Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 1: Das Deutsche Reich
unter Kaiser Wilhelm II. (1890 - 1909) (Forts.)
[606] 5. Die Bildung des Dreiverbandes
und die bosnische Krisis
(1906 - 1909).
Es war nur scheinbar ein Moment friedlichen Atemholens, als die zweite Haager
Konferenz im Sommer 1907 zusammentrat. Sie war im Verhältnis zu der
ersten Konferenz eher noch stärker politisiert, und der eigentliche Kampf
wird sich schon vor ihrem Zusammentritt, bei der Aufstellung der Tagesordnung,
abspielen. Insbesondere wird sich bemerkbar machen, daß sie auf dem
Hintergrunde der antideutschen Umgruppierung zusammentrat, die sich in Europa
vollzog: die verborgene Wechselwirkung, in der sie mit der
deutsch-englischen Spannung steht, wird daher ihr eigentliches Problem
darstellen.
Es setzte damit ein, daß England sich gewillt zeigte, im Gegensatz zu den
meisten Kontinentalmächten, die auf der ersten Konferenz unbestimmt
vertagte Rüstungsbeschränkung von neuem zur Verhandlung zu
bringen. Die deutsche Reichsregierung war zur Teilnahme nur dann bereit, wenn
diese Frage weiter ausgeschaltet blieb. Sie sprach in einem Promemoria vom 24.
März 1907 aus, sie habe "keine Formel zu finden vermocht, die geeignet
wäre, der verschiedenen Lage der einzelnen Länder sowie der
Verschiedenheit ihrer militärischen Organisation und wirtschaftlichen
Interessen auch nur annähernd Rechnung zu tragen und demnächst
als Grundlage für die internationale Abrüstung zu dienen". Dabei war
Bülow sich durchaus darüber klar, daß Deutschland, der
stärkste Militärstaat, nicht ohne Not das Odium auf sich laden
dürfe: "wir haben jedes Interesse daran, die Friedensbewegung vor den
Wagen unserer (Friedens-) Politik zu spannen, statt sie von anderen gegen uns
verwerten zu lassen."1 Allerdings war die englische Regierung
in der glücklichen Lage, in ihrer Mitte Anhänger humanitärer
Friedensbestrebungen als auch Vertreter einer machtpolitischen Staatsräson
aufweisen zu können: man sieht sie abwechselnd in die Arena steigen. Der
Premierminister Sir Henry
Campbell-Bannerman begann am 2. März 1907 mit einem
berühmten Friedensartikel in der Nation, den der Pariser
Temps ob seiner Phrasenhaftigkeit nicht scharf genug verurteilen konnte.
Er sprach als ehrlicher Idealist. Bald darauf sagte er Clemenceau ins Gesicht (zu
dessen Bestürzung), er glaube nicht, daß [607] die englische
öffentliche Meinung die Verwendung britischer Truppen auf dem
europäischen Festlande zulassen würde;2 er wußte tatsächlich weder
von der Fortdauer der von Grey - Haldane veranlaßten
militärischen Besprechungen,3 noch von einer Politik der
antideutschen Gruppierung. Als Bülow nun erfuhr, daß Grey die
"Beschränkung der Ausgaben für Rüstungen" (wie er sich
ausdrückte) wieder auf die Tagesordnung bringen wollte, verhehlte er sich
nicht, daß dieser Schritt seine Spitze gegen Deutschland richte.4 Doch gelang es nicht, unter der Hand
das britische Kabinett zum Verzicht auf seine Absicht zu veranlassen; man legte
vielmehr in London Wert darauf, eine deutsche Weigerung öffentlich zu
konstatieren und auch innerpolitisch (z. B. bei neuen Flottenausgaben) zu
verwerten. So ergab sich für den deutschen Reichskanzler doch die
Notwendigkeit, in einer Reichstagsrede vom 30. April die deutsche Position in der
Rüstungsbeschränkung grundsätzlich klarzustellen. In feiner
Weise flocht Bülow ein, man habe ihm wohl geraten, den kriegerischen
Schein zu vermeiden und an der Diskussion teilzunehmen, aber er glaube nicht,
"daß wir durch eine solche Politik einen besseren Schutz gegen ungerechte
Verdächtigungen unserer Friedensliebe, eine aufrichtigere Anerkennung der
Schwierigkeiten unserer geographischen Lage und anderer Umstände, die
uns zu Schutz und Wehr nötigen, erreicht haben würden". Die
"Umstände" mochten sich auf die europäische Umgruppierung
beziehen. Grey konnte sich nicht genugtun, den günstigen Eindruck dieser
Rede zu rühmen. Nachdem sich der Deutsche vor der Welt bekannt hatte,
konnte Campbell-Bannerman am 10. Mai wieder das Wort ergreifen
und - das Friedensgesicht Englands
wahrend - das tiefe Bedauern seiner Regierung aussprechen, daß
Deutschland sich der Erörterung der Rüstungsbeschränkung
versage.
Wenn man sich an diesem Beispiel vergegenwärtigt, wie tief diese
Diskussionen mit taktischen Hintergedanken getränkt sind, wird man es
nicht für ein ergiebiges Geschäft halten, das Verfahren der deutschen
Vertretung auf der Friedenskonferenz, die in den gewandten Händen des
Herrn von Marschall lag, unter dem Gesichtspunkt ihres Dienstes am Weltfrieden
oder gar der Vermeidbarkeit des Weltkrieges nachzuprüfen.5 In der Rüstungsfrage wäre
immerhin für die deutsche Taktik, ebenso wie im Jahre 1899, das
Versäumnis einer glänzenden Gelegenheit zu beklagen, "vor dem
Forum der Welt durch unanfechtbare Zahlen zu beweisen, wie gering die
Anspannung der Wehrkraft Deutschlands, von
Österreich-Ungarn ganz zu schweigen, gegenüber der in Frankreich
wäre".6
[608] Wenn Deutschland sich
schon im Jahre 1899 an der Errichtung eines Schiedshofes beteiligt hatte, so gab
es diese grundsätzliche Haltung auch 1907 nicht auf. Es lehnte zwar das
Obligatorium ab, und zwar auf Grund der schlechten Erfahrungen, die man
inzwischen gemacht hatte, aber gab dafür den Anstoß zu dem
Entwurf eines internationalen Prisenhofes, "der vollendetsten Ausgestaltung des
Schiedsgerichtsgedankens, der jemals in der Welt hervorgetreten ist und damit
zugleich der höchsten theoretischen Entwicklung des Völkerrechts
seit Hugo Grotius".7
Im Anschluß an die Friedenskonferenz sei hier noch der - durch den
norwegischen Integritätsvertrag vom 2. November 1907
ausgelöste - Abschluß des Nordseeabkommens (zwischen
Deutschland, Rußland, Schweden und Dänemark) und des
Ostseeabkommens (zwischen Deutschland, England, Frankreich, Holland und
Dänemark) erwähnt. Vom ersten Moment an trug die deutsche
Politik Sorge dafür, in dem Nordseeabkommen die Aufnahme von Holland
und Dänemark offenzuhalten. Es heißt in einem deutschen
Aktenstück: "durch die Garantie des status quo in Holland
würde ein Moment des Mißtrauens gegen uns (unsere vermeintlichen
Annexionsgelüste betreffs Holland) beseitigt werden, wir würden der
Welt einen neuen Beweis unserer friedlichen, nicht auf territoriale Expansion
gerichteten Politik geben".8
Während die Welt des Nordens gleichsam gegen jede
Friedensstörung vertraglich abgeriegelt wurde, sollte der Südosten
Europas allmählich in seine alte Funktion als gefährlichstes
Tiefdruckgebiet eintreten.
Im Laufe der Marokkokrisis hatte die deutsche Politik vergeblich der
englisch-französischen Entente den Weg nach Rußland zu verlegen
gesucht. Der Ausgang zeigte, daß im Ernstfalle die Entfernung zwischen
Rußland und der englisch-französischen Entente geringer und leichter
zu überwinden war, als die Entfernung zwischen Rußland und
Deutschland oder dem Dreibunde. So wuchs mit einer gewissen
Naturnotwendigkeit aus jenem Zwischenspiel der dramatisch bewegten
Vorstöße und Annäherungen die allmählich und sicher
fortschreitende
englisch-russische Verständigung hervor.
Das Jahr dieser Verhandlungen (Juni 1906 bis August 1907) ist den beiden Jahren
der Verhandlungen über die
englisch-französische Entente (Juni 1902 bis April 1904) vergleichbar.
Vergleichbar in den sachlichen Schwierigkeiten, in der Ausdehnung und auch in
den Hemmungen. Vergleichbar in den
Begleit- [609] erscheinungen in der
Presse, welche die zeitweiligen Stockungen durch eine lebendige Front gegen eine
dritte Macht zu überwinden suchen. Vergleichbar schließlich durch
die Aufgaben, die diese Vorgänge der deutschen Politik stellen.
Auch eine russisch-englische Verständigung hatte, wie vordem die
englisch-französische, ihre Abmachungen, die nur die beiden Partner
angingen, und konnte daneben einen Sinn haben, der eine Lebensfrage für
Deutschland in sich schloß - gerade nach dem ganzen Vorspiel, das
einem Wettlauf um die Gunst Rußlands gleichgesehen hatte, war schon
anzunehmen, daß in dem allgemeinen politischen Zusammenschluß
der drei Großmächte der eigentliche Schwerpunkt liegen werde.
Als der neue russische Minister Iswolski im Mai 1906 in Berlin ankündigte,
daß er nach dem Abschluß des neuen Verfassungswerkes an eine
Verhandlung mit England herantreten werde, deren Gegenstand die Türkei,
Persien, Afghanistan und Tibet umfasse, erläuterte ihm Bülow die
deutsche Stellung: "Wir werden ein Arrangement zwischen den beiden
Mächten begrüßen, soweit es ausschließlich
russisch-englische Interessen zum Gegenstande hat und durch Beseitigung
russisch-englischer Reibungsflächen dem allgemeinen Frieden dient. Wir
erwarten aber von der neuen Regierung, daß sie in Fragen, welche deutsche
Interessen berühren, nicht ohne unser Zutun entscheidet und uns nicht vor
ein fait accompli stellt. Als eine solche Frage betrachten wir die
Bagdadbahn, da sie durch Konzession des Sultans deutsches Wertobjekt
geworden ist."9 Dieser Auffassung stimmte Iswolski
zu.
Das war ein eindeutiges Programm, aus dem eine deutsche
Gegensätzlichkeit gegen die Übereinkunft an sich nicht
herauszulesen war. Aber die Dinge dieser Welt verlaufen in der Regel nicht so
reibungslos, wie sie der Sache nach sehr wohl verlaufen könnten.
Während der ganzen Verhandlungszeit hörte die Presse in England
und Rußland nicht auf, deutschfeindliche Artikel zu bringen, um der
Öffentlichkeit auf beiden Seiten die neue Annäherung mundgerecht
zu machen. Bei jeder Verzögerung der Verhandlungen tauchte die
böswillige Behauptung auf, die deutsche Regierung intrigiere gegen den
Abschluß eines Vertrages. Als die Verhandlungen sich dem Ende
näherten, lautete hüben wie drüben das Schlagwort: England
sei zu diesem Vertrage nicht veranlaßt worden durch die eingebildeten
Gefahren in Asien, sondern durch das Wachsen einer drohenden Macht in Europa.
Die Bedeutung des Abkommens liege daher nicht so sehr in Asien wie in Europa,
wo seine Folgen sich auf längere Zeit hinaus bemerkbar machen
dürften. Der Wunsch nach einer freundschaftlichen Abrechnung mit
Rußland sei England aus diesem Grunde nahegelegt worden: der englische
Einfluß in Europa [610] werde nach
Beseitigung der Reibungsflächen mit Rußland steigen,10 und Rußland gewinne
Muße zum Wiederaufbau, ohne von einer europäischen Macht
hierbei gestört zu werden.10
Ein so riesiger Machtkörper wie das russische Weltreich lebt nicht, ohne
dem Schwergewicht seiner Masse eine vorwiegende dynamische
Ausrichtung zu geben. Nachdem das grenzenlose Ausgreifen im fernen Osten zum
Stillstand und Rückzug genötigt worden war, nachdem man im
mittleren Osten durch Ausgleich mit England die Reibungsflächen
geglättet, mußten naturgemäß die aktiven Kräfte
sich wieder dem altgewohnten Schauplatz des nahen Ostens zuwenden, der so
lange - zumal durch die Abkommen mit
Österreich-Ungarn von 1897 und
1903 - unter eine Glasglocke gestellt worden war: hier vermochte das
schwer geschädigte Selbstbewußtsein der Russen sich am ehesten
wieder aufzurichten. Und der neue Partner, mit dem man soeben alte weltweite
Gegnerschaften in Asien friedlich zur Ruhe gebracht hatte, setzte alles daran, das
Gesicht Rußlands wieder nach Europa (und das hieß nach dem
Balkan) zurückzuwenden.
[608a]
Reichskanzler Fürst Bülow und
Außenminister Iswolski
bei der Kaiserzusammenkunft Swinemünde 1907.
|
Die Witterung des kommenden Umschlages liegt schon im Jahre 1907 über
der Balkanhalbinsel. Überall regen sich unterirdische Kräfte, setzen
sich Interessen in Bewegung, die bisher nach großmächtlicher
Übereinkunft geschlummert hatten. Der allgemeine Eindruck war,
daß Rußland seine lange unterbrochene herkömmliche
Orientpolitik wieder aufgenommen habe und dabei vor internationalen
Verträgen nicht stehenbleiben werde. An dieser Stelle setzte der neue
Lenker der österreichisch-ungarischen Außenpolitik ein, Freiherr von
Aehrenthal, der im Oktober 1906 an die Stelle des Grafen Goluchowski getreten
war. Mit dem ehemaligen Botschafter in Petersburg, der dort die schweren Zeiten
Rußlands mitdurchlebt hatte, trat an die Spitze der
österreichisch-ungarischen Politik ein Mann, der die
großmächtlichen Bedürfnisse und Sorgen der
Doppelmonarchie - wie sie auch in der starken Seele des
Erzherzog-Thronfolgers Franz Ferdinand und in dem feurigen Willen des
Generalstabschefs Freiherrn
Conrad von Hötzendorf
lebten - wieder mit stärkerer Betonung zur Geltung zu bringen
entschlossen war. Ehrgeizig, tatkräftig und gewandt, eine starke und doch
wieder problematische Figur in der Schicksalsgeschichte seines
Staates - jedenfalls auch für den deutschen Verbündeten eine
neue und eigenwillige Verkörperung der Bündnistreue.11
Ende 1907 unterbreitete er der Pforte den Wunsch, Vorarbeiten für einen
Bahnbau zu unternehmen, der von Bosnien in
das - von Österreich besetzte, aber zur Türkei
gehörige - Gebiet des Sandschak Novipasar (aus wirtschaftlichen
Gründen) führen sollte. In einer berühmt gewordenen
Delegationsrede [611] vom 27. Januar 1908
kündigte er an, daß der Plan darauf hinauslaufe, einen
Anschluß der bosnischen Bahnen an das türkische und griechische
Bahnnetz zu gewinnen - wie es der Sprache dieser Zeit gemäß
war, fehlte es sogar nicht an weitgreifenden Wendungen, die von einem
kürzesten Bahnweg
Wien - Budapest - Serajewo -
Athen - Piräus, von Zentraleuropa nach Ägypten und Indien
sprachen. Wenn solche Zukunftsträumereien auch wirklich gute Weile
hatten, so reichten sie doch aus, um Mißtrauen, Widerstand und
Gegenpläne an mehr als einer Stelle auszulösen. In Rußland
zeigte man sich sofort geneigt, über den Inhalt des eben geschlossenen
Abkommens hinaus eine Verständigung mit England auch über
Balkanfragen zu suchen. Iswolski eröffnete am 2. Februar eine
denkwürdige Sitzung des Ministerrates12 mit der verlockenden Aussicht einer
auch militärisch gemeinsamen
englisch-russischen aktiven Außenpolitik, die zu glänzenden
Ergebnissen und zur Verwirklichung der historischen Aufgaben Rußlands
im nahen Osten führen könne. Schon trat er mit Worten dem
Gedanken einer erneuten Aufrollung der ganzen türkischen Frage
näher. Das waren alles zunächst nur Zukunftsbilder, aber sie deuteten
auf eine Umgestaltung der europäischen Politik, aus der dieser erregende
Fragenkreis einst, in den ersten Jahren der russischen Ostasienpolitik,
herausgenommen worden war - jetzt tauchten am Horizonte wieder die
Kräfte auf, die bis zum Anfange der neunziger Jahre die russische Politik
gelenkt hatten. Es lag auf der Hand, daß darüber jene
russisch-österreichische Verbundenheit, die auf der Erhaltung des status
quo geruht hatte, in die Brüche gehen müsse. Als eine russische
Note vom 16. März 1908 in der Frage der mazedonischen Reformen allen
Signatarmächten des Berliner Kongresses die gleichen Rechte
einzuräumen wünschte, deutete sie an, daß sie die
Gemeinschaft der Vorhand mit Österreich-Ungarn aufgebe und damit eine
neue Verhandlungsgrundlage zu schaffen gedenke. Aehrenthal meinte dann nur
feststellen zu müssen, daß Rußland den Ententegedanken mit
Österreich endgültig fallen lasse.13 Es wurde in Wien als ein Zeichen der
Zeit gedeutet, wenn die großserbische Bewegung, die in Bosnien und der
Herzegowina neben dem kroatischen Element an Boden gewonnen hatte, auch in
der russischen Presse eine auffallende Begünstigung zu finden begann.
Während dieser allmählich sichtbarer werdenden Ansätze auf
dem Balkan, war zwischen England und Deutschland fast unerwartet ein tiefes
Mißtrauen, ausgelöst durch die Flottenrüstung, zum Ausdruck
gekommen.
Die ersten deutschen Flottenprogramme hatten in England niemals eine
sonderliche Beachtung und Beunruhigung hervorgerufen, da die
Möglichkeit eines Wettbewerbes außer jeder Berechnung lag; die
brutalen Drohungen des Februar 1905 kennzeichneten das unbedingte
Überlegenheitsgefühl. Als dann [612] vollends der erste
englische Dreadnought im Frühjahr 1906 in Dienst gestellt wurde, glaubte
man die deutsche Gegnerschaft wie auch jede andere für immer hinter sich
zu lassen; man rechnete damit, daß die hohen Kosten, vor allem aber auch
die Abmessungen des Kaiser-Wilhelm-Kanals und der Docks die Deutschen
dauernd verhindern würden, auf diesem Wege nachzukommen.14 Diese Rechnung, für die somit
die englische Überlegenheit als ohne erhebliche Finanzlasten gesichert galt,
sollte sich als ein Fehler von verhängnisvoller Tragweite herausstellen.
Die deutsche Marine war zunächst durch den Bau des neuen
stärkeren Typs, der eine außerordentliche Entwertung der
älteren Schiffsarten zur Folge hatte, so überrascht, daß zwei
Jahre lang, vom Sommer 1905 bis zum Juli 1907 (in der Zeit der
Marokkospannung und in den Tagen von Algeciras) in Deutschland
überhaupt kein Kriegsschiff aufgelegt wurde; dann erst nahm sie, auf Grund
einer im November 1905 eingebrachten und im Mai 1906 vom Reichstag
angenommenen Flottenvorlage den Wettkampf auf. Wohl konnte
Sir Edward Grey am 10. Mai 1906 die stolzen Worte sprechen, er glaube,
es habe nie eine Zeit gegeben, in der die
verhältnis- und vergleichsmäßige Überlegenheit der
britischen Flotte größer gewesen sei als im gegenwärtigen
Augenblick. Noch im Januar 1907 schrieb ein von Fisher unterrichteter
Marinefachmann "The German Naval Policy has completely broken
down" - eben wegen der Dreadnoughts. Aber wenn Deutschland trotz
aller Schwierigkeiten dazu überging, Schiffe der gleichen Stärke zu
bauen, dann war mit diesem neuen Typ, zumal für den Fall, daß alle
Seemächte denselben Weg beschritten, ein neuer Ausgangspunkt des
Wettbewerbes geschaffen, welcher gerade der ältesten und
größten unter ihnen gefährlich werden konnte: wider Erwarten
sollte sich die zur Vernichtung des Gegners bestimmte Waffe wie in der Sage auf
den Schleudernden zurückwenden.15 Als Deutschland, nach langer
Vorbereitung, im Juli 1907 zwei und im August 1907 wieder zwei Dreadnoughts
auflegte (die im Mai bzw. September 1910 fertig sein sollten), begann sich das
Bild zu verschieben; schon in der Parlamentsdebatte vom 28. Juli 1907 gestand
Balfour, der Führer der Opposition, offen den Fehler der Rechnung ein,
ohne daß die Regierung widersprochen hätte. Im Augenblick
allerdings war der Vorsprung der britischen Flotte noch ganz erdrückend.
Der Admiral Sir John Fisher, der erste Seelord, konnte sich König
Eduard gegenüber im Herbst 1907 rühmen, daß Deutschland
durch den Dreadnoughtbau gelähmt sei, denn die Wahrheit [613] sei jetzt: England habe
sieben Dreadnoughts und drei Dreadnought-Schlachtkreuzer, im ganzen zehn
Dreadnoughts, gebaut und im Bau, während Deutschland im März, ja
im Mai des Jahres noch keinen einzigen Dreadnought aufgelegt habe: die
englische Flotte sei daher, darin habe Tirpitz
recht, viermal so stark wie die
deutsche. Dieser augenblicklichen Überlegenheit entsprach es, wenn
Sir John Fisher nur einen einzigen Schluß daraus gezogen wissen
wollte. Er schlug dem König im März 1908 vor, die
Überrumpelung Kopenhagens durch Nelson zu erneuern und die deutsche
Flotte abzufassen - "aber ach, wir hatten keinen Pitt, keinen Bismarck,
keinen Gambetta",16 grollte der gewalthungrige Seemann
noch lange nachher.
Dieser piratenhafte Präventivgedanke ließ sich sachlich leicht
begründen. Wenn die Deutschen tatsächlich nach ihrem
umgearbeiteten Flottenplan dazu übergingen, jährlich mehrere
Schiffe des neuen Typs aufzulegen, dann mußte sich das
Stärkeverhältnis in wenigen Jahren verschieben. So geschah es,
daß diese fernliegende Möglichkeit in der Zeit der Entspannung nach
Algeciras von neuem Gefühle der "Beunruhigung" auslöste. Schon
seit dem Januar 1907 begannen die englischen Staatsmänner in ihren
Gesprächen mit dem deutschen Botschafter diese neue Quelle des
Mißtrauens zu beklagen und - was im Augenblicke nur als
unerhörte Verzerrung der Wirklichkeit erscheinen
konnte - sich auf die Furcht vor dem Anwachsen der deutschen Flotte zu
berufen.17 Mit einem Schlage hatte sich eine
Panik der englischen öffentlichen Meinung bemächtigt, von einer
skrupellosen Presse aufgepeitscht, aber in der Tiefe des Volkes widerhallend. Die
deutsche Flottenpropaganda, zumal unter der zeitweilig ganz extremen
Führung des Flottenvereins durch General Keim, tat an unvorsichtigen
Übertreibungen und Herausforderungen nicht wenig, um den englischen
Flottenagitatoren das nötige Material zu verschaffen und in ihnen
verwandte Leidenschaften und große Worte zu entzünden. Die
Erregtheit verschärfte sich, als der Bundesrat im November 1907 die
Einbringung einer weiteren Flottennovelle genehmigte,
die - neben einer Herabsetzung der Lebensdauer der Linienschiffe von 25
auf 20 Jahre - die Verteilung der Ersatzbauten für die Jahre 1908 bis
1917 vornahm.18 Danach war für die Jahre 1908
bis 1911 die Auflegung von jährlich drei Linienschiffen und einem
Panzerkreuzer zu erwarten. Der Gedanke schon warf die englische
öffentliche Meinung aus dem Geleise ruhiger Überlegung.
Düster schien das Bild der Zukunft einer dunklen Wolke gleich mit
Windeseile heraufzuziehen, und der Outlook sah, mit unsinniger
Übertreibung, schon im Ja- [614] nuar 1908 den
Augenblick nahe, in dem das Schwergewicht unter den Seemächten in
andere Hände übergehe - England müsse ohne
unnötige Worte und Lamentationen seine ganze Wachsamkeit und Energie
der Tatsache widmen, daß Deutschland die englische Vorherrschaft zur See
bedrohe wie noch keine Macht in den letzten zweihundert Jahren.
Gleich darauf sprachen Grey und Lord Tweedmouth, seit Dezember 1905 der
erste Lord der Admiralität, von der Notwendigkeit einer
Flottenverstärkung. Die Unruhe in England stieg von Tag zu Tag.19 Der Kaiser hatte den
unglücklichen Einfall, in einem Schreiben, das er am 16. Februar, ohne
dem Reichskanzler ein Wort zu sagen, an Lord Tweedmouth richtete, die
Irrtümer richtigzustellen, von denen die öffentliche Meinung
erfüllt war, und sich feierlich dagegen zu verwahren, daß die
deutsche Flotte gegen England, als eine Herausforderung der englischen
Vorherrschaft zur See gebaut werde.20 Was halfen aber alle guten
Gründe, wenn die Form dieses unkonstitutionellen Belehrungsversuches bei
dem Könige wie bei dem Volke Englands peinliches Empfinden hervorrief
und den Empfänger des Schreibens, der im Einverständnis mit Grey
höflich, aber ausweichend geantwortet hatte, in seinem Amte
unmöglich machte. Es gab nur noch zwei Parteien in England: die eine
glaubte an die deutsche Angriffsabsicht, die andere nur an die Gefahr eines
Konflikts; daß diese Gefahr bestehe, darin schienen beide Parteien einig zu
sein.21 Es war in diesen Tagen, daß
Sir John Fisher seiner Kopenhagener Phantasie vor dem Könige
freien Lauf ließ. Dagegen war Bülow durchaus im Recht, wenn er am
24. März 1908 im Reichstag den rein defensiven Charakter der deutschen
Flottenpolitik "gegenüber den unaufhörlichen Versuchen, uns
England gegenüber aggressive Absichten und Pläne anzudichten",
auf das schärfste betonte; da die Deutschen mit England in Ruhe und
Frieden zu leben wünschten, empfänden sie es bitter, daß ein
Teil der englischen Publizistik immer wieder von der "deutschen Gefahr" spreche,
"obwohl die englische Flotte unserer Flotte mehrfach überlegen ist, obwohl
andere Länder stärkere Flotten besitzen als wir und mit nicht
geringerem Eifer an dem Ausbau ihrer Flotte arbeiten als wir." Er nahm noch den
Standpunkt ein: es ist unser gutes Recht.
In ein neues Stadium trat die internationale Seite der Flottenfrage, als
Sir Edward Grey am 14. Mai 1908 erklärte: der englische
Flottenaufwand sei von den Aufwendungen anderer Flotten abhängig;
England sei bereit, die Frage mit anderen Nationen zu diskutieren, wenn diese
gleichfalls die gegenseitige Abhängigkeit der Rüstungen
zugäben.22 Damit war eine diplomatische
Aus- [615] einandersetzung
zwischen Deutschland und England über die Flottenfrage eingeleitet.
Diese Auseinandersetzung hatte anscheinend eine mehr technische und eine rein
machtpolitische Seite. Auf dem ersten Gebiete gab es
Mißverständnisse, die an sich hätten beseitigt werden
können. Schon aus einer privaten Besprechung von Sir Ernest Cassel
mit Albert Ballin hatte sich ergeben, daß die Engländer zu wissen
glaubten, daß die Verstärkungen der deutschen Flotte erheblich
größer seien, als sie in den amtlichen Darstellungen erschienen; sie
meinten, auf deutschen Werften mit Hilfe ihrer Spionage (aus deren
Tätigkeit amtlich kein Hehl gemacht wurde) abweichende Feststellungen
gemacht zu haben. Bei den späteren Besprechungen stellte sich sogar
heraus, daß die amtlichen Kreise Londons in allem Ernst fürchteten,
daß Deutschland schon im Jahre 1912 den Engländern an
Dreadnoughts gleich oder überlegen sein würde. Außerdem
sahen sie in der Konzentration der deutschen Flotte in der Nordsee eine
unmittelbare Bedrohung; während die Deutschen geltend machten,
daß sie - nicht im Besitz von Flottenstationen in anderen
Meeren - zu solchen Maßnahmen genötigt seien. Sie
hätten sich auch darauf berufen können, daß das englische
Spiel mit Überfallsplänen eben diese Konzentration für sie
zum Gebot mache. Alle technischen Fragen gingen, sobald man sie nur
berührte, ohne weiteres in Machtfragen über.
Die Engländer erklärten, sie müßten die
Aufrechterhaltung der Oberherrschaft zur See als Lebensfrage vertreten; die
Befürchtung wachse, daß diese Oberherrschaft zur See
gefährdet sei; dann würden sie gezwungen sein, ein neues
Flottenprogramm aufzustellen, mit allen Steuern und Lasten, die das Volk
erbittern würden. Dagegen glaubte sich England jetzt stark genug,
vermöge seiner Ententen, und hielt auf der andern Seite die Machtstellung
Deutschlands für so weit vermindert,23 daß man eine Aussprache
verlangen durfte, deren Endziel der freiwillige Verzicht auf den geplanten
Umfang und das Tempo seiner Seerüstung sein mußte.24
Gerade in diesem Augenblick hatte König Eduard VII. der
veränderten europäischen Lage in seiner Zusammenkunft mit dem Zaren Nikolaus II. in Reval (9./10. Juni 1908) einen wohlberechneten
Ausdruck gegeben. Die Zusammenkunft ist in den verschiedenen Lagern sehr
verschieden beurteilt worden. Auf deutscher Seite, wo man dem Ereignis mit
starkem Mißtrauen entgegengesehen [616] hatte,25 überwog die Ansicht von ihrem
ausgesprochen deutschfeindlichen Charakter, ja sie erweiterte sich, ohne
bestimmtes Belegmaterial vorzubringen, zu der Vorstellung von einer dunklen
Verschwörung. Dagegen hat der Zar dem Kaiser sofort versichert,
politische Gegenstände seien kaum berührt worden, und Iswolski bot
den deutschen Diplomaten immer wieder sein Ehrenwort an, daß in Reval
keine weiteren politischen Vereinbarungen getroffen seien; auf diesen Ton sind
auch die englischen Darstellungen gestimmt. Die Aussagen der
Nächstbeteiligten sind natürlich nicht gelogen, aber ebensowenig
wahr. Daß die politischen Gespräche alle schwebenden Fragen
berührten - darunter auch die mazedonische Reformfrage, auf die
noch zurückzukommen sein
wird, - verstand sich von selbst. Es kommt aber nicht nur darauf an, ob
fertige politische Abmachungen aus den Gesprächen hervorgingen, sondern
auf die Tendenz der Anregungen und Beeinflussungen, die auf englischer Seite
ihren Ursprung nahmen und in die russischen Köpfe sanken. Die Russen
waren gewiß mit der Absicht gekommen, ihre Beziehungen zu Deutschland
nicht stören zu lassen,26 aber die Engländer waren
bemüht, ihren neuen Freunden (mit denen sie bisher nur durch die
mittelasiatische Entente verbunden waren) den Gesichtskreis nach Europa hin in
ihrer Weise wieder zu erweitern. Wohl sprach auch Hardinge zu Iswolski von
seiner Absicht, gute Beziehungen zu Deutschland zu pflegen, aber er setzte mit
scharfer Betonung (sowie er auch schon zu Clemenceau gesprochen hatte) hinzu:
"Trotzdem kann man sich nicht der Einsicht verschließen, daß, wenn
Deutschland in demselben beschleunigten Tempo seine Rüstungen zur See
fortsetzen wird, in sieben oder acht Jahren in Europa eine äußerst
beunruhigende Lage entstehen
kann - dann wird zweifelsohne Rußland der Schiedsrichter der Lage
sein; und aus diesem Grunde wünschen wir im Interesse des Friedens und
der Erhaltung des Gleichgewichts, daß Rußland zu Lande und zu
Wasser möglich stark ist." Die Aussicht mochte den Russen in ihrem
damaligen Machtzustande wohltun, sie wußten, daß diese Formel
nichts anderes besagte als: "wir brauchen ein starkes Rußland gegen
Deutschland." Ein derber Seemann wie Sir John Fisher vermochte den
Gedanken noch etwas deutlicher auszudrücken. Er saß beim Diner
zwischen Iswolski und Stolypin und antwortete auf die russische Frage, was
Rußland vor allen Dingen jetzt brauche, nicht etwa, was man von ihm
erwarten konnte: Kriegsschiffe, sondern gab den bedeutungsschweren Bescheid:
"Eure Westgrenze ist entblößt von Truppen und Eure Magazine sind
[617] leer. Füllt sie auf
und dann sprecht von Flotte." Der Engländer erinnerte an Kuropatkins
Wort: "Die Grundlage von Rußlands Sicherheit ist seine Westgrenze."27 In seine eigene politische Sprache
übertragen, lautete es: ein möglichst starker russischer Druck auf die
deutsche Ostgrenze liegt im englischen Interesse. Wieder hatte der englische
Versucher den hohen Berg bestiegen und sprach vorsichtig und unverbindlich von
den Schätzen der Erde. Für die aufhorchenden Russen ergab sich
zweierlei: der Engländer brauchte die Karte der russischen Macht in seiner
beginnenden Flottenauseinandersetzung mit Deutschland, er war dafür
bereit, jede Erneuerung einer aktiven
Balkanpolitik - und auch davon war in Reval die
Rede! - selbst wenn sie zu schärferem Gegensatz zu
Österreich und Deutschland führen
sollte - wohlwollend zu unterstützen.
Wenige Wochen nach dem Vorspiel in Reval begann die englische Politik sich
ihrem Hauptgegenstande, mit einer ineinandergreifenden Kombination von
einzelnen Schritten zu nähern. Zunächst waren es, absichtlich
zusammen operierend, Sir Edward Grey und Lloyd George, die am 14. Juli
1908 die Diskussion mit dem deutschen Botschafter über die Flottenfrage
eröffneten, die zwischen England und Deutschland stehe. Die englischen
Flottenausgaben gingen wegen des deutschen Flottenprogramms und der neuen
Beschleunigung des Tempos derart in die Höhe, daß die Beziehungen
sich während der Dauer dieser Konkurrenz nicht bessern könnten.
Jeder Engländer würde seinen letzten Pfennig dransetzen, um die
Überlegenheit zur See zu wahren, weil von ihr nicht nur die Weltstellung
Englands, sondern auch seine Existenz als unabhängiger Staat
abhänge. Für England sei eine mächtige deutsche Flotte, mit
einer noch mächtigeren Armee im Hintergrunde, eine reale Gefahr.
Besonders der Schatzkanzler Lloyd George stellte das weitgehendste
Entgegenkommen bei der Schaffung einer gemeinsamen Basis für die
beiderseitige Einschränkung des Flottenbaus in Aussicht. Der Kaiser sah
schon in dieser ersten Sondierung eine Anmaßung. In heftige Erregung
versetzt, wollte er unter keinen Umständen von einer Flottendiskussion, als
einer Versündigung an einem selbständigen und ehrliebenden Staat,
etwas wissen,28 und redete sich ein, daß er ein
amtliches Vorgehen auf dieser Linie als eine Kriegserklärung auffassen
müsse. Aber das gefährliche Thema schien in den Mittelpunkt des
öffentlichen Lebens in England gerückt zu sein, und
verantwortungsvolle Staatsmänner, wie Lord Cromer, begannen ohne
Scheu von der Kriegsgefahr zu sprechen.
[618] Der zweite
Vorstoß ging auf die Person des Kaisers selbst und erfolgte bei einem
Besuch, den König Eduard VII., begleitet von dem
Unterstaatssekretär Sir Charles Hardinge und dem Botschafter
Sir Frank Lascelles, ihm in Kronberg im Taunus abstattete.29 Ursprünglich hatte der
König selbst das Flottengespräch führen wollen, dann
überließ
er - was der Form nicht recht entsprach30 - Hardinge die schwierige
Aufgabe. Der Kaiser gab sich zunächst alle Mühe, die
Mißverständnisse aufzuklären, durch die, wie Hardinge klagte,
die schwere Beunruhigung der Nation so hoch gesteigert sei. Aber der
Engländer ließ nicht locker, sondern kam immer wieder darauf
zurück, dieser Konkurrenzbauerei müsse ein Ende gemacht werden,
es müsse ein Arrangement getroffen werden, wonach das Bautempo
verlangsamt werde. Er ließ sich zu der ganz kategorischen Fragestellung
verleiten: Könnt ihr nicht eine Pause in eurem Schiffsbau eintreten lassen?
Oder weniger Schiffe bauen? Als dann der Kaiser den definitiven Charakter der
deutschen Seerüstung erläuterte, kam er trotzdem auf seine
Alternative zurück: "Ihr müßt eine Pause eintreten lassen oder
weniger bauen." Darauf der Kaiser, erregt über die direkte Form der
Pression: "Dann werden wir fechten, denn es ist eine Frage der nationalen Ehre
und Würde." Das Gleichgewicht der Unterhaltung wurde nach diesem
Zusammenstoß wieder hergestellt, aber der König und sein Begleiter
verließen Kronberg mit dem Gefühl, mit diesem Vorstoß nichts
erreicht zu haben. Sie unternahmen gleich darauf einen noch bedenklicheren
Schritt, indem sie den Besuch, den der König dem Kaiser Franz Joseph in
Ischl am 12./13. August abstattete, zu Klagen über die Gefährlichkeit
der deutschen Flottenrüstung benutzten. Die Anregung des Königs,
Franz Joseph möge seine guten Dienste leihen, um seinen
Verbündeten von dieser Gefahr zu überzeugen, wurde von dem alten
Habsburger völlig überhört. Und ebensowenig ging
Aehrenthal auf die Anklage Hardinges ein; er fand sogar das Verhalten Kaiser
Wilhelms nicht überraschend, da die erfolgreiche Ententepolitik des
Königs, die doch für Deutschland eine unangenehme Lage schaffe,
ihm ein Einlenken schwer mache, und auch er bekannte sich, wenn auch als
stolzer Österreicher, der seinen eigenen Weg gehe, zum
unverbrüchlichen Festhalten am Bündnis.31 Als König Eduard gleich darauf
in Karlsbad mit [619] M. Clemenceau
zusammentraf, machte er jedenfalls kein Hehl aus seiner tiefen Verstimmung, und
Clemenceau erging sich bald in pessimistischen Reden, daß er den Krieg
zwischen Deutschland und England für unvermeidlich halte und daß
dann - so spann er den Gedanken
weiter - die Gefahr bestehe, daß Deutschland sich mit aller Wucht
auf Frankreich werfen würde.32
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Man kann begreifen, daß der Kaiser sich zunächst auf den
Standpunkt stellte, mit dem Flottenbau von einem Recht der
Souveränität Gebrauch zu machen und sich in die Ausübung
dieses Rechts nicht hereinreden zu lassen, auf jede Gefahr hin.33 Aber dieser formalistische
Gesichtspunkt hielt nicht mehr vor, wenn eine andere Großmacht, die in der
Aufrechterhaltung ihrer Vormacht zur See eine Lebensfrage erblickte, mit dem
ganzen ihr innewohnenden Schwergewicht zu erkennen gab, sie fühle sich
durch das Tempo der deutschen Seerüstung bedroht. Auch Holstein wollte
die Frage nicht so gestellt wissen, wie sie von der deutschen Flottenpropaganda
bis zur Ermüdung vorgetragen wurde: wer in der Welt will denn dem
großen deutschen Volke verbieten, eine Flotte zu bauen!34 Für jedes politische Denken
mußte die Frage so formuliert werden: Ist es praktisch für den
Weltfrieden, neben der stärksten Armee eine große Flotte zu besitzen,
welche den Deutschen sehr wahrscheinlich außer den Gegnern zu Lande
noch die stärkste Seemacht zum Feind auf Leben und Tod machen kann?
Wenn daher die stärkste Seemacht den Antrag stellte, über Tempo
und Ausmaß der Seerüstung in Verhandlung zu treten, dann konnte
man nicht einfach ausweichen.
Es war nicht ausgeschlossen, daß England, das bereits ein System von
Ententen geschaffen hatte, um Deutschland überall den Weg zu verlegen,
ihm schließlich zu- [620] sammen mit seinen
Freunden die Frage vorlegen werde, wann es in seiner Seerüstung Halt
machen werde. Selbst Albert Ballin wollte bei seinen englischen Freunden keinen
Zweifel darüber aufkommen lassen, daß eine solche Anfrage der
Krieg sein würde - Deutschland werde sich jedem derartigen
Versuche einer Einmischung mit aller Kraft widersetzen. Aber wenn es auch dazu
nicht kam, so war doch damit zu rechnen, daß England das politische
Instrument seiner Entente zu starkem und feindlichem Druck auf die Mitte
Europas benutzen würde.
Jedenfalls sah der Reichskanzler die Stunde gekommen, auch bei dem Kaiser
dieses politische Motiv nachdrücklich zu betonen. In einem
Immediatbericht vom 26. August legte er die Verschiedenheit ihrer Ansichten dar.
Er konnte sich darauf berufen, daß er seit 1897 alle Flottenvorlagen mit
Erfolg vertreten habe, und erkannte an, daß die Schöpfung der
deutschen Flotte die Aufgabe sei, "die Euer Majestät von der Geschichte
gestellt ist". Er werde auch vor einem englischen Druck oder einer englischen
Drohung unter keinen Umständen zurückweichen und habe in den
letzten Wochen die Sprache der Presse in dieser Richtung gelenkt. Aber sein
politisches Urteil unterscheide sich von der Auffassung des Kaisers in doppelter
Hinsicht. Wenn der Kaiser glaube, die Engländer würden es unter
keinen Umständen auf den Krieg ankommen lassen, so halte er den Krieg
jetzt wohl für denkbar, wenn die Engländer zu der
Überzeugung gelangen würden, daß die deutschen
Seerüstungen in infinitum so weitergehen würden. Die
Situation im Kriegsfalle bleibe ernst, da man einer
französisch-englisch-russischen Front gegenüberstehen würde.
Die Türken aber seien wenig leistungsfähig, ein Aufstand in Indien
unwahrscheinlich, die Fellahs in Ägypten ein feiges Gesindel. Er sei daher
dafür, auch ohne den Engländern Versprechungen anzubieten, ihnen
nicht alle Hoffnungen für die Zukunft abzuschneiden: "Wenn wir jede
Verständigung über den Flottenbau kategorisch und für immer
ablehnen, so wächst die Verstimmung in England in geometrischer
Progression; damit entsteht natürlich doch eine reelle Kriegsgefahr, und vor
allem baut England mehr wie je." Er stellte sich unbedingt auch für schwere
Zeiten zur Verfügung, aber er schloß: "Es kommt darauf an,
über die nächsten Jahre wegzukommen." Die ernste Mahnung blieb
auf den Kaiser ohne jeden Eindruck. Seine Schlußbemerkung hielt an dem
Flottengesetz als bis 1920 ausreichend, aber auch unveränderlich, fest und
schloß hartnackig mit dem Satze: "von 1920 an können wir uns
unverbindlich mit ihnen über Bauten unterhalten."35 Auf die politischen
Schlußfolgerungen und Ratschläge ging die augenscheinlich unter der
Einwirkung von Tirpitz
getroffene kaiserliche Entschließung
überhaupt nicht ein. Man mochte über die Sorgen und
Ansprüche der Engländer, über die Opportunität einer
Flottenbesprechung sehr verschieden
denken, - für jeden Tieferblickenden lag es auf der Hand, daß
der [621] ganze Fragenkomplex
nicht nur vom zugeknöpften Ressortstandpunkt aus gelöst werden
konnte, sondern eine hochpolitische Angelegenheit ersten Ranges war. Noch
drängte die Frage nicht zur Entscheidung (wenn auch in denselben Tagen
König Eduard sie schon mit Clemenceau in Marienbad erörterte),
aber sie wird wiederkehren, dringlicher und drohender. Es ist von geschichtlicher
Bedeutung festzustellen, daß der Reichskanzler Fürst Bülow
schon, bevor die bosnische Krise heraufzog, den Weg der
Flottenverständigung zu beschreiten bereit war,36 und die Demonstrationen des
Flottenvereins, deren Häupter jedes politische Augenmaß vermissen
ließen, als gefährlich verurteilte. Aber jetzt schon ließ sich
erkennen, daß der Kaiser, aus Vorliebe und militärischem
Selbstgefühl, in diesem Zentrum politischer Entschließungen gewillt
blieb, dem Rate seiner Marinefachleute und nicht dem seiner politischen Berater
zu folgen.37
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