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Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil


Von Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin

[353] Kapitel 1: Das Deutsche Reich
unter Kaiser Wilhelm II. (1890 - 1909)

[354=Trennblatt] [355] 1. Kaiser Wilhelm II. und die Anfänge des neuen Kurses.

Für die deutsche Entwicklung im letzten Menschenalter vor dem Weltkriege ist nächst dem Schöpfer des Reiches kein Mensch so schicksalhaft bedeutsam geworden wie Kaiser Wilhelm II. - auch das hing mit dem Wesen dieser Schöpfung zusammen. Indem Bismarck das Deutsche Reich schuf, erhob er das alte preußische Königtum in ungeahnter Weise über sich selber hinaus, und in dem deutschen Kaisertum, mit dem er es verschmolz, erschien der monarchische Gedanke, wider alle Wahrscheinlichkeit des geschichtlichen Ablaufs, noch einmal in der Welt erhöht, in der ehrwürdigen Erscheinung des ersten Kaisers unvergleichlich verkörpert. Wir haben verfolgt, wie der Kanzler dieser Monarchie diente und sie zugleich beherrschte, ja wie er sie beherrschte, indem er ihr diente - das war ein einmaliges Verhältnis, in der Einzigartigkeit des Genius begründet. Denn diese Monarchie blieb darum doch sie selber, ihrer alten preußischen Tradition in der ersten Generation noch bewußter als der neuen deutschen Führerstellung - auch über einen allmächtigen Minister mußte sie sich eines Tages wieder erheben wollen. Das Schicksal hat dem Kanzler diese Wendung nicht bis zu seinem Tode aufgespart, sondern auf der Höhe seiner Macht den Sturz über ihn verhängt. Auf diese Weise wird die Persönlichkeit des Reichsgründers von einem auf die gleiche Macht gerichteten Anspruch abgelöst - mit diesem Erben der Macht wird das Schicksal des Reiches sich bis zum Weltkriege verflechten.

Um der gesamten Entwicklung des neuen Zeitalters mit dem richtigen Verständnis gegenüberzutreten, suchen wir nach einem Schlüssel zu dem Innern dieser Persönlichkeit. Manche möchten zu diesem Zwecke hinabsteigen in die dunklen Gründe des Unbewußten, in denen sich das Seelische mit dem Körperlichen berührt, in die rätselvollen Nachwirkungen frühen Erlebens, dessen Hieroglyphenschrift in dem werdenden und fertigen Menschen immer stärker durchbricht - vermeinend, so an das letzte Geheimnis des Individuellen zu rühren, das sich von künstlerischer Intuition wohl ahnen, aber niemals in Worten aussprechen läßt. Für diese Bemühung ist schon die Tatsache des körperlichen Gebrechens, das dem Kaiser seit seiner Geburt anhaftete, ein Anlaß, eben aus ihr das forcierte Überwinden- und Versteckenwollen dieses Mangels als einen Grundzug seines Wesens abzuleiten. Doch scheint eine eigentliche Deutung damit nicht gegeben zu werden, insofern als der gleiche Anlaß auch eine sehr unter- [356] schiedene Art des persönlichen Reagierens hätte auslösen können, gleichwie eine überstrenge Erziehung in dem einen kindlichen Individuum den Willen zerbricht, in dem andern aber den Samen der Rebellion streut.

Der Historiker wird sich zu begnügen haben, die historisch bedeutsam gewordenen Züge auf ihre sicher erkennbaren Komponenten zurückzuführen, um gewisse elementare Spannungen in der Natur des Kaisers zu erklären. Die Persönlichkeiten seiner Eltern, ihre geistig-politische Farbe, ihre Art sich zu geben, sind zunächst zu befragen. - Der Vater, eine stattliche und gewinnende Erscheinung, war eine einfache und nicht komplizierte Natur. Von einem ausgesprochenen Bedürfnis erfüllt, auch in der äußeren Form ein monarchisches Selbstgefühl zum Ausdruck zu bringen, war er empfänglich für eine Volkstümlichkeit, die diesem Selbstgefühl Nahrung gab. Er verfügte über das Wohlwollen einer nicht eigentlich starken Natur, weniger über die Kraft, sich durchzusetzen und andere zu bestimmen: das Ideal des konstitutionellen Fürsten, wie es im 19. Jahrhundert erwachsen war, schien für ihn wie geschaffen. Er war der Zeitgenosse jener deutschen nationalen und liberalen Generation, die mehr als ein Glied des deutschen Fürstenstandes in ihre Kreise gezogen hatte; doch hatte er sich diesen modernen politischen Lebensformen nicht aus eigenster, zwingender Überzeugung zugewendet, er war ihnen mehr von außen her zugeführt worden. Seine schwere Aufgabe war, dem Throne am nächsten zu stehen und doch in der politischen Betätigung sich beschränken zu müssen, sein ganzes Mannesalter hindurch, als Kronprinz alternd in doppeltem Schatten: seines kaiserlichen Vaters, der seine monarchische Prärogative unerbittlich wahrte, und vollends des Kanzlers, der gleichsam zum deutschen Schicksal geworden war. Und während Bismarck den deutschen Staat, das deutsche öffentliche Leben immer mehr nach seinem Bilde formte, erfüllte sich das einflußlose Leben des Mannes, der nach seiner Altersklasse zum ersten Kaiser des Reiches berufen gewesen wäre, mit jener tiefen Unbefriedigung, die der Nährboden der Kritik, nicht aber fruchtbaren Handelns ist.

Diese innere Haltung kehrte in seiner Gemahlin Victoria, als der im Grunde stärkeren Natur, nur noch betonter, aktiver, unruhiger wieder: sie empfand die ganze Spannung, in der sie zwischen den Generationen, zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen der Wirklichkeit und dem Schein der Macht lebte, um so schmerzlicher, als sie schon vermöge ihrer Herkunft in einer niemals ganz überwundenen Problematik des Wesens lebte. Sie war stolz auf ihre englische Herkunft, stolz auf das Land, auf seine gesellschaftlichen Lebensformen, auf die politischen Doktrinen, die in ihrer Heimat herrschten und ihr von ihrem bewunderten Vater - der selber eine geistige Existenz zwischen den Nationen geführt hatte - als allgemeine Wahrheiten erziehlich vermittelt worden waren. So kam sie als Botin politischer Ideale und englischer Freundschaft über den Kanal; selbst der alte Ernst Moritz Arndt empfand damals: "Victoria in Berlin! Möge uns englischer Geist durchwehen!" Das alles war für viele und nicht die Schlechtesten damals [357] ein politisches Programm. Sie wurde in die preußische Welt verschlagen, die auf so völlig anderen Grundlagen ruhte, und hoffte mit ehrlichem Schwunge, sie im nationalen und im liberalen Sinne mitgestalten zu können. Und nun sollte dieser nationale Liberalismus, dem sie sich wesensverwandt fühlte, doch nicht das Neue schaffen, sondern die Überwindung des Borussentums stieg aus seinen eigensten Kräften empor, und die Reichsgründung Bismarcks erhob sich als ein ganz autonomer Ausdruck deutsch-preußischer Lebensnotwendigkeiten, unberührt von allen Doktrinen und Vorbildern. Das war für die Tochter der Königin Victoria und des Prinz-Gemahls Albert eine schwere Enttäuschung, eine Kränkung ihres Glaubens. Sie reagierte, weil sie die Fürstin, die Engländerin war, temperamentvoller als fast die meisten ihrer Generation, die durch dasselbe Erlebnis mit ihr gingen. So blieb sie dem Lande, in dem ihr zärtlich und treu geliebter Gemahl zum Herrscher bestimmt war, doch wieder fremder, als es ihrem innersten Wunsche entsprach. Sie war gewiß zur Deutschen geworden, und wenn ihr Gemahl in den Kriegen 1866 und 1870 den Lorbeer des Siegers um seinen Feldherrnnamen wand, schlug auch ihr das Herz höher und sie wurde ihrer Mutter gegenüber zum leidenschaftlichen Anwalt der deutschen Sache. Wenn schon der ersten Kaiserin Augusta von früh auf das Ideal vorgeschwebt hatte, "preußische Prinzlichkeit in deutsche Fürstlichkeit" zu verwandeln, so sah Victoria eine bewußte Aufgabe darin, ihren Stil des Lebens über die engen Seiten des altpreußischen Geistes hinauszuheben und ihn der Kultur ihrer Zeit nach allen Seiten zu öffnen. In der Potsdamer Luft spürte sie nicht die große und unsterbliche Tradition; sie litt nur unter den ungeistigen und überheblichen Kehrseiten, die an dem militärischen Preußentum hafteten. Und der Schöpfer des Reiches blieb ihr eine wesensfremde, fast verhaßte Erscheinung, nicht einmal ihrem Zeitalter, so wie sie es verstand, angehörig, sondern in ihrer urwüchsigen Elementarkraft im Mittelalter wurzelnd.

Wohl wollte sie aus vollem Herzen Deutsche, nicht aber Preußin sein. Und dennoch blieb sie trotz allem die Engländerin; nicht nur in manchen Sitten, Gewohnheiten, in Empfindungen und Werturteilen, nein, sogar in ihrem politischen Instinkte. Es konnte sogar europäische Situationen geben, wie im Winter 1877/78, in denen ihr die englische Politik im Orient nicht aktiv genug war; dann konnte sie ihrer Mutter ebenso leidenschaftlich Kritik und Ratschlag übermitteln, als wenn sie noch ihrem Geburtslande angehörte, und die ihr nach dieser Seite gezogene Grenze unbekümmert überschreiten. In ihrer Lebhaftigkeit empfand sie das eine Mal so und das andere Mal so, und vermochte nicht zu einer Einheit ihres Wesens zu gelangen; in solcher Seelenlage bildet sich nicht der sichere Takt, der einfachen Menschen in einfacheren Situationen eigen ist. Gerade impulsive und bewegliche Naturen von warmer Empfindung werden in solchen Spannungen leicht hin- und hergezogen, sprunghaft in Kritik und Urteil, und stoßen immer wieder mit der Wirklichkeit zusammen, ohne die Geschlossenheit des Charakters [358] zu gewinnen, welche die Kraft des richtigen Handelns erzeugt. Schon allein die Politik der Staatsräson, die dem Kanzler seine Stellung zwischen England und Rußland anwies, berührte bei ihr Empfindungswelten und Überzeugungen, in denen sie nur ja oder nein sagen konnte. Denn sie hatte ein gutes Stück Eigenwillen von der herrschbegierigen Mutter ererbt, und vermochte ihn ihrem Gemahl gegenüber in der Regel siegreich durchzusetzen.

Wilhelm II. war der Sohn seiner Eltern, und es ist nicht schwer, deren Züge, vor allem auch die der Mutter, in seiner Physiognomie wiederzufinden - er war der Sohn seiner Eltern, obgleich er sich frühzeitig in einem Gegensatz zu ihnen entwickelte. Dieser Gegensatz wurzelte vielleicht schon im Gemüt, insofern Wilhelm II. mit seinem Gebrechen sich nicht genügend geliebt fühlte. Er griff bald auf die äußere Haltung über: der Sohn begann dem modern-liberalen "englischen" Lebenszuschnitt des elterlichen Hofes bald das Militärische, das Preußische und Potsdamische, die Tradition mit ihrer Größe entgegenzustellen. Die Opposition gegen die Eltern setzte sich auch in politischen Fragen nach außen fort und wurde, wie wir sahen, in den Jahren der Battenberg-Episode von dem Hause Bismarck geflissentlich genährt. Auch wenn sich der Kanzler dabei durch die Staatsräson und durch nichts anderes leiten ließ, so mischten sich bei dem Prinzen, der damals der Mutter zum Trotz ebenso russisch war wie sie englisch, auch persönliche Sentiments ein. Und diese forcierte Gegensätzlichkeit, die der junge Leutnant im ersten Garderegiment zu Fuß zur Schau trug, war doch wieder nicht so echt und ursprünglich, wie sie sich gab; denn sie bekämpfte zugleich ein Stück des eigenen Wesens, eigene Neigungen, Sehnsüchte und eigenen Ehrgeiz. Wenn er der englischen Lebensform die preußisch-militärische Haltung entgegensetzte, war das gewaltsam Verdrängte darum in ihm nicht ausgelöscht, und wenn er in diesen Jahren das Bismarcksche so überbetonte, so mischte sich in die ehrliche Bewunderung doch ein sehr persönlicher Nebenton ein. Was vor allem im Widerspruch gewollt wird, verfällt zu leicht der Übersteigerung. So kehrt etwas von der Zwiespältigkeit der Mutter auch im Sohne wieder - es war im Grunde das ungemein bewegliche, aufnahmefähige Temperament der Mutter, dasselbe Bedürfnis nach raschem und starkem Wort,1 und dieselbe verhängnisvolle Gabe, jene unbedingten Gebote des fürstlichen und menschlichen Taktes, die dem alten Kaiser zur zweiten Natur geworden waren, sorglos außer acht zu setzen.

Er war der Sohn seiner Eltern auch in dem starken Bedürfnis, den sichtbaren monarchischen Willen eines Tages selbstherrlich zu erheben; er sah in Potsdam die Tradition Friedrichs des Großen um sich und hörte früh von beeiferter Seite, daß es seine Aufgabe sein werde, an diese Tradition, anders noch als sein Vater, wieder anzuknüpfen. Das konnte vielleicht nicht anders sein. Der Gedanke der Monarchie, wenn er nicht einer bloßen konstitutionellen Repräsentation verfallen [359] soll, wird solche Anforderungen und solchen Stachel immer wieder in die Seele eines hochstrebenden Erben senken. Er hatte nicht umsonst die Luft seines Elternhauses geatmet, in dem man sich danach sehnte, aus dem doppelten Schatten endlich in das volle Sonnenlicht hinüberzutreten. Noch war für den jungen Prinzen deutsche Größe in dem Kanzler verkörpert, aber im innersten Winkel seiner Seele schlummerte doch, von frühen Eindrücken und Empfindungen her, das Begehren, das Recht der Dynastie eines Tages in die Hand zu nehmen.2

Man hat, mit dem häufig wiederholten Worte Gustav Freytags, wohl beklagt, daß mit dem tragischen Tode Friedrichs III. die Ergänzungsfarbe in der deutschen Geschichte ausgefallen sei, daß die Generation, die zwischen 1830 und 1860 jung war, nicht zur Tat und Führung im Reiche gelangen sollte. Mit einem Male trat an die Stelle des uralten Kaisers die Generation, die schon von den Kämpfen um das Reich, von diesem mühevollen Ringen zweier Menschenalter aus eigenem Erleben nichts mehr wußte. Wilhelm II. war zwar kein Porphyrogennetos im buchstäblichen Sinne, aber doch erst im neuen Reich zum Jüngling gereift, hatte er seine Machtstellung in Europa und den Glanz der Krone als einen sicheren Besitz überkommen: ein Erbe, mit dem ganzen Schicksal des Erben belastet, der die erziehenden Maßstäbe der Vergangenheit kaum noch kennt.

Die geistige Heimat Wilhelms vor der Thronbesteigung war die Armee mit ihren starken formenden und prägenden Kräften, insbesondere aber der Kreis der Potsdamer Gardeoffiziere, die im gesamtdeutschen Leben nur eine scharf abgeschlossene Seite privilegierten Daseins darstellten; hier erfüllte er sich bis ins Tiefste mit den stolzen und hohen Idealen der Pflicht und des Dienstes, aber auch mit manchen Maßstäben des Urteils, die hier allein und widerspruchslos, befehlsgemäß galten. Dagegen war der Prinz, nach Kenntnissen und Empfindungen, dem lebendigen Staate, so wie er sich unter Bismarcks Führung gestaltet hatte, doch noch sehr fremd, und nicht ihn trifft die Verantwortung, sondern diejenigen, die über seine weitere Erziehung zu wachen hatten. Als der Prinz im November 1887 eine Proklamation an die Bundesfürsten aufsetzte, für den Fall seines Regierungsantritts, hielt Bismarck ein Dokument tiefer politischer Unerfahrenheit in Händen, das er nur zu verbrennen bitten konnte.3 Aber noch stand es wohl in vielem so: der Gesamtheit der Nation, den in ihr ringenden politischen und sozialen Gewalten, den Parteien und den wirtschaftlichen Kräften, Arbeitnehmern und Arbeitgebern stand Wilhelm, als er den [360] Thron bestieg, fast noch als ein Fremder gegenüber, und nur das hohe Maß von Fassungsgabe und Interessiertheit, mit dem er nun das Leben in sich aufnahm, konnte darüber hinwegtäuschen, daß er für das verantwortlichste Amt des Reiches eine eigentliche Vorbereitung nicht durchgemacht hatte.

Die Erregungen, unter denen der Prinz so plötzlich aus seinem umgrenzten Potsdamer Dasein in die Öffentlichkeit gerissen wurde, konnten nur dazu beitragen, das Jähe seines Hervortretens zu steigern; der Kampf um das Krankenbett seines Vaters, in den die Mutter sich durch Liebe, Eigensucht und Selbsttäuschung hineinziehen ließ; und dann die ungeheure Anspannung der großen Kriegsgefahr im Winter 1887/88, in deren Mitte man schon die Meinung des Prinzen Wilhelm suchte. Eine noch nicht ausgeglichene und noch nicht ausgereifte Natur konnte kaum auf eine schwerere Probe gestellt werden, bevor sie mit einem hohen Bewußtsein der Aufgabe und einem fast überstürzten Tatendrang die Würde und das Amt des Deutschen Kaisers übernahm.

Das doppelte psychologische Problem in diesem jungen Leben, die Hinwendung zu Bismarck und die Abwendung von Bismarck, ist im Grunde eines und dasselbe, irgendwie auf verwandte Motive der Geltung zurückzuführen. Daß die Hinwendung zu Bismarck auch in dem ehrlichen Schwung eines begeisterungsfähigen jungen Menschen ihre Ursache hatte, wird niemand bestreiten können, daß sie aber eine so scharfe und bekenntnismäßige Form annahm, ist wohl wesentlich aus dem Verhältnis zu den Eltern zu erklären. Wenn der Kronprinz Wilhelm am 1. April 1888 am Geburtstage Bismarcks in einer Rede von fast inbrünstigem Schwunge sich zu dem Kanzler bekannte, ist nicht außer acht zu lassen, aus welchen Gründen er diese Solidarität vor der Welt suchte. Und es lag auf der Hand, daß diese Haltung sich nach der Thronbesteigung zunächst fortsetzte. Nie war die Autorität des Kanzlers als so überwältigend und unentbehrlich erschienen, wie in den Monaten der beiden Thronwechsel - er war das Ruhende und Bleibende, er war wirklich das Reich. Und so war die Welt voll davon, wie stürmisch der junge Monarch sich an die Seite des Kanzlers stellte, mit einem unbedingten Vertrauen, das ohne Beispiel war.4

Der Historiker wird zunächst die Frage zu beantworten haben, an welcher Stelle und unter welchem Einfluß sich dieses Vertrauen von der Autorität des Kanzlers innerlich abzulösen beginnt: wo der Glaube am unbedingtesten gewesen war, wird er erschüttert werden. Der erste Differenzpunkt lag nicht in innerpolitischen Fragen, die das Interesse des jungen Fürsten nur in zweiter Linie berühren, sondern der Zweifel entzündete sich an der Frage der richtigen Außenpolitik. Und zwar ist die außenpolitische Autorität Bismarcks bei Wilhelm II. schon vor seiner Thronbesteigung durch den neuen Chef des Generalstabes, den [361] Grafen Waldersee, erschüttert worden. So geschah es, daß der Prinz, der einst im Gegensatz zum elterlichen Hof "russisch" gewesen war, so daß Bismarck im November 1887 ihn gegen diesen Ruf hatte in London verteidigen müssen,5 doch unmittelbar darauf gerade die russische Politik Bismarcks kritischer zu betrachten begann. Für das militärische Empfinden des jungen Offiziers war die generalstäblerische Forderung des Präventivkrieges gegen Rußland schon gefühlsmäßig begreiflicher als das fast undurchsichtig gewordene System der diplomatischen Aushilfen, insbesondere als das Vertragsverhältnis zu Rußland, das Bismarck im Stillen schon durch andere Kombinationen zu ergänzen suchte. Auf seine Weise deutete der Prinz, in einem Schreiben an den Kanzler vom 14. Januar 1888, seine Stimmung in der oratorischen Wendung an, daß ein Schwert von einem Manne bereit stände, der sich wohl bewußt sei, "daß Friedrich der Große sein Ahnherr sei und dreimal so viel allein bekämpfte, als wir jetzt gegen uns haben".

Bismarck nahm die Empfehlung friderizianischer Politik hin, aber den Geist, der sich hinter jenen Worten barg, begann er scharf zu überwachen. Sein Kampf gegen die Teilnahme Wilhelms an der im Hause Waldersees veranstalteten Stöcker-Versammlung richtete sich vor allem gegen den Einfluß des Generalstabschefs auf den Prinzen überhaupt. Einige Monate später hatte er zufällig Anlaß, die Kriegsfrage auch amtlich dem Prinzen gegenüber zu berühren. Der Deutsche Botschafter in Wien hatte in einem Bericht vom 28. April 1888 rückblickend bemerkt, daß vielleicht die Generalstabsoffiziere in Berlin und Wien mit ihrem Rate, die russische Macht rechtzeitig zu zertrümmern, doch recht gehabt hätten, und damit einen für die Gegensätzlichkeit politischen und militärischen Denkens sehr bezeichnenden Einwand Bismarcks hervorgerufen.6 Aber jene Erinnerung an den Präventivkriegsplan im Winter 1887/88 wurde von dem Kronprinzen Wilhelm, der seit einigen Wochen in die Geschäfte eingeführt wurde, mit einem energischen "Ja" gebilligt. Bismarck ließ das Aktenstück aus naheliegenden Gründen sofort absondern. Er konnte es nicht ernst genug nehmen. Wohl hatte der Kronprinz sich noch kurz vorher öffentlich zu dem Kanzler bekannt, aber jetzt zeigte es sich, daß er seinem Rat nicht unbedingt folgte: in der Frage des Präventivkrieges schien er den militärischen Häuptern der Kriegspartei mehr Vertrauen zu schenken als der außenpolitischen Autorität des Reichskanzlers. Die Randbemerkungen, die der Kronprinz zu dem Antworterlaß Bismarcks beifügte, verrieten diesem vollends, daß es sich um eine tiefer begründete Meinungsverschiedenheit handle: es war für ihn wie ein erster Blick in einen dunklen Abgrund. So entschloß er sich am 9. Mai zu einem Schreiben an den Kron- [362] prinzen, das zu den denkwürdigsten Dokumenten seiner Außenpolitik in ihrem letzten Stadium gehört. Dieser ergreifende Erziehungsversuch des greisen Mentors gegenüber dem unerfahrenen, schnellfertigen Prinzen begann mit einem Appell an seine Verantwortung: "Nach menschlicher Voraussicht wird, bevor eine längere Zeit vergeht, die Entscheidung über Krieg und Frieden ausschließlich in der Hand Ew. Kaiserlichen Hoheit liegen", um die Frage des Präventivkrieges in dem bekannten Sinne aufzunehmen: "für die Energie, mit welcher die deutsche Volkskraft in den Krieg eintritt, wird es immer entscheidend sein, ob der Krieg durch fremden Angriff herbeigeführt oder von uns aus Motiven der höheren Politik, welche sich dem öffentlichen Verständnis entziehen, freiwillig begonnen worden ist." Den Schluß bildete die ernste Mahnung: Wenn die Regierung friedliche Versicherungen gebe und daneben ein Wort in dem Sinne transpiriere, daß die den Krieg fordernden Generalstabsoffiziere doch recht gehabt hätten, so würden wir das Vertrauen in unsere Glaubwürdigkeit bei den Bundesgenossen verlieren. Der junge Thronerbe war aber nicht geneigt, sich der Weisheit und Sorge der staatsmännischen Autorität ohne weiteres zu unterwerfen; er setzte eine Antwort auf, die, bei allem Entgegenkommen in der Form, doch in der Sache an der Grundanschauung festhielt, und legte sie vor der Absendung dem Grafen Waldersee zur Durchsicht vor.7 Als Bismarck das Schreiben in Händen hielt, hörte er zugleich die Stimme des Generalstabes, und seine gegen Waldersee gerichteten Randbemerkungen zeigen, daß er die wahre Gegnerschaft vermutete. Wenn Wilhelm jetzt schon in der höchsten Lebensfrage des Reiches auf andere Stimmen hörte, wie konnte Bismarck hoffen, sich auf die Dauer im Vertrauen des künftigen Herrschers zu behaupten - so ist in den Akten ein erschütternder Aufschrei seiner Sorgen zurückgeblieben.8

Der Regierungsantritt des Kaisers unterbricht nur auf kurze Dauer das ungelöste russische Problem:9 sobald die Spannung im Osten, wie wir sahen, im Winter 1888/89 wieder einsetzt, wird auch die Differenz zwischen Kaiser und Kanzler unter Mithilfe derselben fremden Einflüsse erneut ausbrechen.

Wilhelm II. war etwas voreilig auf die Erwiderung seines Besuches durch den Zaren zu sprechen gekommen, aber der Zar bekam einen Wutanfall, als [363] Herr v. Giers darauf anspielte.10 Das war in denselben Tagen, wo Bismarcks Versuch scheiterte, der russischen Feindseligkeit ein englisches Bündnis entgegenzusetzen. Die Diplomatie hatte, wenngleich von diesem Geheimnis noch nichts durchsickerte, ihre letzte Karte ausgespielt. Das Militär begann von neuem sich mit dem Gedanken der Unvermeidlichkeit des großen Krieges zu beschäftigen. Bald war Waldersee mit sich darüber einig, das Geschick und das Ansehen des Kanzlers noch einige Zeit für die Friedenserhaltung zu verwenden, nach Abschluß der Rüstungen aber den Krieg herbeizuführen: "Bis dahin mit dem Kanzler; wenn es Ernst wird, aber ohne ihn; wenn es sein muß, auch gegen ihn."11 Seinem höfischen Geschick gelang es, seine Anschauungsweise auch in dem längst dafür vorbereiteten jungen Kaiser zu nähren und zu vertiefen; in ständiger Kritik der kanzlerischen Maßnahmen gewöhnte er ihn daran, von dem Generalstabschef eine laufende Berichterstattung über russische Dinge entgegenzunehmen. Man darf es aussprechen, daß in der Seele des Kaisers der Gedanke an eine Trennung von Bismarck und der Wunsch nach einem anderen Kurs gegen Rußland eine und dieselbe Wurzel haben: sie entzünden sich aneinander und steigern sich wechselseitig.

Schon machte der Kaiser aus seiner kritischen Haltung auch nach außen hin kein Hehl mehr. Als er am 29. Mai 1889 den Botschafter von Radowitz empfing, der zu den unbedingten Vertretern der Russenpolitik Bismarcks gehörte, äußerte sich seine Verstimmung gegen den Zaren auch in scharfen Worten gegen den Kanzler: "Wenn Bismarck nicht mit will gegen die Russen, so müssen sich unsere Wege trennen. Ich habe ihm schon durch Herbert sagen lassen, daß meine Geduld den Russen gegenüber zu Ende sei."12 Am folgenden Tage feierte der Zar in dem berühmten Toast den Fürsten von Montenegro als seinen einzigen Freund. Was für Bismarck eine grobe Desavouierung seiner Politik war, empfand der Kaiser nach allem Werben um Freundschaft als persönliche Kränkung:13 schwer verärgert, suchte er nach einem Anlaß, sich zu entladen, und wohin anders als gegen die falsche Russenpolitik seines Kanzlers? Er fand ihn schon nach wenigen Tagen in der Nachricht, daß an der Berliner Börse eine russische Rubelanleihe zur Konversion zugelassen sei. Waldersee und Verdy du Vernois, der neue Kriegsminister, bestärkten den Erzürnten, der nach seiner Art sofort eine "Maßregel" dagegen verlangte.14 Seine Auseinandersetzung mit dem Grafen Herbert Bismarck machte schon den Eindruck, daß er den Streit suche: "meine militärischen [364] Ratgeber haben mir gesagt, es sei ungehörig, den Russen ihre Finanzpolitik noch weiter zu erleichtern und ihnen damit das Geld zum Kriege gegen uns zu verschaffen." Von Waldersee selbst, der es wissen mußte, liegt das Urteil vor: "Nach meiner festen Überzeugung lag hier der entscheidende Wendepunkt beim Kaiser." So faßte auch Bismarck den Vorstoß auf, als gegen ihn persönlich und seine Politik gerichtet; der militärische Angriff riß den Kampfgewohnten zum stärksten Gegenschlag auf. Er stellte dem Kaiser sofort die Kabinettsfrage. Nach den Erfahrungen, die er mit dem Lombardverbot gemacht hatte, hielt er es damals für unzeitig, einen finanziellen Konflikt mit Rußland herbeizuführen. In der Sache setzte er schließlich doch seinen Willen durch. Der Kaiser verlor an dem, was für ihn nur ein Anlaß, nicht aber ein geeigneter Konfliktstoff war, bald das Interesse15 - seine innerste Empfindung behielt er in verstärktem Maße zurück.

In Wahrheit hatte der Kampf um die Macht begonnen, der Kampf, wie Graf Philipp Eulenburg es ausdrückte, zwischen den Herrschergewohnheiten des Hauses Bismarck und der autokratischen Anlage des Kaisers. Der ganze Zusammenhang der Machtstellung des Kanzlers schien davon ergriffen zu sein. Nach außen hin stand er, wie wir sahen, in dem letzten diplomatischen Ringen mit seinen weltpolitischen Gegenspielern und konnte nach keiner Seite hin seine verborgenen Karten aufdecken. Im Innern aber hatten sich die Spitzen des Militärstaates gegen ihn erhoben, jene Gewalten, die einst im Siege vor ihm hatten zurückweichen müssen und ein geheimes Ressentiment nie aufgegeben hatten. Der Reichskanzler stand im Schlußakt eines Ringens, dessen frühere Akte auf den Kriegsschauplätzen in Böhmen und Frankreich gespielt hatten; mußte er den Primat der Politik vor den Ansprüchen der Strategie noch einmal unter ungünstigen Vorzeichen durchfechten? Schon hatte er während des letzten Konflikts gegen das Übergreifen militärischer Einflüsse auf die Außenpolitik seine Presse mobil gemacht; der berühmte Clausewitz-Artikel der Norddeutschen Zeitung (7. Juli) ließ weitere Kreise aufhorchen. Aber der Kaiser stand im Lager der Militärs, die auf der ganzen Linie zum Angriff vorgingen.

Als Kaiser Franz Joseph im August 1889 zum Besuch in Berlin weilte, verabredeten Waldersee und Verdy mit dem österreichischen Generalstabschef Frh. von Beck eine militärische Auslegung des casus foederis, die die im Winter 1887/88 umkämpfte Frage völlig in ihrem Sinne, gegen die Auffassung Bismarcks entschied. Ja, Wilhelm II. unterstützte den Umschwung besonders lebhaft, indem er in Gegenwart Franz Josephs zu Beck in seiner lebhaften Weise sagte: "Aus welcher Ursache immer Sie mobilisieren, ob wegen Bulgarien oder sonst - der Tag Ihrer Mobilisierung ist auch der Mobilisierungstag für meine [365] Armee, und da können die Kanzler sagen, was sie wollen."16 Vielleicht war er sich nicht voll bewußt, wie tief diese Versicherung kameradschaftlicher Loyalität in die elastische Bündnispraxis Bismarcks eingriff, aber er scheute sich jetzt nicht mehr, sogar der verbündeten Großmacht gegenüber die Autorität des Kanzlers als für ihn nicht allein verbindlich preiszugeben. Eine militärische Front begann sich zusammenzuschließen. Man erkennt die Gestalten der Halbgötter aus dem Versailler Winter von 1870/71 wieder: sie haben nicht vergessen, daß sie damals unterlagen,17 aber sie wissen, daß sie jetzt das Ohr des Kaisers besitzen.18 Dabei ist es nicht einmal die Russenpolitik um ihrer selbst willen, die die Geister so tief voneinander scheidet. Wohl konnte der Kaiser am 6. Oktober zu Waldersee sagen: "Ich bin mit meiner Ansicht fertig, mit dem Kanzler spreche ich gar nicht mehr darüber, denn er hat seine eigene, und wir einigen uns nicht mehr." Als aber der Zar in der Woche darauf endlich seinen Besuch in Berlin abstattete, war Wilhelm in seiner überempfänglichen Art so befriedigt von dem "hübschen Erfolg", daß er nunmehr über die Linie Bismarcks nach der anderen Seite hinausging und sich dem Zaren sogleich für das nächste Jahr zum Besuch anmeldete. Jetzt schien er Waldersee wieder ganz im russischen Fahrwasser zu schwimmen. Ja, er ertrug es schwer, daß der Kanzler das Zuviel nicht loben wollte. Denn die Nuance, die die Seele der Politik ist, war seiner Art nicht von Natur gegeben.

So wird denn auch die ursprüngliche Form des Gegensatzes bald wiederkehren. Während Bismarck noch in den letzten Tagen des Jahres 1889 jede Spitze gegen Rußland abzubiegen suchte,19 sieht man bei dem Kaiser in den nächsten Wochen das Mißtrauen gegen Rußland wieder stärker anwachsen. Aus der schon länger eingeführten russischen Berichterstattung Waldersees war ein förmliches System geworden, das die amtliche Information laufend durchkreuzte und das Vertrauen zu dem Auswärtigen Amte verzehrte.20 Der Zufall [366] wollte es dann, daß dieser Konfliktstoff, der in den Wochen der Kanzlerkrisis völlig hinter anderen innerpolitischen Anlässen des Streites zurücktreten wird, in der allerletzten Stunde des Bruches - vom Kaiser unvorsichtig hineingezogen, von Bismarck sofort aufgegriffen - doch noch einmal in die große Tragödie hineinspielte.

Denn wenn der Kaiser sich auch zunächst in einer außenpolitischen Lebensfrage von seinem Glauben an Bismarck ablöste, so war er sich doch darüber klar, daß jede öffentliche Auseinandersetzung mit der Autorität des Kanzlers auf diesem Schauplatz sich schlechterdings verbot.21 Wollte er seinem mächtigen Ratgeber eine wesentliche Verselbständigung seines Willens abringen, die äußerstenfalls zur Trennung führen konnte, so ließ sich das schon wegen der letzten Konsequenzen nur auf einem Kampfgelände der inneren Politik vertreten.

So bot sich dem eigenwilligen Betätigungsdrangs des jungen Herrschers, der irgendwo er selbst, irgendwo anders als der Kanzler sein wollte, im Laufe des Jahres 1889 der soziale Fragenkomplex dar. Hier lag das tiefste und umfassendste Problem der inneren Reichspolitik: der Staat und die rasch wachsende Masse des industriellen Arbeiterstandes, die soziale Lage und die politische Haltung des vierten Standes. Bismarck hatte das Problem auf dem doppelten Wege der gewaltsamen Repression durch das Sozialistengesetz und der sachlichen Reform durch die Sozialpolitik zu lösen gesucht; wenn er auf dem einen Wege das revolutionäre Element und die demokratischen Ziele dieses politischen Emanzipationskampfes treffen wollte, suchte er auf dem anderen Wege das Gute der sozialistischen Idee dem Gegner zu entreißen und zur Befriedigung der sozialen Bedürfnisse zu verwenden - mit dieser Versicherungsgesetzgebung, die in der Altersversicherung von 1889 gipfelte, war Deutschland damals in eine Führerstellung unter den Nationen aufgerückt. So groß aber auch die praktische Leistung der Sozialpolitik war, so verfehlte sie doch ihre politischen Nebenabsichten, der Sozialdemokratie den Zugang zu der Seele des Arbeiters zu versperren und die ihr anhangenden Massen auf den Boden des bestehenden Staates herüberzuholen. Unter dieser Enttäuschung begann der Kanzler in seinen letzten Jahren die Fragen der Sozialpolitik wieder ausschließlich unter ihrem machtpolitischen Gesichtspunkte zu betrachten, vom Gesamtinteresse der Staatsordnung, nicht von dem humanitären Wohlfahrtsideale aus; er sah die Aufgabe mit der Alters- und Invaliditätsversorgung als abgeschlossen an und zeigte sich in allen weiteren Fragen des Arbeiterschutzes, der Frauen- und Kinderarbeit, der Sonntagsarbeit, den manchesterlichen Argumenten der Unternehmer zugänglich - trotz aller drängenden Resolutionen des Reichstages und der besorgten Kritik idealistischer [367] Sozialreformer. Es war, als ob er sich verhärte, um den Kräften, die er selbst hatte großziehen helfen, wieder den Rücken zuzuwenden. Um so mehr war er gewillt, das Sozialistengesetz rechtzeitig zu erneuern oder zu verschärfen: gegenüber dem Gespenst der sozialen Revolution, das überall in Europa aufzutauchen drohte, die Sache der Staatsautorität rücksichtslos zu verfechten.

In dieser Situation ging die Sozialdemokratie darauf aus, das Ganze des Bismarckschen Systems der Kraftprobe eines großen Bergarbeiterausstandes auszusetzen, um die Erwartungsstimmung des neuen Regiments zum Erwerb von neuen Sympathien zu benutzen. Hier setzte der Kaiser ein. So wenig er von Haus aus den sozialen Problemen aus Erfahrung oder Neigung nahestand, so war man in einem Teil seiner Umgebung bemüht, hier ein tieferes Interesse zu erwecken; bald lockte ihn der Glaube, durch energisches Vorgehen in der Sozialpolitik der Träger einer monarchischen Mission zu sein und auch für seine Popularität süße und schnell reifende Früchte zu pflücken. Gerade auf einem Gebiete, auf dem der Kanzler den Monarchen bei seiner autoritären Neigung zu fassen suchte, schien dieser sich geflissentlich einer humanitären Denkweise zuzuwenden. Dabei spielte der instinktive Wunsch mit, gerade da, wo der sozialpolitische Eifer des Kanzlers nachzulassen und dem harten Unternehmerstandpunkt zu weichen drohte, eine gewisse persönliche Selbständigkeit zu gewinnen und sich unter freudigem Zuruf weiter Kreise von der Autorität des Kanzlers überhaupt zu befreien. Wenn im Sommer 1889 der Gedanke einer künftigen Trennung von Bismarck in seiner Seele auch noch verborgen lag, so lockte ihn ersichtlich die Vorstellung, in diesen Dingen des sozialen Interesses vor der Welt und vor der deutschen Nation ein strahlendes Relief zu gewinnen, wenn es eines Tages zu ernsteren Meinungsverschiedenheiten mit dem Kanzler kommen sollte. So vermischten sich sanguinische Beglückungsträume eines jungen Herrschers mit heimlicher politischer Tendenz, die nach einem günstigen Terrain für eine Auseinandersetzung ohne gleichen ausspähte.

Wenn man die zweite Hälfte des Jahres 1889 als die Inkubationszeit des Vorsatzes, sich von Bismarck zu trennen, bezeichnen darf, so wird man doch nicht versuchen, einen eindeutigen Entschluß des Kaisers in einem bestimmten Augenblick anzusetzen. Die Möglichkeit der Trennung ist ja selber nur das Endstück eines längeren, manchen Stimmungen unterworfenen Gedankenganges. Den ersten Anstoß gab das wachsende Begehren Wilhelms, seinen Einfluß auf die wichtigsten Geschäfte auszudehnen und seine Initiative wirksamer zur Geltung zu bringen. Das hieß den amtlichen Machtbereich Bismarcks in der Praxis oder auch in der Form einzuengen, die ministerielle Allmacht zu gutwilligem Einlenken und Verzichten zu bringen oder gar einen allmählichen Rücktritt des Kanzlers von seinen Ämtern einzuleiten in den Formen der Freiwilligkeit, wie sie allein, ohne allzu schweres Odium, vor der Nation vertreten werden konnte; wenn aber die Meinungsverschiedenheiten unüberwindbar waren und eine allmähliche Lösung [368] nicht durchführbar erschien, dann auf den Rücktritt überhaupt hinzuarbeiten. Mochte es in diesem ganzen Programm für eine impressionable Natur auch sehr viele Verhaltungsweisen geben, vom friedlichen Abbau bis zum scharfen Konflikt (wenn man den Charakter des Gegenspielers in Betracht zog!): der Plan einer Eroberung der Macht ist um die Wende des Jahres 1889/90 bewußt in den Willen des Kaisers aufgenommen und vom ersten Augenblick an bewußter, als man gemeinhin annimmt, durchgeführt worden.

Während dieses selben halben Jahres weilte Bismarck mit geringen Unterbrechungen in Friedrichsruh. Man hat diese lange Entfernung von Berlin wohl getadelt, weil sie die innere Ablösung des Kaisers beschleunigt hätte, aber sie geschah nicht ohne Überlegung. Bismarck wollte dem Kaiser nicht so häufig begegnen, ihn nicht das erdrückende Schwergewicht seiner Persönlichkeit fortlaufend fühlen lassen, sondern ihm planmäßig freiere Bewegung in geringeren Angelegenheiten ermöglichen. Die Kehrseite war nur, daß der Kaiser eben dadurch, ohne ausreichendes Gegengewicht, fremden Einflüssen nach mehr als einer Seite hin verfiel; denn die Persönlichkeit Herbert Bismarcks reichte doch nicht aus, um diesen Eigenwillen, der sich der Allmacht des Vaters entziehen wollte, gleichsam mittelbar auf der Linie der Übereinstimmung zu halten. In dieser Zeit der Trennung ist Bismarck, nach den gleichlautenden Urteilen verschiedener Lager, sichtbarer als bisher gealtert. Er klagte wohl selbst, auch zu dem Kaiser, über seine Gesundheit - wann hätte er das nicht getan? Aber allgemein hatte man den Eindruck, daß seine Arbeitskraft und seine Initiative nachließen oder doch durch eine Periode der Erschöpfung hindurchgingen, daß sein Eigenwille sich verhärtete - eben unter dem Eindrucke solcher Meldungen befestigte sich wiederum der Kaiser in seinem geheimen Plane, selber nach der Führung zu greifen. Besaß der Kanzler wirklich, wie sein jüngerer Sohn damals fühlte, nicht mehr den alten Hammerschlag? Auch andere Beobachter glaubten in den kommenden Wochen festzustellen, daß er unsicherer als sonst hin und her geschwankt habe und dem jungen Kaiser mit einer falsch berechneten Psychologie gegenübergetreten sei. Um nur das eine Beispiel herauszugreifen, das sich immer wieder aufdrängt: wenn Bismarck sich darauf versteifte, in der Frage der Einschränkung der Frauen-, Kinder- und Sonntagsarbeit den Unternehmerstandpunkt gegen den Kaiser zu vertreten, war er sich dabei bewußt, daß er dem anderen (so wenig tief auch dessen soziale Gesinnung reichte) eine gefährliche taktische Überlegenheit in die Hände spielte? Oder war es seine auf das Höchste gesteigerte Kunst, in der Politik alle Zwecke als Mittel zu betrachten, die sich an dieser Stelle übernahm und den klaren Blick des Staatsmannes trübte?

Freilich, die innere Unsicherheit, die man beobachtet, hat ihre tieferen in der Sache selbst liegenden Gründe. Ein bisher allmächtiger Minister, der in seinem Monarchen nur noch einen wankenden Rückhalt besitzt, wird in jeder größeren Aktion, sobald er die Wege des Monarchen kreuzt, notwendig gelähmt sein. [369] Gerade was bisher seine Überlegenheit ausmachte, das instinktive Ausnutzen der Konstellation, die Verknüpfung aller Fäden und das Ausspielen aller Karten, steht ihm nicht mehr unbeschränkt zur Verfügung. Was er auch unternimmt, es wird mit der Zeit gegen ihn ausschlagen. Hatte Bismarcks Fernbleiben von Berlin dazu geführt, daß der Kaiser sich vollends neuen Einflüssen überließ, so eröffnete sein Erscheinen in Berlin, sobald er seinem Einfluß den alten Bereich zurückzugewinnen suchte, sofort den Konflikt auf der ganzen Linie. Nicht anders stand es mit der Frage, ob er dem Kaiser mehr nachgeben oder eher Widerstand leisten solle. Gab er nach, so erweiterte er nur die Bresche, durch die der selbstherrliche Wille des Monarchen eindrang, und schwächte die Position, von der aus sich wirksame Gegenzüge unternehmen ließen. Wenn er aber seiner Natur gemäß die Verteidigung angriffsweise führte, dann verschärfte er die Neigung des Kaisers, sich unter allen Umständen von dem allmächtigen Minister zu trennen. Die alten Methoden der Rücktrittsdrohung oder der Aufregung der öffentlichen Meinung hatten ihre Wirkung eingebüßt; wenn er die politischen Faktoren gegeneinander auszuspielen suchte, so mußte er erkennen, daß auch der Kaiser seine Fühlung mit Bundesfürsten, Ministern, Parteiführern und unverantwortlichen Ratgebern aufgenommen hatte; sobald er aber seine dienstliche Grenze überschritt, gab er sich Blößen und dem Monarchen das Recht der Korrektur. Der Kaiser, mit seinem innerlich feststehenden Endziele, war in der überlegenen Position, die auch seine beherrschte Ruhe gegenüber allen provokatorischen Gegenzügen des Kanzlers erklärt: denn sobald der Machtkampf sich erkennbarer abzeichnete, wuchsen ihm die Helfer, die Bundesgenossen, die Argumente ohne Ende zu. Dagegen kämpfte Bismarck doch immer mehr mit ungleichen Waffen; ob er den Rückhalt im preußischen Staatsministerium oder im Bundesrat, in den Parteien oder in der öffentlichen Meinung suchte, immer zog ein unangreifbarer Magnetberg die Eisenteile aus dem Schiffe, das er steuerte. Seine eigenen Argumente verwandelten sich in Waffen, die ihn selber trafen. Er konnte wohl einen Augenblick die autoritäre Veranlagung des Kaisers gegenüber revolutionären Gefahren der Zukunft zu sich herüberreißen, aber er sollte mit seinem Kampfprogramm dann doch nur neue Gegnerschaften gegen sich aufrufen; das Argument, das geformt war, um die kaiserliche Seele festzuhalten, verwandelte sich in ein Mittel, sie ihm vollends zu entfremden. Und schließlich - das erschwert die objektive Würdigung dieser tragischen Auseinandersetzung - werden die umstrittenen politischen Objekte, Sozialistengesetz und Sozialpolitik, Militärvorlage und Kampf mit dem Reichstage, für beide Männer nicht allein sachliche Zwecke an sich, um derentwillen man aus Überzeugung rang, sondern zugleich Mittel zu einem höheren Zweck: für Bismarck, den Kaiser an seiner Seite zu halten, für den Kaiser, Bismarck zum Rücktritt zu nötigen.22

[370] Der Kaiser hatte sich bald nach seiner Rückkehr von der Orientreise endgültig mit dem Gedanken eines Kampfes um die Macht, der langsam in ihm gereift war, vertraut gemacht. Dreimal, so schrieb er später an Kaiser Franz Joseph, habe er in steigernder Dringlichkeit den Kanzler aufgefordert, eine Novelle zum Arbeiterschutz in Angriff zu nehmen. Um Weihnachten wurde es erkennbar, daß er selbst mit eigener Initiative auf dem Gebiete der Sozialpolitik zur Aktion übergehen wollte. Schon am 5. Januar 1890 machte der Minister von Boetticher, sein langjähriger sozialpolitischer Helfer, den Kanzler darauf aufmerksam, daß man mit dem sozialen Interesse des Kaisers ernsthaft werde zu rechnen haben.23 Bismarck aber nahm die Warnung leicht und wies jedes Einlenken ab, weil er das Interesse nur für eine Laune hielt - aber es war mehr, es war die politische Idee, deren Resonanz der Kaiser für den Fall der unvermeidlichen Machtauseinandersetzung vor der öffentlichen Meinung sich zu sichern gedachte! Bismarck aber war entschlossen, im Falle ernsterer Meinungsverschiedenheit mit dem Kaiser, die Positionen der starken Staatsautorität zu beziehen; zunächst bestand er darauf, von dem Septennats-Reichstage die Erneuerung des Sozialistengesetzes wenn möglich ohne jede Einschränkung zu erlangen;24 in den Kampfpositionen fühlte er sich am sichersten und am unentbehrlichsten, wenn sein eigener Souverän in anderen Fragen die Front gegen ihn nahm. Denn dieser Eindruck überwog in den ersten Wochen des Januar bei allen, die zu vertraulicher Berührung mit dem Kaiser kamen: er will sich von dem alternden Kanzler befreien. Am 18. Januar sprach der Großherzog von Baden, den Wilhelm tiefer als andere in sein Inneres blicken ließ, es offen aus, daß der Kaiser jetzt klarer sehe und sich von der Allmacht des Kanzlers losmachen wolle.

Der Kaiser eröffnete seinen Vorstoß zur Ausdehnung der monarchischen Initiative in der Reichsregierung am 23. Januar 1890 durch Anberaumung [371] einer Sitzung des Kronrats auf den folgenden Abend - schon die beispiellose Form des Vorgehens deutete auf ein weiterreichendes Ziel - der Reichskanzler, der noch in Friedrichsruh weilte, war genötigt, sich durch mehrere Rückfragen in Berlin zu erkundigen, worin der Gegenstand der Beratung bestehen würde. Am Mittag des 24. Januar erschien er in tiefer innerer Erregung "im Kreise der Diadochen, welche noch bei Alexanders Lebzeiten gegen ihn aufgetreten".25 Vor der Sitzung des Kronrats versammelte er das Staatsministerium, um es möglichst solidarisch in den schwebenden Streitfragen an seiner Seite festzulegen. Aber jetzt schon verschwieg er nicht, daß er sich von seinen Ämtern mit Ausnahme der auswärtigen Politik werde zurückziehen müssen.

Der Kaiser eröffnete den Kronrat mit der Vorlesung eines vorbereiteten Programms. Nur rechtzeitige Reform könne der drohenden Revolution vorbeugen; er wolle nicht seine Regierungsanfänge mit Gewalt beflecken, sondern ein König der Geusen sein; die -sehr dunkel gemalte - Lage der Arbeiter erfordere das Eingreifen des Staates, und zwar auf der Grundlage einer internationalen Übereinkunft. Er befahl die Vorlage eines Erlasses an das Staatsministerium, ein feierliches und schwungvolles Manifest noch vor den Wahlen. Keine Kundgebung des Monarchen konnte tiefer, nach innen wie außen, in die allgemeine Staatspolitik eingreifen, als das was hier angekündigt wurde, und sie geschah ohne und gegen den Rat des Kanzlers: indem der Kaiser von Autoritäten sprach, die er in Sachen der Arbeitergesetze gehört, streifte er vor dem versammelten Staatsministerium seinen vornehmsten Ratgeber von sich ab. Damit war die Kanzlerkrisis virtuell eröffnet.

Bismarck behielt zunächst, ohne seine Bedenken über das ganze Unternehmen zu verhehlen, formell für das Staatsministerium vor, seine verbindliche Äußerung bis nach Prüfung und Überlegung der vorgetragenen Ideen und Entwürfe zu vertagen. Dann aber führte die anschließende Erörterung über die Behandlung des Sozialistengesetzes - in der auch Bismarck seine düsteren Perspektiven bis zu dem "die Wogen höher gehen lassen" nicht unterdrückte - zu einem erregten Zusammenstoß der Meinungen. Der Kaiser wiederholte seinen Entschluß, daß er der zu erwartenden Katastrophe durch rechtzeitige Präventivmaßregeln vorbeugen und nicht seine ersten Regierungsjahre mit dem Blut seiner Untertanen färben wolle. Der Kanzler aber warnte vor jeder Art von Kapitulation vor der Parlamentsgewalt schon beim Sozialistengesetz, und ließ sich zu der trotzigen Wendung hinreißen: "Wenn Ew. Majestät kein Gewicht auf meinen Rat legen, so weiß ich nicht, ob ich auf meinem Platze bleiben kann." Es war der offene Zusammenstoß der Protagonisten vor dem schweigenden Chore; in unehrerbietigster Weise, so faßte der Kaiser den Vorgang auf, habe der Kanzler ihm den Abschied vor die Füße geworfen, vor den Ministern, die jenem gehorsam folgten. Das empfand er als Niederlage, und die Alternative, Unterwerfung des Kanzlers [372] oder Trennung von ihm, begann sich in ihm zu verhärten - aber auf der anderen Seite vermißte auch Bismarck bei den Ministern, in denen er bisher seine Minister gesehen hatte, Rückhalt und Unbedingtheit, und glaubte sich von ihnen verlassen.

Scheinbar ging die ganze Debatte um eine der höchsten Prinzipienfragen staatlichen Daseins, die immer wieder im geschichtlichen Ablauf an großen Wendepunkten des Geschehens gestellt wird: ob man drohenden revolutionären Bewegungen mit Festigkeit und Gewalt begegnen oder sie durch einsichtige Reformen rechtzeitig beschwören soll. Nur war die wahre Situation des deutschen Lebens im Januar 1890 keineswegs so beschaffen, daß sie aus sich heraus die Staatsleiter vor eine solche unausweichliche Alternative hätte stellen müssen: beide Positionen waren eher theoretisch von zwei Persönlichkeiten eingenommen, die das Prinzip der Autorität und das Prinzip der Reform zur Plattform ihrer persönlichen machtpolitischen Auseinandersetzung erwählt hatten.

So tief auch Bismarck die Tragweite des ersten großen Zusammenstoßes empfand, so siegte seine politische Elastizität - soll man sagen, sein Wille zur Macht oder seine Sorge um den Staat, wer will das voneinander trennen! - zunächst über den persönlichen Groll. Er entschloß sich am 26. Januar das Handelsministerium aufzugeben; da am 25. Januar das Sozialistengesetz im Reichstage gefallen war, und das sozialpolitische Ressort fortan einem Berater des Kaisers unter amtlicher Verantwortung überlassen wurde, trat der Kanzler im Augenblick außerhalb der Schußlinie; er erwog zugleich den Rücktritt vom preußischen Ministerpräsidium. In der unmittelbaren Streitsache bezwang er sich, die Formulierung der vom Kaiser gewünschten Erlasse und die Vorbereitung der Konferenz in die Hand zu nehmen, um Schlimmeres zu verhüten. Es war eine Politik des Nachgebens, aber auch, da der innere Widerstand noch fortdauerte, des verdeckten Durchkreuzens.

Aber in diesen Tagen des ersten Überbrückungsversuches ging auch der Kaiser auf seinem Wege weiter. Er glaubte in dem Rücktritt Bismarcks vom Handelsministerium den ersten Erfolg erlangt zu haben, und trat jetzt, vielleicht auch durch die Gegenzüge Bismarcks (gegen die sächsischen Bundesratsanträge) gereizt, innerlich der Frage der Ersetzung Bismarcks auch in seinem Amte als Kanzler näher. Vermutlich am 31. Januar berief er den General von Caprivi in tiefstem Geheimnis nach Berlin: als dieser am 1. Februar vor dem Monarchen erschien, wurde ihm überraschend und zum ersten Male eröffnet, daß er unter Umständen Bismarcks Nachfolger werden solle.

In diesem Augenblick war Bismarck mit der Redaktion der sozialpolitischen Erlasse beschäftigt. Am 4. Februar gingen sie in die Welt, eine unerwartete Kundgebung, deren Sinn man nirgends ganz fassen konnte. Die Veröffentlichung war formal nur möglich auf der Grundlage der in diesem Augenblick anscheinend erfolgten Versöhnung, aber sie wurde überall instinktiv als die [373] Götterdämmerung des Zeitalters Bismarcks empfunden. Der österreichische Botschafter nannte sie "den ersten großen Schritt zur Emanzipation des Herrschers von den Einflüssen seines ersten Ratgebers".

Auch Bismarck war sich klar darüber, daß er einen zweiten Schritt nachfolgen lassen müsse. Bei der Unterzeichnung der Erlasse hatte er von neuem die Erfahrung gemacht, daß eine Drohung mit dem Rücktritt auf den Kaiser keine Wirkung ausübte. Es blieb ihm nur übrig, selber den Rücktritt von seinen preußischen Ämtern zu vollziehen, um dadurch der Verantwortung für die künftigen innerpolitischen Wendungen enthoben zu sein und zugleich den Schauplatz der Konfliktsmöglichkeiten mit dem Kaiser entscheidend einzuengen. In einer Audienz am 8. Februar rief seine Wendung: "Ich fürchte, daß ich Ew. Majestät im Wege bin", auf der anderen Seite ein verlegenes Schweigen hervor, das sich nur als Zustimmung auslegen ließ. So formulierte er selbst sein Programm des allmählichen Umbaus: Ausscheiden aus allen preußischen Ämtern, Verbleiben im Kanzleramt und in der Leitung der Außenpolitik, Verkündung dieses Wechsels am Tage der Reichstagswahlen (20. Februar). Den Umschwung im einzelnen stellte er sich so vor, daß Caprivi, dessen Namen er dem Kaiser selbst nannte (vermutlich weil er seinen Empfang am 1. Februar unter der Hand erfahren hatte), zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt werden, eine Reihe von Ministern, die er für zu "schwach" hielt für eine schärfere Politik, ausscheiden und der Staatssekretär Herbert Bismarck als preußischer Minister des Auswärtigen in das Staatsministerium eintreten sollte. Der Kaiser nahm den Vorschlag, mit dem die Dinge in Bewegung kamen, an. Bismarck teilte den Kern dieses Programms dem Staatsministerium am 9. Februar mit, nicht eben angenehm überrascht, daß man es mit einem gewissen Gefühl der Erleichterung aufnahm. Scheinbar unwiderruflich stand mit diesem allmählichen Rückzug des Reichsgründers die große Wendung vor der Tür. Sie erinnerte äußerlich an die Episode von 1872/73, in der Bismarck in der Fülle seiner Macht das preußische Ministerpräsidium dem Kriegsminister Roon überlassen hatte, aber im Unterschied von der damaligen Lösung war es jetzt die Frage, ob die erschütterte Autorität, die einen Teil ihrer Ämter über Bord warf, nicht vollends in ihrem Kerne dadurch getroffen ward. Man hätte denken können, daß diese Lösung derjenigen geglichen hätte, in der der uralte Moltke sein Amt bewahrt, nur alle wesentliche Funktionen dem Generalquartiermeister Grafen Waldersee übertragen hatte. Aber alle Voraussetzungen der Ämter und der Personen lagen anders.

Vielleicht war es diese Erkenntnis, die Bismarck selbst schon am 10. Februar die gewählte Lösung wieder aufgeben ließ. Soweit man sieht, kann man einen doppelten Drehpunkt dieses neuen Entschlusses bei ihm beobachten: einen innerpolitischen, hervorgerufen durch eine Besprechung mit dem Grafen Lerchenfeld, dem bayrischen Bundesratsbevollmächtigten, und einen außenpolitischen, hervorgerufen durch eine Besprechung mit dem Botschafter Grafen Schuwalow, [374] beide am 10. Februar. Der bayrische Bundesratsbevollmächtigte, ein unabhängiger Mann von politischem Urteil, riet dem Reichskanzler dringend von der Ämterspaltung ab; er dürfe sich nicht der Gefahr aussetzen, daß der preußische Ministerpräsident die Stimmen im Bundesrat gegen den Reichskanzler ausspiele; der föderalistische Standpunkt bleibe nur in der Gleichsetzung des politischen Willens des Reichskanzlers mit demjenigen Preußens gewahrt. Sein Rat, die Dinge in Preußen einige Zeit laufen zu lassen, aber formell die Hand im Geschäft zu behalten, machte um so mehr Eindruck, als er tatsächlich an die innerste Schwierigkeit der Ämterspaltung rührte. Das war das Eine. Eine Besprechung mit Schuwalow zeigte am selben Tage dem Kanzler die Möglichkeit, eine Erneuerung des Rückversicherungsvertrages womöglich schon im Laufe der nächsten Wochen herbeizuführen und dadurch das Gewicht seiner Autorität auch auf dem äußeren Flügel in unerwarteter Weise zu verstärken.

So ließ Bismarck das Programm des sofortigen Abbaues fallen und teilte dem Kaiser in einer Audienz am 12. Februar mit, daß er seinen Abgang von den preußischen Ämtern nicht zum 20. Februar nehmen werde, sondern erst im Mai oder Juni, nach den ersten Abstimmungen über Militärvorlage und Sozialistengesetz; er konnte für sich anführen, daß die von ihm erwartete Durchdringung der großen Militärvorlage von seiner ungeminderten Autorität aus mit mehr Aussicht auf Erfolg vorgenommen werden würde, und mochte im stillen hoffen, daß aus diesen Kämpfen eine politische Gesamtlage hervorgehen werde, die ihn dem Kaiser überhaupt unentbehrlich mache. Dieser aber, der sich einige Tage hindurch schon mit der unmittelbaren Teillösung vertraut gemacht hatte, konnte in der Erwiderung seine Enttäuschung nicht ganz unterdrücken: "Da bleibt also bis auf weiteres alles beim Alten." Aber noch wahrte er, vor allem nach außen hin, die Geste, den Kanzler so lange wie möglich nicht zum Rücktritt zu drängen.

In dieser von neuem ungeklärten Situation der Kanzlerkrisis waren auch die Reichstagswahlen vom 20. Februar vor allem ein Stoß vorwärts. Ihr Ergebnis, die schwere Niederlage der Kartellparteien und der Sieg der Opposition, war sowohl dem Kaiser als dem Kanzler im Hinblick auf ihre schwebende Auseinandersetzung nicht einmal unerwünscht. Der Kaiser sah Bismarck eines Rückhaltes beraubt, isolierter gegenüber der künftigen Reichstagsmehrheit, seine politische Stellung sturmreifer geworden - er konnte daraus vor allem Ermutigung für seine stillen Wünsche ziehen.26 Umgekehrt beurteilte auch der [375] Kanzler die politische Lage für seine inneren Kampfentwürfe nur noch günstiger - mit der Aussicht auf einen sehr anspruchsvollen Reichstag mußte doch auch für den jungen selbstbewußten Monarchen der Horizont sich mit dunklen Wolken überziehen.

Fürst Bismarck, kurz vor der Entlassung, nach einem Vortrag
das Schloß verlassend, 1890.
[368a]      Fürst Bismarck, kurz vor der Entlassung, nach einem Vortrag das Schloß verlassend, 1890.

Eben darauf gründete Bismarck eine Politik von weiter Sicht, die er dem Kaiser am 25. Februar bzw. 1. März vortrug. Sie zielte im allgemeinen auf Aufrechterhaltung der Staatsautorität und Aufnahme des Kampfes mit der Revolution; im besonderen wollte sie, sowohl aus dem Anlaß eines scharfen Sozialistengesetzes als auch einer weitreichenden Heeresvorlage, dem Konflikt mit dem oppositionellen Reichstag nicht aus dem Wege gehen; am letzten Ende mochte diese allgemeine Kampftendenz in einer Reihenfolge von politischen Maßnahmen ausmünden, die man als den Staatsstreichplan Bismarcks zu bezeichnen sich gewöhnt hat.27 Es sei aber vorweg bemerkt, daß es sich dabei nicht um ein verzweifeltes Stratagem der letzten Stunde handelt, sondern um Gedanken, Möglichkeiten, Entwürfe, die in der Seele Bismarcks in den letzten Jahrzehnten, wenn es einmal hart auf hart stand, immer wieder aufgetaucht waren. Er hatte immer mit dem Tage gerechnet, an dem eine verfassungsmäßige Einigung mit dem Reichstage für ihn nicht mehr möglich sein würde und auch im Reiche der Kampf um die Vorherrschaft der monarchischen oder der parlamentarischen Staatspraxis ausgekämpft werden mußte - einem solchen Kampfe war er nicht gesonnen auszuweichen, jetzt weniger als je. In seinem Programm waren zu diesem Zwecke einmalige und mehrmalige Reichstagsauflösungen vorgesehen, aber unter gewissen Umständen auch eine Verfassungsänderung: sie sollte äußerstenfalls dadurch herbeigeführt werden, daß die Bundesfürsten, die formell die Reichsverfassung durch ihren Vertrag geschaffen hatten, eben diesen Bund auflösten und einen neuen Bund - mit verändertem Wahlrecht! - an die Stelle setzten. Für einen solchen Weg meinte Bismarck sogar den Boden der Legalität nicht verlassen zu brauchen.

Mit jenem souveränen Selbstgefühl, auch der Umbildner aller dieser Dinge sein zu können, wie er ihr Schöpfer gewesen war, malte er sich sogar die legalen Eventualitäten aus, vermöge deren sich der Kaiser vorübergehend auf die preußische Krone, und der Reichskanzler auf die preußische Ministerpräsidentschaft (mit der Führung der preußischen Stimmen im Bundesrat) zurückziehen und den Reichstag gleichsam trockenlegen könnten. In dem System doppelspieliger Rückversicherungen, das die Reichsverfassung darstellte, lagen nun einmal das Prinzip bundesfürstlicher Regierungen und das demokratische Prinzip des einheitlichen nationalen Willens nebeneinander; da konnte es erlaubt sein, in der föderalistischen Ordnung sich eines Organes, des Reichstages, vorübergehend zu entledigen, um es umgebildet wiederherzustellen. Ein Kampfprogramm dieses [376] Geistes fand in dem ersten Moment - unter dem Eindruck der Reichstagswahlen - die Billigung des Kaisers; schon in früheren Jahren hatte er eine gefährliche Anregung dieses Stils mit Zustimmung begleitet;28 so wenig er die letzten Glieder dieser Kette, die auch bei Bismarck mehr Möglichkeiten an einem fernen Horizonte als greifbare Realitäten waren, in sich aufnahm, so glaubte er doch, von dem kampffreudigen Kanzler an das Portepee gefaßt, vielleicht überrumpelt, sich dem Programm des "No surrender" nicht entziehen zu dürfen. Am 2. März trug der Kanzler auch dem Staatsministerium die Umrisse seiner Konfliktspolitik vor.

Wenn wir diese Politik Bismarcks, wie sie von konkreten Schritten des politischen Momentes sich in bloße Umrisse ferner Möglichkeiten verliert, zu würdigen unternehmen, müssen wir unterscheiden zwischen der Bedeutung, die sie in der schwebenden Auseinandersetzung zwischen Wilhelm und Bismarck hat, und der Bedeutung, die ihr in dem großen Zusammenhange der gesamten Staatsleitung und der politischen Persönlichkeit des Kanzlers anzuweisen ist. Und nehmen wir die Antwort vorweg: in der ersten Hinsicht ist sie als ein politischer Irrtum zu würdigen, der sich für den Urheber schon in wenigen Tagen als ein solcher erweisen wird. In der zweiten Hinsicht aber umschließt sie ein Problem, das den ganzen Staatsmann angeht, ohne daß darum das, was man als unendlich bismarckisch darin empfindet, als sein letztes geschichtliches Wort zur Reichsgestaltung gewertet werden dürfte.

Es war in mehr als einem Sinne ein psychologischer Fehler Bismarcks, wenn er annahm, die autoritäre Natur des Kaisers durch eine auf lange Sicht angelegte Gewaltpolitik an seiner Seite halten zu können: wenn Wilhelm II. solche Neigungen besaß, dann wollte er sie jetzt auf Kosten des Bismarckschen Machtbereiches befriedigen, nicht aber an der Seite eines ihm eben dadurch unentbehrlich werdenden Helfers, nicht aber durch schwere Verfassungskämpfe hindurch. Für den Kaiser, dem es nicht so sehr auf sachliche politische Endziele ankam als auf seine höchst persönliche Auseinandersetzung mit dem Kanzler, mußten jene letzten Andeutungen Bismarcks, in diesen Kämpfen den Bund der Fürsten aufzulösen und einen neuen Bund an die Stelle zu setzen, geradezu aufreizend, ja abschreckend wirken. Wie konnte er an einen vorübergehenden Verzicht auf die Kaiserkrone denken, deren Glanz ihn unter den Fürsten Deutschlands und Europas umstrahlte? Wie sollte der Mann der Erlasse vom 4. Februar 1890 sich plötzlich mit der Möglichkeit vertraut machen, in einem Kampfe gegen die Revolution "bis an die Knöchel durch Blut zu waten"?

Wenn Bismarck vor Beginn der Krise bedauert hatte, daß er den inneren Kämpfen nicht mehr so rüstig "wie 1862" entgegengehe, so mußte gerade diese Erinnerung bei dem Kaiser jede Wirkung verfehlen: denn der Großherzog von Baden riet seinem Neffen auf das dringendste - wie er es schon im Jahre 1862 [377] gegenüber dem alten König Wilhelm vergeblich getan hatte - von jedem Wege ab, der in einem inneren Blutvergießen ausmünden könne. Es war als wenn der alte nationale Liberalismus, einst von Bismarck auf der ganzen Linie überwunden, ihm gemeinsam mit diesem jungen Kaiser, der für seine Person keinen Hauch liberalen Geistes verspürt, noch einmal entgegentrete und sich vor die Schöpfung Bismarcks stelle. Bismarck hat späterhin das von ihm erst ausgelöste badische Eingreifen mit dem Stigma des opportunistischen Louis-Philippismus zu kennzeichnen gesucht. Aber man darf ihm die Frage entgegenhalten, ob im März 1890 wirklich die zwingende Notwendigkeit erweisbar war, den Gewaltweg zu beschreiten. Und welche Aussicht lag für den jungen Kaiser vor, sich dazu mit dem alternden fünfundsiebzigjährigen Kanzler zu verbinden, der diesesmal nicht, wie vor einem Menschenalter im preußischen Konflikt, das entscheidende und versöhnende nationale Ziel in der Hinterhand hatte. Spielte Bismarck mit diesen Vorschlägen nicht geradezu dem Kaiser in die Hände, der sich nunmehr von dem Kanzler des Staatsstreichs auf die Achtung vor der Reichsverfassung und auf den Frieden mit seinem Volke zurückziehen konnte? Es ist keine Frage, daß Wilhelm unter diesem Eindruck erst den Glauben an seine Rechtfertigung vor der Geschichte, wenn er mit Bismarck brach, innerlich gefunden hat. Damit ist die Frage der Taktik des "No surrender" in dem Kampfe zwischen Kaiser und Kanzler erledigt.

Aber es bleibt jene andere Frage - wie steht dieser letzte Plan zu Bismarcks ganzem Lebenswerke? Es ist im Zusammenhange unserer nationalen Geschichte eine fast schmerzliche Vorstellung, den Reichsgründer, um seines taktischen Zieles willen, zu so tiefem Eingriff in sein eigenes Werk, in die Rechtsordnung des Reiches, entschlossen zu sehen. Auch wenn die Theorie des "legalen" Staatsstreiches nur darauf abzielte, dem allzu lebhaften Blute des jungen Kaisers ein Quantum Eisen zuzufügen, war eine weitere Erhöhung der Krone diesen Einsatz wert? Wurden nicht hohe nationale Lebenswerte auf diesem Wege in Frage gestellt, der Erschütterung ausgesetzt, zu taktischen Mitteln erniedrigt? War die Unausweichlichkeit des Machtkampfes um den deutschen Staatstypus der Zukunft - denn darum handelte es sich - erwiesen? Daß der Kaiser selber in späterer Zeit mehrere Male mit herrischer Geste einen ähnlichen Anlauf zum Kampfe nahm, wiegt nicht allzu schwer, denn er ist ihm doch wieder vor der ersten ernsteren Schwierigkeit ausgewichen. Konnte aber der Monarchie ein großer Kampf mit der Sozialdemokratie nicht überhaupt erspart bleiben? Stand der März 1890 wirklich schon unter der Signatur der Revolutionsreife? Man könnte auf die friedliche Entwicklung der Klassengegensätze in der Zeit von 1890 bis 1914 hinweisen, um diese Frage zu verneinen und diejenige Politik für richtig zu erklären, die dem Reiche die schwersten Erschütterungen erspart hat. Und wenn man das Gewicht dieses Argumentes mit dem Hinweis auf die Novemberrevolution entkräften wollte, so sollte doch eine Erinnerung daran, was das [378] deutsche Volk mit Einschluß seiner sozialdemokratisch gesinnten Massen im Weltkrieg geleistet hat, den Ausschlag geben - diese Leistung ruht auf dem sittlichen Grunde eines in der Periode von 1890 bis 1914 nicht erschütterten öffentlichen Rechtszustandes im Reiche.

Aber man hat auch das Recht zu fragen, war denn Bismarck wirklich darauf aus, bis an die Knöchel durch Blut zu waten, und war für den Reichsgründer, der sein Vaterland und den Erdteil umgestaltet hatte, die armselige Weisheit des Fürsten Polignac von 1830 im Alter das letzte Wort geworden? Eine solche Annahme würde ihn völlig mißverstehen. Er sah die Situation dafür reif, den revolutionären Möglichkeiten gegenüber, die sich in Deutschland und in Europa wieder stärker erhoben, die Autorität des Staates angriffsweise zu verteidigen und zu diesem Zwecke auch die eine oder andere verfassungsmäßige Schranke zu überschreiten. Er würde auch nicht der Gefahr ausgewichen sein, inmitten eines unsicheren und feindlichen Europa diese innere Kraftprobe zu unternehmen, sondern sich zugetraut haben, mit ihrer Hilfe eine ganz tiefe Kluft zwischen dem russischen Autokraten und der französischen Republik aufzureißen und damit seine Innenpolitik dem Außensystem einzuordnen. Aber seinem politischen Genius wäre auch dieser Kampf doch nur wieder Durchgang zu einem Rechtszustande gewesen, wie er während des Konfliktes der sechziger Jahre die Indemnität und die Herstellung der Verfassung nie aus dem Auge verloren hatte. Derselbe Bismarck, der jetzt den Reichstag trockenlegen wollte, sollte sich schon im Januar 1892 auf dem Marktplatz in Jena für einen starken Reichstag als Brennpunkt des nationalen Einheitsgefühls einsetzen, der die Pflicht der Volksvertretung dadurch erfülle, daß er die Regierung kritisiere, warne, kontrolliere, unter Umständen führe und das verfassungsmäßig vorgesehene Gleichgewicht verwirkliche. Das ganze Bild des politischen Charakters Bismarcks reicht auch über die momentane Kampfstellung des März 1890 weit hinaus und schließt noch ganz andere Möglichkeiten ein, denen erst der Ausgang dieses kampferfüllten Lebens ein Ziel setzte.

Jetzt war das Ergebnis nur eine neue Stufe des Konflikts. Statt der Gemeinschaft bis zum Äußersten, die in der Phantasie Bismarcks einen Augenblick aufgeleuchtet war, nur eine unheilbare Vertiefung des inneren Gegensatzes. Während Bismarck ein Kampfprogramm entwarf, um damit von der Sozialdemokratie, wenn nicht von dem Reichstage loszukommen, entschloß sich Wilhelm II., sobald er von der ersten Überrumpelung sich wieder auf sein eigentliches Endziel besann, einen solchen Kampf mit dem Reichstage um jeden Preis zu vermeiden.

Seine Absage durchlief zwei Stadien. Schon am 4. März ließ der Kaiser, inzwischen unterrichtet, daß selbst die Kartellparteien auf das Sozialistengesetz verzichten wollten, den Reichskanzler wissen, daß er eine Verschärfung des Sozialistengesetzes und das Aufrollen eines weitausschauenden Konfliktes nicht [379] wolle. Er nahm wohl an, daß Bismarck daraufhin die Kabinettsfrage stellen werde. Zu seiner Überraschung, vermutlich zu seiner schweren Enttäuschung, gab der Kanzler sofort nach.

So blieb für das Kampfprogramm Bismarcks nur die "große" Militärvorlage übrig. Es kam ihm daher vermutlich höchst gelegen, daß gerade am 8. März der Kriegsminister von Verdy ihm die Denkschrift über die Erweiterung der Heeresorganisation (der Bismarck im Herbst 1889 ziemlich kritisch gegenübergestanden hatte), mit der Bitte um möglichste Beschleunigung, vorlegte.29 Ihre sachlich-technische Begründung schien jetzt fast zurückzutreten hinter ihrer politisch-dynamischen Funktion. In diesem Sinne machte Bismarck sich das Programm zu eigen; schon am nächsten Tage befaßte er das Staatsministerium mit der Angelegenheit. Er sagte sich, daß er im Kampfe mit der zu erwartenden Opposition schon eine Gelegenheit finden würde, den Reichstag aufzulösen und, wenn er halsstarrig und unbelehrbar zurückkehre, in die Luft zu sprengen. Sobald dann einmal der Kampf begonnen, durfte er hoffen, den jungen Kaiser, der sich noch am 10. März zu der großen Militärvorlage bekannte, wie im Jahre 1862 den Großvater, fest an seinem militärischen Ehrgefühl zu fassen, und in der wohlvertrauten Kampflage - vexilla regis prodeunt! - selber unentbehrlich für die Monarchie sich in der Staatsleitung zu behaupten.

Jetzt aber vollzog sich hinter den Kulissen ein charakteristischer Umschwung. Alle, die auf den Sturz Bismarcks hinarbeiteten, - und wie war diese Phalanx schon in der Ausdehnung begriffen! - erkannten sofort, daß die große Militärvorlage in den Händen Bismarcks ein willkommenes Kampfmittel werden und gerade das herbeiführen mußte, was man vermeiden wollte: den schweren Konflikt mit dem Reichstage, der den Kaiser noch einmal an den Kanzler band. Und so begann man von allen Seiten die Vorlage zu verringern; schon am 12. März wurde zwischen Waldersee und Miquel die Möglichkeit des Übergangs zur zweijährigen Dienstzeit erwogen; die Warnungen des Großherzogs von Baden und des konservativen Führers von Helldorf taten das Ihre, um den Kaiser über die politischen Folgen aufzuklären; sobald man ihm sagte, daß eine "kleine" Militärvorlage auch in diesem Reichstage auf keinen Widerstand stoßen würde, war er bereit (am Abend des 14. März), die ursprünglich so scharf betriebene Heeresvergrößerung ganz erheblich einzuschränken. Alle politischen Sachlichkeiten wurden in diesem Ringen - das empfindet man als das Furchtbare - nur noch taktisch im ausschließlichen Hinblick auf das unausgesprochene Endziel gewertet. Damit war von einem politischen Kampfprogramm nichts mehr übriggeblieben.

Indem der Kaiser aus seiner Auseinandersetzung mit Bismarck die eigentlichen großen Konfliktsanlässe mit dem Reichstage ausschaltete, sah er sich vor der [380] Frage, auf welchem Wege der Bruch mit dem Kanzler herbeizuführen sei. Obgleich seine Umgebung ihn zu drängen suchte, dem Kanzler die Entlassung zu geben, wenn er sie nicht nehmen wolle, hielt er doch an seiner Taktik fest, dem andern unter allen Umständen den Rücktritt zuzuschieben. Dadurch rückte eine Reihe mehr formaler Streitanlässe in den Vordergrund, in denen es sich nur um rein persönliche Machtfragen zwischen Kaiser und Kanzler handelte: es blieb ja nur die peinliche Aufgabe, dem Kanzler sein Amt zu verleiden, daß er freiwillig die Initiative des Rücktritts ergreife.30

Das Kampfterrain, auf dem man sich jetzt nur begegnen konnte, war die tatsächliche Machtstellung Bismarcks, wie sie ihm vermöge seiner halbmonarchischen Ämterkumulation und der geltenden Staatspraxis zugewachsen war. Es ging um seine Beziehungen zum preußischen Staatsministerium und zum deutschen Reichstage. Der Kaiser begann nach Belieben den dienstlichen Verkehr mit den Ministern, die er zu sich herüberziehen wollte. Bismarck aber holte eine Kabinettsordre Friedrich Wilhelms IV. von 1852 hervor, die, um die Einheitlichkeit in der Politik zu wahren und die ministerielle Verantwortlichkeit zu klären, den Verkehr des Monarchen mit den einzelnen Ministern der Kontrolle des Ministerpräsidenten unterstellt hatte. Er schärfte die Kabinettsordre, trotz ihrer Verstaubtheit ein Stück geltenden Staatsrechts, dem Ministerium ein - es lag auf der Hand, daß der Kaiser diese Anordnung als einen Angriff auf sich selbst empfand. Auf der andern Seite hatte der Kaiser in den letzten Wochen kein Bedenken getragen, hinter dem Rücken Bismarcks in vertrauliche Beratung mit den Parteiführern des Reichstages einzutreten. Als er aber von einem Empfange Windthorsts durch den Reichskanzler am 12. März erfuhr, sah er darin eine ohne sein Wissen unzulässige Verhandlung über die einzuschlagende Richtung der Gesamtpolitik und wallte leidenschaftlich gegen solche Eigenmächtigkeit auf. Er beschloß auf beiden Schauplätzen zum Angriff vorzugehen, und zwar in dem herrischen Stile, den seine Rede vom 5. März angedeutet hatte.

Als der Kaiser am frühen Morgen des 15. März im Reichskanzlerpalais erschien, war das politische Novum seine Mitteilung an den Reichskanzler über die Einschränkung der Militärvorlage: sie nahm Bismarck seine letzte politische Waffe aus der Hand und reduzierte den Kampf auf das Persönliche. Und deswegen nahm die Auseinandersetzung, die sich um die Forderung der Zurücknahme der Ordre von 1852 und um die Vorwürfe über den Empfang Windthorsts drehte, von vornherein einen ganz persönlichen Charakter an. Wenn der Kaiser gereizt verlangte, über Besprechungen des Kanzlers mit Parlamentariern vorher unterrichtet zu werden, so fühlte dieser sich in dem, was er als seine historische Machtstellung ansah, von dem Monarchen zu Unrecht angefallen, und da der andere [381] offensichtlich den Streit suchte, überschritt auch er jetzt in der Form die Grenzen des dienstlichen und höfischen Verkehrs. Er war wohl einen Augenblick bereit, die Ordre von 1852 preiszugeben und, wenn der Kaiser es wünsche, seine Entlassung zu geben; aber als der Kaiser den Wunsch nach vermehrter Teilnahme an den Geschäften aussprach, lehnte er scharf ab darauf einzugehen. Er hatte jetzt die richtige Empfindung, daß es auf seine Mediatisierung bei lebendigem Leibe abgesehen sei, und bäumte sich dagegen mit dem ursprünglichen Temperament einer großen Herrschernatur auf: dem Kaiser erschien er nur noch als "dem Dämon der Herrschsucht verfallen". Verstehen und Verständigung waren nicht mehr möglich. Der Punkt war erreicht, wo unverhüllt Macht auf Macht stieß. Nachdem die sachlichen Konflikte längst zurückgetreten, machte echte und beherrschte Leidenschaft von beiden Seiten her jeder Möglichkeit des Zusammenbleibens in irgendeiner Form ein Ende.

Während in den Ablauf der Krisis seit dem Januar der außenpolitische Gegensatz bisher nicht mehr hineingespielt hatte, sollte der Kaiser ihn, um das Band völlig zu zerreißen, noch im letzten Augenblick hineinzerren. Da Bismarck am 16. März die Aufhebung der Ordre von 1852 für unmöglich erklärte, forderte der Kaiser das Abschiedsgesuch immer dringlicher, zuletzt bis auf die Stunde; in einer nicht mehr zu bändigenden Ungeduld meinte er jetzt auch auf dem außenpolitischen Gebiete nachstoßen zu sollen. Er nahm eine noch an diesem Tage im normalen Geschäftsgange erfolgende Vorlegung von Berichten des Konsuls in Kiew zum Anlaß, um in einem ungnädigen Handbillett dem Kanzler unberechtigte und aufgeregte Vorwürfe auszusprechen - in dem Stile, wie sie seit längerer Zeit von Waldersee-Holstein gegen die "russische Politik" in seiner Seele genährt worden waren. Dienstlich war das Verfahren des Auswärtigen Amtes gegen jede Kritik gedeckt; in der Sache konnte Bismarck in seiner Antwort auf die düsteren Kriegsbefürchtungen Wilhelms darauf verweisen, daß Moltke vor drei Jahren ähnlich geurteilt hätte und daß drei Jahre Frieden seitdem vergangen seien. Diese Verteidigung wurde vermutlich in derselben Stunde niedergeschrieben, wo Schuwalow ihm die Botschaft brachte, daß der Zar den Rückversicherungsvertrag zu erneuern bereit sei.

Dieser letzte Vorstoß des Kaisers war - wie der Großherzog von Baden sofort erkannte - auch von seinem Standpunkt ein unkluger Schritt. Insofern er Bismarck wider Erwarten das Recht gab, bei seinem Rücktritt auch denjenigen Schauplatz aufzusuchen, auf dem er eine europäische Autorität war. Schon in seiner Mitteilung an das Staatsministerium (am 17. März um 3 Uhr) über seinen Rücktritt betonte er, daß er auch die auswärtige Politik des Kaisers nicht mehr vertreten könne. Und in sein Abschiedsgesuch vom folgenden Tage nahm er die auswärtige Politik als ausgesprochenes Motiv auf, da er nach dem kaiserlichen Handschreiben sich in der Unmöglichkeit sehe, "die Ausführung der vorgeschriebenen Anordnungen bezüglich der auswärtigen Politik zu übernehmen." Ehern [382] klang der Ton seiner Anklage: "ich würde damit alle für das Deutsche Reich wichtigen Erfolge in Frage stellen, welche unsere auswärtige Politik seit Jahrzehnten in unseren Beziehungen zu Rußland unter ungünstigen Verhältnissen erlangt hat." So rückte ein zeitlich weit zurückreichendes Motiv der Entfremdung noch in der letzten Sekunde zufällig in den Vordergrund, um dann, wie von einem unsichtbaren Verhängnis getrieben, auf die Gleisrichtung des neuen Kurses überzugreifen.

Auch die letzten Züge des Endspiels um die Macht zeigen an, daß Bismarck der Ungeduld des Kaisers, der nur noch sein Ziel im Auge hatte, die Art und Weise der Entlassung aufgezwungen hat. Zum letzten Kampfe gestellt, war er in jedem seiner Schritte, bis zu seiner letzten Fahrt an das Grab des alten Kaisers, von vollendeter Meisterschaft und Gefährlichkeit. Er war sich bewußt, daß eine geschichtliche Figur seines Ranges von der Bühne nur in den Formen abtreten könne, die ihr zukamen, und verachtete den verhüllenden Schein der Konvention. Obgleich in seinem letzten Kampfe und seinen Kampfmethoden sich persönliches wie geschichtliches Recht und Unrecht im einzelnen vielfältig verschlingen, ist das Ganze, über alle seine vergänglichen und falschen Positionen hinweg, das Sichwehren eines großen Mannes um sein Werk. So bestimmte er den Stil seines Rücktritts, ja auch den Tag - wenn der Kaiser die Kronratssitzung vom 24. Januar, die den Angriff eröffnete, auf den Geburtstag Friedrichs des Großen verlegt hatte, so datierte Bismarck sein Entlassungsgesuch von dem Tage des 18. März, der in der Geschichte des preußischen Königtums eine dunkle Erinnerung aufweckt - das letzte amtliche Aktenstück aus seiner Feder: es bleibt das geschichtliche Monument dieser Tragödie, und nicht der Brief, in dem der auf den Wellen der Erregung hin- und hergeworfene junge Monarch dem Kaiser Franz Joseph den Hergang zu erläutern suchte.

Bismarck schied aus dem Amte wie reichlich ein Jahrhundert vorher Friedrich der Große aus dem Leben und der Regierung. Es war schon acht Jahre vor dem Tode des großen Königs, als Goethe in Berlin "über den großen Mann seine eigenen Lumpenhunde räsonnieren" hörte. Den Moment seines Hinganges in Berlin hat ein Franzose, hat kein anderer als Mirabeau festgehalten: "Alles ist düster, nichts traurig; alles ist beschäftigt, nichts bekümmert. Kein Gesicht, das nicht Erleichterung und Hoffnung ankündigt, nicht ein Bedauern, nicht ein Seufzer, nicht ein Lob. Dahinaus laufen soviel gewonnene Schlachten, soviel Ruhm, eine Regierung von fast einem halben Jahrhundert voll so vieler Großtaten. Alle Welt wünschte ihr Ende, alle Welt beglückwünscht sich dazu."

An diese Worte fühlt man sich erinnert, wenn man verfolgt, wie die deutsche Welt den Sturz Bismarcks aufnahm - nicht wie wir heute, durch eine Kluft bitterer Erfahrung von jenen Vorgängen getrennt, ihre Tragik nachempfinden. Auch ausländische Beobachter fanden es "unglaublich, wie glatt hier das weltgeschichtliche Moment abläuft. Der Eindruck im Ausland ist weit gewaltiger als [383] hier".31 Lag es an diesem historischen Boden, lag es an dem innern Stil seiner eigenen Schöpfung - oder war es doch in der Natur der Dinge begründet, daß zunächst nur das Gefühl der Erleichterung, soweit man blickt, sich geltend machte? Gewiß, in manchem deutschen Herzen blieb die natürliche Empfindung nicht aus, und in einem Hörsaal der Berliner Universität griff Heinrich von Treitschke mit schmerzbewegtem Pathos bis zu den Zeiten des Themistokles zurück, um ein gleiches Beispiel der Undankbarkeit zu finden.

Aber die Nation begleitete das weltgeschichtliche Ereignis doch nur mit einem unsicheren Schweigen.

Wir sprechen nicht von den politischen Gegnerschaften, die mit Bismarck gerungen und seinen Haß mit ihrem Haß erwidert hatten; vielmehr von den Parteien, die mit ihm gegangen waren und in manchem sich nach seinem Bilde geformt hatten; von den Beamtenkörpern, die unter ihm dem Staate gedient, und überhaupt von der deutschen Generation, die dieses Menschenalter des neuen Reiches tätig miterlebt oder als Erbe übernommen hatte. Man vermißt in ihr die große Resonanz der Nation, und sucht sie unter Fürsten und Großen, im Reichstag und Bundesrat, in der Presse und öffentlichen Meinung, oder in der Luft der Kirchen und Schulen, unter den wortmächtigen Führern der Geistigkeit und bei den Massen auf der Straße, und hört diese Resonanz nicht, als ob der Nation oder doch ihrem öffentlichen Leben die Seele mangele. Sie wird sich wiederaufraffen und ihre Kräfte aus allen Tiefen deutschen Lebens ziehen, sie wird dem bittern Menschenverächter, der in Friedrichsruh sich in Shakespeares Coriolan wiederfand, doch wieder die Gewißheit verleihen, daß er einen unendlichen Schatz dankbarer Liebe in seinem Volke hinterlassen hat.

Aber als er ging, war in den politischen Organen seiner Schöpfung diese Stimme nicht vernehmbar.

Vielleicht war das Furchtbarste, daß er auch an dieser Isolierung im Sturz seinen Anteil hatte. Er hatte die Macht der Krone so hochgehoben, daß sie sich seiner entledigen konnte, sobald sie wollte; er hatte den Aufbau seiner Schöpfung im Reiche so tief und wetterstark fundamentiert, daß er nicht davon berührt ward, als er selbst von seinem Werke schied; und wenn man den Vorwurf erhebt, daß das Werk nur auf ihn selber zugeschnitten gewesen sei, so muß man sagen, daß die Konstruktion dieselbe blieb, auch als unerfahrene Hände sie übernahmen. Der Allmacht seiner Staatsleitung entsprach die Vielseitigkeit der Gegnerschaften, die sich gegen ihn auflehnten: alle diese Lebenskräfte, die er erzeugt und erzogen, gefördert und gehemmt, und dann als Mittel benutzt hatte - jetzt erhoben sich die Mittel, die "Fragmente", in einer allgemeinen Revolte, um sich selber durchzusetzen: die Krone und das Militär, die kirchlich-konservativen Gewalten, ebenso wie die liberalen und nationalen, die Kolonialleute, die Sozial- [384] politiker, die Exponenten der Parteien und die Massen der Tiefe. Die großen Erscheinungen, so hoch sie auch ihr Haupt in das Licht emporheben, werfen auch einen weiten Schatten in ihren Umkreis.

Der Kaiser und die Nation hätten von der Mitte der neunziger Jahre ab ihren Weg ohne Bismarck gehen müssen, aber es wäre ein Segen auch für den jungen Kaiser gewesen, wenn erst die Natur der Dinge ihn genötigt hätte, sich von seinem alternden Berater zu trennen. So hatte er beim Beginn seiner monarchischen Laufbahn, aus persönlichem Geltungsdrange und aus dynastischer Verpflichtung, die stärkste Willensentscheidung auf sich genommen und trug an ihren Folgen wie an einem Schicksal - den ganz großen Entschließungen ging er fortan lieber aus dem Wege. Bismarck aber schied in namenlosem Groll "gegen den sicheren Verderber des Reiches",32 und seine furchtbare Kritik begleitete fortan den Gang der öffentlichen Angelegenheiten im Reiche.

Dabei muß die historische Betrachtung um der Gerechtigkeit willen sich bewußt bleiben, daß der Lebende recht hat. Der Lebende, der die Geschäfte des Staates führt und an jedem Tag vor neue Aufgaben der nationalen Pflichterfüllung gestellt wird. Es ist manchen Deutschen ein Gemütsbedürfnis, mit dem Rücktritt Bismarcks eine völlig veränderte Haltung zu den Geschicken der Nation einzunehmen. Wir können uns aber nicht entschließen, das Dasein unseres Volkes gleichsam vorzugsweise in dem Schatten zu sehen, der von dem tragischen Ereignis des März 1890 ausgeht, und halten es vollends für ein unhistorisches und unwissenschaftliches Denken, die Geschichte der deutschen Nation seit 1890 mit einer vermeintlichen Zwangsläufigkeit unter den zermalmenden Gesichtspunkt des Schicksalsausganges von 1918 zu stellen. Das ist nur eine andere Form der Überheblichkeit, den rätselvoll verschlungenen Zusammenhang der Dinge in der einfachen Formel Schuld und Sühne aufzulösen. Wir würden damit nicht der Nation und ihren unsterblichen Kräften gerecht werden, nicht ihren besten Männern, die sich in den Dienst des Staates und der Allgemeinheit gestellt haben, nicht den Millionen, deren Einzelwirken in der Summe den lebendigen Pulsschlag eines großen Volkes erzeugt. Wir würden die Reichsgründung Bismarcks zu einer Episode herabdrücken, wenn wir aus ihr den einzigen Maßstab des Urteils für die Entwicklung des Deutschen Reiches in dieser zweiten Epoche entnehmen wollten.


1 [1/358]Vgl. den Bericht des österreichischen Oberstleutnants von Steininger vom 19. April 1887 (bei Mitis a. a. O., 365 f.). ...zurück...

2 [1/359]Das Schreiben Wilhelms II. an die Kaiserin Friedrich, etwa Dezember 1898 (bei Bülow, Denkwürdigkeiten 1, 235 ff.), offenbart gerade dadurch, daß es sich der Denkweise der Mutter anpaßt, das ihnen beiden Gemeinsame. Wohl erscheint in diesem - für die Monarchie beklagenswerten - Dokument das Urerlebnis, die Verdunkelung des Hauses Hohenzollern durch den Kanzler und die Aufgabe der Vorsehung, die Krone und die Ehre des Hauses wiederherzustellen, zeitlich zu hoch hinaufgerückt; die Botschaft an Bismarck ist wohl nur ein Erzeugnis späterer Phantasie. Aber das Ganze konnte so empfunden werden und ist darum eine echte Quelle. ...zurück...

3 [2/359]Siehe oben Seite 331, Anm. ...zurück...

4 [1/360]Széchenyi an Kálnoky, 14. Juli 1888: "Die Intimität des gegenwärtigen Herrschers mit dem ersten Rate der Krone ist eine solche, die unbedingt kaum einer Steigerung mehr fähig ist. Es sind wahre Flitterwochen der Verehrung, der Zuneigung, des Vertrauens und des Verständnisses." ...zurück...

5 [1/361]Vgl. S. 337 f. ...zurück...

6 [2/361]Randbemerkung Bismarcks: "Das ist so leicht nicht! Ein Sieg über Rußland ist keine Zertrümmerung, sondern nur die Herstellung eines revanchelüsternen Nachbarn auch im Osten." Große Politik 6, 302. ...zurück...

7 [1/362]Das Schreiben liegt in zwei Fassungen vor: in einer ursprünglichen Fassung, die sich in den Denkwürdigkeiten Waldersees (1, 395 ff.) findet, und in der, formell vielfach, einzeln auch sachlich abweichenden Fassung, die in die Hände des Kanzlers gelangte (gedruckt Ged. u. Erinn. 3, 136). Ein Vergleich macht es wahrscheinlich, daß Waldersee den ihm vorgelegten Entwurf fortlaufend durchkorrigierte und daß der Kronprinz sein Schreiben in dieser veränderten Form abgesandt hat. ...zurück...

8 [2/362]Bismarck schaltete zwischen den Text des Schreibens und die Unterschrift "Wilhelm, Kronprinz des Deutschen Reiches und von Preußen" die Randbemerkung ein: "es wäre ein Unglück, wenn." Das geschah fünf Wochen vor der Thronbesteigung. ...zurück...

9 [3/362]Der junge Kaiser hielt es sogar für angezeigt, keinen Zweifel darüber zu lassen, "daß Er nie dem Grafen Waldersee, trotz der Wertschätzung für denselben, einen unberechtigten Einfluß auf die auswärtige Politik einräumen werde" (22. Juni 1888). ...zurück...

10 [1/363]Uebersberger a. a. O. ...zurück...

11 [2/363]15. April 1888. Waldersees Denkwürdigkeiten 2, 48. ...zurück...

12 [3/363]Radowitz' Aufzeichnungen und Erinnerungen 2, 297. Vgl. den Brief Waldersees vom 29. Mai 1887 (H. O. Meisner a. a. O., S. 291 f.). ...zurück...

13 [4/363]Vgl. Bericht des belgischen Gesandten Greindl vom 6. Juni 1889 (Schwertfeger a. a. O., 1, 294). ...zurück...

14 [5/363]Vgl. Waldersee, Denkwürdigkeiten 2, 54 f., 65. Graf Philipp Eulenburg, Aus fünfzig Jahren, S. 283 f. Frhr. v. Eppstein, Fürst Bismarcks Entlassung, S. 95 - 118. ...zurück...

15 [1/364]Graf Philipp Eulenburg warnte den Kaiser damals, daß Bismarck bei zu scharfem Auftreten gehen würde, und das wäre ein "nationales Unglück, ein Unglück auch für Ew. Majestät". ...zurück...

16 [1/365]E. v. Glaise-Horstenau, Franz Josephs Weggefährte (Wien 1930), S. 337 f. ...zurück...

17 [2/365]Es ist Verdy, der noch am 27. Januar 1896 an den Österreicher F. Z. M. Beck schreibt: "Bismarcks übergreifende, gewaltige Persönlichkeit hat uns zu Ende des Krieges 1870/71 viel mehr in Mitleidenschaft gezogen als der Feind, und in den Kämpfen mit ihm mußten wir schließlich einen großen Teil unserer Kraft vergeuden." v. Glaise-Horstenau, a. a. O., S. 468 f. ...zurück...

18 [3/365]Als Kriegsminister v. Verdy am 31. August eine neue Armeeorganisation unter Aufhebung des Septennats, unter Einziehung aller verfügbaren Rekruten beantragte, äußerte Bismarck am 6. September Bedenken, sich vor dem Reichstag von dem vor wenig mehr als Jahresfrist angenommenen Septennat loszusagen, und empfahl deswegen, weitergehende Pläne bis nach den Neuwahlen geheimzuhalten. Die Randbemerkungen des Kaisers zu Bismarcks Antwort an Verdy fallen bereits durch ihren überheblichen und feindseligen Ton auf. Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Anlagenband, S. 33 - 38 (1930). ...zurück...

19 [4/365]Bismarck an Wilhelm II., 29. Dezember 1889 (Zechlin a. a. O., S. 176 f.): "Wenn Krieg sein soll, so ist gerade der mit Rußland der letzte, den wir freiwillig führen sollten. Er hat neben den geographischen Schwierigkeiten des Kampfes selbst keinen begehrenswerten Kampfpreis usw." ...zurück...

20 [5/365]Über das Verhältnis Waldersee-Holstein vgl. die Tagebücher Waldersees. ...zurück...

21 [1/366]Vgl. die Notiz des Grafen Philipp Eulenburg vom 8. Januar: "Würde der Kanzler in ein anderes Fahrwasser in der russischen Frage gedrängt, so würde sein Rücktritt möglich, weil er eine belle sortie hätte: Die öffentliche Meinung stände auf seiner Seite, denn er wäre der Verfechter des Friedensgedankens." Aus 50 Jahren, S. 287. ...zurück...

22 [1/369]Erinnerung und Gedanke. Von Fürst Otto v. Bismarck (Stuttgart und Berlin 1919). Wilhelm Schüßler, Bismarcks Sturz (Leipzig 1921). Egmont Zechlin, Staatsstreichspläne Bismarcks und Wilhelms II. 1890 - 1894. Ernst Gagliardi, Bismarcks Entlassung, Bd. 1 (1927). Briefe Kaiser Wilhelms II. an Kaiser Franz Joseph. Österr. Rundschau 580, S. 100 ff. Von den Berichten am wertvollsten die des bayerischen Gesandten Grafen Lerchenfeld. Nach den Berichten des österreichischen Botschafters: E. v. Wertheimer, "Bismarcks Sturz," Preuß. Jahrb. 184 (Juni 1921). In der obigen Darstellung ist vor allem der innere politische Zusammenhang herausgearbeitet. Dagegen wird darauf verzichtet, den biographischen Inhalt des Geschehens nach der einen wie nach der anderen Seite zu erschöpfen. ...zurück...

23 [1/370]Die Übersendung der Hinzpeterschen Denkschrift an Minister Herrfurth war wohl für Boetticher das Signal, sich am 5. Januar zu persönlicher Aussprache in Friedrichsruh anzumelden. Gleichzeitig am 6. Januar der Notruf von Lucius im Namen des Staatsministeriums. ...zurück...

24 [2/370]Die vielumstrittene Auffassung Delbrücks, Bismarck habe in der taktischen Behandlung des Sozialistengesetzes bewußt auf dessen Scheitern hinausgespielt, um dadurch den Weg zu seiner späteren Gewaltpolitik offenzuhalten, läßt sich keineswegs erweisen. Vielmehr läßt sich sein - vom Schein der Zweideutigkeit nicht ganz freies - Ausweichen aus der politischen Taktik erklären, die er stets und grundsätzlich gegenüber dem Abhandeln der Kommissionen und Plenarbeschlüsse des Reichstages beobachtete. Die Abneigung, sich frühzeitig auf ein Minus festzulegen, wo er später auf ein Plus hinauswollte, ist darum noch kein Beweis für eine vorbedachte Katastrophenpolitik. ...zurück...

25 [1/371]Briefwechsel zw. W. Dilthey u. Graf Paul Yorck v. Wartenburg (1893). ...zurück...

26 [1/374]In diese Tage fallen Bismarcks Versuche, die Schweiz zum Festhalten an ihrer Konferenz zu ermutigen. Der Kaiser sah hier einen neuen Anlaß zur Beschwerde. Später suchte er den Entschluß zur Trennung auf diesen Moment - Bismarcks außenpolitische Durchkreuzungsmanöver - zu fixieren. Graf Philipp Eulenburg, 50 Jahre, S. 269. Am 2. März will Bülow (Denkwürdigkeiten 4, 629) von Eulenburg schon eine Mitteilung erhalten haben, nach der das Verhältnis unhaltbar und auch das Ausscheiden Herberts wahrscheinlich sei. ...zurück...

27 [1/375]Die ganze frühere Literatur bei Egmont Zechlin, Staatsstreichpläne Bismarcks und Wilhelms II. 1890 - 1894, S. 158. ...zurück...

28 [1/376]Vgl. S. 297 Anm. 1. ...zurück...

29 [1/379]Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Anlageband (1930), S. 38 - 43. Diese (bisher nicht bekannte) Denkschrift macht das Vorgehen Bismarcks in den nächsten Tagen erst ganz verständlich. ...zurück...

30 [1/380]Diese Linie wird schon in der Rede vom 5. März erkennbar: wer wider mich ist, den zerschmettere ich. Auch die Verleihung des Schwarzen-Adler-Ordens an Boetticher vom 8. März verfolgt wohl denselben Zweck. ...zurück...

31 [1/383]Bericht des Grafen Széchenyi: 18. März 1890. ...zurück...

32 [1.384]Bericht des bayerischen Gesandten Grafen Lerchenfeld: 27. März 1890. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte