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Bd. 9: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Erster Teil


Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin

Kapitel 2: Das Deutsche Reich
unter der Staatsleitung Bismarcks 1871 - 1890
  (Forts.)

5. Europäische Hochspannung in den letzten Jahren der Staatsleitung Bismarcks (1885 - 1890).   (Forts.)

Es war, als wenn der Rückversicherungsvertrag vom 18. Juni 1887 kaum eine Spur in den deutsch-russischen Beziehungen zurückgelassen hätte. So wenig [332] er bei dem greisen Kaiser Wilhelm das stark angewachsene Mißtrauen verringerte, so wenig vermochte er die Grundgesinnung des Zaren zu verändern. Wenn der Zar beim Tode Katkows am 1. August 1887 mit besonderer Wärme sich zu dem Manne bekannte, der in begeisterter Vaterlandsliebe das russische Nationalgefühl in Zeiten der Trübsal belebt habe, so klang das wie ein Bekenntnis zu dem anderen Rußland, vor dem die amtlichen Kreise den Rückversicherungsvertrag ängstlich geheimhielten.

Schon der Fortgang der bulgarischen Entwicklung, in der Prinz Ferdinand von Coburg im Laufe des August 1887 die Schaubühne betrat, trug dazu bei, das alte Spiel, dieses Mal mit verstärkten Akzenten, wieder aufzunehmen. Als damals Déroulède eine neue agitatorische Rundreise durch Rußland antrat, wurde er bereits unter Teilnahme der Behörden geräuschvoll gefeiert; der schwülstige Stil seiner Reden, der von der heimlichen Ehe des Liebespaares Rußland-Frankreich sprach, rief in der leicht entzündlichen russischen Presse einen stürmischen Widerhall hervor; es war, als ob der Gedanke der Revanche in dem Lande, in dem nichts gegen den Willen des Selbstherrschers geschah, so gut wie amtlich genehmigt sei. Für die untern Instanzen, die ihr Verhalten nach der Stimmung des Hofes einrichteten, war es ein deutliches Symptom, daß der Zar auf seiner Reise nach Kopenhagen es vermied, den naheliegenden Besuch bei Kaiser Wilhelm zu erwidern. Gerade in Kopenhagen sollten sich dann unterirdische Kräfte in Bewegung setzen, um die Verstimmung des Zaren leidenschaftlich zu steigern; die Auszeichnungen aber, die den bei den antideutschen Kundgebungen vornehmlich beteiligten russischen Beamten zufielen, schienen wie berechnet, diese Verstimmung zur allgemeinen Kenntnis zu bringen. Wenn man sich von deutscher Seite über solche Vorgänge, als im Widerspruch zu dem Vertragsverhältnis stehend, beschwerte, antwortete Herr von Giers im herkömmlichen Tone: das alles habe nichts zu bedeuten, für den Zaren sei das gute Einvernehmen mit Deutschland nach wie vor die Hauptsache, ein Zusammengehen mit Frankreich gegen Deutschland undenkbar.86

Es war nicht die Art Bismarcks, bei solchen beunruhigenden Beobachtungen stille zu sitzen und die Russen im Glauben zu lassen, daß ihre Methode der Druckmittel ihre Wirkung auf den Nachbarn nicht verfehle. Er begann, noch weitere diplomatische Vorsichtsmaßregeln nach der einen Seite zu treffen, auf die Gefahr hin, daß solche Maßregeln wieder anreizend auf den Offensivgeist der anderen Seite zurückwirken würden. Noch im September lud er den tatenfreudigsten Staatsmann der Dreier-Gruppe, Francesco Crispi, zu einem Besuch in Friedrichsruh ein.

Tatsächlich verging kaum eine Woche nach dem Beruhigungsversuche von Giers, und die Sturmzeichen mehrten sich. In einem Toast an Bord eines fran- [333] zösischen Kriegsschiffes wagte Großfürst Nikolaus auf einen baldigen gemeinsamen Krieg Rußlands und Frankreichs anzuspielen (7. Oktober).87 Die Welt mochte annehmen, daß auf diese Weise eine Antwort auf die Besprechungen in Friedrichsruh gegeben werden solle. Wenn der Zar solche Vorgänge zuließ, mußte er jeden Glauben an die deutsche Politik verloren haben. Man darf annehmen, daß ihm schon in diesem Augenblick die gefälschten Briefe vorgelegt worden waren, die Bismarck der Untreue und des Doppelspiels in der bulgarischen Laufbahn Ferdinands von Coburgs zu verdächtigen suchten. Der Kanzler konnte sich nicht der Erkenntnis verschließen, daß die Politik des Rückversicherungsvertrages aus Gründen, die sich nicht völlig durchschauen ließen, kaum noch am Leben sei. Wenn er eine Rückendeckung durch einen förmlichen Vertrag gesucht hatte, so verfügte der Zar anscheinend über eine Rückversicherung, die der Form eines Vertrages nicht einmal bedurfte und nach Belieben verwendet werden konnte. Um so mehr befestigte er sich in der Überzeugung, daß man gegen russische Kriegsdrohungen durch "anderweitige Koalitionen" sich sichern (9. Oktober) und die bisherige Bindung an die russische Orientpolitik einstellen müsse: "Die Drohungen, welche in allen diesen Kundgebungen gegen Deutschland Ausdruck finden, machen es uns ehrenhalber gar nicht möglich, die russische Politik öffentlich zu unterstützen. Es würde das so aussehen, als fürchteten wir uns vor einer russisch-französischen Koalition, was durchaus nicht der Fall ist. Ein solcher Eindruck aber würde die öffentliche Meinung in Deutschland der Regierung entfremden" (12. Oktober).

Die Welt ahnte, daß hinter dem Spiel der offenen Manifestationen, der Kämpfe in der Presse, der unterirdischen Intriguen in Wahrheit eine Art diplomatischer Kraftprobe zwischen dem Dreibunde und den russisch-französischen Zukunftsmöglichkeiten verborgen lag. Man konnte nicht ganz auf den Grund sehen. In einer Rede, in der Crispi am 25. Oktober 1887 in Turin den Fürsten Bismarck feierte, streifte er fast ihre Geheimnisse: "Ein Name beherrscht die Zeitepoche, in der wir leben: der eines Staatsmannes, für den ich seit langem große Bewunderung hege..., dessen Regierungsprogramm sich durch die wunderbare Anordnung der verschiedensten Mittel zur Erreichung eines einzigen Zieles auszeichnet. Dieses scheinbar doppelte Ziel, der Friede und die Größe seines Vaterlandes, ist nur eins." Aber schon das Wort der Friedensliga, insofern sie mit einer zentralen Machtstellung des Deutschen Reiches verknüpft war, reizte den elementaren russischen Machtinstinkt leidenschaftlich auf und trieb sein innerstes Wesen nach der französischen Revancheseite hinüber. Wenn auf diesem Hinter- [334] grunde die unmittelbare russisch-österreichische Kriegsgefahr, ausgelöst durch die Befestigung des Coburgers in Bulgarien, sich seit Anfang November von neuem erhob, so war der Friede ernster bedroht als seit Jahren. Seit der Rede Kálnokys in den Delegationen (5. November) begann sich Giers mit unversöhnlicher Härte gegen Österreich auszusprechen. Vor allem beunruhigte in den selben Tagen die Verlegung einer russischen Kavalleriedivision an die galizische Grenze; sie hatte zum mindesten den Zweck, einen österreichischen Aufmarsch in Galizien zu verhindern oder aber den Gegner zu entsprechenden militärischen Schritten zu provozieren; man konnte fragen, ob nicht der Aufmarsch mit dem unmittelbaren Ziel des Krieges eingeleitet werden sollte. Die Dinge schienen einen Lauf zu nehmen, in dem, wie häufig vor den großen Kriegen der letzten Jahrhunderte, die Rüstungen des einen und die Verteidigungen des anderen sich wechselseitig so lange steigerten, bis die Gewehre von selbst losgingen. Es waren die Tage, in denen die düsteren Nachrichten von San Remo der Welt die Tragödie im deutschen Kaiserhaus offenbar machten. Sollte es darauf abgesehen sein, daß sie sich mit einer Erschütterung der deutschen Machtstellung verbinde? In dieser Weltlage schien die lange aufrechterhaltene Unsicherheit, ob der Zar auf seiner Rückreise von Kopenhagen Berlin berühren oder vorbeifahren würde, fast die Entscheidung: Krieg oder Frieden in sich zu schließen.

Bismarcks Sorge war in diesen Wochen auf das höchste gestiegen. Hatte die Zarenkarte nicht absolut fehlgeschlagen?88 Lohnte es sich noch, vom Rückversicherungsvertrag zu sprechen?89 War es nicht geboten, auf die Drohungen mit einem unzweideutigen Gegenzuge zu antworten? Ein solcher Gegenschlag auf wirtschaftlichem Gebiete war das am 10. November von Bismarck veranlaßte Verbot der Reichsbank, Lombard-Darlehen auf russische Wertpapiere zu gewähren.90 Eine Maßregel um des Friedens willen, die, wie manche Schritte, die in höchster Spannung zu solchem Zwecke unternommen werden, auch entgegengesetzte Wirkungen auslösen konnte. Aber Bismarck hielt die Stunde jetzt für gekommen, die Karten offen auf dem Tisch zu spielen. Noch am Tage vor der Ankunft des Zaren ließ er sich zu Schuwalow vernehmen: "Ihr habt uns nach Wien genötigt, im vorigen Jahre nach Rom, jetzt werden wir nach Konstantinopel gehen und euch schließlich noch die Chinesen auf den Hals hetzen" (17. November).91

So war die Besprechung des Zaren mit dem Reichskanzler am 18. November [335] auf den ernstesten Ton gestimmt. Sie konnte allerdings einen äußeren Anlaß der schweren Verstimmung des Zaren als stärkstes Friedenshindernis aus dem Wege schaffen. Es gelang dem Kanzler ohne Mühe, die dem Zaren in Kopenhagen vorgelegten Briefe als berechnete Fälschungen aus einem interessierten Lager zu erweisen - aber an welchen Zwirnsfäden hing das Verhältnis zweier Großmächte, wenn ein listiger Betrüger das Vertrauen radikal zerstören konnte! Es blieb jedoch die Frage der deutschen Orientpolitik überhaupt - hatte der Zar recht, wenn er das dunkle Gefühl hegte, als ob Bismarck hier doch einen doppelten Weg verfolgte? Der Kanzler stellte gar nicht in Abrede, daß er in den letzten Monaten seinem Botschafter andere Instruktionen gegeben habe,92 aber als unvermeidliche Folge der russischen Unfreundlichkeiten. Seine Gegenargumentation lautete: "Wir befinden uns unter dem Druck der öffentlichen Drohungen Rußlands folgerichtig in der Unmöglichkeit, ihm Konzessionen zu machen, solange wie dieser Eindruck ohne irgendeine Richtigstellung andauert; dieser Druck hat uns notwendigerweise dazu geführt, die Beziehungen und die Allianzen, auf die wir im Falle eines französisch-russischen Angriffs rechnen könnten, zu befestigen; es würde ein Mangel an Respekt vor dem russischen Kaiser und der Größe seines Landes bedeuten, wenn man sich nicht vorsehen wollte, wo man von so furchtbaren Kräften bedroht ist."93 Demgegenüber gab der Zar die erneute Versicherung, daß er keine Angriffsabsichten gegen Deutschland hege. - So wertvoll diese Erklärung an sich war, so war sie praktisch gebunden an die Absichten, die Rußland gegen Österreich hegte: nach dieser Seite hin gab der Zar keine friedliche Erklärung, er verhehlte nicht seine schweren Differenzen, aus denen wohl einmal eine Katastrophe erwachsen könne. Es versteht sich, daß Bismarck gegenüber dieser drohenden Sprache auf die dem Zaren bekannte Bündnisverpflichtung Deutschlands gegenüber Österreich im Falle eines russischen Angriffs hinwies. Er scheute sich nicht, für diesen Fall auch die weiteren Konsequenzen anzudeuten: "Zu Bundesgenossen würden wir bei der Abwehr das ganze übrige Europa haben,94 da keine der anderen Mächte sich mit dem Gedanken würde befreunden können, nach Besiegung des Deutschen Reiches durch eine französisch-russische Koalition sich der Macht dieser letzteren, ohne Deutschland, in Europa gegenüber zu befinden".95 Ja, er hielt es für angezeigt, dem Zaren als Gegengabe gegen russische Selbstüberschätzung und gegen die Annahme, als fürchteten wir Rußland, [336] nicht zu verschweigen, daß der Feldmarschall Graf Moltke und andere Militärs einen Angriffskrieg für nützlich hielten.96 Aber sein Kaiserlicher Herr und er selbst seien dagegen.

Bei allem Austausch friedlicher Versicherungen war der Gesamteindruck der Besprechung für Bismarck doch problematisch: er war nur über die persönliche Gesinnung des Zaren, nicht über mehr, nicht über den Augenblick hinaus beruhigt.97 In dieser Ungewißheit fühlte er sich verpflichtet, auf dem seit Ende September eingeschlagenen Weg der vorbeugenden Maßregeln fortzuschreiten, den anderen Flügel seines Systems, die im Februar und März gebildete Dreiergruppe, zu verstärken. Die österreichisch-italienisch-englische Gruppe bildete - nach seiner eigenen Ausdrucksweise - "die Reserve für den Fall, daß es wirklich zum Schlagen kommt".98 Daß es zum Schlagen komme, mußte verhütet werden, darin sah er die höchste Aufgabe der Diplomatie. Für den Fall aber, daß der Friede sich trotzdem nicht erhalten ließe, mußte man folgerichtig die "Reserve", die für einen bestimmten Fall eine lose Verlängerung nach Spanien hin gewonnen hatte,99 in der Stille noch weiter verstärken. Er hatte die Bemühungen Crispis begrüßt, die theoretische Ideengemeinschaft der drei Kabinette in eine praktische Arbeitsgemeinschaft in der Orientpolitik zu verwandeln. Jetzt handelte es sich in der Besprechung mit Crispi100 darum, ein solches gemeinschaftliches Vorgehen der Gruppe, und zwar zunächst durch Zusammentritt der drei Botschafter in Konstantinopel einzuleiten. Es war für Bismarck geboten, auf diesem Wege den anderen die Vorhand zu lassen und selbst möglichst unsichtbar im Halbdunkel zu bleiben; zumal dem Sultan gegenüber ließ sich die bisherige deutsche Unterstützung der russischen Wünsche nur schwer mit dem Rate in Einklang bringen, seinerseits eine Anlehnung an die Dreiergruppe zu suchen. Das ganze Gewebe dieser Politik nahm einen fast undurchsichtigen Charakter an, aber es handelte sich um eine Verschwörung nicht gegen den Frieden, sondern zur Aufrechterhaltung des Friedens: "Wir haben Europa einen Dienst geleistet", lautete das Abschiedswort Bismarcks an den Italiener.

[337] Daraufhin kam zwischen den Botschaftern Österreich-Ungarns, Italiens und Englands in Konstantinopel der Entwurf eines Orientabkommens in 8 Punkten zustande, das ein gemeinsames Vorgehen der Gruppe, womöglich unter Einbeziehung des Sultans, vorsah. Bismarck hielt sich dem materiellen Inhalt des Abkommens gegenüber in einer gewissen Distanz: "Wir haben kein Interesse, für dieses Programm zu fechten, aber auch keines es zu bekämpfen. Wir können nur für deutsche Interessen kämpfen, die liegen nicht vor." Dabei spielte auch die Rücksicht auf den Sultan mit. Denn der Wert der neuen Interessengemeinschaft der Gruppe bestand für ihn vornehmlich darin, den Sultan im antirussischen Fahrwasser zu erhalten und zu kräftigen. In dieser Richtung suchte er auch in London für die Annahme des in Wien und Rom genehmigten Abkommens zu wirken. Es kam ihm dabei weniger auf die materielle Leistung Englands an, als auf die dynamische Wirkung seiner Beteiligung, sowohl in Konstantinopel - als unentbehrliche Verstärkung des Einflusses der "Gruppe" - als auch auf der Linie Wien - Rom: "Um Österreich und Italien dauernd zusammenzuhalten, bedarf es des englischen Kitts." Die englische Regierung erklärte sich grundsätzlich zum Beitritt bereit, aber sie erstrebte eine Art von Garantie, die man in London schon längst in der Formel "unter moralischer Billigung Deutschlands" gewünscht hatte; angesichts der Erkrankung des Kronprinzen konnte Salisbury sogar auf die Sorge hinweisen, daß über kurz oder lang in Berlin eine dem englischen Interesse nachteilige Wendung der Politik eintreten könne.101 Bismarck gab den gewünschten Vertrauensbeweis dadurch, daß er den greisen Kaiser veranlaßte, die "moralische Billigung" gegenüber dem englischen Botschafter auszusprechen, und den Text des österreichischen Bündnisses in London mitteilen ließ. Darüber hinaus aber beantwortete er am 22. November - vier Tage nach dem Besuch des Zaren! - die ihm gestellte Gewissensfrage in einem persönlichen Schreiben an Lord Salisbury, das zu den überlegtesten diplomatischen Schriftstücken aus seiner Feder gehört.

Es ist ein großes Gemälde der deutschen Politik, in dem kein einzelner Zug demjenigen fremd ist, der ihre Entwicklung nach den Akten verfolgt hat, zu einem Ganzen gerundet, wie es geschlossener und überzeugender nicht gedacht werden kann - gewiß, ein Bild, wie es von London aus gesehen werden sollte, und doch um dieses Zweckes willen nirgends tendenziös angelegt oder falsch belichtet. Der Hauptgedanke ist: die Wege der deutschen Politik sind durch die Staatsräson und ihren kategorischen Imperativ unerschütterlich festgelegt. Daraus ergibt sich die Antwort auf die besorgte englische Frage: "Ebenso wie Seine Kaiserliche Hoheit der Kronprinz seine Politik eines Tages als Kaiser nicht von englischen Einwir- [338] kungen abhängig werden lassen wollte und konnte, ebenso würde Prinz Wilhelm an seiner Stelle stehend, nicht darauf verfallen, sondern sich geradezu einer Unmöglichkeit gegenübersehen, in seiner Politik den Einwirkungen zu folgen, die von Petersburg kommen. Beide Fürsten werden, wenn sie zur Herrschaft berufen sind, der eine wie der andere, genau die gleiche Linie des Verhaltens befolgen; sie werden sich nicht von anderen als den deutschen Interessen inspirieren lassen wollen und können." Das Zwingende der deutschen Staatsräson wird aus der deutschen Wehrverfassung mit mächtigen Pinselstrichen begründet. Die Kriege der vergangenen Jahrhunderte, aus dynastischen Sympathien, Antipathien oder Ambitionen hervorgehend, sind heute eine Unmöglichkeit; denn die Massen des deutschen Volksheeres, die etwa 3 - 4 Millionen Mann vom 20. bis 45. Jahrgang umfassen, können nur aufgerufen werden, wenn die nationale Unabhängigkeit oder die Integrität des Reiches bedroht ist, nicht aber für fremde Interessen. Das Deutsche Reich hat drei große Mächte zu Nachbarn und offene Grenzen; wenn Österreich geschlagen wird, würde es allein mit Rußland und Frankreich zurückbleiben; das müssen wir verhindern, die Erhaltung Österreichs als Großmacht ist eine Notwendigkeit. Der Friede wird bedroht von Frankreich, das den Traditionen der Jahrhunderte getreu bleibt, und von Rußland, das dem Frieden Europas gegenüber aus einer ganzen Reihe von innerpolitischen Gründen die gleiche beunruhigende Haltung einnimmt, wie einst das Frankreich Ludwigs XIV. oder Napoleons I. Angesichts dieser doppelten Gefahr wird kein deutscher Kaiser eine andere politische Linie verfolgen können als die eine: die Unabhängigkeit der befreundeten und saturierten Mächte zu verteidigen. Wir werden den Russenkrieg vermeiden, solange es mit unserer Ehre und Unabhängigkeit vereinbar und solange die Unabhängigkeit Österreich-Ungarns nicht in Frage gestellt ist. Aus diesen Prämissen ergibt sich für die konkrete Frage die Schlußfolgerung: wir wünschen, daß die Mächte, die im Orient die gleichen Interessen haben - die nicht die deutschen sind - sich stark machen, den russischen Degen in der Scheide zu halten oder ihm die Stirn zu bieten, wenn es zum Bruch kommt. Daher wird kein deutscher Kaiser Rußland seine Waffenhilfe leisten, um eine dieser Mächte niederzuwerfen oder zu schwächen. Vielmehr wird die deutsche Politik immer gezwungen sein, in die Kampflinie einzurücken, wenn die Unabhängigkeit Österreich-Ungarns von einem russischen Angriff bedroht sein wird, oder wenn England oder Italien Gefahr laufen sollten, von französischen Heeren überflutet zu werden.

Der starke Vertrauensbeweis dieses Schreibens gab - zusammen mit den übrigen Schritten - der englischen Politik genau die Garantien, die ihr wünschenswert erschienen. So bestätigte denn Lord Salisbury in seinem Antwortschreiben vom 30. November mit tiefer Befriedigung die Beseitigung aller Bedenken.102 [339] Er schloß sein Schreiben mit der Feststellung: "Die Gruppierung der Staaten, die das Werk des letzten Jahres gewesen ist, wird eine wirksame Schutzwehr gegen jeden möglichen Angriff Rußlands sein,103 und die Errichtung dieser Schutzwehr wird nicht zu den geringsten Diensten zählen, welche Euer Durchlaucht der Sache des europäischen Friedens erwiesen hat." Man hört den Engländer nicht anders sprechen, als es Crispi einige Wochen vorher öffentlich getan hatte. Am 12. Dezember vollzog sich in Form einer Antwortnote auf die identischen Noten Österreich-Ungarns und Italiens der Anschluß Englands an das Programm der 8 Punkte. Das diplomatische Verteidigungsprogramm Bismarcks war damit zunächst abgeschlossen - ob es eines Tages noch weiter auszugestalten sein würde, blieb der Zukunft vorbehalten.

Nach einem alten Hohenzollernwort sind Allianzen gut, aber eigene Kräfte noch besser. So entschloß sich Bismarck im Einverständnis mit dem Kriegsminister, angesichts der sich verändernden Gesamtlage, die deutsche Wehrkraft fundamental zu verstärken.104 Das militärische Kräfteverhältnis drohte sich dadurch zu verschlechtern, daß die im Sommer 1887 in Frankreich angenommenen Gesetze über die Reform des Wehrpflichtsystems eine neue Verstärkung der französischen Kriegsmacht erwarten ließen, und auch in Rußland eine Erhöhung der Dienstzeit in Linie und Reserven beabsichtigt wurde. Um den zahlenmäßigen Vorsprung in der Kriegsstärke einigermaßen auszugleichen, wurde eine zeitliche Erweiterung des deutschen Wehrpflichtsystems vorgenommen; es handelte sich dabei hauptsächlich um eine Verlängerung der Dienstzeit der Landwehr und gleichzeitig um ihre Teilung in zwei Aufgebote - wodurch sich ein Zuwachs von sechs bis sieben ausgebildeten Jahrgängen (rund 700 000 Mann) ergab. Es war die politisch-militärische Zweifrontenmöglichkeit des Reiches, die dazu zwang, dem Druck von beiden Seiten nach Möglichkeit gewachsen zu bleiben - in dieser Dynamik lag die Wurzel des Wettrüstens der kommenden Jahrzehnte.

Wenn somit die verschobene politische Lage dazu nötigte, das militärische Prinzip stärker anzurufen, konnte es da ganz ausbleiben, daß das Militär - da die Künste der Diplomatie allein nicht mehr auszureichen schienen - sich kräftiger zur Geltung zu bringen suchte: daß es zur Anwendung der Waffen riet, solange die bisherige Überlegenheit noch dauere? Während Bismarck durch Verstärkung [340] der Allianzen und der Heereskraft den Frieden erhalten wollte, ging der Generalstab dazu über, den Präventivkrieg als die sicherste Verteidigung des Reiches zu fordern. Bismarck sah seine Aufgabe darin, eine Politik fortzusetzen, die eine Anwendung der - so hoch wie möglich zu steigernden - Heereskraft nach Möglichkeit vermeiden wollte und das Mittel des Präventivkrieges verwarf. Die Autonomie der Politik und die militärisch-strategische Denkweise, die wir zuletzt während des Krieges von 1870/71 miteinander ringen sahen, stießen aufs neue aufeinander, und die tragische Situation der Dynastie gab diesem Kampf um den entscheidenden Einfluß in der Staatsleitung ein besonderes Gesicht.

Der greise Moltke, mit 87 Jahren noch Chef des Generalstabs, aber wohl von seinem nächsten Helfer, dem Generalquartiermeister Grafen Alfred Waldersee gedrängt, legte am 30. November dem Reichskanzler eine Denkschrift über die russischen Rüstungen vor.105 Er ging davon aus, daß die russischen Maßnahmen des letzten Jahres "die teilweise Mobilmachung, bzw. den allmählichen Aufmarsch der Armee" bedeuteten, und zog aus dem vermutlichen Verlauf eines russisch-österreichischen Krieges sehr ernste Folgerungen. Der Schluß lautete so eindeutig wie möglich: nur der Präventivkrieg kann, bei der Sicherheit eines französischen Angriffs während eines Kriegsbrandes im Osten die Rettung bringen: nur wenn wir frühzeitig und gemeinsam mit Österreich-Ungarn angriffsweise gegen Rußland vorgehen, werden uns - wie die Verhältnisse einmal liegen - günstige Chancen begleiten... Wollen wir dieser Gefahr begegnen, um nicht später unter ungünstigen Verhältnissen zum Kampfe schreiten zu müssen, so dürfen wir die Kriegsvorbereitung Rußlands, sei sie nun gegen Österreich allein oder gegen uns mit gerichtet, nicht dulden. Der Winter steht einem Angriffskriege106 gegen Rußland - und nur ein solcher bietet uns Chancen - nicht im Wege, im Gegenteil wird der Frost die Wegbarkeit des Kriegsschauplatzes erhöhen und die Möglichkeit bieten, die vorbereiteten Stellungen der Russen zu überwinden."

Der Reichskanzler erklärte dem Feldmarschall, diesem Antrage, so richtig das ihm zugrunde liegende militärische Urteil auch sein möge, aus politischen Gründen nicht zustimmen zu können.107 Er hatte die größte Mühe, den Feldmarschall zu beruhigen.108 Zum dritten Male hatte er jetzt mit dem Generalstab über die Frage eines Präventivkrieges in einen Kampf einzutreten, und die früheren Meinungsverschiedenheiten von 1867 und 1873 wogen leicht gegenüber dem, was dieses Mal auf dem Spiele stand. Er wollte einen Krieg mit Rußland sich nur auf- [341] nötigen lassen, ihn präventiv109 herbeizuführen widersprach allen seinen Überzeugungen. Im Kern des Präventivkriegswillens des Generalstabes aber sah er die Gestalt des Grafen Waldersee, dessen militärische Begabung er geringer einschätzte110 als seine höfischen Talente und seinen Ehrgeiz, scharf an die Person des jungen Thronerben heranrücken, um dessen militärisches Herz mit dem Vorschlag der großen Aktion zu gewinnen.

Vor allem griff die Ansicht des Generalstabs jetzt auch nach Wien über. Bismarck war bisher mit Kálnoky darüber einig gewesen, allen russischen Provokationen auszuweichen; so sehr er die Österreicher drängte, rechtzeitig militärische Gegenmaßregeln zu treffen, so sorgfältig vermied er jede Ermunterung zum Kriege, die über den vertragsmäßigen Wortlaut des casus foederis hinausgegangen wäre. Nachdem aber Kaiser Franz Josef am 8. Dezember eine gemeinsame Besprechung über militärische Maßnahmen beantragt hatte, ließ sich voraussehen, daß in deren Verlauf die Frage der militärischen Initiative und des Eintretens des casus foederis, und damit zugleich die Frage des deutschen Aufmarsches im Osten oder im Westen gestellt werden würde. Erzherzog Albrecht hatte schon in der Krisis des Winters 1886/87 den Versuch einer Verschiebung des Bündnisfalles gemacht,111 und es war damit zu rechnen, daß dieser Versuch unter günstigeren Aussichten sich wiederholen würde.

So wurde Bismarck von der Sorge ergriffen, daß die Summe der Entscheidungen, auf dem Wege der militärisch-technischen Verabredungen, ihm entgleiten könne. Er vernahm, daß auch der deutsche Militärattaché in Wien, Major v. Deines, völlig im Gedankengange von Moltke und Waldersee, sich zu Kaiser Franz Josef und dem Generalstabschef Frhr. v. Beck für die unbedingte Notwendigkeit des Krieges aussprach, und rief ihn in der schärfsten dienstlichen Form zur Ordnung, weil er die Grenze zwischen politischen und militärischen Fragen überschritten habe. Seine eigene Stellung zu dem größten möglichen Kriege, in dem es für Deutschland keinen anderen annehmbaren Kampfpreis und keinen anderen Erfolg geben könne als die dauernde Ausdehnung der französischen [342] Revanchestimmung auf die russische Nation, formulierte er in wuchtigen Sätzen: "Die Politik S. M. des Kaisers geht in erster Linie dahin, daß dieser Krieg überhaupt vermieden werde; ob dies unmöglich sei, kann niemand mit Sicherheit vorhersagen; dahin zu streben aber ist die von S. M. gegebene Direktive und die Pflicht, welche die Reichsregierung den Regierungen der deutschen Nation gegenüber obliegt. Wird dieser Krieg dennoch notwendig, so ist doch zu wünschen, daß wir nicht der mutwilligen Herbeiführung desselben mit Grund beschuldigt werden können. Denn für freiwilliges Unternehmen desselben wird weder im Volke noch im Reichstage bei uns die Begeisterung vorhanden sein, welche allein die Anspannung aller, auch der letzten Kräfte der Nation sicherstellt. Außerdem habe ich darauf zu halten, daß wir nicht durch eigene Initiative unseren 91jährigen Kaiser und den Kronprinzen in seinem gegenwärtigen Gesundheitszustande zum Ausrücken nötigen, und daß wir ferner die volle Neubildung des Heeres, einschließlich von Landwehr und Landsturm und deren Neubewaffnung, durchgeführt haben, bevor wir den Eintritt der Eventualitäten, welche uns bevorstehen, aus eigenem Entschluß beschleunigen."112

Nun sollte der Höhepunkt der großen Krisis bald überschritten werden, da am 18. und 22. Dezember der russische Botschafter in Wien, Fürst Lobanow beruhigende Erklärungen abgab. Die akute Kriegsgefahr schien damit geschwunden, das Auftreten der beiden Mittelmächte hatte seine Früchte getragen. Aber die militärische Spannung zog sich doch noch länger hin und konnte im Handumdrehen die vorherige Bedrohlichkeit wieder annehmen.

In diesen Wochen wurde der Kampf zwischen Politik und Strategie ausgekämpft, in dem Bismarck gegen eine zwiefache Front stand, gegen den Präventivplan des eigenen Generalstabs und gegen die Absicht der österreichischen Staatsmänner und Militärs, den Charakter des Bündnisses zu erweitern und zu verschieben. Er hielt unbedingt an dem Bündnisfall fest, der nur für einen russischen Angriff auf Österreich vorgesehen war; er mußte daran festhalten, weil der russische Rückversicherungsvertrag ihn im anderen Falle band; er hat in dem entscheidenden Augenblick Moltke in das Geheimnis eingeweiht und dadurch seine Bedenken zerstreut. Die weitere (in späteren Zeiten noch häufig wiederkehrende) Frage, was unter einem "unprovozierten" Angriff zu verstehen sei, war nicht so einfach zu lösen. Eine Formel zu finden, die bei Festhaltung des defensiven Charakters des Vertrages die nötige militärische Initiative sicherte, war allerdings, wie Bismarck selber zugab, eine Quadratur des Zirkels, eine unlösbare Aufgabe: "Wer Angreifer ist, das wird eintretendenfalls von unserem Kaiser ehrlich erwogen."113 Er wollte, mit anderen Worten, die politische Entscheidung [343] nicht aus der Hand geben und einen "Übergang der Politik auf die beiden Generalstäbe" nicht zulassen. Ja es schien, als wenn er vielmehr seinerseits in die Strategie übergreife. Für den Fall eines russischen Angriffes auf Österreich rechnete er mit einem sofortigen französischen Angriff auf Deutschland - das ergab ohne weiteres die Verwendung des größten Teils der deutschen Armee im Westen. Bismarck ließ in Wien, um den österreichischen Kriegswillen zu dämpfen, diese Notwendigkeit noch stärker betonen, als der deutsche Generalstab es tat. Man hat sogar den Eindruck, daß seine Entscheidung für den Westaufmarsch im Zweifrontenkriege sich zu den Operationsplänen Moltkes und den konkreten Vorsorgen der beiden Generalstäbe in einem Gegensatze befand,114 der letzten Endes mit seiner grundsätzlich anderen Stellung zu der Frage Krieg oder Frieden zusammenhing. Jedenfalls gab Moltke unter seinem Einfluß den Verhandlungen über die militärischen Punktationen mit den Österreichern am 3. Januar 1888 von vornherein eine Wendung, die man in Wien als Ablehnung auffassen mußte.115 Die Idee eines Präventivkrieges war damit endgültig begraben. Man begreift, daß man unter den leitenden deutschen Militärs es nicht überall leicht nahm, wenn der Wille des allmächtigen Kanzlers so tief in Dinge hineinreichte, die sie als ihres Amtes ansehen mußten; und nicht minder, daß man in Wien mit einer gewissen Enttäuschung erkennen mußte, wie der Schwerpunkt der Bündnisentscheidungen unweigerlich in Berlin lag. Nach beiden Seiten hin hatte die Staatsräson, so wie sie sich in Persönlichkeit und Politik des Kanzlers verkörperte, sich siegreich durchgesetzt.

Der vorläufige Abschluß der Krisis erfolgte in der Reichstagsrede Bismarcks vom 6. Februar 1888, in der er die Annahme der Heeresreformvorlage empfahl; er hatte ihr, gleichsam als Auftakt für Europa, einige Tage vorher die Bekanntgabe des deutsch-österreichischen Bündnisses von 1879 vorausgeschickt. Während er in seiner Rede vom Januar 1887 die Front gegen Frankreich gewissermaßen vor die andere Front vorgeschoben hatte, erkannte er jetzt an, daß die Aspekten nach Frankreich friedlicher aussähen als vor einem Jahre, und erhob die russische Front zu seinem eigentlichen Thema, das er mit tiefem Ernst behandelte. Er scheute sich dabei nicht, manche Dinge verblüffend beim richtigen Namen zu nennen, während er andere Bestandteile seiner Gesamtpolitik in tiefem Schatten ruhen ließ; sorgenvolle Perspektiven wurden gern in irrealen Bedingungssätzen untergebracht und warnende Sätze allgemein formuliert, so daß die Gegenseite ihre Nutzanwendung selber ziehen mochte. Gegen die Haltung der russischen [344] Presse führte er die persönliche Zusage des Zaren ins Feld, kraft deren man keines Überfalles gewärtig zu sein brauchte. Den russischen Truppenaufstellungen, derentwegen man nicht koramieren könne,116 schrieb er den objektiven Zweck zu, das Gewicht der russischen Stimme in Europa, etwa für den Fall einer Orientkrisis, zu verstärken. Die deutsche Politik habe in einer solchen Krisis keinen Beruf: "Jede Großmacht, die außerhalb ihrer Interessensphäre auf die Politik der anderen Länder zu drücken und einzuwirken und die Dinge zu leiten sucht, die periklitiert außerhalb des Gebietes, welches Gott ihr angewiesen hat, die treibt Machtpolitik und nicht Interessenpolitik, die wirtschaftet auf Prestige hin. Wir werden das nicht tun." Es war ein Bekenntnis, aus dem andere Mächte für sich eine Warnung entnehmen mochten. Dann ging er die europäischen Kriegsgefahren seit 1848 durch, in einem machtvollen Fresko seiner Geschichtsansicht, das noch heute für diejenigen lehrreich ist, die mit Bismarck eine neue Ära der politischen Kampfmethoden beginnen lassen. Aus dem permanenten Zustand der Kriegsgefahr zog er den Schluß, daß man stark sein müsse, um mit dem Selbstgefühl einer großen Nation seine Geschicke auch gegen Koalitionen in die eigene Hand zu nehmen. Zumal angesichts der deutschen Mittellage in Europa: "Gott hat uns in eine Situation gesetzt, in welcher wir durch unsere Nachbarn daran verhindert werden, irgendwie in Trägheit oder Versumpfung zu verfallen. - Die Hechte im europäischen Karpfenteich hindern uns, Karpfen zu werden." Dann zum zweiten Male historisch ausholend, verfolgte er die deutsch-russischen Beziehungen im 19. Jahrhundert, insbesondere die Motive, aus denen man den deutsch-österreichischen Bündnisvertrag von 1879 geschlossen habe: "Wenn wir ihn nicht geschlossen hätten, so müßten wir ihn heute schließen." Von hier aus verbreitete er sich mit starken Akzenten über die Verstärkung durch die Heeresreform: er entrollte das Bild des Volkes in Waffen, des Offizier- und Unteroffizierkorps, das kein Land der Welt nachmachen könne. Aber der Schluß war wiederum: "Die Stärke stimmt uns notwendig friedlich. Sie ist nicht verwendbar für einen Angriffskrieg in vorteilhafter Situation; der Volkskrieg, mit dem Enthusiasmus geführt wie im Jahre 1870, wo wir rechtlos angegriffen wurden, ist nur dann möglich, wenn wir angegriffen werden: dann allerdings wird das ganze Deutschland von der Memel bis zum Bodensee wie eine Pulvermine aufbrennen und von Gewehren starren, und es wird kein Feind wagen, mit diesem Furor teutonicus es aufzunehmen." Er blickte zurück in vergangene Reibungen und Spannungen, um die veränderte innere Haltung zu betonen: [345] "Die Zeit ist vorbei, um Liebe werben wir nicht mehr, weder in Frankreich noch in Rußland. Wir werden zu unseren Verträgen stehen, aber uns durch Drohungen nicht einschüchtern lassen." So stieg dann, gleichsam durch die ganze Rede vorbereitet, gleichsam als ihre letzte Quintessenz, das Wort empor: "Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts in der Welt" - jene schon aus der Antike stammende Formel, die durch Racines Athalie: "Je crains Dieu, cher Abner, et n'ai point d'autre crainte", dem europäischen Bildungsschatze einverleibt war, nun aber, wohl nach dem Vorgänge von E. M. Arndts Wort über die alten Teutschen, von Bismarck auf sein eigenes Volk angewandt wurde.

Die Wirkung der Rede in Europa war überwältigend. Bismarcks alter Gegner Stosch urteilte: "Ich kann ihn nicht lieben, aber ich muß ihn bewundern mit allen meinen geistigen Kräften"; selbst in Rußland, wohin die Rede doch vor allem gerichtet war, rief sie nicht nur einen tiefen Eindruck, sondern einen völligen, wenn auch nur vorübergehenden Umschwung der öffentlichen Meinung hervor.117

Es war die letzte der Reichstagsreden Bismarcks in europäischem Stil und der Ausklang der Ära Kaiser Wilhelms I. Bei aller Stärke der Zuversicht, die sie atmet, wird man den leichten Ton der Resignation nicht überhören, der in der Tiefe mitschwingt. Das Werk der Reichsgründung, das Bismarck nur im Kampfe mit Frankreich hatte vollenden können, blieb, so mächtig es aufstieg, doch gebunden an den Hergang seinen Ursprungs und bedroht durch Koalitionen, von denen Frankreich ein Teil war. Wie alle Großen der Geschichte, hatte Bismarck bis zuletzt die Konsequenzen seines eigensten schöpferischen Handelns zu tragen: So mußt du sein, du kannst dir nicht entfliehen! Gegen eine schwachmütige Kritik, die eben daraus eine Begrenzung dieses Werkes und der Hergänge seiner Entstehung ableiten möchte, läßt sich das eine sagen, daß auch die größten Männer der Geschichte in einem überpersonalen Zusammenhange stehen und die ehernen Notwendigkeiten des Geschehens wohl durchbrechen, aber nicht auslöschen können. Wenn die Schöpfung Bismarcks sich in der Welt behaupten wollte, mußte sie kämpfend immer von neuem das Schicksal überwinden, das ihr durch die deutsche Lage und Geschichte gesetzt war. In einer kurzen Epoche hatte sie überspringen und einholen müssen, was in Jahrhunderten uns entglitten war, und konnte nun nicht hoffen, von dem Lebensgesetz dispensiert zu werden, das unter den Völkern gilt, aber den Deutschen vor allem auferlegt ist.

Wenige Wochen nach der Reichstagsrede Bismarcks wurde der erste deutsche Kaiser durch den Tod hinweggerafft. Auch dieses erlöschende Leben hatte bis zuletzt die schwere Problematik getragen, die auf der Außenpolitik des Reiches lastete. Er hatte im Laufe des letzten Jahres immer sorgenvoller die neuen [346] Methoden der russischen Politik verfolgt und im Grunde das Vertrauen zu dem Zaren verloren. Wenn Wilhelm I. in seinen letzten Stunden auf seinem Sterbelager zu seinem Enkel (es war in Wirklichkeit Bismarck) die Worte sprach: "Mit dem russischen Kaiser mußt du immer Fühlung halten, da ist kein Streit notwendig", so scheint weniger die alte dynastische Tradition nachzuklingen, als vielmehr eine Art Vermächtnis, die Absage an die präventiven Pläne der letzten Monate.

Die tragische Episode der Regierung Kaiser Friedrich III. blieb für die Stellung Deutschlands unter den Mächten naturgemäß ohne jede Nachwirkung. Auch die von dem leidenschaftlichen Eigenwillen der Kaiserin Friedrich hervorgerufene Krisis, die ihr Plan einer Einladung des Battenbergers nach Berlin und seiner Verlobung mit der Prinzessin Viktoria auslöste, rief nur eine vorübergehende innere Bewegung hervor. Immerhin rührte die Kanzlerkrisis an die große Politik und ihren beherrschenden Gegensatz. Dabei gelang es Bismarck, das englische Kabinett und sogar die Königin Victoria in einer persönlichen Audienz auf seine Seite hinüberzuziehen, weil er darlegen konnte, daß ein Gelingen der Pläne der Kaiserin zwangsläufig die Reichspolitik stärker auf die russische Seite drängen müsse. Auf der anderen Seite konnte Herr v. Giers damals eine gewisse Freude über die Verlegenheit des Kanzlers nicht verbergen118 - es schien, als ob er eine Erleichterung empfunden haben würde, wenn die Krisis anders auslief.

Kaiser Wilhelm II. bei Fürst Bismarck in Friedrichsruh 1888.
[320a]      Kaiser Wilhelm II. bei Fürst Bismarck in Friedrichsruh 1888.
Die Monate, die der Thronbesteigung Kaiser Wilhelms II. folgten, wirkten zunächst wie eine festliche und sorgenfreie Unterbrechung des Spannungszustandes, der über Europa lastete - aber es konnte nicht anders sein, als daß nach ihrem Ablauf die Wirklichkeit wieder ihr Haupt erhob. Daß die europäischen Besuchsreisen des jungen Kaisers eingeleitet wurden mit dem Besuche bei dem Zaren in Peterhof (August 1888), entsprach nicht den gegenwärtigen politischen Beziehungen zwischen den Mächten, sondern nur den Traditionen der Höfe, die einst bestanden hatten und fast erloschen waren: sie kündigten immerhin den guten Willen an, die dynastischen Erinnerungen der Vergangenheit zu pflegen. Aber es zeigte sich bald, daß sie gegenüber der russischen Realpolitik in der rauhen Luft der politischen Gegenwart nicht viel mehr bedeuteten; wie immer wollte man auf russischer Seite Taten sehen und es hieß schon im Herbst, man habe nach den Zusagen von Peterhof mehr Dienste erwarten können; schon ließ die alte Melodie sich wieder vernehmen: laßt uns nur mit Österreich allein.119 Vor allem aber liefen gleichzeitig, im Laufe des Oktober und November 1888, so beunruhigende Nachrichten über russische Truppenverschiebungen ein, daß man sich keinen Illusionen über die politischen Wirkungen der Monarchenzusammenkunft mehr hingeben konnte.120 Wohl suchte der Großfürst Wladimir, der [347] Bruder des Zaren, der im Rufe deutschfreundlicher Gesinnung stand, in Berlin in der üblichen Weise zu beruhigen.121 Aber er war gleichzeitig in Paris intensiv damit beschäftigt, die russisch-französischen Beziehungen zu vertiefen, zum ersten Male auf einem Gebiete, das von weitem an militärische Fühlung streifte. Anfang November erbat sich der Großfürst bei einem Besuche in Paris ein Modell des neuen französischen Lebelgewehrs, das dann in den nächsten Monaten - gleichzeitig mit der Begebung einer russischen Anleihe an der Pariser Börse - Anlaß zu einem großen Auftrage an französische Gewehrfabriken wurde. Die Russen verstanden sich auf die Kunst, durch Gefälligkeiten, die sie sich von den Franzosen erbaten, sich im Vertrauen ihrer Geldgeber zu befestigen, und diese hinwiederum brannten darauf, diesen Geschäften eine politische Andeutung zu entlocken. Ein bei der Gewehrlieferung gefallenes Wort des Ministers de Freycinet: "Wir möchten aber die Gewißheit haben, daß diese Gewehre nicht auf uns schießen werden", wurde von dem russischen Militärattaché und dann auch von dem Botschafter in einer Form beantwortet, die so gut wie jede Garantie gab.122 Die Hoffnungen, die der Russe in Paris erweckte, die moralischen Verpflichtungen, die er einging, die wachsenden Vertraulichkeiten, die fast zwangsläufig immer weitere Steigerung auslösten, waren mit dem Geiste der amtlichen Beziehungen, wie sie in dem Rückversicherungsvertrage formuliert waren, nicht mehr zu vereinen. In dem Frankreich von 1888 riefen sie eine doppelte Wirkung hervor. Von diesem Augenblicke an verknüpfte das Schicksal des französischen Kapitals sich eng mit dem Geschick der russischen Autokratie.123 Die Massenbewegung des Boulangismus, der die seelischen Energien der Nation in der einen Richtung der Revanche steigerte, stellte der russischen Politik für die Stunde, da sie Gebrauch davon machen wollte, den Enthusiasmus einer kriegerischen und entzündbaren Nation zur Verfügung. So begann sich gegen Ende des Jahres 1888 der politische Horizont wieder zu verdunkeln. Bismarck stand vor der neuen Aufgabe, den schnell beweglichen jungen Kaiser, der auf jeden Eindruck heftig reagierte und sogleich gehandelt wissen wollte, auf dem steilen Wege der Politik an seiner Seite zu halten. Man hat den Eindruck, als wenn diese Auseinandersetzung ihn tiefer erregte und seine Hand unsicherer machte.124 Vor allem waren es die langen, recht ernsten Berichte aus Petersburg, in denen Schweinitz dem Kanzler eine schnell sich verändernde Lage ankündigte.125 Er sah die Stunde näherrücken, [348] wo es galt, das bisherige System des lavierenden Doppelspiels in der Hinterhand zu verlassen oder es mit entscheidenden Entschlüssen zu vertauschen - wenn anders er sich das Gesetz des Handelns nicht entreißen lassen wollte.

So faßte Bismarck zu Anfang des Jahres 1889 den Entschluß, die Initiative in der Entwicklung der Beziehungen zu England zu ergreifen, einen zweiten Schritt auf dem Wege zu tun, den er im November 1887 betreten hatte, auf derselben Ebene eines hohen Vertrauens und in einer ungewöhnlichen Form. Er ermächtigte am 11. Januar den Botschafter in London, Grafen Paul Hatzfeldt,126 zu einer Verhandlung mit Lord Salisbury, die auf nichts Geringeres als den Abschluß eines Bündnisses zur gemeinschaftlichen Abwehr eines französischen Angriffs hinauslief. Es war kein förmlicher Antrag auf Eröffnung der Bundesverhandlung, sondern eine Vorfrage, vom englischen Interesse aus die Beschreitbarkeit dieses Weges zu prüfen, vorläufig von der Person an die Person gerichtet, auf jede Frist der Beantwortung sich einrichtend: aber der prinzipielle Ernst stand außer Frage. Denn dieser Vorschlag ging auf das Ganze, er wollte einen öffentlichen Vertrag. Ein geheimer Vertrag würde den Ausgang des Krieges entscheiden, die Verhinderung des Krieges aber könne nur von dem öffentlichen Abschluß erwartet werden. Beide Staaten seien von einem anderen als dem französischen Angriff nicht bedroht; ihre auswärtige Politik würde nach allen Seiten freie Bewegung haben, wenn sie nur gegen die französische Kriegsgefahr durch ausreichende Bündnisse gedeckt sei. In immer neuen Wendungen kam er darauf zurück, daß es sich nur um das Verhindern des Krieges handle: "Wenn nur festgestellt wird, daß England gegen einen französischen Anfall durch ein deutsches und Deutschland gegen einen französischen Anfall durch ein englisches Bündnis gedeckt sein würde, so halte ich den europäischen Frieden für gesichert für die Zeit eines solchen öffentlich verlautbarten Bündnisses." Man hat das Gefühl, daß er nach derjenigen Argumentation sucht, mit der gerade der englischen öffentlichen Meinung ein solcher Entschluß zu empfehlen sei: "Ich glaube, daß die Wirkung eines offenen und männlichen Schrittes in dieser Richtung nicht nur in England und Deutschland, sondern in ganz Europa eine erleichternde und beruhigende sein würde, und daß derselbe dem englischen Ministerium die Stellung als Hort des Friedens in der Welt gewähren würde." Nur leise ließ er diesmal einfließen, daß es nicht nützlich für England sein würde, die Politik der Enthaltung so weit zu treiben, daß Deutschland sich darauf einrichten müsse, seine Zukunft ohne Rechnung auf England sicherzustellen: "solche Wege, einmal eingeschlagen, sind in der Politik nicht leicht zu verlassen."

Ein Schriftstück von weltgeschichtlicher Tragweite! Für die Politik Bismarcks wäre es die Krönung des Gebäudes und das letzte Wort, nach seinen russischen Erfahrungen die dauernde Sicherung seiner Schöpfung, wenn man will, ein [349] deutscher Weg zum Weltfrieden gewesen. Wie sehr er damals diese Wendung erstrebte, ergibt sich auch aus seinem damaligen Bedürfnis, alle kolonialen Schwierigkeiten hinwegzuräumen; niemals waren seine Bemerkungen über die deutschen Kolonien kühler als in diesen Tagen, wo ihm alles hinter dem Verhältnis zu England zurücktrat.127 Es war auch kein Zufall, daß er schon am 26. Januar die Kolonialdebatte des Reichstages zum Anlaß nahm, um den Wert der Übereinstimmung mit der englischen Regierung zu betonen und im Vorbeigehen zu erklären: "Ich betrachte England als den alten und traditionellen Bundesgenossen, mit dem wir keine streitigen Interessen haben; - wenn ich sage »Bundesgenossen«, so ist das nicht in diplomatischem Sinne zu fassen, wir haben keine Verträge mit England - aber ich wünsche die Fühlung, die wir seit nun doch mindestens hundertfünfzig Jahren mit England gehabt haben, auch in kolonialen Fragen." Er dachte in diesen Worten, deren vollen Sinn keiner seiner Hörer erriet, nicht mehr an Ostafrika, sondern an den Kontinent. Es ist damit nicht gesagt, daß er mit der Wendung, die ihm vorschwebte, den Abbruch der vertragsmäßigen Beziehung zu Rußland einleiten wollte; im Gegenteil, nur solange er diese Beziehung hatte, konnte das deutsche Bündnis für England begehrenswert genug erscheinen. Aber wenn er das Bündnis gewann, war er auch gegen jeden Mißbrauch des Vertragsverhältnisses durch den russischen Partner gesichert.

Der Grundgedanke Bismarcks lag der englischen Tradition nicht fern. Auf dem Wiener Kongreß hatte Castlereagh gefordert, daß die Mitte Europas um jeden Preis gestärkt werden müsse gegen die Gefahren, die sie von Frankreich und Rußland bedrohten,128 und die politische Phantasie Disraelis hatte sich nicht unempfänglich für das Fortspinnen dieses Fadens erwiesen. Von der ersten Berührung des Themas, die Bismarck in den Jahren 1876 - 1878 versuchte, schweift der Blick vorwärts in die Zukunft, bis zu der letzten Aufnahme der Diskussion in den Jahren 1898 - 1901 und zu ihrem Scheitern, hinweg über den ganzen Weg der Möglichkeiten, die durch die entgegengesetzte Politik Englands unheilbar abgeschnitten wurden. Die englische Generation des Weltkrieges hat sie verworfen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob die Gestaltung der Weltgeschicke, wie sie seitdem vor sich geht, nicht auch das englische politische Denken zur Nachprüfung des Problems nötigt: was sich im Bunde mit der kontinentalen Friedenspolitik des Reiches für England hätte gewinnen lassen.

Die hinübergestreckte Hand wurde nicht ergriffen. Lord Salisbury erbat sich in der Besprechung des Vorschlages mit dem deutschen Botschafter am 15. Januar [350] Zeit zu reiflicherer Überlegung mit den führenden Kabinettsmitgliedern. Seine Antwort erfolgte erst nach zwei Monaten, am 22. März, als Herbert Bismarck in einer besonderen Mission in London weilte.129 Der Premier bezeichnete das Bündnis, in Übereinstimmung mit seinen Kollegen, als das Heilsamste für beide Länder und für den europäischen Frieden, aber die Ausführung doch als inopportun, da die parlamentarische Mehrheit darüber in die Brüche gehen würde: er zog sich auf die bedauernde Feststellung zurück, daß man nicht mehr im Zeitalter Pitts, sondern in dem der Demokratie und des Parteiregiments stehe. Er fügte hinzu, er hoffe noch Zeitumstände zu erleben, die ihm gestatteten, auf die Bündnisidee einzugehen: "Einstweilen lassen wir sie auf dem Tische liegen, ohne daß ich ja oder nein sage: das ist unglücklicherweise alles, was ich zur Zeit tun kann." Er könne einstweilen nichts tun, als möglichst demonstrativ mit der deutschen Politik zusammenzugehen. Man durfte es als einen Beweis dieser freundschaftlichen Absicht auffassen, wenn Joseph Chamberlain in den nächsten Tagen die Abtretung von Helgoland im Austausch gegen Südwestafrika anregte.

Aber der Bündnisvorschlag war in London abgelehnt worden und Bismarck faßte die Antwort als Ablehnung auf.130 Sie war auch nicht allein auf die innerpolitische Schwierigkeit, sondern wohl auf eine allgemeine politische Erwägung zurückzuführen. Auch Salisbury war sich des starken Rückhaltes bewußt, den ein von Deutschland geführtes mächtiges Mitteleuropa der englischen Weltstellung und ihrer Rivalität mit Frankreich und Rußland gewähren konnte, aber er unterschied zwischen der Notwendigkeit, die Festigkeit des Dreibundes zu erhalten, und der anderen, ein verpflichtetes Mitglied des Bundes zu werden.131 Er hatte in diesen Jahren auch eine Empfindlichkeit gegen den Zwang zurückbehalten, der von der Mitte ausging, und mochte sich fragen, ob dieses Mitteleuropa nicht allzumächtig werden könne. Seine "Kastanientheorie", wie Bismarck sie nannte, empfand die Bindung an die überlegene Staatskunst des Kanzlers als eine [351] Art von Knechtschaft, und in seiner allgemeinen Abneigung gegen Alliancen schlummerte die Vorliebe für die "splendid isolation". Er wollte die freie Hand nicht ganz aufgeben.

Bismarck ließ den Gedanken, der zunächst nicht zu verwirklichen war, darum nicht fallen, sondern wollte ihn weiterreifen lassen, wie es seiner Art entsprach. Er schob daher das Geschäft Helgoland-Südwestafrika beiseite, und auch als der junge Kaiser Verlangen danach bezeichnete, blieb er fest: "Man muß die englische Initiative abwarten und dafür den Moment, wo England uns braucht. Bisher brauchen wir England, wenn der Frieden noch etwas erhalten werden soll" (21. Juni 1889). Die russischen Erfahrungen im Sommer 1889 konnten ihn nur in dieser abwartenden Haltung befestigen; auch die Kritik, die seine russische Politik bei dem Kaiser und dem Generalstab fand, ließ es als geboten erscheinen, die englische Karte sorgfältig im Auge zu behalten. Der günstige Verlauf des kaiserlichen Flottenbesuches in England im August 1889 mochte seine Erwartungen ermutigen.132 Unter diesem Eindruck entwickelte Bismarck in der Sitzung des preußischen Staatsministeriums am 17. August den Gedanken,133 das ganze Ziel und Absicht der deutschen Politik seit zehn Jahren sei, England für den Dreibund zu gewinnen. Er fügte dabei hinzu, das sei nur möglich, wenn Deutschland in der orientalischen Frage immer wieder seine Indifferenz bezeuge. Denn an dieser Stelle lag der Schlüssel zu dem letzten Geheimnis dieser Politik: auch der Rückversicherungsvertrag (so wenig positive Leistung er auch aufwies) hatte seine letzte Funktion darin, daß er durch sein bloßes Dasein schließlich doch noch die englische Politik an die Seite Bismarcks führen sollte; es ließ sich voraussehen, daß nach einem endgültigen Abreißen des Drahtes Berlin - Petersburg die Engländer sich vollends dem Genuß der glänzenden Isolierung hingeben würden.

So erscheint das Deutsche Reich unter der Staatsleitung Bismarcks zuletzt noch in einer weltpolitischen Konstellation, deren ersten Umrisse schon im Moment der Reichsgründung, in der Pontuskonferenz während des Französischen Krieges, sich angekündigt hatten: zwischen dem englischen und dem russischen Weltreich. Sie harrt der Stunde, in der eine Option unvermeidlich, der Zwang zum Handeln [352] unabweisbar wird, aber sie sucht den Eintritt dieser Stunde nicht gewaltsam herbeizuführen - denn die Wege der Vorsehung lassen sich nicht im voraus bestimmen. Das letzte Wort über das Ziel Bismarcks läßt sich nicht aussprechen, weil diese letzte Entscheidung niemals gefallen, sondern durch sein Ausscheiden aus der Staatsleitung vorzeitig abgeschnitten worden ist. Schon in diesen Monaten begann sich in eingeweihten Kreisen die Frage zu erheben, ob der allmächtige Kanzler seine Macht behaupten werde. Der Zar war der erste, der ihn bei seinem Besuch in Berlin im Oktober 1889 zweifelnd fragte, ob er seiner Stellung gewiß sei. So mündet die Entwicklung der Außenpolitik des Reiches, der wir bis hierher gefolgt sind, in der Geschichte des Sturzes Bismarcks, in einem mächtig sich überstürzenden Fluß der Ereignisse, der das außenpolitische Schicksal des Reiches mit dem persönlichen Schicksal seines Schöpfers verbindet!


86 [1/332]Herbert Bismarcks Beschwerde bei Murawiew, 21. September 1887. Bericht Bernhard v. Bülow, 28. September 1887. Große Politik 5, 293 ff., 301. ...zurück...

87 [1/333]Nach einer - nicht ausreichend beglaubigten - Erzählung Salisburys an Eckardstein hat der Zar damals bei dem englischen Premierminister durch eine hochgestellte Persönlichkeit unter der Hand anfragen lassen, welchen Preis England für eine wohlwollende Neutralität im Falle eines deutsch-russischen bzw. französischen Krieges den letzteren beiden Mächten gegenüber verlangen würde, aber von Salisbury eine dilatorische Antwort erhalten. Eckardstein 2, 154. ...zurück...

88 [1/334]So Loë an Waldersee am 7. November 1887 (H. O. Meisner, S. 106 f.). ...zurück...

89 [2/334]Graf Herbert Bismarck zu Schuwalow am 1. November 1887: "Es sei ja möglich, daß jene Abmachung nur getroffen sei, um uns die Hände zu binden, bis Rußland mit seiner Rüstung und Flotte fertig sei." ...zurück...

90 [3/334]Bismarck hatte schon im Juli die deutsche Presse gewähren lassen, in der - in Beantwortung des russischen Ukases vom Mai über die Beschränkung ausländischen Grundbesitzes in den West-Provinzen - gegen die russischen Staatspapiere Repressalien gefordert wurden. ...zurück...

91 [4/334]Waldersee, Denkwürdigkeiten 1, 334. ...zurück...

92 [1/335]Giers, 14. Dezember 1887. Große Politik 5, 203 ff. ...zurück...

93 [2/335]Randbemerkung Bismarcks in französischer Sprache zum 14. Dezember 1887. Große Politik 5, 205. ...zurück...

94 [3/335]Wenn Kaiser Wilhelm I. dem Zaren sagte: "Wenn Sie mit Frankreich verbündet gegen uns Krieg fühlen wollen, so sind Sie die Stärkeren und können uns vernichten, aber glauben Sie mir, Europa wird das nicht dulden", so sieht Waldersee, der diese Formulierung überliefert (Denkwürdigkeiten I, 348), darin einen Schwächebeweis; er verkennt aber, daß der Hinweis auf Europa eine versteckte Drohung enthielt. ...zurück...

95 [4/335]Bismarck an Schweinitz am 12. Juni 1887. Große Politik 5, 249. ...zurück...

96 [1/336]Schweinitz an Bismarck, 27. Januar 1888 und Randbemerkung Bismarcks, Große Politik 6, 47, 50. ...zurück...

97 [2/336]Bismarck an Solms, 19. November 1887: "Wir werden sehen, ob die Gesinnung Sr. Majestät eine beruhigende Wirkung auf die Haltung der russischen Presse, auf diejenige der Beamten und der Botschafter und vor allem auf die des Botschafters in Paris auszuüben vermag." ...zurück...

98 [3/336]Randbemerkung, 29. August 1887. Große Politik 5, 198. ...zurück...

99 [4/336]In einem italienisch-spanischen Geheimabkommen vom 4. Mai 1887 verpflichtete sich Spanien, in nordafrikanischen Angelegenheiten kein Abkommen mit Frankreich zu treffen, das irgendwie gegen den Dreibund gerichtet sein könne, und im Einvernehmen mit Italien den status quo im Mittelmeer aufrechtzuerhalten. Pribram, Die politischen Geheimverträge Österreich-Ungarns 1879 - 1914, 1, 48 f. ...zurück...

100 [5/336]Memoiren Crispis, Deutsche Ausgabe. Dazu Immediatbericht Bismarcks vom 3. Oktober 1887. ...zurück...

101 [1/337]Die vorübergehende Neigung Salisburys zur Entspannung mit Rußland im August 1887, die an sich aus dem Bedürfnis nach etwas freierer Hand gegenüber Berlin zu erklären ist, dürfte auch schon von der Sorge vor einer "anderen" Richtung der Politik unter dem dritten Kaiser bestimmt gewesen sein. ...zurück...

102 [1/338]Das muß scharf betont werden, weil später Herr v. Holstein in seiner berühmten Denkschrift vom 14. Juni 1901, Große Politik 17, 83, die Antwort Salisburys als "ausweichend" und von Bismarck als "Ablehnung" empfunden bezeichnet hat. Es liegt hier aber eine - immerhin schwer erklärliche - Verwechslung mit dem Bündnisangebot Bismarcks vom Januar 1889 und die darauf im März erfolgte (mündliche) Antwort Salisburys zugrunde, deren Ausweichen von Bismarck allerdings als Ablehnung empfunden wurde (s. unten S. 350). Im November 1887 kam ein weitergehendes Bündnisangebot, auch wenn es im Unterton leise mitschwingen mochte, noch nicht in Betracht. ...zurück...

103 [1/339]Randbemerkung Bismarcks: "besonders, wenn die Türkei sich anschließt." ...zurück...

104 [2/339]Auch über diese zweite Heeresvorlage gibt der Briefwechsel Bismarcks mit Bronsart von Schellendorf (Deutsche Allgemeine Zeitung 1922) wichtige Aufschlüsse. ...zurück...

105 [1/340]Der Verfasser war Waldersee, Denkwürdigkeiten 1, 339. Dazu Moltke an Bismarck, 30. November 1887 (Auswärtiges Amt; ungedruckt). ...zurück...

106 [2/340]Randbemerkung Bismarcks: "Dazu werden wir weder den Reichstag noch Österreich überreden können." ...zurück...

107 [3/340]Eine schriftliche Antwort Bismarcks liegt meines Wissens nicht vor. ...zurück...

108 [4/340]Herbert Bismarck an Prinz Reuß, 9. Dezember 1887 (Auswärtiges Amt). ...zurück...

109 [1/341]Bemerkenswert sind auch die Argumente von Schweinitz gegen den Präventivkrieg: "Durch einen solchen Angriff würden wir die Macht Rußlands verdoppeln, die unsere halbieren, denn während das friedliebende russische Volk durch einen Einbruch in sein Land zu höchster Opferwilligkeit begeistert werden würde, dürfte die Notwendigkeit eines mit so großen Opfern zu führenden Winterfeldzuges weder unserem Bundesrate noch der deutschen Nation einleuchten. Auch aus militärischen Gründen mißbillige ich die Idee eines Winterfeldzuges nach Polen, welche auf der ganz falschen Voraussetzung beruht, daß man dort auf einige Monate harten Frost rechnen kann" (Denkwürdigkeiten 2, 351). ...zurück...

110 [2/341]Herbert Bismarck ließ zu Eulenburg am 8. Dezember 1887 das scharfe Wort "Hohenlohe vor Jena" fallen. Auch Erzherzog Albrecht hatte den Eindruck, "als ob der stark kriegslustige Waldersee uns mit benützen möchte, um mit seinen Absichten in Berlin durchzudringen". Erzherzog Albrecht an F. Z. M. Beck, 29. November 1887. - v. Glaise-Horstenau, Der Weggefährte des Kaisers, S. 311. ...zurück...

111 [3/341]Vgl. E. Heller, "Bismarcks Stellung zur Führung des Zweifrontenkrieges"; Arch. f. Pol. u. Gesch.  7 (1927), 677 - 698. ...zurück...

112 [1/342]Bismarck an Major v. Deines, 16. Dezember 1887 (Auswärtiges Amt, ungedruckt). ...zurück...

113 [2/342]Randbemerkung Bismarcks zum 4. Januar 1888 (Große Politik 6, 77). Vgl. die Randbemerkung zum 17. Januar 1888. "Verhandlungen sind über Phrasen unfruchtbar. Österreichs Hauptsicherheit für unsere ehrliche Auslegung des casus foederis liegt nicht in Klauseln und Wort-Texten, sondern in der unzweifelhaften Tatsache, daß die ungeschwächte Existenz Österreichs ein Lebensbedürfnis für uns und für das europäische Gleichgewicht ist", a. a. O., S. 82. ...zurück...

114 [1/343]Eduard Heller a. a. O., 693. ...zurück...

115 [2/343]Ich hoffe, auf die militärisch-politische Krisis im Dezember/Januar 1887/88 auf Grund eines weiteren Materials, als es in Bd. 6 der Großen Politik vorliegt, an anderer Stelle zurückkommen zu können. ...zurück...

116 [1/344]Kaiser Wilhelm I. hatte einen Artikel des offiziellen russischen Militärorgans, das mit vielen Unrichtigkeiten und Weglassungen die russischen Truppenaufstellungen als nur durch die vorgängigen deutschen Maßregeln hervorgerufen bezeichnet hatte, in einem eingehenden freundschaftlichen Schreiben an den Zaren vom 5. Januar richtiggestellt. Der Zar antwortete, ohne auf die Sache selbst einzugehen, mit allgemeinen Wendungen eines unerschütterten Vertrauens. Man sieht, wie für ihn dieser monarchische Briefwechsel zu einer reinen Formsache geworden war. ...zurück...

117 [1/345]So Schweinitz a. a. O., 2, 361. Bei Irene Grüning a. a. O. gewinnt man einen nicht so günstigen Eindruck. Ein Beispiel der ungünstigen Wirkung ist der leidenschaftliche Brief des slawophilen Generals Baranow in den Denkwürdigkeiten von Pobiédonostsew, S. 593 ff. ...zurück...

118 [1/346]Er lehnte es anfangs ab, amtlich den Empfang des Battenbergers als schädlich für die deutsch-russischen Beziehungen zu bezeichnen und dadurch die Gegenwehr Bismarcks zu unterstützen. ...zurück...

119 [2/346]Pourtalès an Bismarck, 9. Oktober 1888. Große Politik 6, 349 ff. ...zurück...

120 [3/346]Denkwürdigkeiten Waldersees 2, 12 ff. ...zurück...

121 [1/347]Aufzeichnung H. Bismarcks. Große Politik 6, 353. ...zurück...

122 [2/347]Souvenirs von C. de Freycinet (1913), S. 414 ff. ...zurück...

123 [3/347]So der russische Historiker Pokrovsky. ...zurück...

124 [4/347]Seine Behandlung der Frage des Tagebuches Kaiser Friedrichs, des Konfliktes mit dem englischen Diplomaten Morier, die damals auf die Unfehlbarkeit seines politischen Handelns einen leisen Schatten warf, scheinen darauf hinzudeuten. ...zurück...

125 [5/347]Schweinitz 2, 372. Die Berichte selbst fehlen in der Großen Politik; über ihre Wirkung: Waldersee, 2, 28. Schweinitz fand in den russischen Noten "eine Sprache, welche wir nicht gewohnt sind", und betonte, daß die alten Mittel Rußland gegenüber nicht mehr verfingen. ...zurück...

126 [1/348]Bismarck hatte seine Absicht dem Grafen Hatzfeldt schon in der ersten Januarwoche in Friedrichsruh angekündigt. ...zurück...

127 [1/349]Am 16. Januar 1889 zu Schweinitz: "Er wolle nichts mehr mit Kolonien zu tun haben, sondern sie der Admiralität übergeben." Noch schärfer in der Sitzung des Staatsministeriums am 14. August 1889, mit Ausfällen gegen den "deutschen Kolonialschwindel", der seine Kreise tölpelhaft störe, Lucius a. a. O., S. 500 f. ...zurück...

128 [2/349]"That the centre of Europe must, at all costs, be strengthened against the dangers which threaten it from France and Russia." ...zurück...

129 [1/350]Die Mission erweckte ein starkes Mißtrauen des Zaren und entlockte ihm - Bismarck hatte Murawiew mit einer gewissen Geflissentlichkeit gesagt, es handle sich um englische Hilfe in der Samoafrage gegen Amerika - den groben Ausbruch: "Wieder führt dieses Obervieh etwas im Schilde und will uns die Augen mit der Geschichte mit den Amerikanern und Samoa auswischen. Das ist naiv." Uebersberger a. a. O., S. 946. ...zurück...

130 [2/350]Auf diese Ablehnung bezieht sich die historische Erinnerung Holsteins und seiner Denkschrift vom 14. Juni 1901, die sie fälschlich auf den Briefwechsel des November 1887(s. oben S. 338) bezieht. ...zurück...

131 [3/350]Mit Sicherheit wird man über die Motive der Ablehnung Salisburys erst urteilen können, wenn die Biographie von Lady Gwendolen Cecil soweit vorgerückt ist. Doch sei aus einem Briefe von Lady Gw. Cecil an Lord Rayleigh, den ich in einem Nachrufe auf W. Wien (Leipzig 1930) mitteilen konnte, der (auf das Jahr 1887 bezügliche) Satz wiederholt: "My father was distinctly annoyed with Bismarck all the earlier part of the year (he was maddeningly arrogant in detail) and was doing his best to arrange a scheme of ultimate evacuation of Egypt and to make friends with France and escape, as he said, 'servitude' of Bismarck's help. But France would not." ...zurück...

132 [1/351]Wenn der Kaiser allerdings in diesen Tagen der Königin Victoria einen Dankbrief, ohne Wissen Bismarcks, für die Ernennung zum englischen Admiral schrieb, in dem es hieß, daß er es sich zur höchsten Ehre anrechne, der ersten Marine der Welt anzugehören, die stark und mächtig genug sei, eines Tages, wenn es die politischen Verhältnisse erheischen, sich den Durchgang durch die Dardanellen zu erzwingen (Széchényi an Kálnoky, 26. April 1890, bei Schüßler, Bismarcks Sturz S. 286), und dieser Brief in Petersburg bekannt wurde, war das feine diplomatische Spiel Bismarcks in peinlicher Weise durchkreuzt. ...zurück...

133 [2/351]Lucius a. a. O. Vgl. die Überzeugung Herbert Bismarcks vom 18. August, daß die Regierung Salisburys sich befestige und daraus die Kraft schöpfe, "die Stellung Englands als europäische Großmacht mehr zur Geltung zu bringen, als das zum Nachteil unserer politischen Konstellationen seit Jahren geschehen ist". Große Politik 4, 418 f. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte