetzung der Lebensdauer der Linienschiffe von 25 auf 20 Jahre - die Verteilung der Ersatzbauten für die Jahre 1908 bis 1917 vornahm.18 Danach war für die Jahre 1908 bis 1911 die Auflegung von jährlich drei Linienschiffen und einem Panzerkreuzer zu erwarten. Der Gedanke schon warf die englische öffentliche Meinung aus dem Geleise ruhiger Überlegung. Düster schien das Bild der Zukunft einer dunklen Wolke gleich mit Windeseile heraufzuziehen, und der Outlook sah, mit unsinniger Übertreibung, schon im Ja- [614] nuar 1908 den Augenblick nahe, in dem das Schwergewicht unter den Seemächten in andere Hände übergehe - England müsse ohne unnötige Worte und Lamentationen seine ganze Wachsamkeit und Energie der Tatsache widmen, daß Deutschland die englische Vorherrschaft zur See bedrohe wie noch keine Macht in den letzten zweihundert Jahren.

Gleich darauf sprachen Grey und Lord Tweedmouth, seit Dezember 1905 der erste Lord der Admiralität, von der Notwendigkeit einer Flottenverstärkung. Die Unruhe in England stieg von Tag zu Tag.19 Der Kaiser hatte den unglücklichen Einfall, in einem Schreiben, das er am 16. Februar, ohne dem Reichskanzler ein Wort zu sagen, an Lord Tweedmouth richtete, die Irrtümer richtigzustellen, von denen die öffentliche Meinung erfüllt war, und sich feierlich dagegen zu verwahren, daß die deutsche Flotte gegen England, als eine Herausforderung der englischen Vorherrschaft zur See gebaut werde.20 Was halfen aber alle guten Gründe, wenn die Form dieses unkonstitutionellen Belehrungsversuches bei dem Könige wie bei dem Volke Englands peinliches Empfinden hervorrief und den Empfänger des Schreibens, der im Einverständnis mit Grey höflich, aber ausweichend geantwortet hatte, in seinem Amte unmöglich machte. Es gab nur noch zwei Parteien in England: die eine glaubte an die deutsche Angriffsabsicht, die andere nur an die Gefahr eines Konflikts; daß diese Gefahr bestehe, darin schienen beide Parteien einig zu sein.21 Es war in diesen Tagen, daß Sir John Fisher seiner Kopenhagener Phantasie vor dem Könige freien Lauf ließ. Dagegen war Bülow durchaus im Recht, wenn er am 24. März 1908 im Reichstag den rein defensiven Charakter der deutschen Flottenpolitik "gegenüber den unaufhörlichen Versuchen, uns England gegenüber aggressive Absichten und Pläne anzudichten", auf das schärfste betonte; da die Deutschen mit England in Ruhe und Frieden zu leben wünschten, empfänden sie es bitter, daß ein Teil der englischen Publizistik immer wieder von der "deutschen Gefahr" spreche, "obwohl die englische Flotte unserer Flotte mehrfach überlegen ist, obwohl andere Länder stärkere Flotten besitzen als wir und mit nicht geringerem Eifer an dem Ausbau ihrer Flotte arbeiten als wir." Er nahm noch den Standpunkt ein: es ist unser gutes Recht.

In ein neues Stadium trat die internationale Seite der Flottenfrage, als Sir Edward Grey am 14. Mai 1908 erklärte: der englische Flottenaufwand sei von den Aufwendungen anderer Flotten abhängig; England sei bereit, die Frage mit anderen Nationen zu diskutieren, wenn diese gleichfalls die gegenseitige Abhängigkeit der Rüstungen zugäben.22 Damit war eine diplomatische Aus- [615] einandersetzung zwischen Deutschland und England über die Flottenfrage eingeleitet. Diese Auseinandersetzung hatte anscheinend eine mehr technische und eine rein machtpolitische Seite. Auf dem ersten Gebiete gab es Mißverständnisse, die an sich hätten beseitigt werden können. Schon aus einer privaten Besprechung von Sir Ernest Cassel mit Albert Ballin hatte sich ergeben, daß die Engländer zu wissen glaubten, daß die Verstärkungen der deutschen Flotte erheblich größer seien, als sie in den amtlichen Darstellungen erschienen; sie meinten, auf deutschen Werften mit Hilfe ihrer Spionage (aus deren Tätigkeit amtlich kein Hehl gemacht wurde) abweichende Feststellungen gemacht zu haben. Bei den späteren Besprechungen stellte sich sogar heraus, daß die amtlichen Kreise Londons in allem Ernst fürchteten, daß Deutschland schon im Jahre 1912 den Engländern an Dreadnoughts gleich oder überlegen sein würde. Außerdem sahen sie in der Konzentration der deutschen Flotte in der Nordsee eine unmittelbare Bedrohung; während die Deutschen geltend machten, daß sie - nicht im Besitz von Flottenstationen in anderen Meeren - zu solchen Maßnahmen genötigt seien. Sie hätten sich auch darauf berufen können, daß das englische Spiel mit Überfallsplänen eben diese Konzentration für sie zum Gebot mache. Alle technischen Fragen gingen, sobald man sie nur berührte, ohne weiteres in Machtfragen über.

Die Engländer erklärten, sie müßten die Aufrechterhaltung der Oberherrschaft zur See als Lebensfrage vertreten; die Befürchtung wachse, daß diese Oberherrschaft zur See gefährdet sei; dann würden sie gezwungen sein, ein neues Flottenprogramm aufzustellen, mit allen Steuern und Lasten, die das Volk erbittern würden. Dagegen glaubte sich England jetzt stark genug, vermöge seiner Ententen, und hielt auf der andern Seite die Machtstellung Deutschlands für so weit vermindert,23 daß man eine Aussprache verlangen durfte, deren Endziel der freiwillige Verzicht auf den geplanten Umfang und das Tempo seiner Seerüstung sein mußte.24

Gerade in diesem Augenblick hatte König Eduard VII. der veränderten europäischen Lage in seiner Zusammenkunft mit dem Zaren Nikolaus II. in Reval (9./10. Juni 1908) einen wohlberechneten Ausdruck gegeben. Die Zusammenkunft ist in den verschiedenen Lagern sehr verschieden beurteilt worden. Auf deutscher Seite, wo man dem Ereignis mit starkem Mißtrauen entgegengesehen [616] hatte,25 überwog die Ansicht von ihrem ausgesprochen deutschfeindlichen Charakter, ja sie erweiterte sich, ohne bestimmtes Belegmaterial vorzubringen, zu der Vorstellung von einer dunklen Verschwörung. Dagegen hat der Zar dem Kaiser sofort versichert, politische Gegenstände seien kaum berührt worden, und Iswolski bot den deutschen Diplomaten immer wieder sein Ehrenwort an, daß in Reval keine weiteren politischen Vereinbarungen getroffen seien; auf diesen Ton sind auch die englischen Darstellungen gestimmt. Die Aussagen der Nächstbeteiligten sind natürlich nicht gelogen, aber ebensowenig wahr. Daß die politischen Gespräche alle schwebenden Fragen berührten - darunter auch die mazedonische Reformfrage, auf die noch zurückzukommen sein wird, - verstand sich von selbst. Es kommt aber nicht nur darauf an, ob fertige politische Abmachungen aus den Gesprächen hervorgingen, sondern auf die Tendenz der Anregungen und Beeinflussungen, die auf englischer Seite ihren Ursprung nahmen und in die russischen Köpfe sanken. Die Russen waren gewiß mit der Absicht gekommen, ihre Beziehungen zu Deutschland nicht stören zu lassen,26 aber die Engländer waren bemüht, ihren neuen Freunden (mit denen sie bisher nur durch die mittelasiatische Entente verbunden waren) den Gesichtskreis nach Europa hin in ihrer Weise wieder zu erweitern. Wohl sprach auch Hardinge zu Iswolski von seiner Absicht, gute Beziehungen zu Deutschland zu pflegen, aber er setzte mit scharfer Betonung (sowie er auch schon zu Clemenceau gesprochen hatte) hinzu: "Trotzdem kann man sich nicht der Einsicht verschließen, daß, wenn Deutschland in demselben beschleunigten Tempo seine Rüstungen zur See fortsetzen wird, in sieben oder acht Jahren in Europa eine äußerst beunruhigende Lage entstehen kann - dann wird zweifelsohne Rußland der Schiedsrichter der Lage sein; und aus diesem Grunde wünschen wir im Interesse des Friedens und der Erhaltung des Gleichgewichts, daß Rußland zu Lande und zu Wasser möglich stark ist." Die Aussicht mochte den Russen in ihrem damaligen Machtzustande wohltun, sie wußten, daß diese Formel nichts anderes besagte als: "wir brauchen ein starkes Rußland gegen Deutschland." Ein derber Seemann wie Sir John Fisher vermochte den Gedanken noch etwas deutlicher auszudrücken. Er saß beim Diner zwischen Iswolski und Stolypin und antwortete auf die russische Frage, was Rußland vor allen Dingen jetzt brauche, nicht etwa, was man von ihm erwarten konnte: Kriegsschiffe, sondern gab den bedeutungsschweren Bescheid: "Eure Westgrenze ist entblößt von Truppen und Eure Magazine sind [617] leer. Füllt sie auf und dann sprecht von Flotte." Der Engländer erinnerte an Kuropatkins Wort: "Die Grundlage von Rußlands Sicherheit ist seine Westgrenze."27 In seine eigene politische Sprache übertragen, lautete es: ein möglichst starker russischer Druck auf die deutsche Ostgrenze liegt im englischen Interesse. Wieder hatte der englische Versucher den hohen Berg bestiegen und sprach vorsichtig und unverbindlich von den Schätzen der Erde. Für die aufhorchenden Russen ergab sich zweierlei: der Engländer brauchte die Karte der russischen Macht in seiner beginnenden Flottenauseinandersetzung mit Deutschland, er war dafür bereit, jede Erneuerung einer aktiven Balkanpolitik - und auch davon war in Reval die Rede! - selbst wenn sie zu schärferem Gegensatz zu Österreich und Deutschland führen sollte - wohlwollend zu unterstützen.

Wenige Wochen nach dem Vorspiel in Reval begann die englische Politik sich ihrem Hauptgegenstande, mit einer ineinandergreifenden Kombination von einzelnen Schritten zu nähern. Zunächst waren es, absichtlich zusammen operierend, Sir Edward Grey und Lloyd George, die am 14. Juli 1908 die Diskussion mit dem deutschen Botschafter über die Flottenfrage eröffneten, die zwischen England und Deutschland stehe. Die englischen Flottenausgaben gingen wegen des deutschen Flottenprogramms und der neuen Beschleunigung des Tempos derart in die Höhe, daß die Beziehungen sich während der Dauer dieser Konkurrenz nicht bessern könnten. Jeder Engländer würde seinen letzten Pfennig dransetzen, um die Überlegenheit zur See zu wahren, weil von ihr nicht nur die Weltstellung Englands, sondern auch seine Existenz als unabhängiger Staat abhänge. Für England sei eine mächtige deutsche Flotte, mit einer noch mächtigeren Armee im Hintergrunde, eine reale Gefahr. Besonders der Schatzkanzler Lloyd George stellte das weitgehendste Entgegenkommen bei der Schaffung einer gemeinsamen Basis für die beiderseitige Einschränkung des Flottenbaus in Aussicht. Der Kaiser sah schon in dieser ersten Sondierung eine Anmaßung. In heftige Erregung versetzt, wollte er unter keinen Umständen von einer Flottendiskussion, als einer Versündigung an einem selbständigen und ehrliebenden Staat, etwas wissen,28 und redete sich ein, daß er ein amtliches Vorgehen auf dieser Linie als eine Kriegserklärung auffassen müsse. Aber das gefährliche Thema schien in den Mittelpunkt des öffentlichen Lebens in England gerückt zu sein, und verantwortungsvolle Staatsmänner, wie Lord Cromer, begannen ohne Scheu von der Kriegsgefahr zu sprechen.

[618] Der zweite Vorstoß ging auf die Person des Kaisers selbst und erfolgte bei einem Besuch, den König Eduard VII., begleitet von dem Unterstaatssekretär Sir Charles Hardinge und dem Botschafter Sir Frank Lascelles, ihm in Kronberg im Taunus abstattete.29 Ursprünglich hatte der König selbst das Flottengespräch führen wollen, dann überließ er - was der Form nicht recht entsprach30 - Hardinge die schwierige Aufgabe. Der Kaiser gab sich zunächst alle Mühe, die Mißverständnisse aufzuklären, durch die, wie Hardinge klagte, die schwere Beunruhigung der Nation so hoch gesteigert sei. Aber der Engländer ließ nicht locker, sondern kam immer wieder darauf zurück, dieser Konkurrenzbauerei müsse ein Ende gemacht werden, es müsse ein Arrangement getroffen werden, wonach das Bautempo verlangsamt werde. Er ließ sich zu der ganz kategorischen Fragestellung verleiten: Könnt ihr nicht eine Pause in eurem Schiffsbau eintreten lassen? Oder weniger Schiffe bauen? Als dann der Kaiser den definitiven Charakter der deutschen Seerüstung erläuterte, kam er trotzdem auf seine Alternative zurück: "Ihr müßt eine Pause eintreten lassen oder weniger bauen." Darauf der Kaiser, erregt über die direkte Form der Pression: "Dann werden wir fechten, denn es ist eine Frage der nationalen Ehre und Würde." Das Gleichgewicht der Unterhaltung wurde nach diesem Zusammenstoß wieder hergestellt, aber der König und sein Begleiter verließen Kronberg mit dem Gefühl, mit diesem Vorstoß nichts erreicht zu haben. Sie unternahmen gleich darauf einen noch bedenklicheren Schritt, indem sie den Besuch, den der König dem Kaiser Franz Joseph in Ischl am 12./13. August abstattete, zu Klagen über die Gefährlichkeit der deutschen Flottenrüstung benutzten. Die Anregung des Königs, Franz Joseph möge seine guten Dienste leihen, um seinen Verbündeten von dieser Gefahr zu überzeugen, wurde von dem alten Habsburger völlig überhört. Und ebensowenig ging Aehrenthal auf die Anklage Hardinges ein; er fand sogar das Verhalten Kaiser Wilhelms nicht überraschend, da die erfolgreiche Ententepolitik des Königs, die doch für Deutschland eine unangenehme Lage schaffe, ihm ein Einlenken schwer mache, und auch er bekannte sich, wenn auch als stolzer Österreicher, der seinen eigenen Weg gehe, zum unverbrüchlichen Festhalten am Bündnis.31 Als König Eduard gleich darauf in Karlsbad mit [619] M. Clemenceau zusammentraf, machte er jedenfalls kein Hehl aus seiner tiefen Verstimmung, und Clemenceau erging sich bald in pessimistischen Reden, daß er den Krieg zwischen Deutschland und England für unvermeidlich halte und daß dann - so spann er den Gedanken weiter - die Gefahr bestehe, daß Deutschland sich mit aller Wucht auf Frankreich werfen würde.32

Kaiser Franz Joseph I. während der Huldigung in Serajewo 1908.
[624a]      Kaiser Franz Joseph I. während der Huldigung in Serajewo 1908.
Man kann begreifen, daß der Kaiser sich zunächst auf den Standpunkt stellte, mit dem Flottenbau von einem Recht der Souveränität Gebrauch zu machen und sich in die Ausübung dieses Rechts nicht hereinreden zu lassen, auf jede Gefahr hin.33 Aber dieser formalistische Gesichtspunkt hielt nicht mehr vor, wenn eine andere Großmacht, die in der Aufrechterhaltung ihrer Vormacht zur See eine Lebensfrage erblickte, mit dem ganzen ihr innewohnenden Schwergewicht zu erkennen gab, sie fühle sich durch das Tempo der deutschen Seerüstung bedroht. Auch Holstein wollte die Frage nicht so gestellt wissen, wie sie von der deutschen Flottenpropaganda bis zur Ermüdung vorgetragen wurde: wer in der Welt will denn dem großen deutschen Volke verbieten, eine Flotte zu bauen!34 Für jedes politische Denken mußte die Frage so formuliert werden: Ist es praktisch für den Weltfrieden, neben der stärksten Armee eine große Flotte zu besitzen, welche den Deutschen sehr wahrscheinlich außer den Gegnern zu Lande noch die stärkste Seemacht zum Feind auf Leben und Tod machen kann? Wenn daher die stärkste Seemacht den Antrag stellte, über Tempo und Ausmaß der Seerüstung in Verhandlung zu treten, dann konnte man nicht einfach ausweichen.

Es war nicht ausgeschlossen, daß England, das bereits ein System von Ententen geschaffen hatte, um Deutschland überall den Weg zu verlegen, ihm schließlich zu- [620] sammen mit seinen Freunden die Frage vorlegen werde, wann es in seiner Seerüstung Halt machen werde. Selbst Albert Ballin wollte bei seinen englischen Freunden keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, daß eine solche Anfrage der Krieg sein würde - Deutschland werde sich jedem derartigen Versuche einer Einmischung mit aller Kraft widersetzen. Aber wenn es auch dazu nicht kam, so war doch damit zu rechnen, daß England das politische Instrument seiner Entente zu starkem und feindlichem Druck auf die Mitte Europas benutzen würde.

Jedenfalls sah der Reichskanzler die Stunde gekommen, auch bei dem Kaiser dieses politische Motiv nachdrücklich zu betonen. In einem Immediatbericht vom 26. August legte er die Verschiedenheit ihrer Ansichten dar. Er konnte sich darauf berufen, daß er seit 1897 alle Flottenvorlagen mit Erfolg vertreten habe, und erkannte an, daß die Schöpfung der deutschen Flotte die Aufgabe sei, "die Euer Majestät von der Geschichte gestellt ist". Er werde auch vor einem englischen Druck oder einer englischen Drohung unter keinen Umständen zurückweichen und habe in den letzten Wochen die Sprache der Presse in dieser Richtung gelenkt. Aber sein politisches Urteil unterscheide sich von der Auffassung des Kaisers in doppelter Hinsicht. Wenn der Kaiser glaube, die Engländer würden es unter keinen Umständen auf den Krieg ankommen lassen, so halte er den Krieg jetzt wohl für denkbar, wenn die Engländer zu der Überzeugung gelangen würden, daß die deutschen Seerüstungen in infinitum so weitergehen würden. Die Situation im Kriegsfalle bleibe ernst, da man einer französisch-englisch-russischen Front gegenüberstehen würde. Die Türken aber seien wenig leistungsfähig, ein Aufstand in Indien unwahrscheinlich, die Fellahs in Ägypten ein feiges Gesindel. Er sei daher dafür, auch ohne den Engländern Versprechungen anzubieten, ihnen nicht alle Hoffnungen für die Zukunft abzuschneiden: "Wenn wir jede Verständigung über den Flottenbau kategorisch und für immer ablehnen, so wächst die Verstimmung in England in geometrischer Progression; damit entsteht natürlich doch eine reelle Kriegsgefahr, und vor allem baut England mehr wie je." Er stellte sich unbedingt auch für schwere Zeiten zur Verfügung, aber er schloß: "Es kommt darauf an, über die nächsten Jahre wegzukommen." Die ernste Mahnung blieb auf den Kaiser ohne jeden Eindruck. Seine Schlußbemerkung hielt an dem Flottengesetz als bis 1920 ausreichend, aber auch unveränderlich, fest und schloß hartnackig mit dem Satze: "von 1920 an können wir uns unverbindlich mit ihnen über Bauten unterhalten."35 Auf die politischen Schlußfolgerungen und Ratschläge ging die augenscheinlich unter der Einwirkung von Tirpitz getroffene kaiserliche Entschließung überhaupt nicht ein. Man mochte über die Sorgen und Ansprüche der Engländer, über die Opportunität einer Flottenbesprechung sehr verschieden denken, - für jeden Tieferblickenden lag es auf der Hand, daß der [621] ganze Fragenkomplex nicht nur vom zugeknöpften Ressortstandpunkt aus gelöst werden konnte, sondern eine hochpolitische Angelegenheit ersten Ranges war. Noch drängte die Frage nicht zur Entscheidung (wenn auch in denselben Tagen König Eduard sie schon mit Clemenceau in Marienbad erörterte), aber sie wird wiederkehren, dringlicher und drohender. Es ist von geschichtlicher Bedeutung festzustellen, daß der Reichskanzler Fürst Bülow schon, bevor die bosnische Krise heraufzog, den Weg der Flottenverständigung zu beschreiten bereit war,36 und die Demonstrationen des Flottenvereins, deren Häupter jedes politische Augenmaß vermissen ließen, als gefährlich verurteilte. Aber jetzt schon ließ sich erkennen, daß der Kaiser, aus Vorliebe und militärischem Selbstgefühl, in diesem Zentrum politischer Entschließungen gewillt blieb, dem Rate seiner Marinefachleute und nicht dem seiner politischen Berater zu folgen.37


1 [1/606]14. Dezember 1906 Gr. Pol. 23, S. 81. ...zurück...

2 [1/607]Bertie an Grey 11. April 1907. Brit. Dok. 6, S. 39 f. ...zurück...

3 [2/607]Siehe oben S. 591. ...zurück...

4 [3/607]Gr. Pol. 23, 1, S. 215. ...zurück...

5 [4/607]Gutachten, erstattet dem Untersuchungsausschuß des Deutschen Reiches, von den Sachverständigen Wehberg, Graf Montgelas, Zorn, Kriege und Thimme. ...zurück...

6 [5/607]Graf Max Montgelas ebenda. ...zurück...

7 [1/608]So Ph. Zorn, Deutschland und die beiden Haager Friedenskonferenzen (1920). Auf die Stellung Deutschlands zum Seebeuterecht sei hier nicht eingegangen, da sie keine praktische Wirkung hatte. Die überspitzte Motivierung, mit der Tirpitz für seine Beibehaltung eintrat, ist für die Denkweise des Großadmirals interessanter als für die Verhandlung im Haag. ...zurück...

8 [2/608]Gr. Pol. 23, 2, S. 467, 476, 479, 488, 492, 538. ...zurück...

9 [1/609]Bülow an Schoen: 19. Mai 1906 (Große Pol. 25, 11 f.). Iswolski bestätigte am 30. Oktober 1906 Schoen gegenüber in Berlin, daß die Abmachung keinerlei Spitze gegen Deutschland haben würde, und die sorgsame Beachtung der Rechte und Interessen Dritter enthalten müsse. ...zurück...

10 [1/610]Miquel an Bülow: 25, und 27. September 1907 (Große Politik 25, S. 42 ff., 45 ff.). Randbem. Wilhelms II: "sehr richtig! und wird uns in Europa noch unangenehmer werden als bisher." ...zurück...

11 [2/610]Über ihn: B. Molden, Graf Aehrenthal (1917). ...zurück...

12 [1/611]M. Pokrowski, Drei Konferenzen, S. 17 ff. ...zurück...

13 [2/611]Randbem. Wilhelms II.: "und geht zu England über" (Große Politik 25, 2, S. 399). ...zurück...

14 [1/612]Wilhelm II. an Hardinge: 12. August 1906. "Beim Stapellauf des Dreadnought hat Ihre Presse das Schiff als sicherstes Vernichtungsinstrument für die deutsche Flotte bezeichnet." ...zurück...

15 [2/612]Vgl. Hurd and Castle (a. a. O., S. 138 f.). Die Randbemerkung des Kaisers vom 8. März 1908 trifft den Nagel auf den Kopf: "An alledem ist nicht unsere Flotte schuld, sondern die ganz verrückte Dreadnought-Policy von Sir J. Fisher und His Majesty, welche vermeinten, uns damit en demeure zu setzen. Jetzt sehen sie und die getäuschten Briten ein, daß sie sich total geirrt haben und daß sie damit ihre alte, große, bisherige Überlegenheit vernichtet haben, da alle Staaten sie nachmachen" (Große Politik 24, S. 46). Dazu Hardinge am 11. August 1908 zum Kaiser: "es war ein schwerer Fehler von uns." ...zurück...

16 [1/613]Der Brief an den König muß kurz vor dem 14. März 1908 fallen (vgl. Fisher, Memories 1, 21/22, S. 34). Der Vorschlag wurde rasch bekannt (vgl. Metternichs Bericht: 30. Juni 1908). Große Politik 24, 81 ff. ...zurück...

17 [2/613]Metternich an Bülow: 31. Januar 1907; Große Politik 21, 2, S. 468, 470 (Gespräche mit Haldane und Balfour). Im Mai 1907: Unterhaltung Stumm-Hardinge (ebenda 502 ff.). ...zurück...

18 [3/613]W. v. Stumm: 27. November 1907. Starke Beunruhigung. ...zurück...

19 [1/614]Es war wohl damals, daß Eduard VII. den im Herbst verabredeten Gegenbesuch in Berlin schriftlich absagte. ...zurück...

20 [2/614]Vgl. Tirpitz, Aufbau der deutschen Weltmacht. S. 58 ff., 63. ...zurück...

21 [3/614]Metternich an Bülow: 8. März 1905. Gr. Pol. 24, 44 ff. ...zurück...

22 [4/614]Randbem. Wilhelm II.: Nein. ...zurück...

23 [1/615]Also sah der belgische Gesandte Baron Greindl schon Ende Mai 1908 die allgemeine Lage an: "Was man Allianz, Entente oder wie man will nennt, die persönlich vom König von England vorbereitete Gruppierung der Mächte existiert und wenn sie nicht eine direkte und nahe Kriegsdrohung für Deutschland ist (was zu viel gesagt wäre), so stellt es doch nicht weniger eine Verminderung seiner Sicherheit dar." ...zurück...

24 [2/615]Metternich an Bülow 5. Juni 1908: "An eine innere Feindschaft des englischen Volkes gegen Deutschland glaube ich nicht, wohl aber an die zunehmende Furcht vor uns, aus der dann alle möglichen Folgen entspringen können, nur nicht der schließlichen Ergebung in das unvermeidliche Schicksal vor der Superiorität Deutschlands." ...zurück...

25 [1/616]Ein Ausdruck dafür war die militärische Ansprache des Kaisers im Lager von Döberitz am 29. Mai 1908, die auf die Gefahren militärischer Einkreisung anspielte, aber hiernach in stärker aufgebauschter Färbung bei den Gegnern umlief. ...zurück...

26 [2/616]Ein offiziöser Artikel Iswolskis in der Rossija wendete sich gegen diejenigen Blätter, "die Rußland auf den Weg neuer politischer Bündnisse zu drängen suchen und Deutschland zum Zweck beständiger und scharfer Ausfälle machen, indem sie ihm in allen aktuellen Fragen der internationalen Politik hinterlistige Ränke zuschieben, was durch keinerlei positive Tatsachen begründet ist". ...zurück...

27 [1/617]Lord John Fisher, Memories and Records 1, 186 f. ...zurück...

28 [2/617]Vgl. Randbemerkung Wilhelm II.: "Wenn England uns nur seine Hand in Gnaden zu reichen beabsichtigt unter dem Hinweis, wir müßten unsere Flotte einschränken, so ist das eine bodenlose Unverschämtheit, die eine schwere Insulte für das deutsche Volk und seinen Kaiser in sich schließt. Mit demselben Recht können Frankreich und Rußland dann eine Einschränkung unserer Rüstungen zu Lande fordern. Sobald man unter irgendwelcher Firma einem fremden Staate erlaubt, in die eigenen Rüstungen hineinzureden, so dankt man ab, wie Portugal und Spanien." Große Politik 24, S. 104. ...zurück...

29 [1/618]Über die Besprechung in Kronberg die Berichte des Kaisers (von denen eine gewisse dramatische Übersteigerung abzuziehen sein mag) vom 11. und 13. August 1908: Große Politik 24, S. 122 ff. Die englischen Berichte: Brit. Dokum. 6, S. 287 - 331. Bülow fand am 22. September 1908 den mündlichen Bericht des Kaisers "weit ruhiger". ...zurück...

30 [2/618]Der Kaiser bezeichnete später das Vorschicken Hardinges als unkonstitutionell und verlangte sogar Bitte um Verzeihung, bevor man deutscherseits Vorschläge über eine Verhandlung entgegennehmen könne. ...zurück...

31 [3/618]Aehrenthal 15. August 1908. Öst.-Ung. Außenpol. 1, 37 f. (Der Bericht Hardinges, Brit. Dok. 5, 1381 ff. ist nicht so stark getönt). Sidney Lee, König Eduard VII; deutsche Ausgabe 2, 607. Kaiser Wilhelm II. nahm die österreichische Haltung sehr dankbar auf ("das tut einem wohl"). Die englische Diplomatie war nachher über ein Jahr lang bemüht, Gerüchte über eine Verstimmung des Königs und überhaupt über sein persönliches Eingreifen aus der Welt zu schaffen. Öst.-Ung. Außenpol. 1, 40. 64. 536 f. 848. 882; 2, 401. 424 ff. Am Ballhausplatz erhielt sich die Auffassung von einem Dienst, den man der deutschen Politik geleistet habe, vgl. die Denkschrift Szápárys vom 7. Dezember 1912, ebenda 4, 572. ...zurück...

32 [1/619]Aehrenthal an Bülow: 26. September 1908. Schoen an Bülow: 26. September 1908 (Große Politik 26, 1, S. 38, 42). Bülow hielt es für angezeigt, den Kaiser auf den Zusammenhang hinzuweisen: "Clemenceau sprach offenbar unter dem Eindruck dessen, was er in Karlsbad von König Eduard gehört hatte, und König Eduard stand unter dem Eindruck seines Besuchs in Friedrichshof und der dortigen Unterredung zwischen S. M. und Hardinge." Bülow an Wilhelm: 30. September 1908 (Große Politik 26, 1, S. 47). ...zurück...

33 [2/619]In diesem machtpolitischen Sinne antwortete Präsident Roosevelt im Mai 1910 in London auf die Frage: Warum bauen sie (die Deutschen) eine Flotte?: "Because every great Power that respects itself cannot afford to be dependent for its existence on the good will or momentary kindly disposition of this or that Power or group of Powers, whether they will attack it or leave it alone; it must be able to guard itself quite independently of the disposition of the feelings of the neighbours." Man versteht die Befriedigung, mit der der Kaiser diesen Ausspruch dem Reichskanzler meldete (Gr. Pol. 28, 327 f.). ...zurück...

34 [3/619]Vgl. Randbemerkung Wilhelms II.: (Die Reden) "...sind alle bedeutungslos, da sie alle eine Reduzierung unserer Flotte als Vorbedingung ihrer Freundschaft im Auge haben; und das werden wir nicht tun. Die Briten sollen sich nur klar sein, daß Krieg mit Deutschland den Verlust Indiens bedeute und damit den Weltkrieg." Trotha, Fritz von Holstein (1931) S. 83. ...zurück...

35 [1/620]Bülow an Kaiser Wilhelm II.: 26. August 1908. Dazu: Hammann, Bilder aus der letzten Kaiserzeit, S. 57 f. ...zurück...

36 [1/621]Vgl. die Briefe Bülows an Hammann vom 12. und 14. September und 2. Oktober 1908 (Hammann, Bilder aus der letzten Kaiserzeit, S. 50, 59). ...zurück...

37 [2/621]Aus den letzten Jahren der Reichskanzlerschaft Bülows stammt wohl sein Urteil über Tirpitz, der kein eigentlich politischer Kopf gewesen sei, da ihm der Sinn für Nuancen gefehlt habe: "Er ging zu oft davon aus, daß es nur zwei Wege gäbe. Es gibt dazwischen aber gewöhnlich auch Mittelwege, die, vorübergehend oder auch dauernd einzuschlagen, nützlich sein kann." Denkwürdigkeiten 1, S. 109. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte