Bd. 9: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Erster Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 2: Das Deutsche Reich
unter der Staatsleitung Bismarcks 1871 - 1890 (Forts.)
5. Europäische Hochspannung in den letzten Jahren der
Staatsleitung Bismarcks
(1885 - 1890). (Forts.)
So war die Weltlage beschaffen, der die noch vor kurzem hegemonisch
führende Politik Bismarcks
zu begegnen hatte. Nur ein kompliziertes
System von politischen Methoden konnte der Vielfältigkeit der Aufgabe
begegnen. Es galt zunächst, sowohl in Rußland, als auch in
Frankreich, das friedlichere Element gegen das kriegerische zu stützen,
namentlich die beiden kriegerischen Flügel, von denen der eine nur gegen
Österreich, der andere nur gegen Deutschland gerichtet war, vor einem
Ineinanderaufgehen mit aller Kraft und Klugheit zu bewahren. Zu diesem Zwecke
mußte er vor allen Dingen die enthaltsame Friedenspolitik im Orient
weiterführen, um die Fühlung mit dem Zaren nicht zu verlieren. Aber
er mußte gleichzeitig mit der Möglichkeit rechnen, daß das
trotz aller Opfer undurchführbar sein werde: für diesen Fall galt
es - da die französische Revanche den eigentlichen Auftrieb
für die russischen Kriegsgelüste
lieferte -, der Abwehrkraft die Hauptfront gegen Westen zu geben, damit
auch die friedlichen Franzosen den Ernst der Lage erkannten. Schließlich
war der Dreibund zu befestigen und zu vertiefen, zumal in seiner Aktionskraft
nach Westen, und womöglich, ohne neues Risiko für die deutsche
Politik, zu verlängern. Alle diese Mittel greifen ineinander, dienen
einem Zwecke und sind als Einheit zu würdigen. Nimmt man die
einzelnen Linien für sich heraus, so gerät man leicht in Gefahr, sich
scheinbar widersprechende Teile in der Hand zu halten: man darf über den
Einzelheiten, die kommen und gehen, niemals die ihnen übergeordnete
politische Gesamtidee aus den Augen verlieren.
Die erste der von Bismarck betriebenen Maßnahmen war die
Verstärkung des deutschen Heeres. Er hatte zu Beginn des Jahres einige
technische Vermehrungen des Heeres zurückstellen lassen, um mit der
Erneuerung des Septennats bis zu dessen ordnungsmäßigem Ablauf
(31. März 1888) zu warten. Jetzt setzte er, unter persönlichem
Eingreifen bei den militärischen Instanzen, durch, daß eine neue,
ausgedehntere Wehrvorlage mit Rücksicht auf die gefährdetere
[306] politische Lage noch
vor Ablauf des Septennats eingebracht wurde, damit die Verstärkungen
schon zum 1. April 1887 in Kraft treten konnten. Der Entwurf, der dem zum
25. November berufenen Reichstage vorgelegt wurde, sah nur eine
Erhöhung der Präsenzstärke um 42 000 Mann (von
427 274 auf 468 409) vor, die auf Grund des Satzes von 1% der
Zählung von 1885 angepaßt war. Diese Erhöhung konnte sich
darauf berufen, daß Frankreich, wo die Friedenspräsenzstärke
im Jahre 1886 schon auf 471 811 Mann gesteigert worden war, trotz seiner
geringeren Einwohnerzahl die Rüstung schon erheblich weitergetrieben
hatte. Während in Deutschland im laufenden Jahre die Ausgaben für
die Kriegsmacht (Heer und Marine) 446 Millionen Mark betrugen,
für den Kopf der Bevölkerung 9,53 Mark, wurden in
Frankreich für diesen Zweck bereits 826 Millionen Mark, also
21,57 Mark für den Kopf, verausgabt. Wenn man also beklagt,
daß von diesem Augenblicke an das Wettrüsten in Europa in ein
neues Stadium trat, so muß man zugleich feststellen, daß Frankreich
darin vorangegangen war und daß das militaristische Deutschland ihm nur
unter dem mächtigen Zwang der Weltlage nachgefolgt ist. Es war nicht
etwa ein wachsender Angriffswille,36 sondern
das Gebot der Selbsterhaltung in der Defensive, das die Heeresverstärkung
forderte.
Wer in die innersten Beweggründe Bismarcks eindringen will, tut gut, nicht
nur einen Blick in seine diplomatischen Weisungen und seine öffentlichen
Reden in diesen Wochen zu werfen: man könnte ja einwenden, daß
die politische Berechnung hier überwiege. Wir halten auch seinen ganzen
vertraulichen Briefwechsel mit dem preußischen Kriegsminister Bronsart
von Schellendorf37 über die Heeresvorlage in
Händen. Nirgends erklingt ein Ton der Kriegslust oder auch nur
verborgener kriegerischer Absichten. Wohl aber bricht die tiefe Sorge durch seine
Betrachtungen. Er war jetzt für die Einführung eines kleinkalibrigen
Gewehrs und machte gegen die Neigung des Kriegsministers, so tiefgreifende
Änderungen für ein Retablissement nach dem
nächsten großen Kriege in Aussicht zu nehmen, den Gedanken
geltend, daß die Hoffnung, in dem nächsten großen Kriege
Sieger zu bleiben, doch nicht verbürgt sei. Und so entwickelte er, am
Weihnachtsabend 1886, ein Zukunftsbild, das die Unbeirrbarkeit seines
prophetischen Blickes auch gegenüber dunklen Gefahren bewährte:
"Aber wenn diese Hoffnung eine Täuschung wäre, wenn wir nach
Gottes Willen im nächsten Kriege unterliegen sollten, so halte ich das
für zweifellos, daß unsere siegreichen Gegner jedes Mittel anwenden
würden, um zu verhindern, daß wir jemals oder doch im
nächsten Menschenalter wieder auf eigene Beine kommen, ähnlich
[307] wie im Jahre 1807. Die
Aussicht, uns aus unserer damaligen Ohnmacht bis zur Lage von 1814 wieder
emporzuarbeiten, wäre eine sehr geringe gewesen, ohne die unberechenbare
und von uns unabhängige Vernichtung der großen
französischen Armee durch den russischen Winter und ohne den Beistand
Rußlands, Österreichs und Englands. Daß wir auf letzteren
wiederum rechnen können, nachdem diese Mächte gesehen haben,
wie stark ein einiges Deutschland ist, hat wenig Wahrscheinlichkeit. Nicht einmal
auf das einige Zusammenhalten des jetzigen Deutschen Reiches würden wir
nach einem unglücklichen Feldzuge rechnen können."
Von dieser Prophezeiung ist heute der
über alles Maß getriebene gegnerische Wille,
uns nicht wieder aufkommen zu lassen, vor aller Welt erwiesen
worden; und nicht minder ist eingetroffen, daß wir auf Hilfe anderer bei
einem neuen Aufstieg nicht würden rechnen können. Nur das einige
Zusammenhalten des Reiches, die innere Kraft seiner eigenen Schöpfung
hat sich als stärker erwiesen, als die Sorge des Kanzlers in dunkler Stunde
ahnte. Aber wie dem auch sei, diese innerste Stimmung verrät
unwidersprechlich, wie wenig das Verantwortungsgefühl Bismarcks
gemein hat mit der kriegerischen Herausforderungslust, die ihm die Franzosen
damals andichteten. Dafür rechnet sein Wirklichkeitssinn mit dem
wahrscheinlichen Vernichtungswillen, der in diesem Europa, für den Fall
des Streites, unter der Oberfläche verborgen war.
Mit der Objektivität einer wissenschaftlichen Untersuchung wog er in
demselben Schreiben die Kriegs- und Friedenschance in der damaligen Weltlage
ab: "Frankreich wird sicher losschlagen, sobald es der russischen Anlehnung
sicher ist. Ich sage Anlehnung und nicht Bündnis, und verstehe darunter
eventuell eine Zusage Rußlands, den Franzosen aktiv oder demonstrativ
gegen uns beizustehen, im Falle es ihnen wieder schlecht gehen sollte,
gewissermaßen »mise freies Spiel« für
Frankreich. Bisher liegt keine Befürchtung vor, daß der Kaiser von
Rußland dazu geneigt sei, aber wer den kaiserlichen Einfluß
übt, ob Alexander III. oder Katkow, ist eine Frage, die sich
aufwerfen läßt. Solange die jetzige Haltung Rußlands bleibt,
wird Frankreich uns mit berechneter Überlegung nicht angreifen,
aber Berechnung und Überlegung können leicht in die Brüche
gehen, wenn solche Verlegenheiten der Republik, wie der jüngste
Regierungswechsel, sich wiederholen und Boulanger dreist genug ist, die
Verlegenheit aller anderen zu benutzen, um sich in der leitenden Rolle, unter
Ablenkung des Zündstoffes nach außen, zu versuchen."
Die nächste, zur gleichen Zeit ergriffene Aufgabe war die Erneuerung und
Befestigung des Dreibundes. Man stand hier vor einer doppelten Aufgabe. Einmal
mußte, wenn irgend möglich, dem Österreicher ein
Äquivalent dafür beschafft werden, daß er, der sich ohnehin in
seiner Bündniserwartung verkürzt sah, durch die französische
Bedrohung des wesentlichsten Teiles der deutschen Beihilfe im Osten beraubt
wurde. Sodann mußte der Versuch gemacht werden, die
Ita- [308] liener, die bisher eine
ziemlich passive Rolle im Dreibund gespielt hatten, als einen aktiveren Faktor
einzusetzen.
In der ersten Frage lag es nahe, der englischen Politik, die in Bulgarien so eng mit
den österreichischen Interessen zusammenging, auch einen Teil der
Verantwortlichkeit zuzuschieben. In London aber hieß es, man könne
sich an Österreich mit der Tat nur anschließen, wenn man die
moralische Unterstützung Deutschlands habe. Bismarck war zu einer
gewissen Ermutigung Englands schon bereit, aber er konnte sie nicht im Osten
selber geben, weil er unter allen Umständen vermeiden wollte, sich durch
Balkanfragen in einen Krieg mit Rußland verwickeln zu lassen. Wohl aber
konnte er eine Bindung im Westen eingehen. In diesem Sinne ließ er am 27.
November die Engländer wissen: "Wir würden einen
gefährlichen Angriff Frankreichs auf England nicht zulassen können.
Jede ernste Gefahr, die England durch Frankreich drohen würde,
würde heute so gut wie bei Waterloo uns in den Kampf ziehen." Churchills
Antwort lautete: "Wenn Österreich unter stillschweigender Billigung
(connivence) Deutschlands eine entschiedene Stellung im Orient
einnehmen wollte, werde England mitgehen und seine ganze Macht in die
Waagschale werfen... Zwischen England und Österreich werde die
Verständigung jeden Tag und ohne Schwierigkeit zustande kommen,
sobald Bismarck sie für wünschenswert hielte und fördern
wollte." Der Ansatzpunkt war gegeben, und Churchill übernahm sich
bereits in starken Wendungen gegen den gemeinsamen Feind Frankreich: man
würde keine Ruhe haben, bis er nicht völlig vernichtet sei.38 Aber Bismarck wollte es vermeiden,
in irgendeiner Form sich für die österreichische Politik verbindlich
zu machen, und wartete einen günstigeren Augenblick der inzwischen im
Flusse befindlichen Dreibundverhandlungen ab, um das Band zwischen Wien und
London, ohne selber dabei hervorzutreten, fester zu ziehen.
Die Italiener hatten schon im Vorjahre, bei der ersten Anregung zur Erneuerung,
angedeutet, daß sie den Wunsch hätten, das Bündnis "intimer"
und "positiver" zu gestalten. Nachdem im Oktober 1886 die Verhandlungen
über die Verlängerung des Dreibundes begonnen, regte der
italienische Ministerpräsident Graf Robilant wiederum an, in diesem Falle
auch gewisse Mittelmeerinteressen Italiens und seine Zuziehung zu Balkanfragen
vertragsmäßig zu berücksichtigen. Man fühlte sich
begehrter und auch von Frankreich umworben. Auch für Bismarck war der
Italiener, infolge des Ansteigens des französischen Chauvinismus,
wertvoller geworden: anders als früher und als noch in Gastein verabredet
war, zeigte er sich nicht abgeneigt, dem Italiener entgegenzukommen und das
Band fester zu ziehen. Der am 1. Dezember 1886 vorgelegte italienische
Vertragsentwurf brachte allerdings keine geringe Erweiterung; er bezog die
Aufrechterhaltung des Status quo auf dem Balkan ein und wollte etwaige
Veränderungen von einem vorgängigen Abkommen mit
Österreich abhängig gemacht [309] sehen; vor allem sollte
für den Fall, daß es wegen der Mittelmeerfragen (Tripolis oder auch
Marokko) zu einem Kriegszustand zwischen Frankreich und Italien käme,
das Eintreten des casus foederis stipuliert werden. Zugleich ließ
man wissen, daß man größere Truppenmassen nicht nur an der
französischen Grenze, sondern auch auf anderen Kriegsschauplätzen
zur Verfügung halte. Der italienische Machtwille, der die Weltlage seinen
Träumen günstiger werden sah, drängte sich stürmisch
und nichts weniger als kriegsscheu herzu. Bismarck erklärte den Entwurf
für annehmbar und empfahl den österreichischen
Staatsmännern mit Nachdruck eine wohlwollende Prüfung; er ging
dabei von dem Gesichtspunkt aus, "daß wir einem
französisch-italienischen Kriege doch nicht untätig würden
zusehen können, und daß somit der Anlaß zu einem solchen,
wenn er einmal ausgebrochen sein sollte, für den Eintritt des casus
foederis irrelevant sein dürfte." Als Kálnoky Bedenken gegen
das ungleiche Verhältnis der Verpflichtung und Leistung geltend machte,
erwiderte er mit realistischer Einschätzung des dritten Partners, daß
das Maß der Leistungen Italiens wesentlich von seinem Interesse zur Sache
abhängen würde. Die eingehenden
Abänderungsvorschläge, die Kálnoky am 20. Dezember
vorlegte, zeigten jedoch, daß man in Wien gegen die orientalischen
Hoffnungen Italiens mißtrauisch und zugeknöpft blieb. Es ließ
sich nicht mehr verkennen, daß die beiden Bündnispartner
Deutschland und Österreich-Ungarn bei ihrer verschiedenen
Interessenrichtung auch in der Bewertung des italienischen Partners
auseinandergingen. Eine Randbemerkung Bismarcks vom 3. Januar 1887
formulierte den Tatbestand: "Unser Interesse bringt mit sich: Beistand Italiens
für uns gegen Frankreich, und für Österreich gegen
Rußland, und keine Ausdehnung unserer Pflichten gegen
Österreich, so lange dort Parlament, Presse und ungarischer Chauvinismus
in heutiger Kraft bleiben; eventuell als pis aller Abschluß mit Italien
zu 2, nur gegen Frankreich, und wohlwollende Neutralität Italiens bei
österreichisch-russischen Händeln, die ohne uns
möglich sind, sobald sie nur Balkan, nicht Österreich direkt
betreffen. Daß auch in solchen Händeln Österreich
durch Italiens und eventuell Englands Beistand möglichst stark sei, ist
unser Interesse."39 Hier sind schon die Gesichtspunkte
angedeutet, aus denen sich dann im Laufe des Januar die Verlängerung und
Ausgestaltung des Dreibundes ergeben wird.
Während sich der neue Dreibund vorbereitete, war Bismarck gleichzeitig
bemüht, den Draht nach Petersburg nicht abreißen zu lassen, sondern
neu zu befestigen. Die Zunahme der
russisch-österreichischen Spannung erforderte seine höchste Kunst.
Am 13. November vertrat Graf Kálnoky in den Delegationen eine
Auffassung der bulgarischen Frage und eine Beurteilung der russischen
Maßregeln in Bulgarien, die in Petersburg maßlose Empörung
erregte. "Aller Haß richtet sich gegen Österreich", gestand selbst der
maßvolle Herr von Giers. Nirgends konnte man sich mehr verhehlen,
daß das Dreikaiserbündnis, das selbst Bismarck [310] seit einiger Zeit nur
noch als Dreikaiser-Entente bezeichnete, der Vergangenheit angehörte.
Schon wagte Katkow anzukündigen, daß Rußland über
den Kopf Österreichs und Deutschlands hinweg einem sichereren
Bundesgenossen die Hand reichen und im entscheidenden Augenblick nicht
alleinstehen werde. Und der Widerhall aus Paris blieb nicht aus. Auf der anderen
Seite scheute der ehemalige Ministerpräsident Andrássy sich nicht,
gerade der Kombination des deutsch-österreichischen Bundes mit der
Dreikaiser-Entente die Schuld an den geringen Früchten des
Bündnisvertrages zu geben. Die Politik Bismarcks, die zu den
Verträgen von 1881 und 1884 geführt hatte, war zerrissen, und es
war die Frage, ob sich noch irgend etwas davon retten lasse.
An dem Tage vor dem Beginn der Heeresdebatte im Deutschen Reichstage hatte
Bismarck die russische Zirkularnote über Bulgarien mit einer Note vom 2.
Dezember 1886 beantwortet, die in förmlicher Weise anerkannte, daß
die prinzipielle Haltung des Reiches durch die jüngsten Ereignisse in
Bulgarien sich nicht geändert habe, und daraus den Schluß zog,
daß die Kaiserliche Regierung weder den Beruf noch die Absicht habe, dem
Bestreben der russischen Regierung nach Wiederherstellung ihres
verfassungsmäßigen Einflusses entgegenzutreten. Diese absolute
deutsche Enthaltsamkeit wurde, ohne jede Verschleierung, als die
natürliche Folge der Weltlage bezeichnet, bei der die vorwiegende Aufgabe
der deutschen Politik in der Sicherstellung des Reiches liege gegen die Angriffe,
von denen die territoriale Sicherheit Deutschlands bedroht sein könne, "und
auf die wir im Rückblick auf die mehr als 200jährige Geschichte
unserer Beziehungen zu Frankreich und auf die Fortschritte der republikanischen
und sozialistischen Bewegung in diesem Lande früher oder später
gefaßt sein müssen". Es war die bestimmte Erklärung,
daß die deutsche Politik den Russen freie Hand geben und Österreich
nicht unterstützen werde, wenn es in Bulgarien Schwierigkeiten mache.40 Die Antwort war ein russisches
amtliches Kommuniqué vom 15. Dezember, das die Zeitungsartikel
über die russenfeindliche Haltung Deutschlands bedauerte und der Presse
größere Vorsicht anempfahl. Da die gemessene Erklärung
Österreich überhaupt nicht erwähnte, glaubte Schweinitz
folgern zu müssen, daß von der
Dreikaiser-Entente nicht mehr die Rede sein könne. Aber Bismarck gab
noch nicht nach: "Warum nicht, es ist nicht unsere Aufgabe, diese Konsequenz zu
ziehen. Wir müssen das Dreikaiserbündnis weiterspinnen, solange
ein Faden dran ist".41
Er erwog jedes denkbare Mittel, um den Zugang zu dem persönlichen
Vertrauen des Zaren zurückzugewinnen. Da er erfuhr, daß
Alexander III. über die [311] historische
Entwicklung der Vorgänge, die seinerzeit zum
deutsch-österreichischen Bündnis geführt hatten, sehr
unvollkommen unterrichtet war, so entwarf er eine längere Denkschrift (14.
Dezember), von der er sich eine objektive Aufklärung versprach; und da
Giers von einzelnen Wendungen fürchtete, daß sie den Unwillen des
Zaren nur steigern würden, und deswegen die Denkschrift vorzulegen
Bedenken trug, ließ Bismarck sie sogar entsprechend abändern, um
den Erziehungsprozeß nicht scheitern zu lassen. In dieser, dem
Selbstherrscher vorsichtig angepaßten Form wurde die Denkschrift am 4.
Januar dem Zaren von Herrn v. Giers vorgelesen.42 Der Zar sträubte sich zwar
gegen manche Wahrheiten der Vergangenheit, aber er schien einzusehen,
daß eine russische Annäherung an Frankreich notgedrungen dazu
führen müsse, die Beziehungen des Deutschen Reiches zu den
übrigen europäischen Mächten enger zu gestalten. Es schien
sogar, als ob man an diese Einsicht des Zaren wirklich werde anknüpfen
können.
Am 6. Januar erschien Graf Peter Schuwalow, der Bruder des Berliner
Botschafters, in einer besonderen Mission des Zaren in Berlin. Er hatte den
Auftrag, von Kaiser Wilhelm
ein Schreiben zu erwirken, in dem er als oberster
Kriegsherr dem noch in der militärischen Rangliste geführten
Battenberger die Rückkehr nach Bulgarien untersagen solle. Der Russe
verband aber damit vertrauliche Eröffnungen, die sich nur als Einleitung
einer neuen Verhandlung auffassen ließen. Er verbürgte sich nicht
nur, daß der Zar niemals Deutschland angreifen werde, am wenigsten mit
Frankreich; er äußerte sogar seine Überzeugung, daß sich
innerhalb von 24 Stunden vom Zaren eine schriftlich bindende Erklärung in
Form eines Vertrages erreichen lasse, daß er sich in
französisch-deutsche Händel niemals einmischen werde, einerlei, ob
Frankreich Deutschland angreifen werde oder auch im umgekehrten Falle; die
einzige deutsche Gegenleistung - abgesehen von der Zurückhaltung
in Bulgarien - würde in einer Erklärung zu bestehen haben,
daß Deutschland Rußland nicht verhindern wolle, die
"Schließung der Meerengen" zu erlangen.43 Es ist
begreiflich, daß Bismarck, der gerade zu den Reichstagsverhandlungen in
Berlin eintraf, diese Eröffnung mit hoher Genugtuung zur Kenntnis nahm;
er veranlaßte Schuwalow, den Entwurf eines solchen Vertrages, der an die
Stelle der nicht mehr haltbaren Dreikaiser-Entente werde zu treten haben,
aufzusetzen, und ging in Erwartung dieser neuen Entwicklung zuversichtlich in
den politischen Kampf. Schon glaubte er im Staatsministerium die Hoffnung
aussprechen zu dürfen, es werde gelingen, den russischen Elefanten so zu
leiten, daß er kein Unheil bei seinen täppischen Bewegungen
anrichten könne.
[312] In dieser Stimmung
hielt er am 11. Januar 1887 die große Rede zur Heeresvorlage, und von
keiner seiner außenpolitischen Reichstagsreden kann man sagen, daß
sie so viel berechnete Diplomatie enthalte. Das gilt natürlich nicht von
ihren fundamentalen Thesen über das Wesen der deutschen Friedenspolitik:
"Wir gehören zu den, wie der alte Fürst Metternich sagte, saturierten
Staaten, wir haben keine Bedürfnisse, die wir durch das Schwert
erkämpfen könnten"; es gilt ebensowenig von der
grundsätzlichen Ablehnung des Präventivkrieges, von der Stellung
des Reiches zu seinem westlichen Nachbarn und von seiner politischen
Uninteressiertheit im Orient, die in dem durch diese Anwendung auf Bulgarien
klassisch gewordenen Hamletzitat gipfelt: "Was ist ihm Hekuba." Wohl aber ist
diplomatische Berechnung die Art, wie er die Kriegsgefahr des Augenblicks
analysiert. Zur Überraschung der Welt erklärte er die Freundschaft
mit Rußland als über jeden Zweifel erhaben und verzichtete damit auf
alle Gründe, die aus einer russischen Gefahr zugunsten der Heeresvorlage
entnommen werden konnten. Das alles lag auf der Linie der Politik Bismarcks,
aber auf die optimistische Färbung seiner Worte wirkte doch auch die
unmittelbar voraufgegangene Eröffnung Peter Schuwalows ein. Wie sehr er
sich trotzdem bewußt blieb, daß er die Beziehungen zu Rußland
günstiger dargestellt habe, als er sie in der Tat bewertete, beweist ein
diplomatischer Erlaß der nächsten Wochen, der gleichsam einen
authentischen negativen Kommentar zu diesem Teil der Rede enthält.44 Er war Realist genug, um sich
zugleich alle inneren und äußeren Gründe zu
vergegenwärtigen, die die Stimmung des Zaren wandeln könnten. Im
Moment der Rede aber stand ihm das Ziel fest vor Augen, die Fühlung mit
Petersburg wiederherzustellen, den Tatendrang der Ungarn zu
ernüchtern45 und die Franzosen gründlich
abzukühlen.
Aus diesen taktischen Gründen beleuchtete er die französische
Gefahr auf das schärfste, als wenn sie die einzige wäre. In weit
ausgreifendem Überblick ordnete er die
deutsch-französischen Beziehungen in den geschichtlichen Prozeß
ein, auf dessen Wiederaufnahme man vorbereitet sein müsse; er sprach von
seinen gescheiterten Bemühungen, das Geschehene zum Vergessen zu
bringen, und erklärte das Unterhalten und Schüren des feu
sacré für im höchsten Grade bedenklich. Dem friedlichen
französischen Bürger rief er zu: "Man spricht nicht von der
Revanche, man spricht nur von der Befürchtung, von Deutschland
angegriffen zu werden. Diese Befürchtung ist unwahr, und wer sie in
Frankreich ausspricht, weiß, daß er die Unwahrheit sagt. Wir werden
Frankreich nicht angreifen." Den Deutschen aber [313] malte er in
ähnlichen Wendungen, wie er sie schon in dem Briefe an den
Kriegsminister gebraucht hatte, die Folgen einer Niederlage aus: sie würden
dieselben Franzosen sich gegenüberfinden, unter deren Herrschaft sie von
1807 - 1813 gelitten hätten, und die sie ausgepreßt
hätten bis aufs Blut - wie die Franzosen sagen: saigner à
blanc. Aus dieser geschichtlichen Erinnerung mochten sich dann auch die
Franzosen das Ihre entnehmen.46
Die Beurteilung der Rede Bismarcks war in Wien sehr geteilt. Kálnoky
machte dem Reichskanzler den Vorwurf, er habe durch die Präzisierung der
Stellung Deutschlands die allgemeine Lage verschoben, während Bismarck
für sich in Anspruch nahm, die Lage wieder richtiggestellt zu haben: die in
Pest erfolgte russenfeindliche Verschiebung habe ihm die Aufgabe auferlegt, das
Gleichgewicht der Beziehungen durch erhöhte Russenfreundschaft
wiederherzustellen. Das war nicht unrichtig und doch auch nicht ganz die
Wahrheit. Denn es ließ sich nicht leugnen, daß die Front des
deutsch-österreichischen Bündnisses von 1879 von Bismarck
gewaltsam nach Westen verlegt wurde, aber nicht um den Krieg
auszulösen, sondern um ihn zu verhindern.
Der außenpolitische Machtkampf war zugleich ein innenpolitisches Ringen
um die Macht im Staate geworden. Die parlamentarische Opposition hatte
ursprünglich es sich zugetraut, wie Windthorst es ausdrückte,
zunächst ein außenpolitisches Examen mit dem Reichskanzler
anzustellen, aber sich dann doch wohl überzeugt, daß die Stunde
dazu nicht geeignet sei. So beschränkte sie sich darauf, den vollen Umfang
der Heeresvorlage zu bewilligen - "jeden Mann und jeden
Groschen" - aber nur auf drei Jahre, d. h. sie machte den Versuch,
das einst durch Kompromiß ausgeglichene Machtverhältnis zwischen
Krone und Parlament zu ihren Gunsten zu verschieben. Auch damit wählte
sie einen unglücklichen Anlaß zur Machtprobe, denn Bismarck war
entschlossen, die Durchbrechung der bisherigen Praxis nicht zuzulassen. Wenn
man auf der anderen Seite den Streit wollte, dann nahm er den Handschuh auf, ja,
es reizte ihn, den parlamentarischen Gegner auf einem letzten Endes für ihn
gefährlichen Kampffelde auflaufen zu lassen. Er fühlte, wie alle,
schon den Schatten des Thronwechsels in das öffentliche Leben sich
niedersenken und mußte alles daran setzen, einer solchen
Möglichkeit mit dem sicheren Rückhalt eines zuverlässigen
Reichstags gegenüberzutreten. Wenn er aber die Kronrechte gegen eine
parlamentarische Verkürzung verteidigte, entfesselte er einen Kampf, in
dem er zugleich die eigene politische Macht, auch einem neuen Träger der
Krone gegenüber, verstärken konnte. Mit dem Vollgefühl
eines [314] Kämpfers, der
mehr als eine Abrechnung vor sich sah, löste er am 14. Januar 1887 den
Reichstag auf.
Während der Wochen des Wahlkampfes stieg die Erregung immer
höher: es war, als ob man vor dem Hereinbrechen eines ungeheuren
Schicksals stünde. Auch in der deutschen und französischen Presse
steigerte sich die Erregung gegenseitig. Man hörte von allen Arten
französischer Vorbereitungsmaßregeln an der Grenze (weil man an
einen deutschen Angriff glaubte), auch von Pferdeankäufen auf deutschem
Gebiet, die von deutscher Seite mit einem Pferdeausfuhrverbot beantwortet
wurden; einige Tage lief das Gerücht um, daß Bismarck sich an den
preußischen Landtag mit einer großen Kreditanleihe wenden wolle.
Die Skrupellosigkeit des Wahlkampfes übersteigerte manche Argumente,
und Bismarck konnte sogar den taktischen Erfolg verzeichnen, daß es ihm
gelang, die Autorität des Papstes gegen das Zentrum in Sachen des
Septennats auszuspielen. So stieg die Spannung der europäischen Krisis
immer höher.
Vergegenwärtigen wir uns zunächst den Verlauf, den in dieser Zeit
die nach allen Seiten noch völlig im Fluß befindlichen
Bündnisverhandlungen nahmen.
Da sollte sich zunächst herausstellen, daß die an die Mission des
Grafen Peter Schuwalow geknüpften Hoffnungen verfrüht, wenn
nicht gar eitel waren. Schuwalow hatte seine Instruktion weit überschritten
und fand bei seiner Rückkehr nach Petersburg gar keine Neigung vor, auf
seine Vorschläge einzugehen. Woche auf Woche verging, ohne daß
eine Rückäußerung erfolgte, bis man sich in der ersten
Hälfte des März mit dem Gedanken vertraut machte, daß das
ganze Unternehmen gescheitert sei.47
Dafür mehrten sich die Anzeichen, daß der wankelmütige Zar
mehr denn je den Einflüssen der Gegenseite verfallen sei und im Bann der
slawophilen Argumentation stehe. Die Stellung von Giers schien
erschüttert, der Einfluß von Katkow im Steigen. "Früher
glaubte ich", sagte der Zar am 17. Januar zu seinem Minister, "das sei nur
Katkow, aber ich habe mich überzeugt, daß dies ganz Rußland
ist."48 Alexander III. glaubte an den
deutsch-französischen Krieg49 und
wollte ihn im russischen Interesse nicht verhindern; von beiden Seiten sich
umworben fühlend, suchte er die Situation dadurch zu nutzen, [315] daß er den
Franzosen in der Stille Ermunterungen zukommen ließ.50 Als der französische
Botschafter Laboulaye ihm am 21. Januar seine Sorge vortrug, antwortete ihm der
Zar - sehr gegen den Willen seines Außenministers und trotz seiner
freundschaftlichen Versicherungen nach deutscher
Seite - mit direkten Andeutungen, daß Frankreich bei ihm im
Notfalle auch gegen Deutschland Unterstützung finden würde. Schon
drang der Botschafter auch in Giers, er möge ihm eine klare und
womöglich schriftliche Antwort zu geben, welche Haltung Rußland
im Falle eines Krieges zwischen Frankreich und Deutschland einnehmen werde:
werde es Frankreich moralisch unterstützen und Truppen an die deutsche
Grenze werfen?51 Man ließ immerhin von
russischer Seite die Mitteilung nach Berlin gelangen, daß man im
Kriegsfalle Frankreich als Großmacht erhalten wissen wolle.52 Der
deutsch-französische Krieg würde Rußland in die Hinterhand
des europäischen Mächtespiels gebracht haben, darum tat man in
Petersburg nichts, ihn zu verhindern, einiges ihn zu fördern und
hüllte sich nach Berlin in tiefes Schweigen.53 Aus
diesem russischen Verhalten schöpfte Boulanger die Kraft des
Entschlusses, mit aller Energie auf den Krieg hinzuarbeiten.
Inzwischen aber gelang es Bismarck, den anderen Flügel seines
Bündnissystems wieder unter Dach und Fach zu bringen. Wir sahen,
daß sich dem Abschluß des Dreibundes in der von den Italienern
vorgeschlagenen Form allerhand Schwierigkeiten in den Weg gestellt hatten. Am
16. Januar teilte Kálnoky, zur peinlichen Überraschung auch der
deutschen Diplomatie, mit, daß Österreich statt des italienischen
Vorschlags, den Bismarck sich angeeignet hatte, vorziehen werde, den Vertrag in
der früheren Gestalt zu erneuern. Unter dem Eindrucke der Reichstagsrede
Bismarcks und eines nahenden
deutsch-französischen Krieges machte er geltend, daß
Österreich keinen Mann im Osten entbehren könne; wenn man in
Berlin sich so stark im Osten desinteressierte, wollte man in Wien keine neuen
Verpflichtungen im Westen übernehmen. Daraufhin einigte Bismarck sich
zunächst mit den Italienern über einen neuen Vorschlag: den alten
Vertrag zu Dreien zu erneuern, dazu zwei Zusatzakte, eine mit Österreich,
eine mit Deutschland zu vereinbaren; in der letzteren sollten die von Italien
gewünschten Verpflichtungen allein von Deutschland übernommen
werden. Er empfahl den [316] Österreichern
dringend die Annahme dieses vermittelnden Vorschlages, indem er daran
erinnerte, daß man das Bündnis mit Italien weniger des Beistandes
gegen Frankreich halber erstrebe, als um Österreich im Falle eines
russischen Angriffes die Sicherheit vor Italien im Rücken zu verschaffen.
Er erreichte seinen Zweck, als Kálnoky am 12. Februar seine Zustimmung
zu dem vorgeschlagenen Wege gab. Die formelle Erneuerung und
Ergänzung des Dreibundvertrages erfolgte am 20. Februar 1887.
Aus dem schleppenden Gange dieser Verhandlungen hatte Bismarck immerhin
den Schluß gezogen, daß noch ein weiteres Eisen in das Feuer zu
legen sei, um die zwischen Österreich und Italien im Orient noch nicht
erreichte engere Fühlung vermöge einer neuen Klammer
herzustellen. So kam er auf den Gedanken, an dieser Stelle das englische Interesse
einzuschieben, ohne das Maß der deutschen Verpflichtungen im Osten zu
erhöhen. Schon längst hatte er im stillen erwogen, auf welche Weise
für die österreichische Orientpolitik eine englische
Rückendeckung beschafft werden könne; zugleich sagte er sich,
daß die italienische Militärmacht ganz anders verwendbar sein
würde, wenn sie im Bunde mit der englischen Seemacht aufträte. Da
es ihm bisher nicht gelungen war, auf dem Wege über Wien eine
Sicherstellung englischer Beihilfe im Orient herbeizuführen, schlug er den
Weg über Rom ein. Indem er die Italiener ermutigte, eine
Annäherung an England zu suchen, warf er das ganze Gewicht seiner
Autorität zur Unterstützung dieses Versuches in die Waagschale. Am
ersten Februar begab er sich persönlich zu dem englischen Botschafter
Sir Edward Malet, um den Abschluß eines Abkommens mit Italien
zu empfehlen.54 Da er die formelle Schwierigkeit
für eine parlamentarische Regierung würdigte, riet er, die
Verständigung nur für die Amtsdauer des gegenwärtigen
Ministeriums anzustreben, und legte dem Mutterlande der public opinion
um so mehr die Verpflichtung der Regierung ans Herz, in ihrem Sinne die
öffentliche Meinung zu formen. "Sie ist nichts anderes, als ein aus einer
Menge kleiner Flüsse gebildeter Fluß, deren einer die Regierung ist;
wenn die Regierung ihren Nebenfluß genügend speisen würde,
trüge sie auf wirksame Weise dazu bei, die große allgemeine
öffentliche Meinung zu bilden." In der Sache wies er darauf hin, daß
auch im deutschen Bündnis Italien nur von Bedeutung sei, wenn es seine
Truppen zu Schiff befördern könne, und erinnerte ernst an die Pflicht
Englands, einen Teil der Verantwortung auf sich zu nehmen, um Europa zu
sichern. Wenn es sich weigere, müsse er anderswo Fühlung nehmen,
wobei er leise durchblicken ließ, daß die
deutsch-französischen Beziehungen (Ägypten!) wie die
deutsch-russischen Beziehungen (Bosporus!) sich auch leicht freundlicher
gestalten lassen würden. Unter dem Druck der gespannten Weltlage ging
die englische Regierung, deren Versuche, sich mit Frankreich in Ägypten
besser zu stellen, gescheitert waren, auf den [317] Vorschlag Italiens ein.
Sie wünschte nur, das Einvernehmen in eine Form zu kleiden, die ihr im
Falle von neugierigen Interpellationen gestatte, jede Allianz in Abrede zu stellen.
Salisbury sprach dabei in Berlin am 5. Februar seinen lebhaften Dank aus,
daß England in dem befreundeten Deutschland ein sicheres Bollwerk gegen
französische Angriffe besitze - in dieser Zusicherung bestand die
Gegengabe der deutschen Politik. So kam am 12. Februar, als die höchste
Kriegsspannung kaum überwunden war, das
englisch-italienische Abkommen zustande. Der englische Premierminister
bezeichnete es als die weitestgehende Zusicherung, welche ein parlamentarischer
Staat überhaupt erteilen könne: nämlich daß er im Falle
eines Krieges zwischen Frankreich und Deutschland sich aktiv derjenigen
Staatengruppe anschließen werde, welche die Friedenspolizei im Orient
bilde.55
Zum ersten Male hatte Bismarck sich dem schon längst erwogenen Ziele
genähert, auch England in verbindlicher Form mit dem von ihm
geführten Mitteleuropa zu verknüpfen. Er durfte es als einen nicht zu
unterschätzenden Erfolg betrachten, "daß wir England so weit zu
engagieren vermocht haben".
Der nächste Schritt war fast nur eine Formsache: der Beitritt
Österreichs zu dem englisch-italienischen Abkommen. Bismarck
veranlaßte, daß dieses auch in Wien mitgeteilt wurde, "um
Kálnoky anzuregen!", und riet im stillen, den guten Willen Englands rasch
beim Worte zu nehmen, legte selbst aber Wert darauf, die Hand nicht in dieser
Sache zu haben. Der formelle Beitritt Österreichs wurde am 23. März
vollzogen. Nun blieb nur noch übrig für die drei verbundenen
Mächte, den Sultan dem russischen Einfluß zu entreißen und
sich womöglich, wozu Bismarck den Engländern längst
geraten hatte, einen Einfluß auf die militärischen Machtmittel der
Türkei zu verschaffen. Aber das war ihre Sache.56 Die ganze nur durch die
Kriegsspannung ermöglichte Entwicklung setzte Bismarck instand, der
weiteren Auseinandersetzung mit Frankreich und Rußland, im Besitz einer
elastischen Rückendeckung mit größerer Ruhe
entgegenzusehen.
Die französische Politik Bismarcks verfolgte im Grunde ein eindeutiges
Ziel: den Frieden zu erhalten, aber das Haupt der Kriegspartei aus der Macht zu
drängen, um damit der für Rußland so verführerischen
Revanche einen Schlag zu versetzen. Aber es ließ sich nicht verkennen,
daß dieser Weg des Friedens nahe an Kriegsgefahren vorbeiführte
und daß eine Politik, die das französische Schwert in der Scheide
halten wollte, damit rechnen mußte, daß es nun gerade gezogen
wurde.57 Als die durch die Wahlbewegung und
die Maßregeln Boulangers ge- [318] steigerte Beunruhigung
auf den Höhepunkt stieg, legte Bismarck Wert darauf, über seinen
ernsten Friedenswillen niemanden in Frankreich im unklaren zu lassen. Am 31.
Januar erklärte er dem französischen Botschafter wiederholt,
daß Deutschland den Frieden wünsche und nicht angreifen
würde; was er fürchte, sei das Emporkommen Boulangers als
Ministerpräsident oder Präsident der Republik: das würde den
Krieg auf kurze Frist bedeuten.58 Auch der
Ministerpräsident de Freycinet bestätigte dem deutschen
Botschafter, Herbette habe sich sehr befriedigt über sein Gespräch
mit dem Kanzler geäußert und seine bestimmte Überzeugung
ausgesprochen, daß der Frieden erhalten bleibe.59
In den nächsten Tagen ging Bismarck auf den beiden Linien vor, die seinem
doppelten Ziele entsprachen: die Friedlichen zu beruhigen und die Kriegerischen
einzuschüchtern. Am 4. Februar hatte der deutsche Botschafter dem
französischen Außenminister gegenüber mit der erneuten
Erklärung der friedlichen Absichten seiner Regierung die Mitteilung
verbunden, daß der große Generalstab in Berlin niemals den
geringsten Protest gegen die französischen Vorsichtsmaßregeln
erhoben habe. Die französische Regierung ließ diese
Erklärung, die mit den Meldungen ihres Botschafters
übereinstimmte, sofort amtlich verbreiten. Am anderen Tage aber erging in
Berlin ein Kaiserlicher Erlaß, der auf den 7. Februar 73 000
Reservisten zu einer zwölftagigen Übung mit dem neuen
Magazingewehr einberief.60 Mit
anderen Worten, wenn man die Franzosen ungestört militärisch das
ihre tun ließ, so behielt man sich auch auf deutscher Seite die für
richtig gehaltenen militärischen Schritte vor.
Boulanger aber entnahm daraus den Anlaß, jetzt einige Schritte
weiterzugehen. Zunächst beschloß er an den Zaren einen Brief zu
richten, der nur durch das Eingreifen des Außenministers und des
Präsidenten Grévy aufgehalten wurde.61 Seine
eigentliche Antwort aber war ein Versuch, die Franzosen in den Krieg zu treiben.
Er beschloß, die deutsche Maßregel durch die Einberufung der
französischen Reserven und die Mobilmachung zu
beantworten - wodurch er natürlich sofort die allgemeine
Mobilmachung auch auf deutscher Seite ausgelöst haben würde. Er
brachte, so erzählte später M. Grévy dem deutschen
Botschafter,62 das dafür erforderliche Dekret
in den Ministerrat und verlangte die Unterschrift des Präsidenten. "Das ist
wahnsinnig, was Sie mir da vorschlagen, General!" antwortete der
Präsident, "wissen Sie nicht, daß das den Krieg bedeuten
würde?" - "Nun, ich bin bereit", entgegnete
Boulanger. - "Ebenso bereit wie Leboeuf seinerzeit, und ich werde nicht
einmal die Diskussion dieses Projektes
zulassen." - [319] "In diesem Falle werde
ich meinen Rücktritt einreichen
müssen!" - "Gut, tun Sie es," antwortete der Präsident.
Boulanger aber reichte seinen Rücktritt nicht ein und war nachher sehr
untertänig und ruhig: "So ist dieser
Mann." - Damit schloß Grévy die Erzählung des
Vorgangs.63
Der Verlauf der Krise hatte erwiesen, daß die Friedenspartei in Paris noch
stärker war als die Kriegspartei. So war denn auch Bismarck geneigt, sich
optimistischer über die Erhaltung des Friedens auszusprechen; er ging
zunächst nicht weiter, sondern begnügte sich mit dieser
Erschütterung der Stellung Boulangers, zumal da er die Zwangslage der
leitenden Männer in Paris würdigte, die den Kriegsminister nicht
entfernen konnten, ohne ihn zum Heros und Märtyrer als Opfer der
Deutschen zu machen. Es kamen in den nächsten Wochen eine Reihe von
Momenten hinzu, die die Entspannung förderten: der Abschluß der
deutschen Wahlen, die am 21. Februar einen starken Sieg der
regierungsfreundlichen Parteien brachten, und die Annahme der Heeresvorlage
am 11. März.
Trotzdem bleibt die Frage zurück: was ist in dieser ersten Krisis das
eigentliche Ziel Bismarcks gewesen? Hat er nicht trotz aller friedlichen Worte
doch innerlich den Krieg gewollt? - Es steht zunächst einwandfrei
fest, daß Bismarck sowohl die gegnerischen als auch die befreundeten
Mächte darüber nicht im Zweifel ließ, daß er an einen
Angriff auf Frankreich nicht denke. Wie den Franzosen, so hatte er den Russen
ohne Umschweife erklärt, daß er den Krieg nicht wolle.64 Wenn Boulanger und
Déroulède mit dem Gedanken operierten, nie sei die Gelegenheit
so günstig gewesen, so verwarf er seinerseits jede Gelegenheitsrechnung,
jede Verlockung, einen Krieg aus diesem Grunde zu führen. Er
erörterte wie schon oft seinen Lieblingsgedanken: niemand könne
der göttlichen Vorsehung so weit vorgreifen, um dies mit unbedingter
Sicherheit behaupten zu können, denn es könnten sich im Laufe der
Zeit allerhand unberechenbare Vorfälle ereignen, die den Ausbruch eines
deutsch-französischen Krieges verhinderten. Das ließ er auch dem
russischen Botschafter in Wien sagen, der es als im Interesse Deutschlands
liegend bezeichnet hatte, die "beklagenswerte Notwendigkeit" nicht
hinauszuschieben.
Bismarck glaubte aber auch zu bemerken, daß man selbst im befreundeten
Lager ihm zutraue, den Krieg zu wollen, und daß man dort den Krieg nicht
ungern sah. Fast mit Empörung stellte er fest, daß man selbst in Wien
"den ganz unglaublichen Gedanken" hegte, die deutsche Regierung oder
wenigstens "die [320] deutsche
Militärpartei" habe wirklich an einen Anfall auf Frankreich gedacht.
"Daß unsere Gegner den Sachverhalt im Sinne der altbekannten Fabel des
Phädrus von dem Wolf und dem Lamm umdrehen und uns in
bewußter Verlogenheit aggressive Absichten imputieren, ist
natürlich. Daß aber unsere Freunde in Wien sich soweit haben
verblenden lassen können, jenen Unterstellungen auch nur für eine
kurze Zeit Glauben beizumessen, ist sehr niederschlagend."65 Er wiederholte dieses Bekenntnis
auch dem Kronprinzen Rudolf: "Sie wollen mich in den Krieg drängen, und
ich will den Frieden; einen Krieg vom Zaun brechen, wäre frivol; wir sind
kein Raubstaat, der Krieg führt, nur weil er eben einigen konveniert."66 Auch wenn Bismarck dem englischen
Botschafter versicherte, daß er Frankreich trotz aller Boulangerschen
Provokationen nicht angreifen werde, hielt er es für angezeigt, im Hinblick
auf englische Zeitungen die Frage damit zu verbinden, ob England ein Interesse
daran zu haben glaube, daß dieser Krieg ausbreche.67 Der am berühmtesten
gewordene englische Zeitungsartikel dieser Art, der in einer ganz anderen
Konstellation zu einer unbequemen Erinnerung für die gelenkige englische
Staatskunst werden sollte, erschien am 4. Februar im Londoner Standard,
einem dem Ministerpräsidenten Salisbury nahestehenden Organ, in der
Form eines Briefes von "Diplomaticus". Er enthielt eine vom englischen
Standpunkt aus höchst bemerkenswerte Betrachtung: "Wie sehr auch
England einen Einfall in belgisches Gebiet durch eine der kämpfenden
Parteien bedauern möge, so könnte es doch nicht Frankreichs Partei
gegen Deutschland ergreifen, ohne dabei die Hauptziele der britischen Weltpolitik
ernstlich zu gefährden oder preiszugeben. Aber, wird man fragen, ist nicht
England durch seine Unterschrift gebunden und muß es nicht seinen
öffentlichen Verpflichtungen treubleiben? Meine Antwort ist, daß
Englands auswärtiger Minister imstande sein müßte, diesem
Einwand Rechnung zu tragen, ohne daß England in einen Krieg verwickelt
wird. Die zeitweise Benutzung eines Wegerechtes ist etwas anderes, als eine
dauernde, unrechtmäßige Besitzergreifung eines Gebietes, und
sicherlich würde England leicht vom Fürsten Bismarck angemessene
Garantien dafür erhalten können, daß nach Beendigung des
Konfliktes das belgische Gebiet unversehrt wie vorher bleiben würde."
Daß dieser Artikel einen amtlichen Ursprung gehabt habe, läßt
sich zwar nicht "beweisen", aber viel weniger kann es als ein belangloser Zufall
gedeutet werden, daß er in der ministeriellen Zeitung im Augenblicke
höchster kriegerischer [321] Spannung Aufnahme
fand.68 Tatsächlich fügt er sich
durchaus in den Rahmen dessen ein, was wir von der amtlichen Leitung der
englischen Politik in diesen Wochen wissen: eng an Deutschland angeschlossen,
rechnete sie mit dem Ausbruch des Krieges.69 Man
mußte aber in London den Krieg schon sehr innig wünschen, wenn
man ihm das empfindlichste englische Interesse auf dem
Kontinent - obgleich ein Durchmarsch durch Belgien damals
außerhalb der deutschen Kriegspläne lag70 - so uneigennützig zum
Opfer bringen wollte.
Es war nicht anders: in mehr als einer europäischen Großstadt sah
man einem deutsch-französischen Kriege sehr viel gelassener entgegen als
in Berlin. Sowohl in Petersburg als in London verkannte man nicht, daß
man dann erst die freie Bewegung ganz zurückgewinnen würde. Der
Zar sah naturgemäß in dem Ausbruch des Krieges den
günstigsten Fall, "um mit wenig Mitteln einen zwingenden Druck auf
Deutschland auszuüben"; vermutlich verschob er das offensive Vorgehen
gegen die Bulgaren gerade deswegen, weil er den Ausbruch abwarten wollte. Die
Engländer aber wären aller ägyptischen Sorgen ledig gewesen,
wenn der große Kampf entbrannte; eine gleichzeitige Bindung des
französischen Gegners und des deutschen Freundes wäre
vielleicht das Willkommenste gewesen. Bismarck machte sich auch keine
Illusionen darüber, warum man in beiden Lagern es als eine Erleichterung
empfunden hätte, wenn das Schicksal seinen Lauf nahm. Wer seinem
Friedenswillen mißtraut, wird ihm wenigstens das nüchterne
Abwägen der wirklichen deutschen Interessen nicht abstreiten wollen.
In dieser erregten Zeit wirkte der neunzigste Geburtstag des alten Kaisers (22.
März 1887) wie eine jener Unterbrechungen, bei denen auch die
hochgespannten Rivalitäten der Völker eine Pause der Ehrerbietung
oder doch der Konvention eintreten lassen. Die Fürstenhöfe Europas
waren fast vollzählig vertreten und huldigten einer ehrwürdigen
Erscheinung, die den monarchischen Gedanken so treu und so vornehm
verkörperte. Nur die französische Leidenschaft ließ sich auch
bei solchem Anlaß nicht zügeln, und eines der Boulanger
nahestehenden Blätter La France schrieb: "Für uns ist
der Name des Kaisers Wilhelm gleichbedeutend mit Blut, Diebstahl, Mord; er
erinnert uns an die Niederlage unseres [322] Vaterlandes, die
Hinschlachtung unserer Soldaten, den brutalen Diebstahl zweier unserer
Provinzen."71 Daß der Krieg von 1870/71 von
den Franzosen selbst vom Zaune gebrochen und nichts als ein Einbruch in die
nationale Selbstbestimmung der Deutschen gewesen war, war von diesem
Geschlecht längst vergessen. Aber von solchen Mißtönen
abgesehen, die Stimme der Welt klang an diesem Tage, so wie der Kardinal
Galimberti im Namen des Papstes Leo XIII. dem Kaiser aussprach: tiefe
Ehrfurcht vor einem dem Wohl der Nation und dem Frieden der Welt geweihten,
gottgesegneten Leben.
Auch die Russen hatten in diesem Augenblicke, nach mehr als zweimonatlichem
Schweigen, die Verhandlungen über einen Vertrag wieder aufgenommen;
am 19. März hatte Giers es dem deutschen Botschafter im tiefsten
Geheimnis angekündigt. Großfürst Wladimir, der Bruder des
Zaren, der zu dem Festtage in Berlin erschien, besprach mit Bismarck von neuem
den Abschluß eines Neutralitätsvertrages für den Fall eines
russisch-türkischen und eines
deutsch-französischen Krieges. Während das bulgarische Thema
verlassen wurde, beteuerte er, das Hauptinteresse des Zaren sei auf Zentralasien
und den Besitz der Dardanellen gerichtet, die er als seine Hausschlüssel
betrachte.72 Aber in denselben Tagen stieg die
Woge der deutschfeindlichen Propaganda noch höher; mit einer Heftigkeit
ohnegleichen, als wenn es gälte, den Eindruck der Mission des
Großfürsten im selben Augenblicke wieder auszulöschen, griff
Katkow in der Moskauer Zeitung die Politik des Herrn v. Giers an,
die im Gegensatz zu der des Zaren den deutschen Interessen diene. Alle
russischen Zeitungen unterstützten Katkow in dem offenkundigen
Bestreben, die Erneuerung des Dreikaiserbündnisses zu verhindern, das in
den letzten Zügen liege. Und tatsächlich ließ die amtliche
Einleitung der Verhandlung von neuem Woche auf Woche auf sich warten.73 Erst in der letzten Aprilwoche, als das
System des berechneten Verschleppens und Durchkreuzens bis auf das
Äußerste ausgeschöpft war, erlaubte der Zar seinem Ratgeber,
das Gespräch über einen neuen Vertrag zu Zweien zu
eröffnen.
Der Beginn der Besprechungen wurde zunächst am 20. April durch einen
unvorhergesehenen Zwischenfall zwischen Berlin und Paris gestört. Ein
zu- [323] fälliges und
untergeordnetes Ereignis, die Verhaftung des französischen Polizeiagenten
Schnäbele, löste noch einmal einen Ausbruch der Leidenschaften
aus, der hart an der Kriegserklärung vorbeiging. Daß dieser tief in die
elsässische Spionage verwickelte Agent auf deutschem und nicht auf
französischem Boden auf Grund eines schwebenden reichsgerichtlichen
Haftbefehls verhaftet wurde, steht einwandfrei fest; darin ist die deutsche
Auffassung im Recht gegenüber der französischen Lesart, die das
Gegenteil, die Grenzverletzung, behauptete; selbst Maurice Barrès, der in
seinem "Appel au Soldat" von diesem Erlebnis die Geburtsstunde des
heiligen Fiebers in Frankreich datiert, begnügt sich mit einem verlegenen
"très probablement sur notre territoire". Daß
Schnäbele aber auf das deutsche Gebiet auf Einladung eines deutschen
Beamten zu Grenzgeschäften herüberzukommen veranlaßt
wurde, kann ebensowenig bestritten werden; insofern ist die französische
Seite im Recht. Für die Gesamtbeurteilung des Zwischenfalls ist
durchschlagend, daß sich hinter dem Zwischenfall keine politische Absicht
der deutschen Regierung verbarg und daß Bismarck von Anfang an, sobald
der Tatbestand sich aufklärte, die Sache auf das versöhnlichste
behandelte.74 Dagegen suchte Boulanger, von der
aufgepeitschten öffentlichen Meinung und der leidenschaftlichen
Parteinahme der russischen Presse unterstützt,75 den Zwischenfall zu einem
Kriegsanlaß zu steigern. Er erneuerte den Versuch, Frankreich zur
Mobilmachung zu drängen, und verlangte ein Ultimatum, "ehe die
Kaiserliche Regierung eine Antwort habe geben können".76 Es gelang ihm, den
Ministerpräsidenten Goblet für sein Programm: Abberufung des
Botschafters in Berlin und 50 000 Mann an die Grenze, zu gewinnen, aber
er unterlag im Ministerrat. Mit der Entlassung Schnäbeles am 28. April war
der Anlaß aus der Welt geschafft. Aber die Erregung in Paris blieb noch
lange auf dem Siedepunkt: sie sah auf der einen Seite Bismarck, der mit der
unerhörten Herausforderung (einer Grenzverletzung, die gar nicht
stattgefunden hatte!) den Krieg hatte entfesseln wollen, und auf der anderen Seite
Boulanger, vor dem der Herausforderer (der also doch den Krieg nicht wirklich
gewollt haben mußte) zurückgewichen war. Präsident
Grévy aber war seit diesem Vorfall entschlossen, das Kabinett Goblet und
vor allem Boulanger zu beseitigen. Dieser lieferte schon vierzehn Tage
später selber den Anlaß. Er forderte einen Kredit für eine im
Herbst auszuführende Probemobilmachung eines Armeekorps. Der
Außenminister Flourens protestierte, zumal der deutsche Botschafter nicht
verschwieg, daß Deutschland, wenn der Plan Boulangers zur
Ausführung kommen [324] sollte, zu
Gegenmaßregeln gezwungen sein werde. Flourens hatte sogleich
durchblicken lassen, daß mit dem Gesetzentwurfe auch Boulanger fallen
würde. Und so geschah es. Am 17. Mai wurde das Kabinett Goblet von der
Kammer gestürzt, und es war damit entschieden, daß der Minister,
der auf den Krieg hinsteuerte, nicht wieder in das Kabinett eintreten würde.
Während der Ministerkrisis fiel es auf, daß der russische Botschafter,
Baron Mohrenheim, sich dahin aussprach, der Rücktritt Boulangers
würde dem Zaren unerwünscht sein.77 Aus
diesem Auftreten - es fällt in eine Zeit, wo die
russisch-deutschen Verhandlungen über den
"Rückversicherungsvertrag" schon mitten im Flusse
waren! - zog Bismarck den Schluß, daß Rußland der
Krieg zwischen Deutschland und Frankreich sehr erwünscht sein
müsse.
Er hatte sein nächstes Ziel erreicht, mit der Person Boulangers den Geist
der unverhüllten Revanche aus der Leitung des französischen Staates
zu entfernen, und war entschlossen, dem neuen Kabinett Rouvier die
Führung der Geschäfte in der Hoffnung und Annahme zu erleichtern,
daß dem bisherigen Treiben eine Grenze gesetzt werde. Gewiß, er
hätte einen Angriff Boulangers, wenn dieser sich in Paris durchgesetzt
hätte, "auflaufen lassen", wie Gramont im Jahre 1870, und er hätte
dafür gesorgt, daß es in einer nicht ungünstigen
europäischen Konstellation geschehen wäre. Aber wichtiger war es
ihm, den Weg zur Wiederherstellung normaler Beziehungen zwischen Berlin und
Paris frei zu machen. Daß sie möglich waren, ohne die Ehre, die
Stärke und die Wohlfahrt Frankreichs zu beeinträchtigen, wird durch
den Verlauf der folgenden Jahre erwiesen. Wo hätte auch in den achtziger
Jahren für die Franzosen der unerbittliche Zwang der inneren Not gelegen,
der heute die tiefe Gärung im deutschen Volke
hervorruft, - wo die aufreizende Feindseligkeit, die von außen her in
alle Lebensfragen einer Nation eingreift?78 Die
letzten Jahre Bismarcks stehen, was die Beziehungen des Reiches zu Frankreich
betrifft, unter demselben Gesetz, das seit dem Frankfurter
Frieden seinen Weg bestimmt hatte.
Inzwischen war in Berlin zwischen dem Reichskanzler und dem Botschafter
Grafen Paul Schuwalow die formelle Verhandlung über den Zweiervertrag
endlich eröffnet worden.79 Die
Grundlage des Vertrages war: russische
Neutrali- [325] tät bei einem
französischen Angriff auf Deutschland, deutsche Neutralität bei
einem österreichischen Angriff auf Rußland. Daran schloß sich
die deutsche Anerkennung der historisch erworbenen Stellung Rußlands auf
dem Balkan und namentlich in Bulgarien und Ostrumelien, sowie eine
gemeinsame Anerkennung des europäischen Prinzips des Verschlusses der
Dardanellen und des Bosporus. Insofern wurde die Basis des bisherigen
Vertragsverhältnisses erneuert, wenn auch mit manchen
Nüancierungen. Darüber hinaus wurde noch ein Geheimvertrag
abgeschlossen, in dem Deutschland auch in Zukunft sich zur Unterstützung
der russischen Politik in Bulgarien verpflichtete,
sowie - und das war das schwerwiegende
Neue - seine moralische und diplomatische Unterstützung zusicherte,
falls der Zar sich genötigt sehen sollte, den Eintritt in das Schwarze Meer
zu verteidigen, um die Schlüssel seines Reiches zu bewachen, d. h.
sich der Meerengen bemächtigen würde. An dieser Stelle einer
einseitigen deutschen Verpflichtung war Bismarck viel weiter gegangen, als nach
dem Beginn der Verhandlung im Januar zu erwarten gewesen war. Die
Verhandlungen, Ende Mai noch durch eine Reise Schuwalows nach Petersburg
unterbrochen, verliefen in ihrem Endstadium, wie sie in den vorbereitenden
Stadien eingesetzt hatten: ohne den Geist des gegenseitigen Vertrauens. Noch in
einem Erlasse vom 13. Juni gestand Bismarck dem Botschafter von Schweinitz,
daß er sich seit langem mit der Möglichkeit einer Nichterneuerung
der Verträge vertraut gemacht habe und nach den "nur in letzter Zeit
schüchtern und teilweise zensurierten, sonst aber in breiter Weise
geduldeten und gepflegten
russisch-französischen Sympathien und Allianzneigungen" vertraut machen
mußte. Er war so skeptisch geworden, daß er den Wert, den die
deutsche Politik auf das Vertragsverhältnis zu Rußland zu legen habe,
geradezu durch die Frage vermindert sah, ob der Zar gegenüber der
künstlich aufgeregten öffentlichen Meinung imstande sein werde,
den Vertrag zu halten, wenn Deutschland von Frankreich angegriffen werde. Noch
in den letzten Tagen vor dem Abschluß stellte er fest, daß die
Schwierigkeiten, die es mache, einen für Rußland so günstigen
Vertrag in Petersburg zur Annahme zu bringen, kein Vertrauen wecken
könnten. Ja, die Finasserien und Zusatzforderungen von seiten des
russischen Unterhändlers nahmen noch in den letzten Tagen einen Umfang
an, daß Bismarck bei der Frage der Vertragsdauer (ob 5 oder
3 Jahre) - obgleich der Russe zu einem längeren Termin bereit
war - im Hinblick auf diese Verzögerungen den kürzeren
Termin vorzog, um dem anspruchsvollen Partner die Überschätzung
des Vertragsbedürfnisses auf deutscher Seite zu benehmen.80
So blieb er kühl bis zu dem letzten Augenblicke des Vertragsabschlusses,
der am 18. Juni 1887 erfolgte. Selten ist ein so bedeutsamer Vertrag mit so
geringen Illusionen zustande gekommen.
[326] Von Bismarck selbst ist
das Urteil überliefert: "Der Haupteffekt unseres
deutsch-russischen Vertrages bleibt für uns immer der, daß wir drei
Jahre hindurch die Zusicherung haben, daß Rußland neutral bleibt,
wenn wir von Frankreich angegriffen werden." Der Zar dagegen stellte
später nur fest: "Ich denke in der Tat, daß für Bismarck unsere
Entente eine Art Garantie ist, daß kein schriftliches Abkommen zwischen
uns und Frankreich existiert, und das ist sehr wichtig für Deutschland."81 Wenn in der russischen Auffassung
der Nachdruck auf das Wort "schriftlich" gelegt wurde, dann enthielt der Vertrag
für Deutschland sehr wenig. Aber bevor man ein Urteil fällt, wird
man zunächst beobachten müssen, welche Wirksamkeit er
während der Zeit seines Bestehens ausüben wird. Das muß
besonders betont werden, weil die Bedeutung des Vertrages durch spätere
Ereignisse, durch den zufälligen Zusammenfall seiner Nichterneuerung mit
dem Rücktritt des Reichskanzlers, und dann durch das Ausspielen des
Vertrages gegen die Politik des Neuen Kurses in eine Beleuchtung gerückt
worden ist, die sich mit seiner tatsächlichen Funktion von
1887 - 1890 nicht vereinbaren läßt: so tut man gut, das
Spätere zunächst einmal zurückzuschieben.
Bismarck selbst verhehlte sich nicht, daß die Beziehungen zu Rußland
weniger auf dem Vertrage als auf der Persönlichkeit des Zaren ruhten:
"Einen anderen Boden hat das Faß dort nicht", ließ er sich schon in
einem Erlaß vom 28. Juni vernehmen, "wenn wir denselben ausschlagen, so
läuft das Faß aus." Der alte Kaiser Wilhelm aber, der damals mit Kaiser Franz Joseph zum letzten Male in Gastein zusammentraf (und ihm den
russischen Vertrag zu verheimlichen genötigt war!), machte kein Hehl
daraus, daß sein Vertrauen in den Zaren tief erschüttert war.82
Wenn somit der Rückversicherungsvertrag schon hinsichtlich der
Gesinnung der Vertragschließenden auf einem unsicheren Grunde ruhte, so
glaubt man vollends einen schwankenden Boden zu betreten, wenn man die Frage
aufwirft: Wie war sein Inhalt, insbesondere das Geheimabkommen über
den Bosporus, mit dem Wortlaut und dem Geist der anderen
Bündnisverpflichtungen des Deutschen Reiches zu vereinbaren,83 und weiter, mit jener Politik, die in
einer Art von stiller Partnerschaft den Abschluß der Oriententente
begünstigt hatte? Bis- [327] marck würde auf
die erste Frage erwidert haben, daß die Verpflichtungen des
österreichischen Bündnisses und die Zusagen des
Rückversicherungsvertrages sich formell nicht schnitten; und weiter,
daß er selbst einen Fall, in dem sich ein Durchkreuzen hätte ergeben
können, rechtzeitig zu vermeiden gewußt haben würde. Er ging
formell bis an die Grenze der Bundestreue, als er den Vertrag vom 18. Juni auch
vor Wien geheim hielt, aber er hat in den drei Jahren, in denen der Vertrag
bestand, trotzdem dem Österreicher mit der Tat die Treue gehalten.
Noch komplizierter erscheint die zweite Frage: Zwischen der Preisgabe der
Meerengen im Rückversicherungsvertrage an Rußland und der
Rückendeckung der Oriententente
Österreich-Italien-England bestand vielleicht kein formaler
Widerspruch - denn im lebendigen Geschehen können viele
Eventualitäten nebeneinander
bestehen - aber doch ein starker innerer Gegensatz. Stoßen wir hier
nicht auf die tiefe Verschlagenheit eines Staatsmannes, dessen linke Hand nicht
mehr wissen darf, was die rechte tut? Aber was hier als Zweideutigkeit erscheint,
ist doch nur erzwungen durch das bis zum letzten Augenblick
hin- und herspringende Doppelspiel des Russen, dem nur durch eine Politik mit
doppeltem Boden begegnet werden konnte. Bismarck war auch in diesem
höchst verwickelten Spiel nicht ein willkürlicher Vergewaltiger
fremder Kräfte, sondern der sich in die Lebenswillen der anderen Staaten
einfühlende Gestalter, der ihnen mit leichter Hand und ohne die ihnen
innewohnende Dynamik zu stören, ihre Auswirkung erleichterte,
vorausgesetzt, daß die deutsche Existenz nicht berührt wurde. Wenn
nun einmal mit dem russischen Machtziel Konstantinopel zu rechnen war, so war
es nicht der Beruf des Deutschlands in der Mitte Europas, sich dort im
Südosten in den Weg zu stellen: mochte der Russe den Weg antreten, aber
selber das Risiko tragen. Der deutschen Politik konnte alles, was ihn von der
deutschen Grenze abzog, erwünscht sein. Die Mächte aber, deren
Interesse das nicht zuließ, mochten sich vereinigen, ebenfalls aber auf ihre
eigene Gefahr; wenn der russisch-französische Druck auf die Mitte
stärker wurde, konnte man diese Vereinigung befördern, ohne jedoch
selber in Aktion zu treten: die Gegnerschaften der anderen untereinander sollten
sich nur auf ferneren Schauplätzen entladen. Für die deutsche Politik
blieb die Hauptaufgabe, das französische Schwert in der Scheide zu halten
und damit den russischen Tatendrang zu dämpfen. Immer von neuem
predigte Bismarck in Wien, man möge die Russen ruhig nach
Konstantinopel vorstoßen lassen: dann nämlich stehe man nicht nur
militärisch in ihrer Flanke, sondern auch politisch. Auch dem Kronprinzen
Rudolf gegenüber bezeichnete er es als ratsam, die Russen, wenn sie im
Falle eines deutsch-französischen Krieges nach Bulgarien und auf
Konstantinopel marschieren sollten, in die Mausefalle hineinzulassen und
abzuwarten, bis die Engländer den ersten Schuß
getan - [328] eine Perspektive, die
von seiner politischen Phantasie noch weiter ausgestaltet wurde.84
Das Deutsche Reich aber rückte auf alle Fälle - wie es das
Lebensgesetz seiner Mittellage erforderte - in die Hinterhand des
europäischen Machtspiels und konnte die Entscheidung so bringen, wie
seine eigene Sicherheit gebot. Diese Politik ist nicht etwa einseitig in dem Sinne,
daß sie nur mit den befestigten Staatsgewalten, nicht aber mit den
ursprünglichen politischen Kräften der Tiefe rechnete. Sie blickte
auch hier mit unerhörtem Wirklichkeitssinn in die Zukunft; sie
schätzte Rußland als viel demokratischer ein, als es nach außen
hin schien, und sah in der Ferne schon Revolutionen als Folge der russischen
Außenpolitik aufsteigen - den Kronprinzen Rudolf fragte Bismarck
geradezu, ob die slawischen Landsturmbataillone ihre Schuldigkeit tun
würden. Sein sorgenvoller Blick verweilte auf allen problematischen
Stellen, die das Gefüge der deutschen Außenpolitik aufwies. Wohl
aber darf man fragen, ob diese Politik, so vollendet sie in sich selber war, nicht die
Kehrseite haben mußte, daß ihr, ebenso wie im Innern, alles und jedes
Mittel zum Zweck wurde. Mußte es nicht dahin kommen, daß die
Mittel, welche sie aufnahm und fallen ließ, sich innerlich dagegen
widersetzten und schließlich revoltierten? Man kann das Gefühl nicht
abweisen: dieses Spiel mit den fünf Kugeln ist so verwickelt geworden,
daß ein anderer es nicht würde spielen können; ja, eines Tages
kann es nicht mehr weitergetrieben werden, sondern erfordert eine eindeutige
Entscheidung. Bismarck aber war nicht der Mann, einer Entscheidung
auszuweichen, wenn sein seherisches Gefühl ihm sagte, daß der Weg
der Vorsehung erkennbar geworden sei.
Noch einmal hatte der Reichskanzler über den Ansturm aller gegnerischen
Gewalten in der Welt triumphiert. Der Ausfall der Septennatswahlen, die
Befestigung des Dreibundes und seine Verlängerung durch die
österreichisch-italienisch-englische Mittelmeerentente, der Sturz
Boulangers und der Abschluß des Rückversicherungsvertrages, alle
diese Glieder einer Kette waren zugleich Stufen auf einem Wege, auf dem das
Herrschaftssystem Bismarcks noch einmal nach innen wie nach außen
verstärkt worden war. Wie lange das alles auf dem in heftige Bewegung
geratenen europäischen Untergrunde Bestand haben würde, war nicht
abzusehen - der Moment aber erhob die Gestalt des Kanzlers noch einmal
in eine beherrschende Höhe.
[329] Mehr als je erschien
der Wille des Reiches in seinem Willen verkörpert, und die Sorge des
Reiches in seiner Sorge. Wie konnte es anders sein, als daß auch sein
Selbstbewußtsein, in unablässigem Kampfe verhärtet, sich mit
der deutschen Politik geradezu gleichsetzte? Einige Jahre vorher schon hatte er
dem Botschafter von Schweinitz gesprächsweise gestanden, er habe sich
mit dem Staate identifiziert; er sage freilich nicht wie Louis XIV.:
"L'État c'est moi!", sondern "Moi, je suis l'État".
Schweinitz, der auch dem Kanzler gegenüber tiefe Bewunderung mit
psychologischer Kritik vereinigte, sah in diesem von Anmaßung ganz freien
Ausspruch die Eigenart Bismarcks ausgedrückt, den Egoismus mit dem
Patriotismus zu verschmelzen. Er fand darin genau so viel Selbstaufopferung wie
Selbstsucht, vor allem aber eine wirkungsvolle Konzentrierung sämtlicher
ihm verliehenen Kräfte. "Dies ist nicht der gewissenhafte Beamte, welcher,
wenn er sein Büro verläßt, keine geschäftliche Sorge mit
in den Kreis seiner Familie nimmt, nicht der glänzende Staatsmann, der den
Zauber seiner politischen Erfolge in den Salons verwertet. Fürst Bismarck
ist jenen Kaisern zu vergleichen, die das Reich und die Hausmacht gleichzeitig
groß und stark machten; auch mit den Hohenzollern hat er vieles gemein,
besonders den stark ausgeprägten Erwerbssinn, die Freude am Besitz und
die Herrschergabe. Wenn wir nicht, Gott sei es gedankt, eine Dynastie
hätten, er würde eine solche gründen und, wenn die
Merowinger in Berlin regierten, so würde er ein Pippin sein." Seine
Machtstellung schien sich von der Summe seiner Ämter abzulösen
und etwas Besonderes und Eigenartiges darzustellen: sie weckte Bewunderung
und Liebe, Furcht und Haß. Es fehlte schon nicht an Stimmen, die das
gefährliche Wort vom Hausmeier
aufgriffen - als wenn dieser Machtwille sich
empfindungsmäßig nicht immer durch die Haltung des
kurbrandenburgischen Vasallen begrenzt hätte. In den letzten Jahren hatte
Bismarck seinen ältesten Sohn Herbert näher an sich herangezogen
und häufig die schwierigsten Sachen mit ihm zusammen erledigt. Der Sohn,
in der Schule des Vaters groß geworden und ihm bedingungslos ergeben,
besaß große Fähigkeiten; er war vielleicht der stärkste
und gewandteste Arbeiter im Auswärtigen Amte, als er zum
Staatssekretär aufstieg; er dachte politisch in Bismarckschen Kategorien,
auch wenn er sie nur als ein Erbe übernommen hatte; wenngleich sein
geistiges Wesen nicht so fein und seine Form nicht so beherrscht war, konnte er
vielleicht ein Erbe werden, der die Kontinuität der Politik seines Vaters
verbürgte.
Solche Erwägungen mochten sich immer mehr einstellen, weil in diesen
Monaten ein längst nahender Schatten sich auf die Dynastie niedersenkte
und jene Kontinuität, die ihre Idee ist, einen Augenblick zu
erschüttern drohte. Bei der russischen Entscheidung für den
Rückversicherungsvertrag mochte schon der Gedanke mitgespielt haben,
gerade für die nächsten Jahre, in denen nach menschlichem
Ermessen der Kronprinz Friedrich Wilhelm seinem neunzigjährigen Vater
folgen mußte, noch einmal das bisherige Vertragsverhältnis der
beiden Reiche herzustellen. Wer weiß, ob nicht auch in der Seele
Bismarcks - neben dem [330] entscheidenden
mächtedynamischen Gesichtspunkt - das Nebenmotiv mitsprach, auf
diesem Wege zugleich seine Politik gegen eine allzu unvermittelte Wendung nach
der englischen Seite hin sicherzustellen. Aber diese Möglichkeiten, wenn
sie bestanden hatten, waren schon im Augenblick des Vertragsabschlusses so gut
wie ausgelöscht.
Schon mit Beginn des Jahres hatte der Kronprinz an einer wachsenden Heiserkeit
gelitten. Am 20. Mai 1887 stellte das ärztliche Konsilium den schweren
Ernst der Erkrankung fest und erklärte eine sofortige eingreifende
Operation für geboten, für die alleinige Rettung. Wenn in den
nächsten Tagen, nach der Zuziehung des englischen Arztes, zunächst
die günstigere Auffassung den Sieg davontrug und die schon vorbereitete
Operation vertagte, so stand doch unter den Eingeweihten das Gespenst eines
möglichen dunklen Ausganges vor der Tür.
Eine unerwartete und einschneidende Wendung! So tief ein jeder die menschliche
Tragik empfand, die ein Leben eben dann zerstörte, wo es sich endlich erst
zu entfalten vermochte, die Regierenden erwogen zugleich die
unermeßlichen Folgen, die sich daraus für die Staatsleitung, vielleicht
für die Geschicke des deutschen Volkes ergeben mochten. Es ist
überliefert, daß Bismarck, als ihm die Nachricht von der
verhängnisvollen Diagnose gebracht wurde, im ersten Augenblick in
Tränen ausbrach. War es Mitgefühl mit einem menschlichen
Schicksal, oder war es die Sorge um den Staat, um die plötzliche
Umwälzung einer Zukunft, auf die er sich selbst und seine
außenpolitischen Entwürfe seit dem Sommer 1885 eingestellt hatte?
Andere empfanden bereits in dieser Stunde anders. Der ehrgeizige
Generalquartiermeister, kommender Chef des Generalstabs, Graf Alfred von
Waldersee, vertraute schon am 23. Mai seinem Tagebuch die merkwürdige
Betrachtung an: "Der Kanzler steht vor einer völlig neuen Konstellation;
wenn er bisher darauf gerechnet hatte, sich mit dem Kronprinzen einzurichten,
muß er nun darauf gefaßt sein, mit dem Prinzen Wilhelm zu gehen.
Nach meiner Überzeugung ist das aber nicht durchführbar. Der
28jährige lebhafte und ehrgeizige Prinz und der 72jährige
Kanzler!" - Sollte das Problem der Dynastie auch das Problem der
Herrschaft des Kanzlers in sich schließen? Wenn der erste Blick in die
Zukunft einem Deutschen schon den Keim eines Machtkampfes enthüllte,
welche Gedanken mußten dann in den europäischen Zentren wach
werden, in denen man die Macht des Reiches, so wie sie unter Bismarcks Leitung
sich erhoben hatte, nur murrend hinnahm?
Nun sollte allerdings in den nächsten Monaten alle Sorge vor anscheinend
günstigeren Nachrichten zurücktreten. Noch vermochte der kranke
Kronprinz als Repräsentant des Deutschen Reiches bei dem
50jährigen Regierungsjubiläum der Königin Victoria in
London sein Leiden äußerlich zu verbergen und ahnte selbst nicht,
daß dies - es war Schicksal und Symbol
zugleich - seine letzte Rolle auf der Bühne des Lebens gewesen war.
Bald aber wurden die Meldungen über sein Befinden wieder
ungünstiger, und im Laufe des November 1887 ließ es [331] sich auch vor der Welt
nicht mehr verbergen, daß der Verlauf der tödlichen Krankheit nur
noch auf kurze Frist aufgehalten werden konnte; die unheilvolle Wucherung setzte
ihr zerstörendes Werk fort; man konnte fortan nur noch hoffen, einer
unmittelbaren Erstickungsgefahr durch einen operativen Eingriff zu begegnen.
Allen Selbsttäuschungen im engsten Familienkreise zum Trotz wußte
die Welt fortan, daß das Schicksal des Kronprinzen sich in wenigen
Monaten erfüllen werde, noch bei Lebzeiten des hinsinkenden alten
Kaisers, oder aber, wenn dieser plötzlich hinweggerafft werden sollte, um
als ein schon vom Tode Berührter nur eine geringe Spanne Zeit den Schein
der Kaiserkrone zu tragen.
Die Gesamtlage der Dynastie erforderte, daß der junge Prinz Wilhelm,
dessen Thronbesteigung in jedem Augenblick eintreten konnte, mit einer
Stellvertretungsorder für gewisse Notfälle ausgestattet werde
(18. November); fast gleichzeitig mit dem Beginn einer Einführung
in die Staatsgeschäfte, die bis dahin zurückgehalten war.
Pflichtmäßig und im Stile seiner Tradition trat er an seine Aufgabe
heran, vielleicht schon etwas hastiger, als der Moment gebot, den Wechsel, der
eines Tages kommen mußte, vorwegnehmend.85 Ein neuer
Mann rückte damit in den Vordergrund, und in einem Augenblick, in dem
sich die schwerwiegendsten Entscheidungen drängten. Was bedeutete das
für alle Erwägungen der inneren und äußeren
Staatsleitung Bismarcks, aber auch für jede politische Rechnung, die den
europäischen Mächten ihren Gang vorschrieb! Ihnen allen
gegenüber hatte Bismarck seine Staatsräson vertreten, durch den
hinter ihm stehenden Monarchen wie durch eine unerschütterliche Kraft der
Beständigkeit gedeckt; vom November an konnte seine Haltung nicht ganz
so sicher sein, weil er sehr verschiedenen Möglichkeiten ausgesetzt war, die
nicht in seiner Hand lagen und seinen Weg durchkreuzen konnten; er hatte das
Schicksal der Dynastie selbst durch den reißenden Strom zu tragen. Das
alles wog um so schwerer, als der Umschwung mit der schwersten
europäischen Krisis seit 1871 zusammenfiel. Es stellte sich nichts
Geringeres heraus, als daß der Zar, dem innerlich geschwächten
Willen der deutschen Dynastie gegenüber nur noch selbstherrlicher
auftretend, noch einmal zu der zweiseeligen und zweideutigen Außenpolitik
des Vorjahres zurückgekehrt war. Der Monat November, der die Tragik im
Hause der Hohenzollern vor der Welt enthüllte, sollte das Deutsche Reich
vor die Frage: Krieg oder Frieden? stellen.
|