Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil
Von Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität
Berlin
[353] Kapitel 1: Das Deutsche
Reich
unter Kaiser Wilhelm II. (1890 - 1909)
[354=Trennblatt] [355] 1. Kaiser
Wilhelm II. und die Anfänge des neuen Kurses.
Für die deutsche Entwicklung im letzten Menschenalter vor dem
Weltkriege ist nächst dem Schöpfer des Reiches kein Mensch so
schicksalhaft bedeutsam geworden wie Kaiser
Wilhelm II. - auch das hing mit dem Wesen dieser Schöpfung
zusammen. Indem Bismarck
das Deutsche Reich schuf, erhob er das alte
preußische Königtum in ungeahnter Weise über sich selber
hinaus, und in dem deutschen Kaisertum, mit dem er es verschmolz, erschien der
monarchische Gedanke, wider alle Wahrscheinlichkeit des geschichtlichen
Ablaufs, noch einmal in der Welt erhöht, in der ehrwürdigen
Erscheinung des ersten Kaisers unvergleichlich verkörpert. Wir haben
verfolgt, wie der Kanzler dieser Monarchie diente und sie zugleich beherrschte, ja
wie er sie beherrschte, indem er ihr diente - das war ein einmaliges
Verhältnis, in der Einzigartigkeit des Genius begründet. Denn diese
Monarchie blieb darum doch sie selber, ihrer alten preußischen Tradition in
der ersten Generation noch bewußter als der neuen deutschen
Führerstellung - auch über einen allmächtigen Minister
mußte sie sich eines Tages wieder erheben wollen. Das Schicksal hat dem
Kanzler diese Wendung nicht bis zu seinem Tode aufgespart, sondern auf der
Höhe seiner Macht den Sturz über ihn verhängt. Auf diese
Weise wird die Persönlichkeit des Reichsgründers von einem auf die
gleiche Macht gerichteten Anspruch
abgelöst - mit diesem Erben der Macht wird das Schicksal des
Reiches sich bis zum Weltkriege verflechten.
Um der gesamten Entwicklung des neuen Zeitalters mit dem richtigen
Verständnis gegenüberzutreten, suchen wir nach einem
Schlüssel zu dem Innern dieser Persönlichkeit. Manche
möchten zu diesem Zwecke hinabsteigen in die dunklen Gründe des
Unbewußten, in denen sich das Seelische mit dem Körperlichen
berührt, in die rätselvollen Nachwirkungen frühen Erlebens,
dessen Hieroglyphenschrift in dem werdenden und fertigen Menschen immer
stärker durchbricht - vermeinend, so an das letzte Geheimnis des
Individuellen zu rühren, das sich von künstlerischer Intuition wohl
ahnen, aber niemals in Worten aussprechen läßt. Für diese
Bemühung ist schon die Tatsache des körperlichen Gebrechens, das
dem Kaiser seit seiner Geburt anhaftete, ein Anlaß, eben aus ihr das
forcierte Überwinden- und Versteckenwollen dieses Mangels als einen
Grundzug seines Wesens abzuleiten. Doch scheint eine eigentliche Deutung damit
nicht gegeben zu werden, insofern als der gleiche Anlaß auch eine sehr
unter- [356] schiedene Art des
persönlichen Reagierens hätte auslösen können,
gleichwie eine überstrenge Erziehung in dem einen kindlichen Individuum
den Willen zerbricht, in dem andern aber den Samen der Rebellion streut.
Der Historiker wird sich zu begnügen haben, die historisch bedeutsam
gewordenen Züge auf ihre sicher erkennbaren Komponenten
zurückzuführen, um gewisse elementare Spannungen in der Natur
des Kaisers zu erklären. Die Persönlichkeiten seiner Eltern, ihre
geistig-politische Farbe, ihre Art sich zu geben, sind zunächst zu
befragen. - Der Vater, eine stattliche und gewinnende Erscheinung, war
eine einfache und nicht komplizierte Natur. Von einem ausgesprochenen
Bedürfnis erfüllt, auch in der äußeren Form ein
monarchisches Selbstgefühl zum Ausdruck zu bringen, war er
empfänglich für eine Volkstümlichkeit, die diesem
Selbstgefühl Nahrung gab. Er verfügte über das Wohlwollen
einer nicht eigentlich starken Natur, weniger über die Kraft, sich
durchzusetzen und andere zu bestimmen: das Ideal des konstitutionellen
Fürsten, wie es im 19. Jahrhundert erwachsen war, schien für
ihn wie geschaffen. Er war der Zeitgenosse jener deutschen nationalen und
liberalen Generation, die mehr als ein Glied des deutschen Fürstenstandes
in ihre Kreise gezogen hatte; doch hatte er sich diesen modernen politischen
Lebensformen nicht aus eigenster, zwingender Überzeugung zugewendet,
er war ihnen mehr von außen her zugeführt worden. Seine schwere
Aufgabe war, dem Throne am nächsten zu stehen und doch in der
politischen Betätigung sich beschränken zu müssen, sein
ganzes Mannesalter hindurch, als Kronprinz alternd in doppeltem Schatten: seines
kaiserlichen Vaters, der seine monarchische Prärogative unerbittlich
wahrte, und vollends des Kanzlers, der gleichsam zum deutschen Schicksal
geworden war. Und während Bismarck den deutschen Staat, das deutsche
öffentliche Leben immer mehr nach seinem Bilde formte, erfüllte
sich das einflußlose Leben des Mannes, der nach seiner Altersklasse zum
ersten Kaiser des Reiches berufen gewesen wäre, mit jener tiefen
Unbefriedigung, die der Nährboden der Kritik, nicht aber fruchtbaren
Handelns ist.
Diese innere Haltung kehrte in seiner Gemahlin Victoria, als der im Grunde
stärkeren Natur, nur noch betonter, aktiver, unruhiger wieder: sie empfand
die ganze Spannung, in der sie zwischen den Generationen, zwischen Gegenwart
und Zukunft, zwischen der Wirklichkeit und dem Schein der Macht lebte, um so
schmerzlicher, als sie schon vermöge ihrer Herkunft in einer niemals ganz
überwundenen Problematik des Wesens lebte. Sie war stolz auf ihre
englische Herkunft, stolz auf das Land, auf seine gesellschaftlichen
Lebensformen, auf die politischen Doktrinen, die in ihrer Heimat herrschten und
ihr von ihrem bewunderten Vater - der selber eine geistige Existenz
zwischen den Nationen geführt hatte - als allgemeine Wahrheiten
erziehlich vermittelt worden waren. So kam sie als Botin politischer Ideale und
englischer Freundschaft über den Kanal; selbst der alte Ernst Moritz Arndt
empfand damals: "Victoria in Berlin! Möge uns englischer Geist
durchwehen!" Das alles war für viele und nicht die Schlechtesten damals
[357] ein politisches
Programm. Sie wurde in die preußische Welt verschlagen, die auf so
völlig anderen Grundlagen ruhte, und hoffte mit ehrlichem Schwunge, sie
im nationalen und im liberalen Sinne mitgestalten zu können. Und nun
sollte dieser nationale Liberalismus, dem sie sich wesensverwandt fühlte,
doch nicht das Neue schaffen, sondern die Überwindung des Borussentums
stieg aus seinen eigensten Kräften empor, und die Reichsgründung
Bismarcks erhob sich als ein ganz autonomer Ausdruck
deutsch-preußischer Lebensnotwendigkeiten, unberührt von allen
Doktrinen und Vorbildern. Das war für die Tochter der Königin
Victoria und des Prinz-Gemahls Albert eine schwere Enttäuschung, eine
Kränkung ihres Glaubens. Sie reagierte, weil sie die Fürstin, die
Engländerin war, temperamentvoller als fast die meisten ihrer Generation,
die durch dasselbe Erlebnis mit ihr gingen. So blieb sie dem Lande, in dem ihr
zärtlich und treu geliebter Gemahl zum Herrscher bestimmt war, doch
wieder fremder, als es ihrem innersten Wunsche entsprach. Sie war gewiß
zur Deutschen geworden, und wenn ihr Gemahl in den Kriegen 1866 und 1870
den Lorbeer des Siegers um seinen Feldherrnnamen wand, schlug auch ihr das
Herz höher und sie wurde ihrer Mutter gegenüber zum
leidenschaftlichen Anwalt der deutschen Sache. Wenn schon der ersten Kaiserin
Augusta von früh auf das Ideal vorgeschwebt hatte, "preußische
Prinzlichkeit in deutsche Fürstlichkeit" zu verwandeln, so sah Victoria eine
bewußte Aufgabe darin, ihren Stil des Lebens über die engen Seiten
des altpreußischen Geistes hinauszuheben und ihn der Kultur ihrer Zeit nach
allen Seiten zu öffnen. In der Potsdamer Luft spürte sie nicht die
große und unsterbliche Tradition; sie litt nur unter den ungeistigen und
überheblichen Kehrseiten, die an dem militärischen
Preußentum hafteten. Und der Schöpfer des Reiches blieb ihr eine
wesensfremde, fast verhaßte Erscheinung, nicht einmal ihrem Zeitalter, so
wie sie es verstand, angehörig, sondern in ihrer urwüchsigen
Elementarkraft im Mittelalter wurzelnd.
Wohl wollte sie aus vollem Herzen Deutsche, nicht aber Preußin sein. Und
dennoch blieb sie trotz allem die Engländerin; nicht nur in manchen Sitten,
Gewohnheiten, in Empfindungen und Werturteilen, nein, sogar in ihrem
politischen Instinkte. Es konnte sogar europäische Situationen geben, wie
im Winter 1877/78, in denen ihr die englische Politik im Orient nicht aktiv genug
war; dann konnte sie ihrer Mutter ebenso leidenschaftlich Kritik und Ratschlag
übermitteln, als wenn sie noch ihrem Geburtslande angehörte, und
die ihr nach dieser Seite gezogene Grenze unbekümmert
überschreiten. In ihrer Lebhaftigkeit empfand sie das eine Mal so und das
andere Mal so, und vermochte nicht zu einer Einheit ihres Wesens zu gelangen; in
solcher Seelenlage bildet sich nicht der sichere Takt, der einfachen Menschen in
einfacheren Situationen eigen ist. Gerade impulsive und bewegliche Naturen von
warmer Empfindung werden in solchen Spannungen leicht
hin- und hergezogen, sprunghaft in Kritik und Urteil, und stoßen immer
wieder mit der Wirklichkeit zusammen, ohne die Geschlossenheit des Charakters
[358] zu gewinnen, welche
die Kraft des richtigen Handelns erzeugt. Schon allein die Politik der
Staatsräson, die dem Kanzler seine Stellung zwischen England und
Rußland anwies, berührte bei ihr Empfindungswelten und
Überzeugungen, in denen sie nur ja oder nein sagen konnte. Denn sie hatte
ein gutes Stück Eigenwillen von der herrschbegierigen Mutter ererbt, und
vermochte ihn ihrem Gemahl gegenüber in der Regel siegreich
durchzusetzen.
Wilhelm II. war der Sohn seiner Eltern, und es ist nicht schwer, deren Züge,
vor allem auch die der Mutter, in seiner Physiognomie
wiederzufinden - er war der Sohn seiner Eltern, obgleich er sich
frühzeitig in einem Gegensatz zu ihnen entwickelte. Dieser Gegensatz
wurzelte vielleicht schon im Gemüt, insofern Wilhelm II. mit seinem
Gebrechen sich nicht genügend geliebt fühlte. Er griff bald auf die
äußere Haltung über: der Sohn begann dem
modern-liberalen "englischen" Lebenszuschnitt des elterlichen Hofes bald das
Militärische, das Preußische und Potsdamische, die Tradition mit
ihrer Größe entgegenzustellen. Die Opposition gegen die Eltern setzte
sich auch in politischen Fragen nach außen fort und wurde, wie wir sahen,
in den Jahren der Battenberg-Episode von dem Hause Bismarck geflissentlich
genährt. Auch wenn sich der Kanzler dabei durch die Staatsräson
und durch nichts anderes leiten ließ, so mischten sich bei dem Prinzen, der
damals der Mutter zum Trotz ebenso russisch war wie sie englisch, auch
persönliche Sentiments ein. Und diese forcierte Gegensätzlichkeit,
die der junge Leutnant im ersten Garderegiment zu Fuß zur Schau trug, war
doch wieder nicht so echt und ursprünglich, wie sie sich gab; denn sie
bekämpfte zugleich ein Stück des eigenen Wesens, eigene
Neigungen, Sehnsüchte und eigenen Ehrgeiz. Wenn er der englischen
Lebensform die preußisch-militärische Haltung entgegensetzte, war
das gewaltsam Verdrängte darum in ihm nicht ausgelöscht, und wenn
er in diesen Jahren das Bismarcksche so überbetonte, so mischte sich in die
ehrliche Bewunderung doch ein sehr persönlicher Nebenton ein. Was vor
allem im Widerspruch gewollt wird, verfällt zu leicht der
Übersteigerung. So kehrt etwas von der Zwiespältigkeit der Mutter
auch im Sohne wieder - es war im Grunde das ungemein bewegliche,
aufnahmefähige Temperament der Mutter, dasselbe Bedürfnis nach
raschem und starkem Wort,1 und dieselbe
verhängnisvolle Gabe, jene unbedingten Gebote des fürstlichen und
menschlichen Taktes, die dem alten Kaiser zur zweiten Natur geworden waren,
sorglos außer acht zu setzen.
Er war der Sohn seiner Eltern auch in dem starken Bedürfnis, den
sichtbaren monarchischen Willen eines Tages selbstherrlich zu erheben; er sah in
Potsdam die Tradition Friedrichs
des Großen um sich und hörte
früh von beeiferter Seite, daß es seine Aufgabe sein werde, an diese
Tradition, anders noch als sein Vater, wieder anzuknüpfen. Das konnte
vielleicht nicht anders sein. Der Gedanke der Monarchie, wenn er nicht einer
bloßen konstitutionellen Repräsentation verfallen [359] soll, wird solche
Anforderungen und solchen Stachel immer wieder in die Seele eines
hochstrebenden Erben senken. Er hatte nicht umsonst die Luft seines Elternhauses
geatmet, in dem man sich danach sehnte, aus dem doppelten Schatten endlich in
das volle Sonnenlicht hinüberzutreten. Noch war für den jungen
Prinzen deutsche Größe in dem Kanzler verkörpert, aber im
innersten Winkel seiner Seele schlummerte doch, von frühen
Eindrücken und Empfindungen her, das Begehren, das Recht der Dynastie
eines Tages in die Hand zu nehmen.2
Man hat, mit dem häufig wiederholten Worte Gustav Freytags, wohl
beklagt, daß mit dem tragischen Tode Friedrichs III. die
Ergänzungsfarbe in der deutschen Geschichte ausgefallen sei, daß die
Generation, die zwischen 1830 und 1860 jung war, nicht zur Tat und
Führung im Reiche gelangen sollte. Mit einem Male trat an die Stelle des
uralten Kaisers die Generation, die schon von den Kämpfen um das Reich,
von diesem mühevollen Ringen zweier Menschenalter aus eigenem Erleben
nichts mehr wußte. Wilhelm II. war zwar kein
Porphyrogennetos im buchstäblichen Sinne, aber doch erst im
neuen Reich zum Jüngling gereift, hatte er seine Machtstellung in Europa
und den Glanz der Krone als einen sicheren Besitz überkommen: ein Erbe,
mit dem ganzen Schicksal des Erben belastet, der die erziehenden
Maßstäbe der Vergangenheit kaum noch kennt.
Die geistige Heimat Wilhelms vor der Thronbesteigung war die Armee mit ihren
starken formenden und prägenden Kräften, insbesondere aber der
Kreis der Potsdamer Gardeoffiziere, die im gesamtdeutschen Leben nur eine
scharf abgeschlossene Seite privilegierten Daseins darstellten; hier erfüllte
er sich bis ins Tiefste mit den stolzen und hohen Idealen der Pflicht und des
Dienstes, aber auch mit manchen Maßstäben des Urteils, die hier
allein und widerspruchslos, befehlsgemäß galten. Dagegen war der
Prinz, nach Kenntnissen und Empfindungen, dem lebendigen Staate, so wie er
sich unter Bismarcks Führung gestaltet hatte, doch noch sehr fremd, und
nicht ihn trifft die Verantwortung, sondern diejenigen, die über seine
weitere Erziehung zu wachen hatten. Als der Prinz im November 1887 eine
Proklamation an die Bundesfürsten aufsetzte, für den Fall seines
Regierungsantritts, hielt Bismarck ein Dokument tiefer politischer Unerfahrenheit
in Händen, das er nur zu verbrennen bitten konnte.3 Aber noch stand es wohl in vielem so:
der Gesamtheit der Nation, den in ihr ringenden politischen und sozialen
Gewalten, den Parteien und den wirtschaftlichen Kräften, Arbeitnehmern
und Arbeitgebern stand Wilhelm, als er den [360] Thron bestieg, fast
noch als ein Fremder gegenüber, und nur das hohe Maß von
Fassungsgabe und Interessiertheit, mit dem er nun das Leben in sich aufnahm,
konnte darüber hinwegtäuschen, daß er für das
verantwortlichste Amt des Reiches eine eigentliche Vorbereitung nicht
durchgemacht hatte.
Die Erregungen, unter denen der Prinz so plötzlich aus seinem umgrenzten
Potsdamer Dasein in die Öffentlichkeit gerissen wurde, konnten nur dazu
beitragen, das Jähe seines Hervortretens zu steigern; der Kampf um das
Krankenbett seines Vaters, in den die Mutter sich durch Liebe, Eigensucht und
Selbsttäuschung hineinziehen ließ; und dann die ungeheure
Anspannung der großen Kriegsgefahr im Winter 1887/88, in deren Mitte
man schon die Meinung des Prinzen Wilhelm suchte. Eine noch nicht
ausgeglichene und noch nicht ausgereifte Natur konnte kaum auf eine schwerere
Probe gestellt werden, bevor sie mit einem hohen Bewußtsein der Aufgabe
und einem fast überstürzten Tatendrang die Würde und das
Amt des Deutschen Kaisers übernahm.
Das doppelte psychologische Problem in diesem jungen Leben, die Hinwendung
zu Bismarck und die Abwendung von Bismarck, ist im Grunde eines und
dasselbe, irgendwie auf verwandte Motive der Geltung
zurückzuführen. Daß die Hinwendung zu Bismarck auch in
dem ehrlichen Schwung eines begeisterungsfähigen jungen Menschen ihre
Ursache hatte, wird niemand bestreiten können, daß sie aber eine so
scharfe und bekenntnismäßige Form annahm, ist wohl wesentlich aus
dem Verhältnis zu den Eltern zu erklären. Wenn der Kronprinz
Wilhelm am 1. April 1888 am Geburtstage Bismarcks in einer Rede von fast
inbrünstigem Schwunge sich zu dem Kanzler bekannte, ist nicht
außer acht zu lassen, aus welchen Gründen er diese Solidarität
vor der Welt suchte. Und es lag auf der Hand, daß diese Haltung sich nach
der Thronbesteigung zunächst fortsetzte. Nie war die Autorität des
Kanzlers als so überwältigend und unentbehrlich erschienen, wie in
den Monaten der beiden Thronwechsel - er war das Ruhende und
Bleibende, er war wirklich das Reich. Und so war die Welt voll davon, wie
stürmisch der junge Monarch sich an die Seite des Kanzlers stellte, mit
einem unbedingten Vertrauen, das ohne Beispiel war.4
Der Historiker wird zunächst die Frage zu beantworten haben, an welcher
Stelle und unter welchem Einfluß sich dieses Vertrauen von der
Autorität des Kanzlers innerlich abzulösen beginnt: wo der Glaube
am unbedingtesten gewesen war, wird er erschüttert werden. Der erste
Differenzpunkt lag nicht in innerpolitischen Fragen, die das Interesse des jungen
Fürsten nur in zweiter Linie berühren, sondern der Zweifel
entzündete sich an der Frage der richtigen Außenpolitik. Und zwar ist
die außenpolitische Autorität Bismarcks bei Wilhelm II. schon
vor seiner Thronbesteigung durch den neuen Chef des Generalstabes, den [361] Grafen Waldersee,
erschüttert worden. So geschah es, daß der Prinz, der einst im
Gegensatz zum elterlichen Hof "russisch" gewesen war, so daß Bismarck
im November 1887 ihn gegen diesen Ruf hatte in London verteidigen
müssen,5 doch unmittelbar darauf gerade die
russische Politik Bismarcks kritischer zu betrachten begann. Für das
militärische Empfinden des jungen Offiziers war die
generalstäblerische Forderung des Präventivkrieges gegen
Rußland schon gefühlsmäßig begreiflicher als das fast
undurchsichtig gewordene System der diplomatischen Aushilfen, insbesondere als
das Vertragsverhältnis zu Rußland, das Bismarck im Stillen schon
durch andere Kombinationen zu ergänzen suchte. Auf seine Weise deutete
der Prinz, in einem Schreiben an den Kanzler vom 14. Januar 1888, seine
Stimmung in der oratorischen Wendung an, daß ein Schwert von einem
Manne bereit stände, der sich wohl bewußt sei, "daß Friedrich
der Große sein Ahnherr sei und dreimal so viel allein bekämpfte, als
wir jetzt gegen uns haben".
Bismarck
nahm die Empfehlung friderizianischer Politik hin, aber den Geist, der
sich hinter jenen Worten barg, begann er scharf zu überwachen. Sein
Kampf gegen die Teilnahme Wilhelms an der im Hause Waldersees veranstalteten Stöcker-Versammlung
richtete sich vor allem gegen den Einfluß des
Generalstabschefs auf den Prinzen überhaupt. Einige Monate später
hatte er zufällig Anlaß, die Kriegsfrage auch amtlich dem Prinzen
gegenüber zu berühren. Der Deutsche Botschafter in Wien hatte in
einem Bericht vom 28. April 1888 rückblickend bemerkt, daß
vielleicht die Generalstabsoffiziere in Berlin und Wien mit ihrem Rate, die
russische Macht rechtzeitig zu zertrümmern, doch recht gehabt
hätten, und damit einen für die Gegensätzlichkeit politischen
und militärischen Denkens sehr bezeichnenden Einwand Bismarcks
hervorgerufen.6 Aber jene Erinnerung an den
Präventivkriegsplan im Winter 1887/88 wurde von dem Kronprinzen
Wilhelm, der seit einigen Wochen in die Geschäfte eingeführt wurde,
mit einem energischen "Ja" gebilligt. Bismarck ließ das Aktenstück
aus naheliegenden Gründen sofort absondern. Er konnte es nicht ernst
genug nehmen. Wohl hatte der Kronprinz sich noch kurz vorher öffentlich
zu dem Kanzler bekannt, aber jetzt zeigte es sich, daß er seinem Rat nicht
unbedingt folgte: in der Frage des Präventivkrieges schien er den
militärischen Häuptern der Kriegspartei mehr Vertrauen zu schenken
als der außenpolitischen Autorität des Reichskanzlers. Die
Randbemerkungen, die der Kronprinz zu dem Antworterlaß Bismarcks
beifügte, verrieten diesem vollends, daß es sich um eine tiefer
begründete Meinungsverschiedenheit handle: es war für ihn wie ein
erster Blick in einen dunklen Abgrund. So entschloß er sich am 9. Mai zu
einem Schreiben an den Kron- [362] prinzen, das zu den
denkwürdigsten Dokumenten seiner Außenpolitik in ihrem letzten
Stadium gehört. Dieser ergreifende Erziehungsversuch des greisen Mentors
gegenüber dem unerfahrenen, schnellfertigen Prinzen begann mit einem
Appell an seine Verantwortung: "Nach menschlicher Voraussicht wird, bevor eine
längere Zeit vergeht, die Entscheidung über Krieg und Frieden
ausschließlich in der Hand Ew. Kaiserlichen Hoheit liegen", um die
Frage des Präventivkrieges in dem bekannten Sinne aufzunehmen:
"für die Energie, mit welcher die deutsche Volkskraft in den Krieg eintritt,
wird es immer entscheidend sein, ob der Krieg durch fremden Angriff
herbeigeführt oder von uns aus Motiven der höheren Politik, welche
sich dem öffentlichen Verständnis entziehen, freiwillig begonnen
worden ist." Den Schluß bildete die ernste Mahnung: Wenn die Regierung
friedliche Versicherungen gebe und daneben ein Wort in dem Sinne transpiriere,
daß die den Krieg fordernden Generalstabsoffiziere doch recht gehabt
hätten, so würden wir das Vertrauen in unsere
Glaubwürdigkeit bei den Bundesgenossen verlieren. Der junge Thronerbe
war aber nicht geneigt, sich der Weisheit und Sorge der staatsmännischen
Autorität ohne weiteres zu unterwerfen; er setzte eine Antwort auf, die, bei
allem Entgegenkommen in der Form, doch in der Sache an der Grundanschauung
festhielt, und legte sie vor der Absendung dem Grafen Waldersee zur Durchsicht
vor.7 Als Bismarck das Schreiben in
Händen hielt, hörte er zugleich die Stimme des Generalstabes, und
seine gegen Waldersee gerichteten Randbemerkungen zeigen, daß er die
wahre Gegnerschaft vermutete. Wenn Wilhelm jetzt schon in der höchsten
Lebensfrage des Reiches auf andere Stimmen hörte, wie konnte Bismarck
hoffen, sich auf die Dauer im Vertrauen des künftigen Herrschers zu
behaupten - so ist in den Akten ein erschütternder Aufschrei seiner
Sorgen zurückgeblieben.8
Der Regierungsantritt des Kaisers unterbricht nur auf kurze Dauer das
ungelöste russische Problem:9 sobald die
Spannung im Osten, wie wir sahen, im Winter 1888/89 wieder einsetzt, wird auch
die Differenz zwischen Kaiser und Kanzler unter Mithilfe derselben fremden
Einflüsse erneut ausbrechen.
Wilhelm II. war etwas voreilig auf die Erwiderung seines Besuches durch den
Zaren zu sprechen gekommen, aber der Zar bekam einen Wutanfall, als [363] Herr v. Giers
darauf anspielte.10 Das war in denselben Tagen, wo
Bismarcks Versuch scheiterte, der russischen Feindseligkeit ein englisches
Bündnis entgegenzusetzen. Die Diplomatie hatte, wenngleich von diesem
Geheimnis noch nichts durchsickerte, ihre letzte Karte ausgespielt. Das
Militär begann von neuem sich mit dem Gedanken der Unvermeidlichkeit
des großen Krieges zu beschäftigen. Bald war Waldersee mit sich
darüber einig, das Geschick und das Ansehen des Kanzlers noch einige Zeit
für die Friedenserhaltung zu verwenden, nach Abschluß der
Rüstungen aber den Krieg herbeizuführen: "Bis dahin mit dem
Kanzler; wenn es Ernst wird, aber ohne ihn; wenn es sein muß, auch gegen
ihn."11 Seinem höfischen Geschick
gelang es, seine Anschauungsweise auch in dem längst dafür
vorbereiteten jungen Kaiser zu nähren und zu vertiefen; in ständiger
Kritik der kanzlerischen Maßnahmen gewöhnte er ihn daran, von
dem Generalstabschef eine laufende Berichterstattung über russische Dinge
entgegenzunehmen. Man darf es aussprechen, daß in der Seele des Kaisers
der Gedanke an eine Trennung von Bismarck und der Wunsch nach einem
anderen Kurs gegen Rußland eine und dieselbe Wurzel haben: sie
entzünden sich aneinander und steigern sich wechselseitig.
Schon machte der Kaiser aus seiner kritischen Haltung auch nach außen hin
kein Hehl mehr. Als er am 29. Mai 1889 den Botschafter von Radowitz
empfing, der zu den unbedingten Vertretern der Russenpolitik Bismarcks
gehörte, äußerte sich seine Verstimmung gegen den Zaren auch
in scharfen Worten gegen den Kanzler: "Wenn Bismarck nicht mit will gegen die
Russen, so müssen sich unsere Wege trennen. Ich habe ihm schon durch
Herbert sagen lassen, daß meine Geduld den Russen gegenüber zu
Ende sei."12 Am folgenden Tage feierte der Zar in
dem berühmten Toast den Fürsten von Montenegro als seinen
einzigen Freund. Was für Bismarck eine grobe Desavouierung seiner
Politik war, empfand der Kaiser nach allem Werben um Freundschaft als
persönliche Kränkung:13 schwer
verärgert, suchte er nach einem Anlaß, sich zu entladen, und wohin
anders als gegen die falsche Russenpolitik seines Kanzlers? Er fand ihn schon
nach wenigen Tagen in der Nachricht, daß an der Berliner Börse eine
russische Rubelanleihe zur Konversion zugelassen sei. Waldersee und Verdy du
Vernois, der neue Kriegsminister, bestärkten den Erzürnten, der nach
seiner Art sofort eine "Maßregel" dagegen verlangte.14 Seine Auseinandersetzung mit dem
Grafen Herbert Bismarck machte schon den Eindruck, daß er den Streit
suche: "meine militärischen [364] Ratgeber haben mir
gesagt, es sei ungehörig, den Russen ihre Finanzpolitik noch weiter zu
erleichtern und ihnen damit das Geld zum Kriege gegen uns zu verschaffen." Von
Waldersee selbst, der es wissen mußte, liegt das Urteil vor: "Nach meiner
festen Überzeugung lag hier der entscheidende Wendepunkt beim Kaiser."
So faßte auch Bismarck den Vorstoß auf, als gegen ihn
persönlich und seine Politik gerichtet; der militärische Angriff
riß den Kampfgewohnten zum stärksten Gegenschlag auf. Er stellte
dem Kaiser sofort die Kabinettsfrage. Nach den Erfahrungen, die er mit dem
Lombardverbot gemacht hatte, hielt er es damals für unzeitig, einen
finanziellen Konflikt mit Rußland herbeizuführen. In der Sache setzte
er schließlich doch seinen Willen durch. Der Kaiser verlor an dem, was
für ihn nur ein Anlaß, nicht aber ein geeigneter Konfliktstoff war,
bald das Interesse15 - seine innerste Empfindung
behielt er in verstärktem Maße zurück.
In Wahrheit hatte der Kampf um die Macht begonnen, der Kampf, wie Graf
Philipp Eulenburg es ausdrückte, zwischen den Herrschergewohnheiten des
Hauses Bismarck und der autokratischen Anlage des Kaisers. Der ganze
Zusammenhang der Machtstellung des Kanzlers schien davon ergriffen zu sein.
Nach außen hin stand er, wie wir sahen, in dem letzten diplomatischen
Ringen mit seinen weltpolitischen Gegenspielern und konnte nach keiner Seite hin
seine verborgenen Karten aufdecken. Im Innern aber hatten sich die Spitzen des
Militärstaates gegen ihn erhoben, jene Gewalten, die einst im Siege vor ihm
hatten zurückweichen müssen und ein geheimes Ressentiment nie
aufgegeben hatten. Der Reichskanzler stand im Schlußakt eines Ringens,
dessen frühere Akte auf den Kriegsschauplätzen in Böhmen
und Frankreich gespielt hatten; mußte er den Primat der Politik vor den
Ansprüchen der Strategie noch einmal unter ungünstigen Vorzeichen
durchfechten? Schon hatte er während des letzten Konflikts gegen das
Übergreifen militärischer Einflüsse auf die Außenpolitik
seine Presse mobil gemacht; der berühmte Clausewitz-Artikel
der Norddeutschen Zeitung (7. Juli) ließ
weitere Kreise aufhorchen. Aber der Kaiser stand im Lager der Militärs, die
auf der ganzen Linie zum Angriff vorgingen.
Als Kaiser Franz Joseph
im August 1889 zum Besuch in Berlin weilte,
verabredeten Waldersee und Verdy mit dem österreichischen
Generalstabschef Frh. von Beck eine militärische Auslegung
des casus foederis, die die im Winter 1887/88 umkämpfte Frage
völlig in ihrem Sinne, gegen die Auffassung Bismarcks entschied. Ja,
Wilhelm II. unterstützte den Umschwung besonders lebhaft, indem
er in Gegenwart Franz Josephs zu Beck in seiner lebhaften Weise sagte: "Aus
welcher Ursache immer Sie mobilisieren, ob wegen Bulgarien oder
sonst - der Tag Ihrer Mobilisierung ist auch der Mobilisierungstag
für meine [365] Armee, und da
können die Kanzler sagen, was sie wollen."16 Vielleicht
war er sich nicht voll bewußt, wie tief diese Versicherung
kameradschaftlicher Loyalität in die elastische Bündnispraxis
Bismarcks eingriff, aber er scheute sich jetzt nicht mehr, sogar der
verbündeten Großmacht gegenüber die Autorität des
Kanzlers als für ihn nicht allein verbindlich preiszugeben. Eine
militärische Front begann sich zusammenzuschließen. Man erkennt
die Gestalten der Halbgötter aus dem Versailler Winter von 1870/71
wieder: sie haben nicht vergessen, daß sie damals unterlagen,17 aber sie wissen, daß sie jetzt das
Ohr des Kaisers besitzen.18 Dabei ist
es nicht einmal die Russenpolitik um ihrer selbst willen, die die Geister so tief
voneinander scheidet. Wohl konnte der Kaiser am 6. Oktober zu Waldersee sagen:
"Ich bin mit meiner Ansicht fertig, mit dem Kanzler spreche ich gar nicht mehr
darüber, denn er hat seine eigene, und wir einigen uns nicht mehr." Als aber
der Zar in der Woche darauf endlich seinen Besuch in Berlin abstattete, war
Wilhelm in seiner überempfänglichen Art so befriedigt von dem
"hübschen Erfolg", daß er nunmehr über die Linie Bismarcks
nach der anderen Seite hinausging und sich dem Zaren sogleich für das
nächste Jahr zum Besuch anmeldete. Jetzt schien er Waldersee wieder ganz
im russischen Fahrwasser zu schwimmen. Ja, er ertrug es schwer, daß der
Kanzler das Zuviel nicht loben wollte. Denn die Nuance, die die Seele der Politik
ist, war seiner Art nicht von Natur gegeben.
So wird denn auch die ursprüngliche Form des Gegensatzes bald
wiederkehren. Während Bismarck noch in den letzten Tagen des Jahres
1889 jede Spitze gegen Rußland abzubiegen suchte,19 sieht man
bei dem Kaiser in den nächsten Wochen das Mißtrauen gegen
Rußland wieder stärker anwachsen. Aus der schon länger
eingeführten russischen Berichterstattung Waldersees war ein
förmliches System geworden, das die amtliche Information laufend
durchkreuzte und das Vertrauen zu dem Auswärtigen Amte verzehrte.20 Der Zufall [366] wollte es dann,
daß dieser Konfliktstoff, der in den Wochen der Kanzlerkrisis völlig
hinter anderen innerpolitischen Anlässen des Streites zurücktreten
wird, in der allerletzten Stunde des
Bruches - vom Kaiser unvorsichtig hineingezogen, von Bismarck sofort
aufgegriffen - doch noch einmal in die große Tragödie
hineinspielte.
Denn wenn der Kaiser sich auch zunächst in einer außenpolitischen
Lebensfrage von seinem Glauben an Bismarck ablöste, so war er sich doch
darüber klar, daß jede öffentliche Auseinandersetzung mit der
Autorität des Kanzlers auf diesem Schauplatz sich schlechterdings
verbot.21 Wollte er seinem mächtigen
Ratgeber eine wesentliche Verselbständigung seines Willens abringen, die
äußerstenfalls zur Trennung führen konnte, so ließ sich
das schon wegen der letzten Konsequenzen nur auf einem Kampfgelände
der inneren Politik vertreten.
So bot sich dem eigenwilligen Betätigungsdrangs des jungen Herrschers,
der irgendwo er selbst, irgendwo anders als der Kanzler sein wollte, im Laufe des
Jahres 1889 der soziale Fragenkomplex dar. Hier lag das tiefste und umfassendste
Problem der inneren Reichspolitik: der Staat und die rasch wachsende Masse des
industriellen Arbeiterstandes, die soziale Lage und die politische Haltung des
vierten Standes. Bismarck hatte das Problem auf dem doppelten Wege der
gewaltsamen Repression durch das Sozialistengesetz und der sachlichen Reform
durch die Sozialpolitik zu lösen gesucht; wenn er auf dem einen Wege das
revolutionäre Element und die demokratischen Ziele dieses politischen
Emanzipationskampfes treffen wollte, suchte er auf dem anderen Wege das Gute
der sozialistischen Idee dem Gegner zu entreißen und zur Befriedigung der
sozialen Bedürfnisse zu verwenden - mit dieser
Versicherungsgesetzgebung, die in der Altersversicherung von 1889 gipfelte, war
Deutschland damals in eine Führerstellung unter den Nationen
aufgerückt. So groß aber auch die praktische Leistung der
Sozialpolitik war, so verfehlte sie doch ihre politischen Nebenabsichten, der
Sozialdemokratie den Zugang zu der Seele des Arbeiters zu versperren und die ihr
anhangenden Massen auf den Boden des bestehenden Staates
herüberzuholen. Unter dieser Enttäuschung begann der Kanzler in
seinen letzten Jahren die Fragen der Sozialpolitik wieder ausschließlich
unter ihrem machtpolitischen Gesichtspunkte zu betrachten, vom Gesamtinteresse
der Staatsordnung, nicht von dem humanitären Wohlfahrtsideale aus; er sah
die Aufgabe mit der Alters- und Invaliditätsversorgung als abgeschlossen
an und zeigte sich in allen weiteren Fragen des Arbeiterschutzes, der
Frauen- und Kinderarbeit, der Sonntagsarbeit, den manchesterlichen Argumenten
der Unternehmer zugänglich - trotz aller drängenden
Resolutionen des Reichstages und der besorgten Kritik idealistischer [367] Sozialreformer. Es war,
als ob er sich verhärte, um den Kräften, die er selbst hatte
großziehen helfen, wieder den Rücken zuzuwenden. Um so mehr war
er gewillt, das Sozialistengesetz rechtzeitig zu erneuern oder zu
verschärfen: gegenüber dem Gespenst der sozialen Revolution, das
überall in Europa aufzutauchen drohte, die Sache der Staatsautorität
rücksichtslos zu verfechten.
In dieser Situation ging die Sozialdemokratie darauf aus, das Ganze des
Bismarckschen Systems der Kraftprobe eines großen
Bergarbeiterausstandes auszusetzen, um die Erwartungsstimmung des neuen
Regiments zum Erwerb von neuen Sympathien zu benutzen. Hier setzte der
Kaiser ein. So wenig er von Haus aus den sozialen Problemen aus Erfahrung oder
Neigung nahestand, so war man in einem Teil seiner Umgebung bemüht,
hier ein tieferes Interesse zu erwecken; bald lockte ihn der Glaube, durch
energisches Vorgehen in der Sozialpolitik der Träger einer monarchischen
Mission zu sein und auch für seine Popularität süße und
schnell reifende Früchte zu pflücken. Gerade auf einem Gebiete, auf
dem der Kanzler den Monarchen bei seiner autoritären Neigung zu fassen
suchte, schien dieser sich geflissentlich einer humanitären Denkweise
zuzuwenden. Dabei spielte der instinktive Wunsch mit, gerade da, wo der
sozialpolitische Eifer des Kanzlers nachzulassen und dem harten
Unternehmerstandpunkt zu weichen drohte, eine gewisse persönliche
Selbständigkeit zu gewinnen und sich unter freudigem Zuruf weiter Kreise
von der Autorität des Kanzlers überhaupt zu befreien. Wenn im
Sommer 1889 der Gedanke einer künftigen Trennung von Bismarck in
seiner Seele auch noch verborgen lag, so lockte ihn ersichtlich die Vorstellung, in
diesen Dingen des sozialen Interesses vor der Welt und vor der deutschen Nation
ein strahlendes Relief zu gewinnen, wenn es eines Tages zu ernsteren
Meinungsverschiedenheiten mit dem Kanzler kommen sollte. So vermischten sich
sanguinische Beglückungsträume eines jungen Herrschers mit
heimlicher politischer Tendenz, die nach einem günstigen Terrain für
eine Auseinandersetzung ohne gleichen ausspähte.
Wenn man die zweite Hälfte des Jahres 1889 als die Inkubationszeit des
Vorsatzes, sich von Bismarck zu trennen, bezeichnen darf, so wird man doch
nicht versuchen, einen eindeutigen Entschluß des Kaisers in einem
bestimmten Augenblick anzusetzen. Die Möglichkeit der Trennung ist ja
selber nur das Endstück eines längeren, manchen Stimmungen
unterworfenen Gedankenganges. Den ersten Anstoß gab das wachsende
Begehren Wilhelms, seinen Einfluß auf die wichtigsten Geschäfte
auszudehnen und seine Initiative wirksamer zur Geltung zu bringen. Das
hieß den amtlichen Machtbereich Bismarcks in der Praxis oder auch in der
Form einzuengen, die ministerielle Allmacht zu gutwilligem Einlenken und
Verzichten zu bringen oder gar einen allmählichen Rücktritt des
Kanzlers von seinen Ämtern einzuleiten in den Formen der Freiwilligkeit,
wie sie allein, ohne allzu schweres Odium, vor der Nation vertreten werden
konnte; wenn aber die Meinungsverschiedenheiten unüberwindbar waren
und eine allmähliche Lösung [368] nicht
durchführbar erschien, dann auf den Rücktritt überhaupt
hinzuarbeiten. Mochte es in diesem ganzen Programm für eine
impressionable Natur auch sehr viele Verhaltungsweisen geben, vom friedlichen
Abbau bis zum scharfen Konflikt (wenn man den Charakter des Gegenspielers in
Betracht zog!): der Plan einer Eroberung der Macht ist um die Wende des Jahres
1889/90 bewußt in den Willen des Kaisers aufgenommen und vom ersten
Augenblick an bewußter, als man gemeinhin annimmt, durchgeführt
worden.
Während dieses selben halben Jahres weilte Bismarck mit geringen
Unterbrechungen in Friedrichsruh. Man hat diese lange Entfernung von Berlin
wohl getadelt, weil sie die innere Ablösung des Kaisers beschleunigt
hätte, aber sie geschah nicht ohne Überlegung. Bismarck wollte dem
Kaiser nicht so häufig begegnen, ihn nicht das erdrückende
Schwergewicht seiner Persönlichkeit fortlaufend fühlen lassen,
sondern ihm planmäßig freiere Bewegung in geringeren
Angelegenheiten ermöglichen. Die Kehrseite war nur, daß der Kaiser
eben dadurch, ohne ausreichendes Gegengewicht, fremden Einflüssen nach
mehr als einer Seite hin verfiel; denn die Persönlichkeit Herbert Bismarcks
reichte doch nicht aus, um diesen Eigenwillen, der sich der Allmacht des Vaters
entziehen wollte, gleichsam mittelbar auf der Linie der Übereinstimmung
zu halten. In dieser Zeit der Trennung ist Bismarck, nach den gleichlautenden
Urteilen verschiedener Lager, sichtbarer als bisher gealtert. Er klagte wohl selbst,
auch zu dem Kaiser, über seine
Gesundheit - wann hätte er das nicht getan? Aber allgemein hatte
man den Eindruck, daß seine Arbeitskraft und seine Initiative
nachließen oder doch durch eine Periode der Erschöpfung
hindurchgingen, daß sein Eigenwille sich
verhärtete - eben unter dem Eindrucke solcher Meldungen befestigte
sich wiederum der Kaiser in seinem geheimen Plane, selber nach der
Führung zu greifen. Besaß der Kanzler wirklich, wie sein
jüngerer Sohn damals fühlte, nicht mehr den alten Hammerschlag?
Auch andere Beobachter glaubten in den kommenden Wochen festzustellen,
daß er unsicherer als sonst hin und her geschwankt habe und dem jungen
Kaiser mit einer falsch berechneten Psychologie gegenübergetreten sei. Um
nur das eine Beispiel herauszugreifen, das sich immer wieder aufdrängt:
wenn Bismarck sich darauf versteifte, in der Frage der Einschränkung der
Frauen-, Kinder- und Sonntagsarbeit den Unternehmerstandpunkt gegen den
Kaiser zu vertreten, war er sich dabei bewußt, daß er dem anderen (so
wenig tief auch dessen soziale Gesinnung reichte) eine gefährliche taktische
Überlegenheit in die Hände spielte? Oder war es seine auf das
Höchste gesteigerte Kunst, in der Politik alle Zwecke als Mittel zu
betrachten, die sich an dieser Stelle übernahm und den klaren Blick des
Staatsmannes trübte?
Freilich, die innere Unsicherheit, die man beobachtet, hat ihre tieferen in der
Sache selbst liegenden Gründe. Ein bisher allmächtiger Minister, der
in seinem Monarchen nur noch einen wankenden Rückhalt besitzt, wird in
jeder größeren Aktion, sobald er die Wege des Monarchen kreuzt,
notwendig gelähmt sein. [369] Gerade was bisher
seine Überlegenheit ausmachte, das instinktive Ausnutzen der
Konstellation, die Verknüpfung aller Fäden und das Ausspielen aller
Karten, steht ihm nicht mehr unbeschränkt zur Verfügung. Was er
auch unternimmt, es wird mit der Zeit gegen ihn ausschlagen. Hatte Bismarcks
Fernbleiben von Berlin dazu geführt, daß der Kaiser sich vollends
neuen Einflüssen überließ, so eröffnete sein Erscheinen
in Berlin, sobald er seinem Einfluß den alten Bereich
zurückzugewinnen suchte, sofort den Konflikt auf der ganzen Linie. Nicht
anders stand es mit der Frage, ob er dem Kaiser mehr nachgeben oder eher
Widerstand leisten solle. Gab er nach, so erweiterte er nur die Bresche, durch die
der selbstherrliche Wille des Monarchen eindrang, und schwächte die
Position, von der aus sich wirksame Gegenzüge unternehmen ließen.
Wenn er aber seiner Natur gemäß die Verteidigung angriffsweise
führte, dann verschärfte er die Neigung des Kaisers, sich unter allen
Umständen von dem allmächtigen Minister zu trennen. Die alten
Methoden der Rücktrittsdrohung oder der Aufregung der öffentlichen
Meinung hatten ihre Wirkung eingebüßt; wenn er die politischen
Faktoren gegeneinander auszuspielen suchte, so mußte er erkennen,
daß auch der Kaiser seine Fühlung mit Bundesfürsten,
Ministern, Parteiführern und unverantwortlichen Ratgebern aufgenommen
hatte; sobald er aber seine dienstliche Grenze überschritt, gab er sich
Blößen und dem Monarchen das Recht der Korrektur. Der Kaiser, mit
seinem innerlich feststehenden Endziele, war in der überlegenen Position,
die auch seine beherrschte Ruhe gegenüber allen provokatorischen
Gegenzügen des Kanzlers erklärt: denn sobald der Machtkampf sich
erkennbarer abzeichnete, wuchsen ihm die Helfer, die Bundesgenossen, die
Argumente ohne Ende zu. Dagegen kämpfte Bismarck doch immer mehr
mit ungleichen Waffen; ob er den Rückhalt im preußischen
Staatsministerium oder im Bundesrat, in den Parteien oder in der
öffentlichen Meinung suchte, immer zog ein unangreifbarer Magnetberg die
Eisenteile aus dem Schiffe, das er steuerte. Seine eigenen Argumente
verwandelten sich in Waffen, die ihn selber trafen. Er konnte wohl einen
Augenblick die autoritäre Veranlagung des Kaisers gegenüber
revolutionären Gefahren der Zukunft zu sich herüberreißen,
aber er sollte mit seinem Kampfprogramm dann doch nur neue Gegnerschaften
gegen sich aufrufen; das Argument, das geformt war, um die kaiserliche Seele
festzuhalten, verwandelte sich in ein Mittel, sie ihm vollends zu entfremden. Und
schließlich - das erschwert die objektive Würdigung dieser
tragischen Auseinandersetzung - werden die umstrittenen politischen
Objekte, Sozialistengesetz und Sozialpolitik, Militärvorlage und Kampf mit
dem Reichstage, für beide Männer nicht allein sachliche Zwecke an
sich, um derentwillen man aus Überzeugung rang, sondern zugleich Mittel
zu einem höheren Zweck: für Bismarck, den Kaiser an seiner Seite
zu halten, für den Kaiser, Bismarck zum Rücktritt zu
nötigen.22
[370] Der Kaiser hatte sich
bald nach seiner Rückkehr von der Orientreise endgültig mit dem
Gedanken eines Kampfes um die Macht, der langsam in ihm gereift war, vertraut
gemacht. Dreimal, so schrieb er später an Kaiser Franz Joseph, habe er in
steigernder Dringlichkeit den Kanzler aufgefordert, eine Novelle zum
Arbeiterschutz in Angriff zu nehmen. Um Weihnachten wurde es erkennbar,
daß er selbst mit eigener Initiative auf dem Gebiete der Sozialpolitik zur
Aktion übergehen wollte. Schon am 5. Januar 1890 machte der Minister
von Boetticher, sein langjähriger sozialpolitischer Helfer, den Kanzler
darauf aufmerksam, daß man mit dem sozialen Interesse des Kaisers
ernsthaft werde zu rechnen haben.23 Bismarck
aber nahm die Warnung leicht und wies jedes Einlenken ab, weil er das Interesse
nur für eine Laune hielt - aber es war mehr, es war die politische
Idee, deren Resonanz der Kaiser für den Fall der unvermeidlichen
Machtauseinandersetzung vor der öffentlichen Meinung sich zu sichern
gedachte! Bismarck aber war entschlossen, im Falle ernsterer
Meinungsverschiedenheit mit dem Kaiser, die Positionen der starken
Staatsautorität zu beziehen; zunächst bestand er darauf, von dem
Septennats-Reichstage die Erneuerung des Sozialistengesetzes wenn
möglich ohne jede Einschränkung zu erlangen;24 in den Kampfpositionen fühlte
er sich am sichersten und am unentbehrlichsten, wenn sein eigener
Souverän in anderen Fragen die Front gegen ihn nahm. Denn dieser
Eindruck überwog in den ersten Wochen des Januar bei allen, die zu
vertraulicher Berührung mit dem Kaiser kamen: er will sich von dem
alternden Kanzler befreien. Am 18. Januar sprach der Großherzog von
Baden, den Wilhelm tiefer als andere in sein Inneres blicken ließ, es offen
aus, daß der Kaiser jetzt klarer sehe und sich von der Allmacht des Kanzlers
losmachen wolle.
Der Kaiser eröffnete seinen Vorstoß zur Ausdehnung der
monarchischen Initiative in der Reichsregierung am 23. Januar 1890 durch
Anberaumung [371] einer Sitzung des
Kronrats auf den folgenden Abend - schon die beispiellose Form des
Vorgehens deutete auf ein weiterreichendes
Ziel - der Reichskanzler, der noch in Friedrichsruh weilte, war
genötigt, sich durch mehrere Rückfragen in Berlin zu erkundigen,
worin der Gegenstand der Beratung bestehen würde. Am Mittag des 24.
Januar erschien er in tiefer innerer Erregung "im Kreise der Diadochen, welche
noch bei Alexanders Lebzeiten gegen ihn aufgetreten".25 Vor der Sitzung des Kronrats
versammelte er das Staatsministerium, um es möglichst solidarisch in den
schwebenden Streitfragen an seiner Seite festzulegen. Aber jetzt schon
verschwieg er nicht, daß er sich von seinen Ämtern mit Ausnahme
der auswärtigen Politik werde zurückziehen müssen.
Der Kaiser eröffnete den Kronrat mit der Vorlesung eines vorbereiteten
Programms. Nur rechtzeitige Reform könne der drohenden Revolution
vorbeugen; er wolle nicht seine Regierungsanfänge mit Gewalt beflecken,
sondern ein König der Geusen sein;
die -sehr dunkel gemalte - Lage der Arbeiter erfordere das
Eingreifen des Staates, und zwar auf der Grundlage einer internationalen
Übereinkunft. Er befahl die Vorlage eines Erlasses an das
Staatsministerium, ein feierliches und schwungvolles Manifest noch vor den
Wahlen. Keine Kundgebung des Monarchen konnte tiefer, nach innen wie
außen, in die allgemeine Staatspolitik eingreifen, als das was hier
angekündigt wurde, und sie geschah ohne und gegen den Rat des Kanzlers:
indem der Kaiser von Autoritäten sprach, die er in Sachen der
Arbeitergesetze gehört, streifte er vor dem versammelten Staatsministerium
seinen vornehmsten Ratgeber von sich ab. Damit war die Kanzlerkrisis virtuell
eröffnet.
Bismarck behielt zunächst, ohne seine Bedenken über das ganze
Unternehmen zu verhehlen, formell für das Staatsministerium vor, seine
verbindliche Äußerung bis nach Prüfung und
Überlegung der vorgetragenen Ideen und Entwürfe zu vertagen.
Dann aber führte die anschließende Erörterung über die
Behandlung des Sozialistengesetzes - in der auch Bismarck seine
düsteren Perspektiven bis zu dem "die Wogen höher gehen lassen"
nicht unterdrückte - zu einem erregten Zusammenstoß der
Meinungen. Der Kaiser wiederholte seinen Entschluß, daß er der zu
erwartenden Katastrophe durch rechtzeitige Präventivmaßregeln
vorbeugen und nicht seine ersten Regierungsjahre mit dem Blut seiner Untertanen
färben wolle. Der Kanzler aber warnte vor jeder Art von Kapitulation vor
der Parlamentsgewalt schon beim Sozialistengesetz, und ließ sich zu der
trotzigen Wendung hinreißen: "Wenn Ew. Majestät kein
Gewicht auf meinen Rat legen, so weiß ich nicht, ob ich auf meinem Platze
bleiben kann." Es war der offene Zusammenstoß der Protagonisten vor dem
schweigenden Chore; in unehrerbietigster Weise, so faßte der Kaiser den
Vorgang auf, habe der Kanzler ihm den Abschied vor die Füße
geworfen, vor den Ministern, die jenem gehorsam folgten. Das empfand er als
Niederlage, und die Alternative, Unterwerfung des Kanzlers [372] oder Trennung von
ihm, begann sich in ihm zu verhärten - aber auf der anderen Seite
vermißte auch Bismarck bei den Ministern, in denen er bisher seine
Minister gesehen hatte, Rückhalt und Unbedingtheit, und glaubte sich von
ihnen verlassen.
Scheinbar ging die ganze Debatte um eine der höchsten Prinzipienfragen
staatlichen Daseins, die immer wieder im geschichtlichen Ablauf an großen
Wendepunkten des Geschehens gestellt wird: ob man drohenden
revolutionären Bewegungen mit Festigkeit und Gewalt begegnen oder sie
durch einsichtige Reformen rechtzeitig beschwören soll. Nur war die wahre
Situation des deutschen Lebens im Januar 1890 keineswegs so beschaffen,
daß sie aus sich heraus die Staatsleiter vor eine solche unausweichliche
Alternative hätte stellen müssen: beide Positionen waren eher
theoretisch von zwei Persönlichkeiten eingenommen, die das Prinzip der
Autorität und das Prinzip der Reform zur Plattform ihrer
persönlichen machtpolitischen Auseinandersetzung erwählt
hatten.
So tief auch Bismarck die Tragweite des ersten großen
Zusammenstoßes empfand, so siegte seine politische
Elastizität - soll man sagen, sein Wille zur Macht oder seine Sorge
um den Staat, wer will das voneinander
trennen! - zunächst über den persönlichen Groll. Er
entschloß sich am 26. Januar das Handelsministerium aufzugeben; da am
25. Januar das Sozialistengesetz im Reichstage gefallen war, und das
sozialpolitische Ressort fortan einem Berater des Kaisers unter amtlicher
Verantwortung überlassen wurde, trat der Kanzler im Augenblick
außerhalb der Schußlinie; er erwog zugleich den Rücktritt vom
preußischen Ministerpräsidium. In der unmittelbaren Streitsache
bezwang er sich, die Formulierung der vom Kaiser gewünschten Erlasse
und die Vorbereitung der Konferenz in die Hand zu nehmen, um Schlimmeres zu
verhüten. Es war eine Politik des Nachgebens, aber auch, da der innere
Widerstand noch fortdauerte, des verdeckten Durchkreuzens.
Aber in diesen Tagen des ersten Überbrückungsversuches ging auch
der Kaiser auf seinem Wege weiter. Er glaubte in dem Rücktritt Bismarcks
vom Handelsministerium den ersten Erfolg erlangt zu haben, und trat jetzt,
vielleicht auch durch die Gegenzüge Bismarcks (gegen die
sächsischen Bundesratsanträge) gereizt, innerlich der Frage der
Ersetzung Bismarcks auch in seinem Amte als Kanzler näher. Vermutlich
am 31. Januar berief er den General von Caprivi in tiefstem Geheimnis nach
Berlin: als dieser am 1. Februar vor dem Monarchen erschien, wurde ihm
überraschend und zum ersten Male eröffnet, daß er unter
Umständen Bismarcks Nachfolger werden solle.
In diesem Augenblick war Bismarck mit der Redaktion der sozialpolitischen
Erlasse beschäftigt. Am 4. Februar gingen sie in die Welt, eine
unerwartete Kundgebung, deren Sinn man nirgends ganz fassen konnte. Die
Veröffentlichung war formal nur möglich auf der Grundlage der in
diesem Augenblick anscheinend erfolgten Versöhnung, aber sie wurde
überall instinktiv als die [373]
Götterdämmerung des Zeitalters Bismarcks empfunden. Der
österreichische Botschafter nannte sie "den ersten großen Schritt zur
Emanzipation des Herrschers von den Einflüssen seines ersten
Ratgebers".
Auch Bismarck war sich klar darüber, daß er einen zweiten Schritt
nachfolgen lassen müsse. Bei der Unterzeichnung der Erlasse hatte er von
neuem die Erfahrung gemacht, daß eine Drohung mit dem Rücktritt
auf den Kaiser keine Wirkung ausübte. Es blieb ihm nur übrig, selber
den Rücktritt von seinen preußischen Ämtern zu vollziehen,
um dadurch der Verantwortung für die künftigen innerpolitischen
Wendungen enthoben zu sein und zugleich den Schauplatz der
Konfliktsmöglichkeiten mit dem Kaiser entscheidend einzuengen. In einer
Audienz am 8. Februar rief seine Wendung: "Ich fürchte, daß ich
Ew. Majestät im Wege bin", auf der anderen Seite ein verlegenes
Schweigen hervor, das sich nur als Zustimmung auslegen ließ. So
formulierte er selbst sein Programm des allmählichen Umbaus:
Ausscheiden aus allen preußischen Ämtern, Verbleiben im
Kanzleramt und in der Leitung der Außenpolitik, Verkündung dieses
Wechsels am Tage der Reichstagswahlen (20. Februar). Den Umschwung im
einzelnen stellte er sich so vor, daß Caprivi, dessen Namen er dem Kaiser
selbst nannte (vermutlich weil er seinen Empfang am 1. Februar unter der Hand
erfahren hatte), zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt
werden, eine Reihe von Ministern, die er für zu "schwach" hielt für
eine schärfere Politik, ausscheiden und der Staatssekretär Herbert
Bismarck als preußischer Minister des Auswärtigen in das
Staatsministerium eintreten sollte. Der Kaiser nahm den Vorschlag, mit dem die
Dinge in Bewegung kamen, an. Bismarck teilte den Kern dieses Programms dem
Staatsministerium am 9. Februar mit, nicht eben angenehm überrascht,
daß man es mit einem gewissen Gefühl der Erleichterung aufnahm.
Scheinbar unwiderruflich stand mit diesem allmählichen Rückzug
des Reichsgründers die große Wendung vor der Tür. Sie
erinnerte äußerlich an die Episode von 1872/73, in der Bismarck in
der Fülle seiner Macht das preußische Ministerpräsidium dem
Kriegsminister Roon
überlassen hatte, aber im Unterschied von der
damaligen Lösung war es jetzt die Frage, ob die erschütterte
Autorität, die einen Teil ihrer Ämter über Bord warf, nicht vollends
in ihrem Kerne dadurch getroffen ward. Man hätte denken können,
daß diese Lösung derjenigen geglichen hätte, in der der uralte
Moltke sein Amt bewahrt, nur alle wesentliche Funktionen dem
Generalquartiermeister Grafen Waldersee übertragen hatte. Aber alle
Voraussetzungen der Ämter und der Personen lagen anders.
Vielleicht war es diese Erkenntnis, die Bismarck selbst schon am 10. Februar die
gewählte Lösung wieder aufgeben ließ. Soweit man sieht, kann
man einen doppelten Drehpunkt dieses neuen Entschlusses bei ihm beobachten:
einen innerpolitischen, hervorgerufen durch eine Besprechung mit dem Grafen
Lerchenfeld, dem bayrischen Bundesratsbevollmächtigten, und einen
außenpolitischen, hervorgerufen durch eine Besprechung mit dem
Botschafter Grafen Schuwalow, [374] beide am 10. Februar.
Der bayrische Bundesratsbevollmächtigte, ein unabhängiger Mann
von politischem Urteil, riet dem Reichskanzler dringend von der
Ämterspaltung ab; er dürfe sich nicht der Gefahr aussetzen,
daß der preußische Ministerpräsident die Stimmen im
Bundesrat gegen den Reichskanzler ausspiele; der föderalistische
Standpunkt bleibe nur in der Gleichsetzung des politischen Willens des
Reichskanzlers mit demjenigen Preußens gewahrt. Sein Rat, die Dinge in
Preußen einige Zeit laufen zu lassen, aber formell die Hand im
Geschäft zu behalten, machte um so mehr Eindruck, als er tatsächlich
an die innerste Schwierigkeit der Ämterspaltung rührte. Das war das
Eine. Eine Besprechung mit Schuwalow zeigte am selben Tage dem Kanzler die
Möglichkeit, eine Erneuerung des Rückversicherungsvertrages
womöglich schon im Laufe der nächsten Wochen
herbeizuführen und dadurch das Gewicht seiner Autorität auch auf
dem äußeren Flügel in unerwarteter Weise zu
verstärken.
So ließ Bismarck das Programm des sofortigen Abbaues fallen und teilte
dem Kaiser in einer Audienz am 12. Februar mit, daß er seinen
Abgang von den preußischen Ämtern nicht zum 20. Februar nehmen
werde, sondern erst im Mai oder Juni, nach den ersten Abstimmungen über
Militärvorlage und Sozialistengesetz; er konnte für sich
anführen, daß die von ihm erwartete Durchdringung der großen
Militärvorlage von seiner ungeminderten Autorität aus mit mehr
Aussicht auf Erfolg vorgenommen werden würde, und mochte im stillen
hoffen, daß aus diesen Kämpfen eine politische Gesamtlage
hervorgehen werde, die ihn dem Kaiser überhaupt unentbehrlich mache.
Dieser aber, der sich einige Tage hindurch schon mit der unmittelbaren
Teillösung vertraut gemacht hatte, konnte in der Erwiderung seine
Enttäuschung nicht ganz unterdrücken: "Da bleibt also bis auf
weiteres alles beim Alten." Aber noch wahrte er, vor allem nach außen hin,
die Geste, den Kanzler so lange wie möglich nicht zum Rücktritt zu
drängen.
In dieser von neuem ungeklärten Situation der Kanzlerkrisis waren auch die
Reichstagswahlen vom 20. Februar vor allem ein Stoß
vorwärts. Ihr Ergebnis, die schwere Niederlage der Kartellparteien und der
Sieg der Opposition, war sowohl dem Kaiser als dem Kanzler im Hinblick auf
ihre schwebende Auseinandersetzung nicht einmal unerwünscht. Der
Kaiser sah Bismarck eines Rückhaltes beraubt, isolierter gegenüber
der künftigen Reichstagsmehrheit, seine politische Stellung sturmreifer
geworden - er konnte daraus vor allem Ermutigung für seine stillen
Wünsche ziehen.26 Umgekehrt beurteilte auch der
[375] Kanzler die politische
Lage für seine inneren Kampfentwürfe nur noch
günstiger - mit der Aussicht auf einen sehr anspruchsvollen
Reichstag mußte doch auch für den jungen selbstbewußten
Monarchen der Horizont sich mit dunklen Wolken überziehen.
Eben darauf gründete Bismarck
eine Politik von weiter Sicht, die er dem
Kaiser am 25. Februar bzw. 1. März vortrug. Sie zielte im allgemeinen auf
Aufrechterhaltung der Staatsautorität und Aufnahme des Kampfes mit der
Revolution; im besonderen wollte sie, sowohl aus dem Anlaß eines scharfen
Sozialistengesetzes als auch einer weitreichenden Heeresvorlage, dem Konflikt
mit dem oppositionellen Reichstag nicht aus dem Wege gehen; am letzten Ende
mochte diese allgemeine Kampftendenz in einer Reihenfolge von politischen
Maßnahmen ausmünden, die man als den Staatsstreichplan
Bismarcks zu bezeichnen sich gewöhnt hat.27 Es sei
aber vorweg bemerkt, daß es sich dabei nicht um ein verzweifeltes
Stratagem der letzten Stunde handelt, sondern um Gedanken,
Möglichkeiten, Entwürfe, die in der Seele Bismarcks in den letzten
Jahrzehnten, wenn es einmal hart auf hart stand, immer wieder aufgetaucht waren.
Er hatte immer mit dem Tage gerechnet, an dem eine
verfassungsmäßige Einigung mit dem Reichstage für ihn nicht
mehr möglich sein würde und auch im Reiche der Kampf um die
Vorherrschaft der monarchischen oder der parlamentarischen Staatspraxis
ausgekämpft werden mußte - einem solchen Kampfe war er
nicht gesonnen auszuweichen, jetzt weniger als je. In seinem Programm waren zu
diesem Zwecke einmalige und mehrmalige Reichstagsauflösungen
vorgesehen, aber unter gewissen Umständen auch eine
Verfassungsänderung: sie sollte äußerstenfalls dadurch
herbeigeführt werden, daß die Bundesfürsten, die formell die
Reichsverfassung durch ihren Vertrag geschaffen hatten, eben diesen Bund
auflösten und einen neuen Bund - mit verändertem
Wahlrecht! - an die Stelle setzten. Für einen solchen Weg meinte
Bismarck sogar den Boden der Legalität nicht verlassen zu brauchen.
Mit jenem souveränen Selbstgefühl, auch der Umbildner aller dieser
Dinge sein zu können, wie er ihr Schöpfer gewesen war, malte er
sich sogar die legalen Eventualitäten aus, vermöge deren sich der
Kaiser vorübergehend auf die preußische Krone, und der
Reichskanzler auf die preußische Ministerpräsidentschaft (mit der
Führung der preußischen Stimmen im Bundesrat) zurückziehen
und den Reichstag gleichsam trockenlegen könnten. In dem System
doppelspieliger Rückversicherungen, das die Reichsverfassung darstellte,
lagen nun einmal das Prinzip bundesfürstlicher Regierungen und das
demokratische Prinzip des einheitlichen nationalen Willens nebeneinander; da
konnte es erlaubt sein, in der föderalistischen Ordnung sich eines Organes,
des Reichstages, vorübergehend zu entledigen, um es umgebildet
wiederherzustellen. Ein Kampfprogramm dieses [376] Geistes fand in dem
ersten Moment - unter dem Eindruck der
Reichstagswahlen - die Billigung des Kaisers; schon in früheren
Jahren hatte er eine gefährliche Anregung dieses Stils mit Zustimmung
begleitet;28 so wenig er die letzten Glieder dieser
Kette, die auch bei Bismarck mehr Möglichkeiten an einem fernen
Horizonte als greifbare Realitäten waren, in sich aufnahm, so glaubte er
doch, von dem kampffreudigen Kanzler an das Portepee gefaßt, vielleicht
überrumpelt, sich dem Programm des "No surrender" nicht
entziehen zu dürfen. Am 2. März trug der Kanzler auch dem
Staatsministerium die Umrisse seiner Konfliktspolitik vor.
Wenn wir diese Politik Bismarcks, wie sie von konkreten Schritten des
politischen Momentes sich in bloße Umrisse ferner Möglichkeiten
verliert, zu würdigen unternehmen, müssen wir unterscheiden
zwischen der Bedeutung, die sie in der schwebenden Auseinandersetzung
zwischen Wilhelm und Bismarck hat, und der Bedeutung, die ihr in dem
großen Zusammenhange der gesamten Staatsleitung und der politischen
Persönlichkeit des Kanzlers anzuweisen ist. Und nehmen wir die Antwort
vorweg: in der ersten Hinsicht ist sie als ein politischer Irrtum zu würdigen,
der sich für den Urheber schon in wenigen Tagen als ein solcher erweisen
wird. In der zweiten Hinsicht aber umschließt sie ein Problem, das den
ganzen Staatsmann angeht, ohne daß darum das, was man als unendlich
bismarckisch darin empfindet, als sein letztes geschichtliches Wort zur
Reichsgestaltung gewertet werden dürfte.
Es war in mehr als einem Sinne ein psychologischer Fehler Bismarcks, wenn er
annahm, die autoritäre Natur des Kaisers durch eine auf lange Sicht
angelegte Gewaltpolitik an seiner Seite halten zu können: wenn
Wilhelm II. solche Neigungen besaß, dann wollte er sie jetzt auf
Kosten des Bismarckschen Machtbereiches befriedigen, nicht aber an der Seite
eines ihm eben dadurch unentbehrlich werdenden Helfers, nicht aber durch
schwere Verfassungskämpfe hindurch. Für den Kaiser, dem es nicht
so sehr auf sachliche politische Endziele ankam als auf seine höchst
persönliche Auseinandersetzung mit dem Kanzler, mußten jene
letzten Andeutungen Bismarcks, in diesen Kämpfen den Bund der
Fürsten aufzulösen und einen neuen Bund an die Stelle zu setzen,
geradezu aufreizend, ja abschreckend wirken. Wie konnte er an einen
vorübergehenden Verzicht auf die Kaiserkrone denken, deren Glanz ihn
unter den Fürsten Deutschlands und Europas umstrahlte? Wie sollte der
Mann der Erlasse vom 4. Februar 1890 sich plötzlich mit der
Möglichkeit vertraut machen, in einem Kampfe gegen die Revolution "bis
an die Knöchel durch Blut zu waten"?
Wenn Bismarck vor Beginn der Krise bedauert hatte, daß er den inneren
Kämpfen nicht mehr so rüstig "wie 1862" entgegengehe, so
mußte gerade diese Erinnerung bei dem Kaiser jede Wirkung verfehlen:
denn der Großherzog von Baden riet seinem Neffen auf das
dringendste - wie er es schon im Jahre 1862 [377] gegenüber dem
alten König Wilhelm vergeblich getan
hatte - von jedem Wege ab, der in einem inneren Blutvergießen
ausmünden könne. Es war als wenn der alte nationale Liberalismus,
einst von Bismarck auf der ganzen Linie überwunden, ihm gemeinsam mit
diesem jungen Kaiser, der für seine Person keinen Hauch liberalen Geistes
verspürt, noch einmal entgegentrete und sich vor die Schöpfung
Bismarcks stelle. Bismarck hat späterhin das von ihm erst ausgelöste
badische Eingreifen mit dem Stigma des opportunistischen
Louis-Philippismus zu kennzeichnen gesucht. Aber man darf ihm die Frage
entgegenhalten, ob im März 1890 wirklich die zwingende Notwendigkeit
erweisbar war, den Gewaltweg zu beschreiten. Und welche Aussicht lag für
den jungen Kaiser vor, sich dazu mit dem alternden
fünfundsiebzigjährigen Kanzler zu verbinden, der diesesmal nicht,
wie vor einem Menschenalter im preußischen Konflikt, das entscheidende
und versöhnende nationale Ziel in der Hinterhand hatte. Spielte Bismarck
mit diesen Vorschlägen nicht geradezu dem Kaiser in die Hände, der
sich nunmehr von dem Kanzler des Staatsstreichs auf die Achtung vor der
Reichsverfassung und auf den Frieden mit seinem Volke zurückziehen
konnte? Es ist keine Frage, daß Wilhelm unter diesem Eindruck erst den
Glauben an seine Rechtfertigung vor der Geschichte, wenn er mit Bismarck brach,
innerlich gefunden hat. Damit ist die Frage der Taktik des "No surrender"
in dem Kampfe zwischen Kaiser und Kanzler erledigt.
Aber es bleibt jene andere Frage - wie steht dieser letzte Plan zu Bismarcks
ganzem Lebenswerke? Es ist im Zusammenhange unserer nationalen Geschichte
eine fast schmerzliche Vorstellung, den Reichsgründer, um seines
taktischen Zieles willen, zu so tiefem Eingriff in sein eigenes Werk, in die
Rechtsordnung des Reiches, entschlossen zu sehen. Auch wenn die Theorie des
"legalen" Staatsstreiches nur darauf abzielte, dem allzu lebhaften Blute des jungen
Kaisers ein Quantum Eisen zuzufügen, war eine weitere Erhöhung
der Krone diesen Einsatz wert? Wurden nicht hohe nationale Lebenswerte auf
diesem Wege in Frage gestellt, der Erschütterung ausgesetzt, zu taktischen
Mitteln erniedrigt? War die Unausweichlichkeit des Machtkampfes um den
deutschen Staatstypus der Zukunft - denn darum handelte es
sich - erwiesen? Daß der Kaiser selber in späterer Zeit mehrere
Male mit herrischer Geste einen ähnlichen Anlauf zum Kampfe nahm,
wiegt nicht allzu schwer, denn er ist ihm doch wieder vor der ersten ernsteren
Schwierigkeit ausgewichen. Konnte aber der Monarchie ein großer Kampf
mit der Sozialdemokratie nicht überhaupt erspart bleiben? Stand der
März 1890 wirklich schon unter der Signatur der Revolutionsreife? Man
könnte auf die friedliche Entwicklung der Klassengegensätze in der
Zeit von 1890 bis 1914 hinweisen, um diese Frage zu verneinen und diejenige
Politik für richtig zu erklären, die dem Reiche die schwersten
Erschütterungen erspart hat. Und wenn man das Gewicht dieses
Argumentes mit dem Hinweis auf die Novemberrevolution entkräften
wollte, so sollte doch eine Erinnerung daran, was das [378] deutsche Volk mit
Einschluß seiner sozialdemokratisch gesinnten Massen im Weltkrieg
geleistet hat, den Ausschlag
geben - diese Leistung ruht auf dem sittlichen Grunde eines in der Periode
von 1890 bis 1914 nicht erschütterten öffentlichen Rechtszustandes
im Reiche.
Aber man hat auch das Recht zu fragen, war denn Bismarck wirklich darauf aus,
bis an die Knöchel durch Blut zu waten, und war für den
Reichsgründer, der sein Vaterland und den Erdteil umgestaltet hatte, die
armselige Weisheit des Fürsten Polignac von 1830 im Alter das letzte Wort
geworden? Eine solche Annahme würde ihn völlig
mißverstehen. Er sah die Situation dafür reif, den
revolutionären Möglichkeiten gegenüber, die sich in
Deutschland und in Europa wieder stärker erhoben, die Autorität des
Staates angriffsweise zu verteidigen und zu diesem Zwecke auch die eine oder
andere verfassungsmäßige Schranke zu überschreiten. Er
würde auch nicht der Gefahr ausgewichen sein, inmitten eines unsicheren
und feindlichen Europa diese innere Kraftprobe zu unternehmen, sondern sich
zugetraut haben, mit ihrer Hilfe eine ganz tiefe Kluft zwischen dem russischen
Autokraten und der französischen Republik aufzureißen und damit
seine Innenpolitik dem Außensystem einzuordnen. Aber seinem politischen
Genius wäre auch dieser Kampf doch nur wieder Durchgang zu einem
Rechtszustande gewesen, wie er während des Konfliktes der sechziger
Jahre die Indemnität und die Herstellung der Verfassung nie aus dem Auge
verloren hatte. Derselbe Bismarck, der jetzt den Reichstag trockenlegen wollte,
sollte sich schon im Januar 1892 auf dem Marktplatz in Jena für einen
starken Reichstag als Brennpunkt des nationalen Einheitsgefühls einsetzen,
der die Pflicht der Volksvertretung dadurch erfülle, daß er die
Regierung kritisiere, warne, kontrolliere, unter Umständen führe und
das verfassungsmäßig vorgesehene Gleichgewicht verwirkliche. Das
ganze Bild des politischen Charakters Bismarcks reicht auch über die
momentane Kampfstellung des März 1890 weit hinaus und schließt
noch ganz andere Möglichkeiten ein, denen erst der Ausgang dieses
kampferfüllten Lebens ein Ziel setzte.
Jetzt war das Ergebnis nur eine neue Stufe des Konflikts. Statt der Gemeinschaft
bis zum Äußersten, die in der Phantasie Bismarcks einen Augenblick
aufgeleuchtet war, nur eine unheilbare Vertiefung des inneren Gegensatzes.
Während Bismarck ein Kampfprogramm entwarf, um damit von der
Sozialdemokratie, wenn nicht von dem Reichstage loszukommen, entschloß
sich Wilhelm II., sobald er von der ersten Überrumpelung sich
wieder auf sein eigentliches Endziel besann, einen solchen Kampf mit dem
Reichstage um jeden Preis zu vermeiden.
Seine Absage durchlief zwei Stadien. Schon am 4. März ließ der
Kaiser, inzwischen unterrichtet, daß selbst die Kartellparteien auf das
Sozialistengesetz verzichten wollten, den Reichskanzler wissen, daß er eine
Verschärfung des Sozialistengesetzes und das Aufrollen eines
weitausschauenden Konfliktes nicht [379] wolle. Er nahm wohl
an, daß Bismarck daraufhin die Kabinettsfrage stellen werde. Zu seiner
Überraschung, vermutlich zu seiner schweren Enttäuschung, gab der
Kanzler sofort nach.
So blieb für das Kampfprogramm Bismarcks nur die "große"
Militärvorlage übrig. Es kam ihm daher vermutlich höchst
gelegen, daß gerade am 8. März der Kriegsminister von Verdy ihm
die Denkschrift über die Erweiterung der Heeresorganisation (der Bismarck
im Herbst 1889 ziemlich kritisch gegenübergestanden hatte), mit der Bitte
um möglichste Beschleunigung, vorlegte.29 Ihre
sachlich-technische Begründung schien jetzt fast zurückzutreten
hinter ihrer politisch-dynamischen Funktion. In diesem Sinne machte Bismarck
sich das Programm zu eigen; schon am nächsten Tage befaßte er das
Staatsministerium mit der Angelegenheit. Er sagte sich, daß er im Kampfe
mit der zu erwartenden Opposition schon eine Gelegenheit finden würde,
den Reichstag aufzulösen und, wenn er halsstarrig und unbelehrbar
zurückkehre, in die Luft zu sprengen. Sobald dann einmal der Kampf
begonnen, durfte er hoffen, den jungen Kaiser, der sich noch am 10. März
zu der großen Militärvorlage bekannte, wie im Jahre 1862 den
Großvater, fest an seinem militärischen Ehrgefühl zu fassen,
und in der wohlvertrauten Kampflage - vexilla regis
prodeunt! - selber unentbehrlich für die Monarchie sich in der
Staatsleitung zu behaupten.
Jetzt aber vollzog sich hinter den Kulissen ein charakteristischer Umschwung.
Alle, die auf den Sturz Bismarcks
hinarbeiteten, - und wie war diese Phalanx schon in der Ausdehnung
begriffen! - erkannten sofort, daß die große
Militärvorlage in den Händen Bismarcks ein willkommenes
Kampfmittel werden und gerade das herbeiführen mußte, was man
vermeiden wollte: den schweren Konflikt mit dem Reichstage, der den Kaiser
noch einmal an den Kanzler band. Und so begann man von allen Seiten die
Vorlage zu verringern; schon am 12. März wurde zwischen Waldersee und
Miquel die Möglichkeit des Übergangs zur zweijährigen
Dienstzeit erwogen; die Warnungen des Großherzogs von Baden und des
konservativen Führers von Helldorf taten das Ihre, um den Kaiser
über die politischen Folgen aufzuklären; sobald man ihm sagte,
daß eine "kleine" Militärvorlage auch in diesem Reichstage auf
keinen Widerstand stoßen würde, war er bereit (am Abend des 14.
März), die ursprünglich so scharf betriebene
Heeresvergrößerung ganz erheblich einzuschränken. Alle
politischen Sachlichkeiten wurden in diesem
Ringen - das empfindet man als das
Furchtbare - nur noch taktisch im ausschließlichen Hinblick auf das
unausgesprochene Endziel gewertet. Damit war von einem politischen
Kampfprogramm nichts mehr übriggeblieben.
Indem der Kaiser aus seiner Auseinandersetzung mit Bismarck die eigentlichen
großen Konfliktsanlässe mit dem Reichstage ausschaltete, sah er sich
vor der [380] Frage, auf welchem
Wege der Bruch mit dem Kanzler herbeizuführen sei. Obgleich seine
Umgebung ihn zu drängen suchte, dem Kanzler die Entlassung zu geben,
wenn er sie nicht nehmen wolle, hielt er doch an seiner Taktik fest, dem andern
unter allen Umständen den Rücktritt zuzuschieben. Dadurch
rückte eine Reihe mehr formaler Streitanlässe in den Vordergrund, in
denen es sich nur um rein persönliche Machtfragen zwischen Kaiser und
Kanzler handelte: es blieb ja nur die peinliche Aufgabe, dem Kanzler sein Amt zu
verleiden, daß er freiwillig die Initiative des Rücktritts ergreife.30
Das Kampfterrain, auf dem man sich jetzt nur begegnen konnte, war die
tatsächliche Machtstellung Bismarcks, wie sie ihm vermöge seiner
halbmonarchischen Ämterkumulation und der geltenden Staatspraxis
zugewachsen war. Es ging um seine Beziehungen zum preußischen
Staatsministerium und zum deutschen Reichstage. Der Kaiser begann nach
Belieben den dienstlichen Verkehr mit den Ministern, die er zu sich
herüberziehen wollte. Bismarck aber holte eine Kabinettsordre Friedrich
Wilhelms IV. von 1852 hervor, die, um die Einheitlichkeit in der Politik zu
wahren und die ministerielle Verantwortlichkeit zu klären, den Verkehr des
Monarchen mit den einzelnen Ministern der Kontrolle des
Ministerpräsidenten unterstellt hatte. Er schärfte die Kabinettsordre,
trotz ihrer Verstaubtheit ein Stück geltenden Staatsrechts, dem Ministerium
ein - es lag auf der Hand, daß der Kaiser diese Anordnung als einen
Angriff auf sich selbst empfand. Auf der andern Seite hatte der Kaiser in den
letzten Wochen kein Bedenken getragen, hinter dem Rücken Bismarcks in
vertrauliche Beratung mit den Parteiführern des Reichstages einzutreten.
Als er aber von einem Empfange Windthorsts durch den Reichskanzler am 12.
März erfuhr, sah er darin eine ohne sein Wissen unzulässige
Verhandlung über die einzuschlagende Richtung der Gesamtpolitik und
wallte leidenschaftlich gegen solche Eigenmächtigkeit auf. Er
beschloß auf beiden Schauplätzen zum Angriff vorzugehen, und zwar
in dem herrischen Stile, den seine Rede vom 5. März angedeutet hatte.
Als der Kaiser am frühen Morgen des 15. März im
Reichskanzlerpalais erschien, war das politische Novum seine Mitteilung an den
Reichskanzler über die Einschränkung der Militärvorlage: sie
nahm Bismarck seine letzte politische Waffe aus der Hand und reduzierte den
Kampf auf das Persönliche. Und deswegen nahm die Auseinandersetzung,
die sich um die Forderung der Zurücknahme der Ordre von 1852 und um
die Vorwürfe über den Empfang Windthorsts drehte, von vornherein
einen ganz persönlichen Charakter an. Wenn der Kaiser gereizt verlangte,
über Besprechungen des Kanzlers mit Parlamentariern vorher unterrichtet
zu werden, so fühlte dieser sich in dem, was er als seine historische
Machtstellung ansah, von dem Monarchen zu Unrecht angefallen, und da der
andere [381] offensichtlich den
Streit suchte, überschritt auch er jetzt in der Form die Grenzen des
dienstlichen und höfischen Verkehrs. Er war wohl einen Augenblick bereit,
die Ordre von 1852 preiszugeben und, wenn der Kaiser es wünsche, seine
Entlassung zu geben; aber als der Kaiser den Wunsch nach vermehrter Teilnahme
an den Geschäften aussprach, lehnte er scharf ab darauf einzugehen. Er
hatte jetzt die richtige Empfindung, daß es auf seine Mediatisierung bei
lebendigem Leibe abgesehen sei, und bäumte sich dagegen mit dem
ursprünglichen Temperament einer großen Herrschernatur auf: dem
Kaiser erschien er nur noch als "dem Dämon der Herrschsucht verfallen".
Verstehen und Verständigung waren nicht mehr möglich. Der Punkt
war erreicht, wo unverhüllt Macht auf Macht stieß. Nachdem die
sachlichen Konflikte längst zurückgetreten, machte echte und
beherrschte Leidenschaft von beiden Seiten her jeder Möglichkeit des
Zusammenbleibens in irgendeiner Form ein Ende.
Während in den Ablauf der Krisis seit dem Januar der
außenpolitische Gegensatz bisher nicht mehr hineingespielt hatte, sollte der
Kaiser ihn, um das Band völlig zu zerreißen, noch im letzten
Augenblick hineinzerren. Da Bismarck am 16. März die Aufhebung der
Ordre von 1852 für unmöglich erklärte, forderte der Kaiser das
Abschiedsgesuch immer dringlicher, zuletzt bis auf die Stunde; in einer nicht
mehr zu bändigenden Ungeduld meinte er jetzt auch auf dem
außenpolitischen Gebiete nachstoßen zu sollen. Er nahm eine noch an
diesem Tage im normalen Geschäftsgange erfolgende Vorlegung von
Berichten des Konsuls in Kiew zum Anlaß, um in einem ungnädigen
Handbillett dem Kanzler unberechtigte und aufgeregte Vorwürfe
auszusprechen - in dem Stile, wie sie seit längerer Zeit von
Waldersee-Holstein gegen die "russische Politik" in seiner Seele genährt
worden waren. Dienstlich war das Verfahren des Auswärtigen Amtes gegen
jede Kritik gedeckt; in der Sache konnte Bismarck in seiner Antwort auf die
düsteren Kriegsbefürchtungen Wilhelms darauf verweisen, daß
Moltke vor drei Jahren ähnlich geurteilt hätte und daß drei
Jahre Frieden seitdem vergangen seien. Diese Verteidigung wurde vermutlich in
derselben Stunde niedergeschrieben, wo Schuwalow ihm die Botschaft brachte,
daß der Zar den Rückversicherungsvertrag zu erneuern bereit sei.
Dieser letzte Vorstoß des Kaisers war - wie der Großherzog von
Baden sofort erkannte - auch von seinem Standpunkt ein unkluger Schritt.
Insofern er Bismarck wider Erwarten das Recht gab, bei seinem Rücktritt
auch denjenigen Schauplatz aufzusuchen, auf dem er eine europäische
Autorität war. Schon in seiner Mitteilung an das Staatsministerium (am 17.
März um 3 Uhr) über seinen Rücktritt betonte er,
daß er auch die auswärtige Politik des Kaisers nicht mehr vertreten
könne. Und in sein Abschiedsgesuch vom folgenden Tage nahm er die
auswärtige Politik als ausgesprochenes Motiv auf, da er nach dem
kaiserlichen Handschreiben sich in der Unmöglichkeit sehe, "die
Ausführung der vorgeschriebenen Anordnungen bezüglich der
auswärtigen Politik zu übernehmen." Ehern [382] klang der Ton seiner
Anklage: "ich würde damit alle für das Deutsche Reich wichtigen
Erfolge in Frage stellen, welche unsere auswärtige Politik seit Jahrzehnten
in unseren Beziehungen zu Rußland unter ungünstigen
Verhältnissen erlangt hat." So rückte ein zeitlich weit
zurückreichendes Motiv der Entfremdung noch in der letzten Sekunde
zufällig in den Vordergrund, um dann, wie von einem unsichtbaren
Verhängnis getrieben, auf die Gleisrichtung des neuen Kurses
überzugreifen.
Auch die letzten Züge des Endspiels um die Macht zeigen an, daß
Bismarck der Ungeduld des Kaisers, der nur noch sein Ziel im Auge hatte, die Art
und Weise der Entlassung aufgezwungen hat. Zum letzten Kampfe gestellt, war er
in jedem seiner Schritte, bis zu seiner letzten Fahrt an das Grab des alten Kaisers,
von vollendeter Meisterschaft und Gefährlichkeit. Er war sich
bewußt, daß eine geschichtliche Figur seines Ranges von der
Bühne nur in den Formen abtreten könne, die ihr zukamen, und
verachtete den verhüllenden Schein der Konvention. Obgleich in seinem
letzten Kampfe und seinen Kampfmethoden sich persönliches wie
geschichtliches Recht und Unrecht im einzelnen vielfältig verschlingen, ist
das Ganze, über alle seine vergänglichen und falschen Positionen
hinweg, das Sichwehren eines großen Mannes um sein Werk. So bestimmte
er den Stil seines Rücktritts, ja auch den
Tag - wenn der Kaiser die Kronratssitzung vom 24. Januar, die den
Angriff eröffnete, auf den Geburtstag Friedrichs des Großen verlegt
hatte, so datierte Bismarck
sein Entlassungsgesuch von dem Tage des 18.
März, der in der Geschichte des preußischen Königtums eine
dunkle Erinnerung
aufweckt - das letzte amtliche Aktenstück aus seiner Feder: es bleibt
das geschichtliche Monument dieser Tragödie, und nicht der Brief, in dem
der auf den Wellen der Erregung hin- und hergeworfene junge Monarch dem
Kaiser Franz Joseph den Hergang zu erläutern suchte.
Bismarck schied aus dem Amte wie reichlich ein Jahrhundert vorher Friedrich der
Große aus dem Leben und der Regierung. Es war schon acht Jahre vor dem
Tode des großen Königs, als Goethe in Berlin "über den
großen Mann seine eigenen Lumpenhunde räsonnieren" hörte.
Den Moment seines Hinganges in Berlin hat ein Franzose, hat kein anderer als
Mirabeau festgehalten: "Alles ist düster, nichts traurig; alles ist
beschäftigt, nichts bekümmert. Kein Gesicht, das nicht Erleichterung
und Hoffnung ankündigt, nicht ein Bedauern, nicht ein
Seufzer, nicht ein Lob. Dahinaus laufen soviel gewonnene Schlachten,
soviel Ruhm, eine Regierung von fast einem halben Jahrhundert voll so vieler
Großtaten. Alle Welt wünschte ihr Ende, alle Welt
beglückwünscht sich dazu."
An diese Worte fühlt man sich erinnert, wenn man verfolgt, wie die
deutsche Welt den Sturz Bismarcks
aufnahm - nicht wie wir heute, durch eine Kluft bitterer Erfahrung von
jenen Vorgängen getrennt, ihre Tragik nachempfinden. Auch
ausländische Beobachter fanden es "unglaublich, wie glatt hier das
weltgeschichtliche Moment abläuft. Der Eindruck im Ausland ist weit
gewaltiger als [383] hier".31 Lag es an diesem historischen Boden,
lag es an dem innern Stil seiner eigenen
Schöpfung - oder war es doch in der Natur der Dinge
begründet, daß zunächst nur das Gefühl der
Erleichterung, soweit man blickt, sich geltend machte? Gewiß, in manchem
deutschen Herzen blieb die natürliche Empfindung nicht aus, und in einem
Hörsaal der Berliner Universität griff Heinrich von Treitschke mit
schmerzbewegtem Pathos bis zu den Zeiten des Themistokles zurück, um
ein gleiches Beispiel der Undankbarkeit zu finden.
Aber die Nation begleitete das weltgeschichtliche Ereignis doch nur mit einem
unsicheren Schweigen.
Wir sprechen nicht von den politischen Gegnerschaften, die mit Bismarck
gerungen und seinen Haß mit ihrem Haß erwidert hatten; vielmehr
von den Parteien, die mit ihm gegangen waren und in manchem sich nach seinem
Bilde geformt hatten; von den Beamtenkörpern, die unter ihm dem Staate
gedient, und überhaupt von der deutschen Generation, die dieses
Menschenalter des neuen Reiches tätig miterlebt oder als Erbe
übernommen hatte. Man vermißt in ihr die große Resonanz der
Nation, und sucht sie unter Fürsten und Großen, im Reichstag und
Bundesrat, in der Presse und öffentlichen Meinung, oder in der Luft der
Kirchen und Schulen, unter den wortmächtigen Führern der
Geistigkeit und bei den Massen auf der Straße, und hört diese
Resonanz nicht, als ob der Nation oder doch ihrem öffentlichen Leben die
Seele mangele. Sie wird sich wiederaufraffen und ihre Kräfte aus allen
Tiefen deutschen Lebens ziehen, sie wird dem bittern Menschenverächter,
der in Friedrichsruh sich in Shakespeares Coriolan wiederfand, doch wieder die
Gewißheit verleihen, daß er einen unendlichen Schatz dankbarer
Liebe in seinem Volke hinterlassen hat.
Aber als er ging, war in den politischen Organen seiner Schöpfung diese
Stimme nicht vernehmbar.
Vielleicht war das Furchtbarste, daß er auch an dieser Isolierung im Sturz
seinen Anteil hatte. Er hatte die Macht der Krone so hochgehoben, daß sie
sich seiner entledigen konnte, sobald sie wollte; er hatte den Aufbau seiner
Schöpfung im Reiche so tief und wetterstark fundamentiert, daß er
nicht davon berührt ward, als er selbst von seinem Werke schied; und wenn
man den Vorwurf erhebt, daß das Werk nur auf ihn selber zugeschnitten
gewesen sei, so muß man sagen, daß die Konstruktion dieselbe blieb,
auch als unerfahrene Hände sie übernahmen. Der Allmacht seiner
Staatsleitung entsprach die Vielseitigkeit der Gegnerschaften, die sich gegen ihn
auflehnten: alle diese Lebenskräfte, die er erzeugt und erzogen,
gefördert und gehemmt, und dann als Mittel benutzt
hatte - jetzt erhoben sich die Mittel, die "Fragmente", in einer allgemeinen
Revolte, um sich selber durchzusetzen: die Krone und das Militär, die
kirchlich-konservativen Gewalten, ebenso wie die liberalen und nationalen, die
Kolonialleute, die Sozial- [384] politiker, die
Exponenten der Parteien und die Massen der Tiefe. Die großen
Erscheinungen, so hoch sie auch ihr Haupt in das Licht emporheben, werfen auch
einen weiten Schatten in ihren Umkreis.
Der Kaiser und die Nation hätten von der Mitte der neunziger Jahre ab
ihren Weg ohne Bismarck gehen müssen, aber es wäre ein Segen
auch für den jungen Kaiser gewesen, wenn erst die Natur der Dinge ihn
genötigt hätte, sich von seinem alternden Berater zu trennen. So hatte
er beim Beginn seiner monarchischen Laufbahn, aus persönlichem
Geltungsdrange und aus dynastischer Verpflichtung, die stärkste
Willensentscheidung auf sich genommen und trug an ihren Folgen wie an einem
Schicksal - den ganz großen Entschließungen ging er fortan
lieber aus dem Wege. Bismarck aber schied in namenlosem Groll "gegen den
sicheren Verderber des Reiches",32 und seine
furchtbare Kritik begleitete fortan den Gang der öffentlichen
Angelegenheiten im Reiche.
Dabei muß die historische Betrachtung um der Gerechtigkeit willen sich
bewußt bleiben, daß der Lebende recht hat. Der Lebende, der die
Geschäfte des Staates führt und an jedem Tag vor neue Aufgaben der
nationalen Pflichterfüllung gestellt wird. Es ist manchen Deutschen ein
Gemütsbedürfnis, mit dem Rücktritt Bismarcks eine
völlig veränderte Haltung zu den Geschicken der Nation
einzunehmen. Wir können uns aber nicht entschließen, das Dasein
unseres Volkes gleichsam vorzugsweise in dem Schatten zu sehen, der von dem
tragischen Ereignis des März 1890 ausgeht, und halten es vollends
für ein unhistorisches und unwissenschaftliches Denken, die Geschichte der
deutschen Nation seit 1890 mit einer vermeintlichen Zwangsläufigkeit
unter den zermalmenden Gesichtspunkt des Schicksalsausganges von 1918 zu
stellen. Das ist nur eine andere Form der Überheblichkeit, den
rätselvoll verschlungenen Zusammenhang der Dinge in der einfachen
Formel Schuld und Sühne aufzulösen. Wir würden damit nicht
der Nation und ihren unsterblichen Kräften gerecht werden, nicht ihren
besten Männern, die sich in den Dienst des Staates und der Allgemeinheit
gestellt haben, nicht den Millionen, deren Einzelwirken in der Summe den
lebendigen Pulsschlag eines großen Volkes erzeugt. Wir würden die
Reichsgründung Bismarcks zu einer Episode herabdrücken, wenn
wir aus ihr den einzigen Maßstab des Urteils für die Entwicklung des
Deutschen Reiches in dieser zweiten Epoche entnehmen wollten.
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