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Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil


Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin

Kapitel 1: Das Deutsche Reich
unter Kaiser Wilhelm II. (1890 - 1909)
  (Forts.)

5. Die Bildung des Dreiverbandes und die bosnische Krisis (1906 - 1909).   (Forts.)

Inzwischen waren einige Keime, die auch schon in der Zusammenkunft in Reval in das Erdreich gesenkt worden, unter sorgfältiger Behandlung sichtbarer geworden. Dazu gehörte die Frage der mazedonischen Reformen, die seit den Jahren 1897 und 1903 eine gemeinschaftliche Sonderangelegenheit Rußlands und Österreich-Ungarns (solange ihre Entente bestand) gewesen war und erst jetzt wieder (als diese Entente sich zu lockern drohte) als Gericht auf der europäischen Tafel aufgetragen wurde. Mazedonische Reformen waren eine nützliche, ja notwendige Angelegenheit für die Nächstbeteiligten, aber zugleich eine hochpolitische und gefährliche Angelegenheit, wenn man sich ihnen ernsthafter näherte. Man hatte sich in Reval geeinigt, das interessante Gesprächsthema in den nächsten Wochen weiter zu entwickeln, wobei der Engländer sich für fliegende Kolonnen gegen Bandenbildung und der Russe mehr für Justiz- und Finanzreformen interessierte; bald war man auf dem besten Wege, die Reformaktion in Noten an den Sultan zusammenzufassen. Dabei war sich jeder Mitspieler bewußt, daß dieses Vorgehen weitere Kreise ziehen würde. Schon sah man Iswolski immer lebhafter bemüht, der deutschen Diplomatie nahezubringen, daß in ihren Händen die letzte Entscheidung über den Kurs liege, den die russische Politik nunmehr einzuschlagen haben werde: stelle sich Deutschland und mit ihm Österreich-Ungarn günstig zu dem anglo-russischen Reformprojekt für Mazedonien, so biete es damit Rußland die Möglichkeit, auf dem Boden der Gemeinschaft mit [622] Österreich-Ungarn und des Zusammenwirkens der drei konservativen Kaisermächte weiter zu arbeiten - mache das Berliner und das Wiener Kabinett dagegen Schwierigkeiten, so werde Rußland sich genötigt sehen, stärkere Anlehnung an England zu nehmen, was dann allerdings erheblich zur Verschärfung der allgemeinen Lage beitragen werde.38 Der Keil, der eingetrieben werden sollte, war unverkennbar, und der Russe rühmte sich gar, was er zur Milderung der radikalen Reformen der Engländer schon getan habe. Die deutsche Entschließung, die zwischen dem Sultan und den österreichischen Interessen stand, konnte, wie man sofort erkannte, vor eine schwierige Alternative gestellt werden.

Die ganze, mit soviel Verschlagenheit eingeleitete Aktion sollte durch unerwartete elementare Ereignisse umgebogen werden. Es lag auf der Hand, daß die Nachricht von diesen Absichten, durch mannigfache unterirdische Kanäle schlüpfend, bald auch auf dem Balkan umlief; sowohl unter denen, die von dem Umwerfen der ganzen türkischen Machtordnung träumten, als auch unter denen, die diese in ihrem Bestande bedrohte despotische Ordnung der Türkei von innen her umwälzen und dadurch das Osmanenreich erneuern wollten. Diese waren es, die losbrachen. Es ist nachgewiesen, daß es die mazedonische Reformfrage war, die seit Anfang Juli die in Gärung geratenen jungtürkischen Kreise zuerst in Bewegung brachte. Sechs Wochen nach Reval brach die jungtürkische Revolution aus - zunächst mit der von England kommenden Losung "gegen den blutigen Sultan" und mit dem Gassenruf "à bas l'Allemagne".39 Als der Sultan am 24. Juli zur Unterwerfung und zur Wiederherstellung der Verfassung von 1876 genötigt wurde, mochte die überraschte Welt in der ersten Stunde sich dem Glauben hingeben, daß mit dem Absolutismus des Sultans auch der beherrschende Einfluß seines deutschen Beschützers am Goldenen Horn zusammengebrochen sei. An vielen Stellen Europas begeisterte sich die feindliche Presse an der Vorstellung, daß eine neue Bastion der deutschen Außenpolitik - auf der auch das Bagdadbahnprojekt mit allen seinen "welthegemonischen" Entwürfen ruhte - ein ruhmloses Ende gefunden habe. Aber das natürliche Schwergewicht der Dinge drängte die Erben der Macht Abdul Hamids auf dieselbe Seite - schon bald kamen die jungtürkischen Führer nächtlich zu dem Vertreter des Kaisers in Konstantinopel, um seinen Rat einzuholen und ihm zu versichern, daß die jungtürkischen Komitees nicht antideutsch seien, sondern sehr wohl wüßten, wieviel die Türkei dem deutschen Reiche zu verdanken habe.40 Aber immerhin, [623] die orientalische Welt, die man soeben noch mit der anglo-russischen Reformaktion nach erprobten Rezepten in Bewegung setzen wollte, war nun auf ihre Weise, vom Zentrum her, aus den Tiefen sich nährend und bis an ihren Rand hin um sich greifend, in elementare Gärung geraten. Es war gar nicht abzusehen, welche Nachwirkungen die unerhörte Form des Umsturzes in der Welt des Islam nach sich ziehen würde; wie es dem Körper des kranken Osmanenreiches bekommen würde, daß man ihm gleichzeitig den nationalistischen und den parlamentarischen Bazillus einimpfte - an jedem einzelnen orientalischen Problem mußten die Folgen des Experimentes sichtbar werden. Und schließlich, in welcher Weise würde der tiefe Gegensatz der europäischen Mächte - wo blieben da die elenden mazedonischen Reformen? - den unvergleichlichen Anstoß, nunmehr ihre Kräfte zu messen, aufnehmen.

Noch vor dem Ausbruch der jungtürkischen Revolution war die Frage des endgültigen Schicksals von Bosnien und der Herzegowina an verschiedenen Stellen aufgetaucht. Zu Anfang Juli 1908 hatte Iswolski, in einer Denkschrift, die er in Wien vorlegte, im Rahmen der allgemeinen Balkanbesprechungen (Entente, Eisenbahnbau, mazedonische Reformen, Sandschak) auch die bosnische Frage gestreift, zwar ihren eminent europäischen Charakter betont, aber zugleich die russische Bereitschaft zu freundschaftlicher Erörterung ausgesprochen. Die Österreicher hatten immer aus den Abmachungen von 1897 ein Recht abgeleitet, das sie in einem günstigen Moment geltend zu machen gedachten; und die innerpolitischen Sorgen, die ihnen durch das Eindringen der großserbischen Propaganda erwuchsen, führten im Laufe des August dazu, die Annexionsfrage auf das Programm zu setzen. Es war die jungtürkische Revolution, die diesen Entschluß auslöste. Sowohl die Möglichkeit nationalistischer Ansprüche der "jungen" Türkei gegenüber der immer noch nicht ganz eindeutigen Rechtslage der beiden Provinzen drängte auf diesen Weg, als auch die Wahrscheinlichkeit, daß die serbische Nationalbewegung, zumal wenn ihr ein Vordringen nach Süden in die verjüngte Türkei verrammelt werden sollte, sich die ungeklärte Lage zunutze machen würde. Man mußte in Wien sich darauf einrichten, den Unberechenbarkeiten auf diesem heißen Boden einen festen Rechtszustand gegenüberzustellen: mit andern Worten, wenn die Türkei bei sich parlamentarische Institutionen einführen sollte, auch in den beiden okkupierten Provinzen moderne Verfassungszustände herbeiführen und sie dadurch unlöslich mit dem Körper der habsburgischen Monarchie verschmelzen.41

So begrüßte man es, daß der Russe, dessen politische Phantasien mit anderen ihn verlockenden Zukunftsbildern genährt waren, den Entschluß faßte, angesichts des türkischen Elementarereignisses zunächst die alte Verbindung mit Österreich-Ungarn wieder aufzunehmen - da er noch nicht zu dem vollen Besitz seiner [624] Kräfte zurückgekehrt war, erschien ihm die Gemeinsamkeit des Vorgehens noch als der sicherste Weg. Am 15. September 1908 erschien Iswolski bei dem österreichischen Außenminister Frhr. von Aehrenthal in Buchlau, auf dem Landsitz des Botschafters Grafen Berchtold, zur vertraulichen Aussprache.42 Der Russe war es, der die Initiative ergriff, die historische Stunde zu nützen, um aus der türkischen Krisis sein Interesse herauszuholen. Er bot dem Österreicher an: wenn Rußland die freie Durchfahrt seiner Kriegsschiffe durch den Bosporus erhalte, dann seine Einwilligung zu geben, daß Österreich zur Annexion von Bosnien und der Herzegowina schreite. Es lag auf der Hand, daß Aehrenthal mit beiden Händen zugriff. So verschieden später die Aussagen der beiden Staatsmänner über die Einzelheiten ihrer Verabredungen lauteten, so steht doch heute außer allem Zweifel: daß sie sich über diese beiden Ziele grundsätzlich einigten. Iswolski erklärte sich mit der Eventualität der Annexion einverstanden, und wenn man auch keinen bestimmten Termin vereinbarte, so hatte er gegen einen - nach Aehrenthals Darlegung sehr bald zu erwartenden - nahen Termin auch nichts einzuwenden. Daß Iswolski, indem er in die Annexion einwilligte, selbst den Anstoß zu einer gemeinsamen Aktion auf Kosten serbischer nationaler Zukunftshoffnungen gab, scheint ihm nicht allzuviel Kopfzerbrechen gemacht zu haben;43 und daß die Erreichung seines Zieles, in dem er das Äquivalent für die Zusicherung an Österreich-Ungarn erblickte, auf ganz andersartige Schwierigkeiten stoßen könne, war ihm völlig verborgen. Die europäische Tragweite des Unternehmens, in das er mit unerfahrenen Händen hineinsteuerte, lag für ihn im Dunkeln. Bülow hat nachmals geurteilt, daß in dem späteren Streit der beiden Staatsmänner über die Korrektheit ihres Vorgehens das formale Recht auf seiten Aehrenthals war, der auch schlauer operierte, daß aber sein Verhalten nicht ganz "fair" gewesen sei - aber auch er konnte nicht voraussehen, daß er durch sein Vorgehen Iswolski in eine so bedauernswerte Lage hineinmanövrieren würde. Daran hatten andere Gewalten auf der europäischen Bühne einen besonderen Anteil.

Jedenfalls glaubte der leitende Staatsmann Österreich-Ungarns sich auf Grund der Besprechungen in Buchlau berechtigt, seinerseits den Annexionsakt unmittelbar zu vollziehen. Er teilte diese Absicht am 30. September dem Minister Iswolski mit. Als dieser am 4. Oktober früh in Paris eintraf, erfuhr er die ihm vertraulich angekündigte Tatsache - sein Partner hatte das ihm obliegende Stück des Duetts bereits gespielt. Im ersten Augenblick nahm der russische Minister die Nachricht ohne sonderliche Überraschung auf, da er fest vertraute, sein Stück der Rolle alsbald nachholen zu können. Die Veröffentlichung der Annexion am 6. Oktober fiel zusammen mit der Erklärung der bulgarischen Unabhängigkeit durch den Fürsten Ferdinand, einem Akte, der viel einschneidender [625] das geltende Völkerrecht verletzte. Iswolski hatte schon vorher in Paris erfahren, daß man die Annexion mißbillige, jetzt vernahm er, daß die beiden Westmächte entschieden dagegen Stellung nehmen würden: daß vor allem England den höchsten Wert darauf lege, die Jungtürken gegen eine solche zweifache Vergewaltigung in Schutz zu nehmen, und grundsätzlich derartige Veränderungen eines internationalen Vertrags nur durch neue Vereinbarungen der Mächte, wie man einst auf der Pontuskonferenz beschlossen, eintreten zu lassen. Die schlimmste Enttäuschung erwartete ihn aber in England selbst: man lehnte die von Rußland geplante Form der Benutzung und Kontrolle der Meerengen unbedingt ab. Und damit war es ihm verwehrt, den russischen Teil der Buchlauer Verabredung eines Tages einziehen zu können. Während die österreichische Politik sich einer vollzogenen (aber gegen Europa zu behauptenden) Tatsache erfreute, waren die russischen Wünsche, bevor sie vor Europa angemeldet waren, in alle Winde zerflattert.

Damit war eine schwere europäische Krisis eröffnet. Ohne Zutun des Deutschen Reiches, vielmehr in einer Situation, die gerade die deutsche Politik in eine schwierige Lage zwischen der Türkei und Österreich-Ungarn brachte. Zwar war der Reichskanzler Bülow sich von vornherein darüber klar, daß er keine Wahl hatte, nachdem Österreich, wie er glaubte, sich des russischen Einverständnisses versichert habe: "Unsere Lage würde dann eine wirklich bedenkliche werden, wenn Österreich das Vertrauen zu uns verlöre und nun ausschwenkte... Eine ablehnende oder auch nur zögernde und nörgelnde Haltung in der Frage der Annexion von Bosnien und der Herzegowina würde uns Österreich nicht verzeihen." Also mit ruhiger Zustimmung aufnehmen "und diese unsere Zustimmung als den Ausfluß unserer unbedingten Zuverlässigkeit gegenüber Österreich erscheinen lassen."44 Als dann aber die Erklärung der Annexion (und der bulgarischen Unabhängigkeit) erfolgte, war Kaiser Wilhelm II., der nunmehr die erste Nachricht bekam,45 von tiefem Unwillen und Zorn erfüllt. So lautete seine Randbemerkung am 6. Oktober:46 "Daß wir gegen die Annexion nichts tun, ist selbstverständlich! Ich bin aber persönlich auf das tiefste in meinen Gefühlen als Bundesgenosse verletzt, daß ich nicht im Geringsten vorher von S. M. ins Vertrauen gezogen wurde.... so bin ich der Letzte von Allen in Europa, der überhaupt etwas erfahre!... Vom türkischen Standpunkt aus betrachtet ergibt sich die Lage, daß nach 20 Jahren Freundespolitik von mir, mein bester Verbündeter der erste ist, der das Signal zum Aufteilen der europäischen Türkei gegeben hat." Und am folgenden Tage, als der Einspruch Englands schon erkennbar wurde: "Ich bedaure nur durch die furchtbare Dummheit Aehrenthals in das Dilemma gebracht worden zu sein, die Türken unsre Freunde nicht beschützen und ihnen nicht [626] beistehen zu dürfen, da mein Verbündeter sie beleidigt hat. Und statt dessen England an meiner Stelle den Türken beraten und beschützen sehen zu müssen, noch dazu mit Ausführungen völkerrechtlicher Natur, die formell unanfechtbar und mir aus der Seele gesprochen sind. Auf die Weise geht meine 20jährige mühsam aufgebaute türkische Politik in die Binsen! Ein großer Triumph Eduards VII. über uns!"47 Er erzählte bald darauf dem ihm befreundeten Fürsten Max Fürstenberg: "Ich war so betroffen, daß ich eines ganzen Tages und einer Nacht bedurfte, um über mein Verhalten diesen Ereignissen gegenüber klar zu werden! Aber nach reiflicher Überlegung überwand ich alle Empfindlichkeit und kam zu dem festen Entschluß, dem alten Kaiser treu zu bleiben, zu ihm zu stehen als unerschütterlicher Freund und Bundesgenosse."48 Während die gegnerische Presse anfänglich in blindem Eifer Deutschland als Mitschuldigen und zumal den Kaiser persönlich angegriffen hatte, stand dieser - wie der Reichskanzler später im Reichstage hervorhob - vor der Welt von jedem Anteil an der neuen Wendung unberührt da.

Zu alledem war in eben diesen Tagen ein kleiner deutsch-französischer Konflikt entstanden, der wenigstens wegen des marokkanischen Bodens, auf dem er erfolgte, bedenklich werden konnte. Am 25. September war es in Casablanca zu einem Zwischenfalle gekommen: deutsche (aber auch einige nichtdeutsche) Deserteure aus der Fremdenlegion, die von einem deutschen Konsulatsbeamten zu Schiff geleitet wurden, waren verhaftet, die Beamten verletzt und beleidigt worden. Es lief also neben dem Ausbruch der großen Krisis ein kleiner deutsch-französischer Konflikt her, bei dem man auf beiden Seiten die Erweiterung nicht wünschte;49 immerhin dauerte es bis zum 24. November, bis dieser Streit durch schiedsgerichtliche Erledigung aus der Welt geschafft war.

Aber auch von diesem Nebenstreite abgesehen, die europäische Verwirrung, die durch das Vorgehen Österreich-Ungarns (obgleich es tatsächlich nichts an dem politischen Tatbestand der Balkanhalbinsel änderte) hervorgerufen wurde, war allerdings von unabsehbarer Tragweite: Protest der Türkei, deren junger Nationalismus zu der hartnäckigen Waffe eines Boykotts österreichischer Waren griff; Verweisung an eine Konferenz durch die Mächte; leidenschaftliche nationale Erregung in Serbien, dem unerwartet eine europäische Unzufriedenheit in den Schoß fiel; verzweifelte Ratlosigkeit Iswolskis, der nach der Enttäuschung, die ihm in England in der Meerengenpolitik bereitet wurde, nun allen Groll gegen seinen glücklicheren Partner wandte. Er entschloß sich, das Ziel der Meerengenpolitik zwar beizubehalten, aber auf anderem Wege zu erreichen. Vor allem einigte er sich mit England über die Konferenzidee, um Österreich wenigstens durch dieses [627] kaudinische Joch zu schicken, und zugleich mit der Vorlegung der Annexion auf der Konferenz eine Kompensation für Serbien und Montenegro zu erzielen: denn das war die neue Lösungsmöglichkeit, die ihn jetzt lockte. Daß Rußland diesen Weg bis zum Ende nur beschreiten konnte, wenn es den Widerstand Deutschlands und Österreichs zu brechen vermochte und es auf einen allgemeinen Brand ankommen ließ, lag auf der Hand. Es ist aber unwahrscheinlich, daß Rußland in irgendeinem Stadium der bosnischen Krisis ernsthaft mit der Entfesselung des Weltkrieges gespielt habe, denn es konnte sich nicht verhehlen, daß es sich von Japankrieg und Revolution damals noch viel zu wenig erholt hatte, um sich gegen die Mittelmächte behaupten zu können.

Die Stellung Deutschlands zu dem Programm, das Iswolski und Grey in London aufgestellt und in Paris hatten billigen lassen, war einfach genug. Man erklärte, den Konferenzgedanken nicht ablehnend gegenüberzustehen; ohne Teilnahme Österreich-Ungarns könne aber keine Konferenz zusammentreten, und nur dasjenige Konferenzprogramm könne als annehmbar gelten, das allseitig in allen seinen Punkten vorher vereinbart worden sei. Praktisch lief es auf die Vereitelung der Konferenz hinaus. Als Iswolski am 24. Oktober in Berlin erschien, verlangte er, seiner Erregung kaum Herr, vom Reichskanzler, daß das deutsche Heer auf Österreich-Ungarn drücken solle, um die Annexionsfrage vor die Konferenz zu bringen und eine territoriale Kompensation für Serbien und Montenegro zu beschaffen - ja, er stellte für den Fall, daß es nicht geschähe, den Losbruch der Serben und Montenegriner, allgemeinen Brand auf der Balkan-Halbinsel, Krieg zwischen Rußland und Österreich und schließlich - es ist amtlich wohl eines der ersten Male, daß man vor dem Worte nicht zurückschreckt! - den Weltkrieg in Aussicht. Die Antwort war ein Nein: "wir haben uns gegenüber den russischen Wünschen und Ansprüchen durchaus ablehnend verhalten."50 Dem Russen konnte man nicht verhehlen, daß er seinen Anteil an dieser Haltung habe: "Nachdem Rußland sich seit Reval demonstrativ an England angeschlossen hat, konnten wir Österreich nicht preisgeben. Dadurch war die europäische Lage so verschoben, daß wir für russische Wünsche spröder werden mußten, als wir es sonst gewesen wären."51 Ja, Bülow ging in den nächsten Tagen noch einen starken Schritt weiter. Als Aehrenthal ihm am 30. Oktober die Unhaltbarkeit der serbischen Zustände darlegte, antwortete er: "Ich habe überhaupt Vertrauen zu Ihrem Urteil; in diesem speziellen Fall sage ich mir noch außerdem, daß Sie die serbischen Verhältnisse noch genauer beurteilen können, als ich aus der Ferne. Ich werde daher die Entscheidung, zu der Sie schließlich gelangen, als die durch die Verhältnisse gebotene ansehen." Das hörte sich wie eine Blankovollmacht an, mit Serbien nach Belieben zu verfahren, für ganz unbestimmte Möglichkeiten, in denen man in Wien selbst noch kein klares Programm hatte.

[628] Es war die Frage, ob eine solche deutsche Stellungnahme, die eine starke Ermutigung der österreichischen Aktion zur Folge hatte, im Rahmen unserer Europapolitik verantwortet werden konnte. Schon in den ersten Tagen nach der Annexionserklärung hatte sich herausgestellt, daß diese bosnische Krisis, so starke Rückwirkungen sie im ganzen Bereiche der Orientinteressen auslöste, doch nur auf dem Hintergrunde der deutsch-englischen Spannung, als dem umfassenderen Gegensatze durchgekämpft werden konnte. Dadurch bekam sie ihr besonderes Gesicht - hier lagen die Wurzeln ihrer Gefährlichkeit. Man hatte bald in den Hauptstädten Europas den Eindruck, daß der Schwerpunkt der Entscheidungen nach London gerückt sei.

Lord Grey hat sich später in seinen Memoiren darüber beschwert, er sei in Österreich und auch in Deutschland angeklagt worden, die Verwirrung genährt und den Ausbruch eines europäischen Krieges betrieben zuhaben, und sich darauf berufen, daß die amtlichen Telegramme und Erlasse das Gegenteil feststellten.52 Diese amtlichen Tatbestände sollen nicht bestritten werden, entscheiden aber noch nicht über den Kern des Problems.

Gewiß, Grey gab den Russen keine positive Zusage englischer Hilfe. Als am 10. November 1908 der russische Botschafter mit einem gedruckten Privatbrief Iswolskis erschien, daß die Deutschen Reval nachtrügen und mit Österreich gehen würden, und nun die schwere Frage stellte, was England im Falle einer Balkankrisis tun würde, beobachtete er eine große Vorsicht. Wie im Januar 1906 zu den Franzosen, erklärte er, über diese Frage könne er sich ohne das Kabinett nicht aussprechen, und das Kabinett zu befragen, sei nicht möglich. In der Sache redete er mehr um den Gegenstand herum; er verwarf das Einkreisungsgerede als Nonsens; aber er spielte auf den (schon halb erledigten) Casablanca-Zwischenfall an und auf die in diesem Falle scharf antideutsche Haltung der englischen Presse; er streifte auch andere Möglichkeiten - was Rußland im Marokkokrieg getan haben würde - was Frankreich in einem russisch-österreichischen Konflikt über Bosnien tun würde, in dem Deutschland den Österreichern helfe. Als der Russe die Meinung aussprach, in diesem Falle würden alle vier Mächte unweigerlich hineingezogen, aber eine scharfe Haltung Englands, etwa ein Kreditantrag im Unterhause, würde den Frieden sichern, gab Grey keine direkte Antwort. Er betonte nur von neuem, das Kabinett würde nur unter dem Druck einer Krisis zur Entscheidung kommen, er könne seine Kollegen nicht eher fragen, als bis die Krisis dringend würde.53 Er gab keine Hoffnung, aber er nahm sie noch weniger.

Der Historiker hat jedenfalls das Recht, Grey bei der Undurchsichtigkeit seiner Politik aus sich selber zu interpretieren. Als die Russen unter deutschem Ver- [629] mittlungsdruck sich in die Annexion gefunden hatten, stellte der russische Geschäftsträger noch einmal die Frage: was England im Falle eines Krieges getan hätte. Grey erwiderte natürlich, er habe nicht das Recht, eine direkte Antwort zu geben. Aber ging dann doch auf die Frage ein und suchte an der Hand der Geschichte nachzuweisen, daß England stets mit derjenigen Macht habe kämpfen müssen, die eine alle andern Kontinentalmächte dominierende Stellung erlange - und eine solche Hegemonie wäre Deutschland im Falle eines mit Rußland allein geführten Krieges zugefallen. Die Frage, ob Krieg oder Frieden, hänge in England von keiner Regierung, sondern ausschließlich von der öffentlichen Meinung ab; doch habe er das Gefühl gehabt, daß im gegebenen Falle die öffentliche Meinung genügend vorbereitet war, um der Regierung "bei einer Aggression Deutschlands, ein aktives Eingreifen zu ermöglichen".54

Die beiden Aussagen, zusammengehalten, geben den Schlüssel zu dem ganzen Grey, bis zum Kriegsausbruch von 1914.

Eine ganze Reihe von Anzeichen vereinigt sich dazu, die sehr ungünstige Auffassung, die man sich vor allem in Wien von der englischen Politik während der bosnischen Krisis bildete,55 zu bestätigen. Daß sie den Gedanken verfolgte, Iswolski, der noch in Buchlau eine Neigung zum Zusammengehen mit den Mittelmächten verraten hatte, mit Hilfe seines Fehlschlages auf die Seite der Entente herüberzuholen, ist durchaus begreiflich; je mehr man in London durch die Ablehnung des Dardanellenprogramms die schwierige Lage noch weiter verschärft hatte, desto eifriger mußte man sich bemühen, durch Schürung des Widerstandes gegen Österreich ihm einen Ersatz zu gewähren; so tat man alles, um Rußland den Rücken zu steifen, ebenso wie man Frankreich während der Marokkokrisis gegen jede Nachgiebigkeit festzumachen gesucht hatte. Wie es mit dem positiven Kriegswillen Englands stand, sei dahingestellt: der große Zug dieser Politik verlangte gebieterisch, den Dingen denjenigen Lauf zu geben, der die Kluft zwischen Rußland und den Mittelmächten endgültig zu vertiefen suchte.

Bei dem Beginn der Krisis hatte Lord Rosebery, ein Parteigenosse Greys, die Befürchtung ausgesprochen, daß Grey alles zu sehr ausschließlich vom französischen Standpunkt betrachte und dieser Rücksichtnahme alles andere unterordne.56 Es stellte sich aber heraus, daß man sogar in Paris viel vorsichtiger als in London zurückhielt. Der österreichische Botschafter meldete, daß England in dem [630] Casablanca-Konflikt sehr verderbliche Ratschläge gegeben habe; man habe Frankreich in den Krieg treiben wollen und zu Clemenceau und Pichon gesagt, der Moment für die Revanche sei da und würde so günstig nie wiederkehren; Österreich-Ungarn, in der Front gegen den Balkan beschäftigt, könne Deutschland als Alliierter wenig helfen; Deutschland stünde jetzt allein gegen Rußland, Frankreich und England, da man Italien vermögen würde, sich seiner Bundespflicht zu entziehen.57 Noch um Mitte Dezember erfuhr Aehrenthal von einem intimen Freunde Clemenceaus, daß König Eduard in den verflossenen zwei Monaten alles aufgeboten habe, um Clemenceau zu bewegen, der Entente eine aggressive Spitze gegen Deutschland zu geben.58 Im folgenden Jahre erzählte König Karl von Rumänien, der serbische Außenminister Milowanowitsch, der sich während der Krisis der schärfsten kriegerischen Ausfälle gegen Österreich schuldig machte, habe ihm ausdrücklich erklärt, nicht Rußland habe Serbien in dieser Zeit zum Widerstande gegen die Monarchie getrieben, sondern England.59 Die Neue Freie Presse vom 6. Januar 1909 glaubte den Grund dieses beispiellosen Verhaltens auf ein ganz eindeutiges Motiv zurückführen zu können: es geschehe allein aus tiefem Groll wegen der österreichischen Bundestreue gegenüber Deutschland, daß England den Frieden der Monarchie gefährde: "Englands Absicht ist es, uns zu demütigen, indem es an einem schlagenden Beispiel zeigt, daß keine Nation dem deutschen Reiche treu bleiben könne, ohne sich selbst zu schaden." Grey begnügte sich mit der Feststellung, daß man in England durch die Haltung Österreichs in der Krisis gezwungen worden sei, die Sympathien aufzugeben, die man bisher für dieses Land gehegt hätte. Es blieb doch ohne rechten Widerspruch, wenn Graf Stefan Tisza im ungarischen Magnatenhause am 1. März 1909 das Vorgehen der englischen Regierung für den künstlichen europäischen Entrüstungssturm in Europa verantwortlich machte.

Für die aufreizende Haltung der englischen Presse bedurfte es keiner Beweisstücke; für das Verhalten der englischen Diplomatie ließ sich der schlüssige Beweis viel schwerer erbringen. Der deutsche Botschafter in London neigte sogar dazu, die Anklage gegen die englische Politik als Unruhestifterin auf dem Balkan für übertrieben zu halten.60 In Wahrheit hatte England schon Ende Oktober den Jungtürken die Eröffnung machen lassen, daß man sie in finanzieller und moralischer Beziehung auf alle Weise unterstützen werde, wenn sie nur die direkte [631] Verhandlung mit Österreich-Ungarn wieder abbrechen würden.61 Und in ähnlichem Tone klang in den nächsten Monaten die englische Stimme in Belgrad. Und nur diese zweite Linie des großen Weltgegensatzes war es, die in der ersten Linie soviel Kampflust und Kriegsgeschrei entfesselte. Wenn man die deutsche Staatsleitung wegen ihrer allzu weitgehenden Deckung Österreichs tadelt, muß man ihr doch das eine zubilligen: daß sie sich bewußt war, in einer Machtprobe gegenüber dem Vorkämpfer des andern Lagers, England, zu stehen und für die Aufrechterhaltung eines schon eingeengten Machteinflusses einzutreten.


38 [1/622]Graf Pourtalès an Bülow: 9. Juli 1908 (Große Politik 25, 2, S. 528). ...zurück...

39 [2/622]Jäckh, Kiderlen-Wächter 1, S. 228. Kiderlen vertrat den Botschafter von Marschall: Mai bis Dezember 1907, Juni bis September 1908, November 1908 bis März 1909. ...zurück...

40 [3/622]Eine Schlußbemerkung des Kaisers vom 15. August 1908 gibt schon ein neues Bild: "Die Revolution ist nicht von den »Jung-Türken« aus Paris und London, sondern allein von der Armee, und zwar ausschließlich von den in Deutschland erzogenen sogenannten deutschen Offizieren gemacht worden. Eine reine Militärrevolution. Diese Offiziere haben das Heft in der Hand und sind absolut deutsch gesinnt." Große Politik 25, 2, S. 608. ...zurück...

41 [1/623]Musulin, Das Haus am Ballplatz, S. 164 ff. ...zurück...

42 [1/624]Vgl. Molden, Aehrenthal (1917). Friedjung, Zeitalter des Imperialismus Bd. 2 (1922). ...zurück...

43 [2/624]Immerhin hat er in Buchlau schon von einer kleinen Kompensation an Serbien und Montenegro gesprochen. ...zurück...

44 [1/625]Bülow: 30. September 1908. ...zurück...

45 [2/625]Er erfuhr sie zuerst am 5. Oktober, 5 Uhr. ...zurück...

46 [3/625]Faksimiliert bei Bülow, Denkwürdigkeiten 2, S. 336/337. ...zurück...

47 [1/626]Große Politik 26, 1, S. 112. ...zurück...

48 [2/626]Leopold von Chlumecky, Erzherzog Franz Ferdinands Wirken und Wollen, S. 96 (1929). ...zurück...

49 [3/626]Bülow verfügte schon am 28. September: "Dieser unliebsame Vorfall sollte ohne beiderseitige Rechtsschikanen rasch und gutwillig beigelegt werden." Große Politik 24, S. 332. ...zurück...

50 [1/627]Bülow an Schoen: 24. Oktober 1908. ...zurück...

51 [2/627]Aufzeichnung Bülows: 27. Oktober 1908 (Große Politik 26, 1, S. 217). ...zurück...

52 [1/628]Lord Edward Grey: Twenty-five years 1, S. 183. Es kam schon während des Weltkrieges im Mai/Juni 1916 zu einer amtlichen Kontroverse zwischen der deutschen und englischen Regierung über diesen Gegenstand. ...zurück...

53 [2/628]H. Nicolson, Lord Carnock, S. 284 ff. ...zurück...

54 [1/629]Beilage eines Berichtes von Graf Pourtalès an Bülow, 5. 4.1909 (Große Politik 26, 2, 740 Anm.). ...zurück...

55 [2/629]Man hegte in Wien den Argwohn, die englische Regierung habe es auf einen europäischen Krieg abgesehen, um während des allgemeinen Brandes mit der deutschen Flotte aufzuräumen. Grey bezeichnete diese Annahme als absurd und albern: sie stehe in völligem Gegensatz zu der Politik der englischen Regierung und sei den Anschauungen des Landes fremd. Cartwright an Grey 21. Dezember, Grey an Cartwright 23. Dezember (Brit. Dok. 5, 1386 f.). ...zurück...

56 [3/629]Bericht des Grafen Mensdorff: 12. November 1908 (Österreich-Ungarns Außenpolitik 1, S. 426). ...zurück...

57 [1/630]Graf Khevenhüller: 11. November 1908 (ebenda 1, S. 419). ...zurück...

58 [2/630]Privatbrief Aehrenthals an Szögyény: 15. Dezember 1908 (ebenda 1, S. 602 f.). ...zurück...

59 [3/630]Von der Rede von Milowanowitsch in der Skuptschina sagte der Daily Graphic: "In jedem anderen Staate würde eine solche Rede aus dem Munde eines Ministers einer Kriegserklärung gleichkommen." ...zurück...

60 [4/630]Metternich an Bülow: 5. und 7. Januar 1909 (Große Politik 26, S. 393 ff.). "England hat dadurch, daß es den türkischen und russischen Standpunkt unterstützt, die Lage verschärft, aber nicht hervorgerufen." Später äußerte er sich schärfer, so zu Haldane am 25. Oktober 1909: Die Balkankrisis würde ohne das Eingreifen Englands überhaupt nicht entstanden sein (Gr. Pol. 26, 859). ...zurück...

61 [1/631]Tschirschky an Ausw. Amt: 25. Oktober 1908 (Große Politik 26, 2, S. 428 f.). ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte