Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 1: Das Deutsche Reich
unter Kaiser Wilhelm II. (1890 - 1909) (Forts.)
1. Kaiser Wilhelm II. und die Anfänge des neuen
Kurses. (Forts.)
Die politische Atmosphäre Europas war durch den Rücktritt Bismarcks
auf das tiefste bewegt. Man hat wohl gesagt, Bismarck habe
tatsächlich die Politik aller Staaten gemacht. Der Dirigent im Orchester war
verschwunden, das von allen gefühlte unsichtbare Übergewicht nicht
mehr vorhanden. Insofern waren alle Kabinette, ob freundlich oder feindlich, von
einem Gefühl der Erleichterung [385]
berührt - irgendwie hatten sie die Überlegenheit seines Rates,
seines Ja und Nein empfunden, und sie hätten nicht sie selber sein
müssen, wenn sie die Befreiung ihrer politischen Autonomie von der Last
des Genius in ihrer Mitte nicht begrüßt hätten. Auch die
Männer des neuen Kurses selbst unterlagen wohl der Stimmung, daß
sie die Epoche der genialen Aktion als abgeschlossen zu betrachten und die
Nation in ein Alltagsdasein zurückzuführen
hätten - als neue Leute hatten sie zunächst einmal Vertrauen
zu erwerben, denn ihre Namen waren den europäischen Kabinetten fast
unbekannt. Der neue Reichskanzler General von Caprivi war eine einfache, klare,
willenskräftige Natur, einer der besten Männer des
Heeres - Bismarck würde ihn als den besten Generalstabschef und
Nachfolger Moltkes begrüßt haben. Aber er war ein Mann ohne jede
außenpolitische Erfahrung und ohne die besonderen Fähigkeiten, die
in den außenpolitischen Geschäften unerläßlich sind. In
Caprivi war die spezifisch militärische Dienstauffassung eher noch
stärker ausgebildet als in anderen Generalen. Auch in militärischen
Kreisen galt er als ungewöhnlich eigenwillig; Moltke hatte von seinem
Zusammenarbeiten mit dem Kaiser nur die Vorstellung von zwei Kieselsteinen,
und Bismarck nahm sogleich an, daß sein Nachfolger keinen höheren
Einfluß auf Wilhelm II. gewinnen würde. Im Besitze der
besten Tugenden, die der militärische Dienst erzeugt, hatte er nicht das
Charisma des Staatsmannes, ja er fand zunächst, wie seine erste Rede nach
dem Amtsantritt im Bundesrat zeigt, mit Mühe den Ton. Wenn Bismarck
ihm vorwarf, daß er nicht einmal das Bedürfnis zu einer Aussprache
mit seinem Vorgänger gehabt habe, so waren es vielleicht gerade die
Umstände, unter denen Bismarck aus dem Amte schied, die seiner
militärischen Denkweise einen solchen Schritt verboten.
Die außenpolitische Dienstfremdheit Caprivis wog um so schwerer, als mit
dem Ausscheiden Herbert Bismarcks, den der Kaiser vergeblich zu halten
versuchte, die große Tradition im Auswärtigen Amte
überhaupt abriß. Der neue Staatssekretär Freiherr von
Marschall, bis dahin badischer Gesandter und Vertreter im Bundesrat,
verfügte keineswegs über eine Erfahrung in der großen Politik;
daß seine Laufbahn auch sein Talent eines Tages zur Reife bringen werde,
war noch nicht vorauszusehen. Das Nebeneinander
Caprivi - Marschall schuf also eine ungewöhnliche Situation,
die zwangsläufig dazu führte, daß dem Kaiser keine
verantwortliche, tiefere Sacherfahrung in der Außenpolitik lebendig
gegenüberstand und daß infolgedessen ein Subalterner einen
dominierenden Einfluß gewann.
Die Laufbahn des Barons von Holstein ist nur aus dieser Konstellation zu
erklären. Er beherrschte seit Jahrzehnten die Geschäftsroutine in
vollem Umfange, ein Mann von Arbeitskraft, Energie und Klugheit, der durchaus
die Schule verriet, die ihn gezeugt hatte. Einen staatsmännischen Charakter
im höheren Sinne hatte er nicht ausbilden können, weil er von den
verantwortlichen Entschließungen immer entfernt blieb und ihnen lieber aus
dem Wege ging; ja [386] er war ein
Menschenalter so verwendet worden, daß er in den Niederungen der
großen Politik eher zu Hause war, als auf ihren Höhen. In dem
Krisenjahre Bismarcks bezeichnete Waldersee (den er im stillen mit Nachrichten
versorgte) ihn als einen der ersten Fahnenflüchtigen: man hat doch den
Eindruck, daß er in diesen Monaten im Auswärtigen Amte eine
ähnliche Rolle gegen Bismarck spielte, wie einst im Dienste des
Reichskanzlers gegen Arnim in der Pariser Botschaft. Zuerst gab er auf der
ganzen Linie der außenpolitischen Willensbildung, die von ihm, dem
Erfahrensten der Räte, bis zum Kaiser reichte, den Ton an.33 Daß er im weiteren Verlaufe
auch gegenüber dem Kaiser, um die Einheitlichkeit des
Außendienstes gegen persönliche Durchkreuzung zu sichern, die
Sachlichkeit seiner Ziele mit allen Mitteln vertreten hat, soll schon hier zugegeben
werden, aber auch diese Bestrebungen führten ihn wieder auf die
Benutzung unterirdischer Wege, die immer mehr zu seiner Natur wurde. So war
die Außenpolitik des Deutschen Reiches, bisher durch ein unvergleichliches
Maß monarchischer Willenskonzentration geleitet, fortan eher gewissen
Zufälligkeiten der Willensbildung auf einem längeren Dienstwege
ausgesetzt. Und da nun Bismarck selbst, statt in der schweigenden Korrektheit des
entlassenen Ministers zu verschwinden, bald begann, jede Rücksicht
beiseite setzend, die einzelnen Schritte der Außenpolitik mit einer laufenden
Kritik zu begleiten, so bildete sich ein Zustand heraus, der den neuen
Männern die Sicherheit der Hand nicht erhöhte.
Man begreift, daß Caprivi hohen Wert darauf legte, sich zu einer einfachen,
klaren und loyalen Politik zu bekennen - womit er mehr die
Bedürfnisse seiner eigenen Natur kennzeichnete, als den Schwierigkeiten
der Lage gerecht wurde. Als wenn die Kompliziertheit, die man an der
diplomatischen Technik Bismarcks tadelte, nicht
auch - wie wir gesehen haben - in den Dingen selber gelegen
hätte -, als wenn die einfache Linie jetzt leichter als vordem gewesen
wäre. Sie war eher erschwert durch das Ausscheiden Bismarcks: in Wien,
wo man unter Kálnokys Leitung so lange sich in engster Fühlung
mit Berlin gehalten hatte, wurde man sich bald bewußt, daß man an
Geltung im Dreibunde und in Europa gewonnen hatte; in Rom schien das
Ansehen Crispis eher vermindert dadurch, daß die Gestalt Bismarcks nicht
mehr hinter ihm stand; in den gegnerischen Lagern aber war das
Selbstbewußtsein automatisch im Wachsen.
Nun sollte ein merkwürdiges Verhängnis den neuen Kurs in der
Stunde seiner Geburt sogleich vor seine schwerwiegendste Entscheidung stellen.
Mitten in der Kanzlerkrisis hatte Bismarck die Erneuerung des
Rückversicherungsvertrages eingeleitet. In einer Besprechung mit
Schuwalow am 10. Februar hatte er den [387] Botschafter dazu
gebracht, die Erneuerung des Rückversicherungsvertrages in Petersburg zu
empfehlen.34 Wir dürfen annehmen,
daß Bismarck auch beim Kaiser eine förmliche Ermächtigung
zur Verhandlung erwirkt hat.35 Am Tage
vor der Entlassung des Kanzlers, am 17. März morgens, war Schuwalow
endlich mit der Ermächtigung des Zaren zurückgekehrt, den
russisch-deutschen Gehemivertrag - und zwar unter Wegfall des geheimen
Zusatzprotokolls - auf sechs Jahre zu verlängern. Er hatte sofort den
Reichskanzler von seinem Auftrage in Kenntnis gesetzt. Der Botschafter hatte von
Bismarck - der vielleicht in dieser Stunde schon das kaiserliche Handbillett
wegen der Kiewer Berichte in Händen
hielt - die Klage vernommen, daß man ihn wegen seiner russophilen
Politik angreife; jedenfalls fühlte er sich mitten in das Endstadium der
Krisis hineingeraten und sah sich keiner verantwortlichen Instanz
gegenüber, mit der er die Verhandlung zu Ende führen könne;
somit hielt er es für richtig, in Petersburg eine ausdrückliche
Entschließung für den Fall der Entlassung Bismarcks zu erbitten.
Über diese Verzögerung verständigte er am 19. März
auch den Grafen Herbert Bismarck; dieser war geneigt, noch mehr als ein nur
formal geschäftliches Hindernis herauszuhören, und meldete dem
Kaiser anderntags den Vorgang in der Form, als ob der Zar auf den Vertrag
verzichtet hätte. Kaiser Wilhelm beeilte sich, auf diese Meldung sofort sein
Einverständnis mit der Erneuerung des Vertrages auszusprechen und den
Staatssekretär zur Mitteilung an Schuwalow zu ermächtigen.36 Ja, er ließ noch in der Nacht den
Botschafter für den andern Morgen um 8 Uhr zu sich bitten, um ihm
seine Bereitwilligkeit in aller Form zu eröffnen; im Eifer des Gefechts
identifizierte er sich völlig mit dem Geheimvertrage, es sei ja nicht die
Politik [388] Bismarcks, es sei die
seines Großvaters und die seinige geblieben.37
Schuwalow bestätigte ihm, daß er nur wegen der Kanzlerkrisis die
Verhandlung unterbrochen und um neue Instruktion gebeten habe. So erschien der
Kaiser, vielleicht ohne sich der Tragweite seines Impulses ganz bewußt zu
sein, als die Verkörperung der Kontinuität. Alles war gesichert: in
den nächsten Tagen wiederholte der Zar erfreut sein Einverständnis
und stellte am 25. März neue Instruktionen für den Vertrag (ohne das
geheime Zusatzprotokoll) aus. Der Abschluß schien nur noch eine Sache der
Form.
Aber inzwischen war im Auswärtigen Amt die Entscheidung gegen die
Erneuerung des Rückversicherungsvertrages
ausgefallen - gegen die Politik Bismarcks, aber auch gegen den Kaiser, der
schon sein Wort für ihre Fortsetzung verpfändet hatte. Am 23.
März fand bei dem Reichskanzler Caprivi eine Besprechung statt, an
welcher der Unterstaatssekretär Graf Berchem und die Geheimräte
von Holstein und Raschdau teilnahmen, und ihr Ergebnis stürzte das
Begonnene über den Haufen.38
Die Argumente gegen die Erneuerung fielen keineswegs leicht ins Gewicht. Unter
den Erlebnissen der letzten drei Jahre hatte Bismarck sich keinen Illusionen
über die Wirksamkeit des Vertrages hingegeben; selbst ein Mann wie
Schweinitz hatte es im November 1889 Bismarck gegenüber für
fraglich erklärt, ob die Verlängerung vorteilhaft sein würde, da
sich der Vertrag in den wirklich kritischen Momenten doch nicht geltend gemacht
habe und fast in Vergessenheit geraten sei.39 Von diesem Zweifel an der
Wirksamkeit des Vertrages ging Holstein, der schon länger der
Wortführer der Kritik war, aus. Dazu gesellte sich eine noch ernstere
Erwägung: Ob dieser Vertrag mit dem Wortlaut und Geist der
übrigen Bündnisverträge vereinbar sei? Man muß
zugeben, daß man darüber verschiedener Meinung sein konnte; wenn
auch die heutige völkerrechtliche Fachkritik Punkte beanstandet, die
damals keine Rolle spielten, und an Punkten vorbeigeht, die damals
(Vereinbarkeit mit dem rumänischen Vertrage) den Ausschlag gaben. Die
neuen Leute, zumal wohl die gradlinige und militärische Natur Caprivis,
scheuten sich, mit einem zweideutigen Spiel ihre Geschäftsführung
zu belasten und dadurch die Festigkeit des Dreibundes zu gefährden. Man
unterlag der allgemeinen Empfindung, daß das komplizierte Spiel mit den
fünf Kugeln nur von der überragenden Persönlichkeit des
Fürsten Bismarck habe gespielt werden [389] können, aber von
anderen Händen unmöglich mit einer Aussicht auf Erfolg
fortzusetzen sei.40
Der politische Kern dieser Abneigung war: man wollte den zügelnden
Druck auf die österreichische Orientpolitik, der ein wesentlicher
Bestandteil der Gesamtpolitik Bismarcks gewesen war, nicht mehr
ausüben - jedenfalls den Russen die Ausübung eines solchen
Druckes nicht mehr vertraglich zusichern. Man
fürchtete - und hier klingen die Erlebnisse der Jahre 1887 und 1888
erkennbar nach - auf diesem Wege äußerstenfalls zur
Preisgabe Österreichs genötigt werden zu können.41 Caprivi wollte den Draht nach
Petersburg darum nicht abreißen lassen, sondern suchte ihn insoweit zu
erhalten, als er ihm nicht den Strom aus denjenigen Leitungen nehme, die seine
Politik mit Österreich und Italien verbanden.42 Aber waren Zeit und Umstände
für eine so kunstvolle Umleitung günstig?
Die Hauptsache des Rückversicherungsvertrages war - nach einem Worte
Schuwalows - nicht der spezielle Vertragsinhalt, der vielleicht niemals
praktisch wurde,43 sondern die Verstärkung der
Gesamtbeziehungen beider Staaten gewesen. Ein Vertrag von einem solchen
Charakter mußte den Russen sogar noch wertvoller erscheinen in einem
Augenblick, wo in Berlin neue Männer die Erbschaft des Fürsten
Bismarck übernahmen. Dieses gestiegene Bedürfnis nach Sicherheit
und Vertrag wurde in Berlin nicht genügend gewürdigt. Man sagte
sich nicht, daß nach der Zusage des Kaisers vom 21. März eine ihr
fast auf dem Fuße folgende Desavouierung der Nichterneuerung des
Vertrages eine ganz andere grundsätzliche Bedeutung geben und die
entsprechenden Schlußfolgerungen in Petersburg nach sich ziehen
würde: auf diese Stelle, möchte man sich vorstellen, würde
Bismarck den Finger gelegt haben. Aber man sieht nirgends, daß in der
Beratung die - auch für den Russen
verwendbare - Tatsache der Zusage vom 21. März eine Rolle
gespielt hätte. Gewiß war die Funktion des Vertrages nur allgemeiner
und begrenzter Natur gewesen. Aber eine Leistung hatte er aufzuweisen, die
Riegelstellung, die Rußland und Frankreich voneinander entfernt gehalten:
wenn man jetzt in Berlin gegen die Schriftlichkeit soviel Bedenken hatte,
mußte man sich doch sagen, daß das Schriftliche zwischen Berlin und
[390] Petersburg bisher etwas
Schriftliches zwischen Petersburg und Paris verhindert hatte. Wenn Caprivi es bei
seinem Amtsantritt vermied, den Rat seines Vorgängers in Anspruch zu
nehmen, so vermißt man am schmerzlichsten, bei seinem Mangel an
zureichender Sachkenntnis, an dieser Stelle Aussprache und Fühlung. Ob
man sich aber verstanden hätte? Je souveräner Bismarck Vater und
Sohn im letzten Kampfstadium sich mit dem Rückversicherungsvertrage
identifizierten, um sich in der Macht zu halten, desto eifriger versteiften sich die
Erben der Macht auf den entgegengesetzten Standpunkt, und in ihre sachlichen
Argumente mischte sich hier und da ein menschliches Motiv. Caprivi konnte
allerdings für sich anführen, daß der in diesen Tagen
eintreffende Botschafter von Schweinitz sich mit seiner großen
Autorität den Bedenken des Auswärtigen Amtes anschloß: in
seiner Gegenwart hielt er am 28. März den entscheidenden Vortrag vor dem
Kaiser. Aber wir wissen auch von Schweinitz, daß
er - bei aller kritischen Haltung gegenüber dem
Vertrage - doch zugleich aus dem taktischen Grunde schwieg, weil er durch
seinen Einspruch den neuen Reichskanzler bei der ersten Aktion gestürzt
haben würde - also auch hier ein persönlicher, unsachlicher
Unterton. So bleibt nur noch die Frage, weshalb der Kaiser seine am 21.
März eingenommene Position so rasch preisgegeben hat. Er konnte
tatsächlich nicht anders, als dem Drucke, um nicht zu sagen, Ultimatum
seines neuen Beraters nachgeben: es sei unmöglich gewesen, so hat er
selbst fünf Jahre später dem Grafen Schuwalow gestanden, innerhalb
von 24 Stunden eine neue Ministerkrise heraufzubeschwören.44 Daß er immerhin mit
gemischten Empfindungen am 29. März im Sinne Caprivis entschied,
scheint doch aus seiner Wendung hervorzugehen: "Nun dann geht es nicht, so leid
es mir tut." Erst später hat die erfolgte Entscheidung jede Erinnerung an die
Vorstadien ausgelöscht, und die irrige Meinung in ihm vertieft, als ob er
Bismarck um des Rückversicherungsvertrages willen entlassen habe.45
Wenn man es beklagt, daß eine so folgenreiche Entschließung nicht
frei von einer unglückseligen Verkettung von Zufällen erfolgt sei, so
muß man um so mehr Gewicht darauf legen, daß das Schicksal, was
es sonst nicht zu tun pflegt, die Gewissensfrage den Männern des neuen
Kurses noch zum zweiten Male gestellt hat. Schon als Schweinitz, in den
nächsten Tagen nach Petersburg zurückgekehrt, dem Zaren und
Herrn von Giers den negativen Ausfall der Entscheidung meldete, [391] hatte er den Eindruck,
daß die Russen angesichts der unerwarteten Tatsache dieser
plötzlichen Isolierung doch ihre Sehnsucht nach irgend etwas
Geschriebenem kaum unterdrücken könnten; auch der Zar
äußerte sich diesmal wärmer als sonst, wenn nur
Rußland und Deutschland feste Freundschaft hielten, so sei Ruhe.46 Man fürchtete die
Möglichkeit einer grundsätzlichen Wendung in Berlin und verfiel
später, um sich den Umschwung zu erklären, sogar auf die
unbegründete Vermutung, daß die Erneuerung auf Österreichs
Bitte nicht zustande gekommen sei.47 Um dem auf den Grund zu gehen,
entschloß man sich, dem deutschen Partner ein Stück weiter
entgegenzukommen, als es sonst russischer Stil war. Am 14. Mai 1890 legte Giers
dem Botschafter den Text von Schuwalows Telegramm vom 21. März vor,
um auf diese Weise einen Rückweg zu erneuter Verhandlung zu finden. Er
erklärte sich zufrieden, wenn das Vakuum, das mit dem Ablauf des
Vertrages am 18. Juni bevorstand, auf irgendeine Weise, durch einen
Notenaustausch oder vielleicht durch einen Briefwechsel der Monarchen
ausgefüllt werde; um diesen Weg zu erleichtern, ließ er außer
dem ganzen Zusatzprotokoll auch einzelne Verpflichtungen des Vertrages fallen.
Mit Recht entnahm Schweinitz aus diesem Vorgehen, daß der Minister
triftige Gründe haben müsse, um in so dringlicher Weise auf das
Verlangen nach einer schriftlichen Abmachung zurückzukommen, "durch
welche vor allem anderen der russischen Regierung die Möglichkeit
genommen wird, sich mit Frankreich zu gemeinschaftlichem Vorgehen zu
koalieren". Der Botschafter, der vermutlich seine Haltung Ende März
bedauerte, betonte mit Ernst: "Ich darf hierbei nicht unterlassen, die
unvorgreifliche persönliche Ansicht auszusprechen, daß, wenn wir
die weit entgegenkommenden Anträge des russischen Ministers
völlig abweisen, er oder sein Nachfolger gezwungen sein würde, die
Anlehnung, die er bei uns nicht findet, anderweit zu suchen." Auch in einem
Privatbrief an den Reichskanzler riet er dringlich, die Hand, die der Zar nochmals
ausstrecke, nicht zurückzustoßen: bei den herabgeminderten
russischen Ansprüchen scheine ihm eine schriftliche Vereinbarung wohl
möglich, die das Bekanntwerden nicht zu scheuen habe
und - man glaubt das nüchterne Urteil Bismarcks zu
hören - "uns doch die Neutralität Rußlands mindestens
für die ersten vier Wochen eines französischen Angriffskrieges
sichern würde".
Trotz dieser Mahnung fielen die Voten des Auswärtigen Amtes am 20. Mai
(Marschall; Holstein; Kiderlen; Raschdau) erneut gegen jedes Eingehen aus. Nach
dem Vortrag Caprivis entschied der Kaiser am 23. Mai, daß die russischen
Anerbietungen als definitiv erledigt anzusehen seien. In den Motiven der
Ablehnung überwog das Gefühl, sich Vertrauen erwerben zu
müssen, und die Angst vor russischen Indiskretionen. Bei aller Kritik im
einzelnen ging man allzu leicht [392] darüber hinweg,
daß die russischen Konzessionen, die der deutschen Gewissenhaftigkeit die
Annahme erleichtert haben würden, zugleich die Ablehnung erschwerten,
das Odium des Abbruchs erhöhten. Stieß man erneut die beeiferten
russischen Bemühungen zurück, so wurde dadurch dem
Kanzlerwechsel, was eigentlich nicht in seinem Sinne lag, der Anschein einer
gewollten und grundsätzlichen Neuorientierung gegeben. Schon darum
hätte es sich empfohlen, um mit Bismarck zu sprechen, das Gespinst des
ablaufenden Bündnisses "weiterzuspinnen, solang noch ein Faden daran
ist". Aber eben diese Tradition stand nicht mehr in höchster Geltung,
wenigstens an dieser Stelle war eher die Gegensätzlichkeit zu dem alten
Kurse schon zu einem wirksamen Argument gegen den Vertrag geworden.48 Vielleicht hätte man sogar in
dem Einlenken ein Eingeständnis gesehen, lieber in den Schatten des
Titanen zurückzukehren.
In den ressorttechnischen Erwägungen vom Mai 1890 vermißt man
die beherrschende Gesamtansicht des Staatsmannes, der die letzten Konsequenzen
zu Ende denkt. Die nunmehr offene Möglichkeit eines
russisch-französischen Vertrages und die daraus fließenden
Rückwirkungen auf den Dreibund selbst, vor allem aber auf die
deutsch-englischen Beziehungen, weitergreifend das ganze Bündnissystem
und das innerste Geheimnis seiner Elastizität oder seiner wahren
Schwergewichtsverteilung: alles das ist in der entscheidenden Stunde nicht zur
Sprache gekommen. Caprivi warf wohl die keineswegs unberechtigte Frage auf:
was sind heute Bündnisse ohne öffentliche Meinung, aber Bismarck
würde ihm geantwortet haben, daß er sich der Begrenztheit der
Höfe und Kabinette stets bewußt gewesen sei, aber ihr reelles
Gewicht, solange es bestehe, in der Dynamik der Mächte in Rechnung
stelle. Man meint eine Kluft in der politischen Denkweise zu ahnen. Bismarck
lebte in der unmittelbaren Anschauung einer Wirklichkeit, in der er sich ein
Menschenalter bewegt hatte, während Caprivi nach einer begrifflichen
Klarheit der Dinge strebte, um sich in der ihm fremden Welt zurechtzufinden. So
geschah es, daß er und seine Berater sich zutrauten, den alten Kurs, mit
Ausnahme eines allzu gewagten Außenstückes, weiterzusteuern,
während sie mit diesem Außenstück (so wenig es, für
sich allein genommen, das letzte Wort Bismarcks enthielt) zugleich den inneren
Zusammenhang der bisherigen Politik verletzt hatten.49
[393] Als Schweinitz Herrn
von Giers den negativen Bescheid am 4. Juni eröffnete, konnte er
feststellen, daß dieser sogar jetzt noch seine Wünsche nicht ganz
aufgebe, sondern die goldene Brücke eines identischen Notenaustausches in
Erwägung ziehe. Der Zar entschied am 11. Juni, daß die
Würde verbiete, die Dinge zu verfolgen, wenn die Deutschen nicht
erneuern wollten: "Woran wir sind, werden wir ja sehen, wenn der Kaiser und
Caprivi hierher kommen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß in der
deutschen Politik eine Kursänderung eingetreten ist und wir müssen
mit allen Möglichkeiten rechnen."
In denselben Wochen, in denen die deutsch-russischen Beziehungen in der Stille
einer grundstürzenden Wendung entgegenreiften, vollzog sich eine
Auseinandersetzung mit England, die wenigstens in der Welt den Eindruck einer
bedeutsamen Wendung hervorrief. Sie knüpfte an eine Verhandlung des
alten Kurses, an jenen Anlauf des Frühjahrs 1889 an, eine Reihe von
Reibungen in der deutsch-englischen Kolonialehe durch einen umfassenden
Ausgleich zu beheben; wir erinnern uns, daß dabei schon von englischer
Seite auch die Austauschmöglichkeit
Helgoland - Südwestafrika gestreift wurde. Bismarck hatte die
Anregung, da er in England eigentlich auf "großes Wild" zu jagen versucht
hatte, bis zu einem günstigen Augenblick hinausgeschoben. Gegen Ende
des Jahres war Salisbury auf den Gedanken in der Form zurückgekommen,
womöglich alle kolonialen Differenzen durch einen Schiedsspruch aus der
Welt zu schaffen: darauf war Bismarck, der damals entschieden für
Einschränkung weiterer Erwerbungen war, grundsätzlich
eingegangen.50 Wohl infolge der Kanzlerkrisis
verzögerte sich die Einleitung der Verhandlungen, und erst einige Wochen
nach dem Rücktritt Bismarcks erschien der englische Kommissar in Berlin.
Es stellte sich heraus, daß es den Engländern nicht nur, aus
Handels- und Prestigegründen, auf das Protektorat über die Insel
Sansibar ankam, sondern ebenso sehr im Zusammenhange ihrer Sudanpolitik auf
die Erwerbung von Witu,
dessen Übergang in deutsche Hände der
eigentliche Keim des Anstoßes war. In den Verhandlungen, die unter
Aufgabe der Schiedsspruchlösung seit Mitte Mai in London
weitergeführt wurden, bot man englischerseits gegen Sansibar und Witu
eine Teilung der Gebiete nordwestlich vom
Nyassa-See und südwestlich des
Tanganika-Sees, sowie die Insel Helgoland: nicht mehr in
Deutsch-Südwest, sondern in der Begrenzung von
Deutsch-Ostafrika lag die Gegengabe für die Nordseeinsel. Die
Verhandlung über die Grenzlinien im Bereich der großen Seen wurde
ohne allzu große Schwierigkeiten trotz der in England von Stanley [394] geschürten
kolonialen Erregung bis zum 14. Juni zum Ende gebracht.51 Am Tage vor dem Jahrestage von
Waterloo wurde der provisorische Vertrag veröffentlicht.
In der großen Literatur über den Vertrag sind die
entgegengesetztesten Urteile ausgesprochen worden, und es ist kein Wunder,
daß sie auch innerhalb der beiden Lager so weit auseinandergingen.52 Die Perspektiven reichen zu tief in
allgemeine politische Zusammenhänge
hinein - von den lokalen innerafrikanischen Grenzziehungen bis in die
imperialistischen Entwürfe der Rhodes und Milner vom Kap nach Kairo,
und von dem roten Sandsteinfelsen und der Zukunft des Nordostseekanals bis in
die verhängnisvolle maritime Rivalität der beiden Völker, die
in den Weltkrieg ausmündete. Wenn auch ein gewisser Abstand von den
Dingen nötig ist, so gerät man leicht in Entwicklungen hinein, die
damals auf keiner Seite geahnt wurden.
Daß auf englischer Seite die Kolonialen trotz ihres anfänglichen
Lärms befriedigt waren, liegt auf der Hand: die weltpolitischen Interessen
des Empire, für den Fall eines Vorgehens gegen den Mahdismus im Sudan
auch von Süden her, ließen jedes Opfer für Witu und Uganda
erträglich erscheinen. Bei der Preisgabe Helgolands53 empfand man die Abtretung von
britischen Untertanen, ohne Plebiszit an eine fremde Macht, nicht angenehm; es
war ein magerer Trost, wenn die vor dem Tage des Vertragsschlusses geborenen
Helgoländer von der deutschen Militärpflicht befreit blieben.
Schwerer wog für das englische Denken der mögliche
marinepolitische Wert Helgolands. Theoretisch ließen sich wohl Stimmen
vernehmen, daß ein zweites Gibraltar in der Nordsee sich hätte
daraus machen lassen, aber da die Möglichkeit eines
deutsch-englischen Krieges außerhalb jeder Berechnung lag, so hatte man
keine Antwort auf die Frage: wozu? Darüber übersah man den
marinepolitischen Wert einer Befestigung der Insel für den
Nordostseekanal, oder man zog es vor, nicht davon zu sprechen.
Auf der deutschen Seite war die erregte Kritik der Kolonialen um so lauter, als ihr
eine klare Einsicht der Marine von der anderen Seite nicht entgegentrat: diese
Kritik, die zur Gründung des Alldeutschen Verbandes führte,
schoß allerdings [395] weit über das
Ziel hinaus und stellte dem politischen Augenmaß einer nationalistischen
Agitationspartei von vornherein kein günstiges Prognostikon. Sie fand
einen gewissen Widerhall, weil auch Bismarck, bei diesem ersten
populären und umstrittenen Akte des neuen Kurses, sich unter die Kritiker
begab. Es ist aber keine Frage, daß er den Wert von Sansibar
überschätzte und den Zukunftswert von Helgoland
unterschätzte. Mochte sich der Vertrag noch ein wenig günstiger
schließen lassen, die Richtung der Vertragstendenz lag doch auf der Linie
einer Politik, die auch unter Bismarck über kolonialpolitische
Einzelinteressen leichten Herzens hinwegzuschreiten gewillt war.54 Die maritime Bedeutung Helgolands
aber bedarf keiner Erörterung. Wenn die Erwerbung
Schleswig-Holsteins ihr weltpolitisches Gesicht erst durch den Bau des
Nordostseekanals erhielt, so hat
der - von Bismarck im Jahre 1884
vorbereitete - Gewinn der Insel dieses Werk gekrönt: dieses "letzte
Stück deutscher Erde" (wie man betont kleindeutsch damals sagte)
für den Nationalstaat führt in neue Möglichkeiten des
deutschen Schicksals hinüber, die auf dem Wasser lagen. Die ganze
Lebensmöglichkeit einer deutschen Flotte, wie sie in den nächsten
Jahrzehnten gebaut wurde, hing an dieser Verfügung über die
Küstengewässer vor der eigenen Tür.
Wenn bei der Kritik Bismarcks ein gewisses Unbehagen mitspielte, daß der
Vertrag mit der (von ihm nur vermuteten) Nichterneuerung des
Rückversicherungsvertrages gleichzeitig ins Leben trat, so muß
allerdings betont werden, daß irgendein gewollter oder auch nur
bewußt empfundener Zusammenhang der beiden Aktionen, wie man ihn
wohl lobend oder tadelnd festzustellen vermeint hat, tatsächlich nicht
besteht. Es war gerade das Charakteristische dieser Staatskunst, daß dieser
Zusammenhang nicht bestand, und in diesem Sinne mag man sagen, daß die
Datierung des Vertrages auf den Waterlootag ihm ohne Grund ein zu
anspruchsvolles Relief gab. Denn in Petersburg wurde man durch den Vertrag, so
wenig er das Licht zu scheuen hatte, doch in der Empfindung des
Mißtrauens bestärkt, die seit dem Abbruch der eigenen Verhandlung
zurückgeblieben war: daß man jetzt wirklich in Berlin einen anderen
Kurs verfolgen wolle.
Als im August 1890 Kaiser Wilhelm und Caprivi zum Besuch am russischen Hofe
in Narva erschienen, konnten sie den beruhigenden Trost, den der andere
hören wollte, nicht verabreichen; so sehr auch Caprivi betonte, daß
man in Bulgarien und an den Meerengen sachlich dieselbe Linie wie bisher
verfolgen wolle, er konnte mit mündlicher Erklärung das
gestörte Vertrauensverhältnis nicht wiederherstellen. Selbst als Giers
in einem letzten Nachklang der Besprechungen sich das Ergebnis schriftlich
bestätigen lassen wollte, verharrte der Reichskanzler steif bei seinem
Grundsatz: "ich bin fest entschlossen, nichts zu schreiben; aber ich [396] bin ein gewissenhafter
Mensch, und Sie können sich auf meine Gewissenhaftigkeit verlassen."55 Am 23. September 1890
notierte Graf Lamsdorff in sein Tagebuch: "So ist also unser Geheimvertrag mit
Deutschland endgültig abgelaufen." Der Welt aber blieb nicht unbekannt,
daß die Kaiserzusammenkunft einen sehr kühlen Verlauf genommen
habe.
Dieser Ausgang wirkt deswegen so überraschend und entgegen einer
tieferen Vernunft, weil man seit dem Versinken des
Rückversicherungsvertrages in Berlin eher friedlicher gegen die Russen
gesinnt war, als es während des Vertragsverhältnisses manchmal den
Anschein gehabt hatte. Wie hätte der Kaiser, der vor dem deutschen Volke
die Entlassung Bismarcks zu tragen hatte, auch noch die Last einer
Kriegsverantwortung auf sich nehmen können! Schon während der
Kanzlerkrisis war die Stimme des Grafen Waldersee im Rate des Kaisers eher
schwächer als starker geworden:56 fast zwangsmäßig
mußte der neue Kurs, gerade weil er den Draht nach Petersburg fallen
ließ, von einem General abrücken, dem nun einmal der Ruf der
Russenfeindschaft anhaftete. Es waren zwar persönliche
Konfliktsgründe, die den Kaiser im Winter 1890/91 zur Dienstenthebung
des auch ihm gegenüber kritischer gewordenen Generalstabschefs
führten, aber Wilhelm war sich doch wohl bewußt, daß er mit
dem Opfer Waldersees zugleich eine Garantie seines Friedenswillens gab. So war
das merkwürdige Ergebnis, daß der
Präventiv-Kriegsgedanke von 1887/88, von dem aus Waldersee in die
verhängnisvolle Opposition gegen die Bismarckische Außenpolitik
geraten war, in demselben Augenblick wie der umkämpfte Geheimvertrag
von der Tagesordnung verschwand.
Die Staatskunst, die nach Osten hin eine "Vereinfachung" ihrer
Vertragsverpflichtungen hatte eintreten lassen, war schon dadurch darauf
angewiesen, ein stärkeres Gewicht auf den Dreibundvertrag zu legen. Da
die Verträge noch einige Zeit liefen, waren Deutschland und
Österreich im Januar 1891 geneigt, gegenüber dem Drängen
Crispis mit der Erneuerung zu warten. Erst der Sturz Crispis und die Nachfolge
des Marchese di Rudini im Februar 1891 veränderte die Lage. Es
hieß von Rudini, daß er sich noch vor kurzem nur kühl
über die Bedeutung des Bündnisses mit den Mittelmächten
ausgesprochen hätte; schon setzte Frankreich, das mit dem Vorschlage
eines Mittelmeer-Status quo an Italien herangetreten war, alles daran, den
Dreibund nach Möglichkeit aufzulockern. Doch stellte sich bald heraus,
daß die italienische Regierung zur Erneuerung bereit war, und nur die
Pariser Versuchung geschickt zum Anlaß nahm, um eine Erweiterung des
Vertrages durchzusetzen. Schon Crispi hatte auf einen [397] Abschluß von
Handelsverträgen als eine Lebensnotwendigkeit für den politischen
Dreibund gedrängt. Als Rudini am 9. März 1891 seine Bereitschaft
zur Vertragsschließung kundgetan hatte, erfuhr man bald, daß die
Italiener auf dem schon 1887 mit Erfolg beschrittenen Wege der Erweiterung der
Vertragsbasis von neuem vorrückten. Sie wünschten formell eine
Vereinheitlichung der bisher separat geschlossenen Verträge, weil sie dem
Wesen des Dreibundes einen prägnanteren Ausdruck gebe; sachlich aber
wünschten sie die Einbeziehung der nordafrikanischen
Interessensphäre Italiens in die vertragsmäßig gegen
französische Angriffe zu schützenden Positionen; insbesondere
verlangte man deutsche und österreichische Mitwirkung bei dem
Abschluß eines italienisch-englischen Abkommens, das die begrenzteren
älteren Abkommen auch über die von Italien betonten eigentlichen
Mittelmeerfragen ausdehnte. Diese Erweiterung über den natürlichen
Machtradius der Mittelmächte hinaus (man erinnere sich an die scharfe
Abneigung Bismarcks gegen die ersten Anfänge),57 hatte allerdings eine aktive englische
Mitwirkung zur Voraussetzung. Tatsächlich erleichterte Lord
Salisbury - indem er ein besonderes Abkommen mit Italien über
Nordafrika schloß - auch die Erneuerung des Dreibundes auf dieser
breiteren Grundlage.58 So liegt die Erneuerung der
Dreibundsverträge vom Mai 1891 immerhin auf der im Juni 1890 durch
den deutsch-englischen Vertrag eingeleiteten Linie.
Der gewandteste Publizist, den der nachbismarckische "neue Kurs" gefunden hat,
zieht aus diesen Hergängen den Schluß: "An die Seite der drei
mitteleuropäischen Mächte ist Großbritannien getreten, indem
es sich zur Mitverteidigung eines der drei Verbündeten verbindlich
gemacht, diese Verbindlichkeit auf den Fall eines durch
Bündnisverpflichtungen Italiens hervorgerufenen Krieges ausgedehnt und
außerdem zum Zustandekommen des neuen Dreibundvertrages direkt
mitgewirkt hat."59 So schien allerdings die
Dreibundpolitik eine leichte Achsenverschiebung vorzunehmen: die
Mittelmeerausdehnung und die verstärkte Fühlung mit England, die
Entlastung Österreichs von dem geheimen Druck des unsichtbaren
Rückversicherungsvertrages wirkten in einer Richtung
zusammen.
Unter dem sichtbaren Zeichen einer engeren Verknüpfung Englands mit
dem Dreibunde stand der Besuch des Kaisers in England, der vom
4. - 13. Juli 1891 unter großem Jubel verlief; auch das
persönliche Verständnis zwischen dem Kaiser und Lord Salisbury
schien sich gut anzulassen. Unmittelbar darauf fanden die neuen
Mittelmeerabkommen in den Besuchen der britischen Flotte in Fiume [398] (in Gegenwart des Kaisers Franz Joseph) und in Venedig (in Gegenwart des Königs Humbert)
einen festlich-symbolischen Ausdruck. Man stand im Honigmond des flirt
anglo-triplicien, mit einem tiefen Gefühl der Befriedigung und zu allen
Illusionen bereit.60
Auch wer die günstigen Aspekte dieses Augenblicks zu würdigen
bereit ist, wird doch nicht verkennen, daß die elastische Gesamtstruktur des
Bismarckischen Bündnissystems einer mehr starren Ordnung und einer
leichten Verschiebung nach der einen Seite Platz zu machen beginnt. Inwieweit
das auf die vom deutschen Interesse dem Dreibund vorbehaltene Funktion in der
europäischen Staatengesellschaft zurückwirkte, wird sich erst dann
herausstellen, wenn die durch diese Verschiebung ausgelösten neuen
Gruppierungen erkennbar werden. Einstweilen suchte Caprivi die Standfestigkeit
des erneuerten Dreibundes auch von innen her, vermöge einer Verankerung
der Bündnisverträge in der öffentlichen Meinung und in den
wirtschaftlichen Interessen der beteiligten Länder, zu erhöhen.
Gleichzeitig mit den Dreibundverhandlungen begannen im Mai 1891
Verhandlungen zwischen Deutschland und Österreich, dann auch mit
Italien, Belgien und der Schweiz über den Abschluß von
Handelsverträgen: im Dezember 1891 wurden sie im Reichstage
angenommen.
Wirtschaftsgeschichtlich bedeuten die Handelsverträge von 1891
eine erste Auflockerung des von Bismarck
geschaffenen Schutzzollbündnisses
zwischen Großgrundbesitz und Großindustrie, sie enthalten die erste
Keimzelle einer allgemeinen Entwicklung zu einer freieren Zollpolitik. Das Wort
Caprivis: "Wir müssen exportieren, entweder wir exportieren Waren oder
wir exportieren Menschen; mit dieser steigenden Bevölkerung, ohne
Industrie, sind wir nicht in der Lage, weiter zu leben", enthielt für manchen
eine bittere Wahrheit, aber sie ließ sich nicht bestreiten, so wenig wie das
Überwiegen der nützlichen Folgen, die der deutschen Wirtschaft aus
den Handelsverträgen erwuchsen.
Aber die Verträge wurden zugleich unter dem politischen Gesichtswinkel
betrachtet. Nicht nur die freihändlerischen Vertragsfreunde bezeichneten
die handelspolitische Verbindung als eine neue Klammer des Dreibundes. Auch
Caprivi griff zu dem Argument, daß wir unsere Verbündeten, ihre
militärische, moralische, wirtschaftliche Widerstandskraft stärken
müßten; das galt vor allem für Italien, dessen innere
Kräfte einer Großmachtspolitik noch nicht entsprachen.61 [399] Dagegen setzte von
seiten Bismarcks, der hier die erste große Fehde gegen seinen Nachfolger
eröffnete, eine vorwiegend politisch begründete Kritik ein. Zwar
wogen nicht alle seine Argumente gleich schwer, wie z. B. seine Sorge, die
Verquickung der wirtschaftlichen und politischen Fragen sei geradezu geeignet,
die Volkstümlichkeit eines Bündnisses zu gefährden. Der Kern
seiner Kritik lag überhaupt im rein Politischen: er bekämpfte die von
ihm vermutete Neigung des neuen Kurses, unbedingte Anlehnung an
Österreich und das Dreibundprinzip zu suchen und die bisherige neutrale
Haltung in der Orientpolitik aufzugeben. Er befürchtete eben, was er in den
letzten Jahren immer wieder vermieden hatte, eine unzulässige
Verschiebung des Bündnisinhaltes, und sah in dem Handelsvertrage ein
politisches Dokument, das die wandelbare strategische Position des Dreibundes
als eine absolute Stellungnahme erstarren lasse: "Auf diesem Wege würde
Deutschland allmählich in ein Abhängigkeitsverhältnis zu
Österreich gebracht, das seiner Machtstellung und seiner nationalen
Würde wenig angemessen wäre; es würde schließlich
Gut und Blut für die Wiener Balkanpolitik riskieren, und außerdem
noch auf dem Wege der Handelsverträge Tribut zahlen müssen."62 Wenn einzelne Argumente auch weit
über das Ziel hinausschossen, so lag doch die berechtigte Sorge zugrunde,
seine Nachfolger möchten in der allgemeinen Haltung zur Wiener Politik
sich allzu weit mitziehen lassen. So führte Bismarck den Kampf gegen die
Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages, den er öffentlich
nicht führen konnte,63 auf
diesem handelspolitischen Nebenschauplatze, und seine Klage, Österreich
glaube, daß die leitende Stellung im Bunde in seine Hände
übergegangen sei, übertrieb vielleicht im Augenblick, kennzeichnete
aber immerhin eine Gefahr, die am äußersten Ende des neuen Weges
lag.
Das Bild der europäischen Staatengesellschaft, in dem Bismarck lebte, die
unbedingte Autonomie des Politischen und die individuelle Entscheidung der
leitenden Staatsmänner, die strenge Scheidung der politischen und
wirtschaftlichen Sphäre stimmte nicht mehr ganz zu den
Überzeugungen Caprivis, daß die Verflechtungen der internationalen
Wirtschaft in wachsendem Umfang ein Stück der Verflechtung der
internationalen Politik ausmachten. Wenn Caprivi die Position Italiens, das
dauernd den handelspolitischen Lockungen Frankreichs ausgesetzt war, mit
wirtschaftlichen Mitteln zu stärken suchte, so ließ sich manches
dafür ins Feld führen; wenn er aber von den Handelsverträgen
die Wirkung erwartete, daß die politischen Verträge sich nunmehr
tiefer in die Seelen der Völker einleben würden, so war das eine
Illusion, der zuliebe man den Wert der Bündniskonstruktionen
verabsolutierte. Gewiß begann das populäre und das wirtschaftliche
Motiv - davon hatte Caprivi eine lebendige
Vorstellung - sich stärker in der Politik der Großmächte
zur Geltung zu bringen; aber es blieb doch immer nur
sekundär - hier traf Bismarcks Kritik das
Richtige - gegenüber den [400] häufig nur
instinktiv empfundenen Lebensnotwendigkeiten, von denen die Völker sich
bei ihren großen Entscheidungen leiten lassen. Diese Verschiedenheit der
grundsätzlichen Einstellung sollte noch deutlicher sichtbar werden, als die
Handelsvertragspolitik von 1891 mit einer gewissen Unvermeidlichkeit zum
rumänischen und zum russischen Handelsvertrag führte.
Einstweilen aber wenden wir uns von dem neukonsolidierten Mitteleuropa zu den
lange vorbereiteten Entscheidungen, die nunmehr die Flügelmächte
des Ostens und Westens aneinanderbinden werden.
Daß die russische Politik angesichts der Nichterneuerung des
Rückversicherungsvertrages und der Umstände, unter denen er nicht
erneuert wurde, eines Tages die Anlehnung an Frankreich suchen mußte, lag
auf der Hand.64 Tatsächlich fanden auch schon
im Sommer 1890 die ersten Besprechungen über ein Einvernehmen des
russischen und des französischen Generalstabs statt. Selbst die deutschen
Bemühungen um französische Freundschaft (Reise der Kaiserin
Friedrich nach Paris, Februar 1891)65 trugen nur dazu bei, auch von
russischer Seite den Franzosen Zeichen freundschaftlichen Entgegenkommens zu
bewilligen, wie man sie bisher vermieden hatte. Dann wurde die Erneuerung der
Dreibundverträge in Petersburg zu einem Anlaß genommen, in die
formelle Vertragsverhandlung einzutreten. Wenn die Russen sich darauf beriefen,
daß sie sich bedroht gefühlt hätten, daß erst die
"sensationellen" Begleiterscheinungen der
Dreibund-England-Entente im Juli 1891 sie veranlaßt hätten, einen
Gegenbau zu errichten, so mag daran so viel richtig sein, daß der Zar unter
dem Eindruck dieser Vorgänge die letzten Hemmungen überwand,
die ihn bisher von einem vertraglichen Abschluß mit Frankreich
zurückgehalten hatten.66 Man war ja in der glücklichen
Lage, auf einen Partner zu stoßen, bei dem das Bündnis mit
Rußland seit zwanzig Jahren ein Glaubenssatz der Regierungen und des
Volkes war; die Franzosen hatten seit langem ausgesprochen, daß eine auf
tieferen Sympathien beruhende Verbindung keiner diplomatischen Ratifizierung
bedürfe; der Russe hatte freie Hand, dieses ungeschriebene Bündnis
in dem Augenblick, wo die europäische Lage es ihm angezeigt erscheinen
ließ, und in den Stufen, in denen er es für wünschenswert hielt,
in ein geschriebenes zu verwandeln.
Am 23. Juli lief eine französische Flotte in Kronstadt ein, und an
demselben Tage begannen in Petersburg (durch Giers und Laboulaye) und in Paris
(durch [401] Ribot und
Mohrenheim) Verhandlungen, die bald zum Abschluß einer Entente
führten. Der Austausch der Noten zwischen Giers und Ribot am 21. bis 27.
August 1891 begründete eine so formelle Verpflichtung, daß sie
praktisch einem Vertrage gleichkam.67 In diesem
Sinne faßte auch der Zar die Tragweite des Notenaustausches auf: wenn der
Krieg ausbreche, würde er sich als verpflichtet betrachten, seine Truppen
mit den französischen Truppen zu gemeinschaftlichem Handeln zu
vereinen. So viel Stufen auch noch durchlaufen werden mußten, um den
Notenaustausch durch eine Militärkonvention zu ergänzen und dem
Ganzen durch eine Ratifizierung der Staatshäupter eine feierliche
Bestätigung zu geben, der Schritt zur vertragsmäßigen
Bindung war geschehen, der nunmehr von den europäischen
Mächten als ein sicherer Faktor in ihre Rechnung gestellt wurde.
So waren die Tage von Kronstadt der Auftakt eines weltgeschichtlichen
Ereignisses. Der Eindruck der Massendemonstration eines begeisterten Volkes,
das schon in diesem Augenblick das
russisch-französische Bündnis als so gut wie vollzogen ansah, war
überwältigend. Der russische Absolutismus fühlte sich in
demselben Atemzuge seinem Volke innerlich verbunden und in Europa erhoben,
an einer Wende der Zeiten angelangt. "Die Lage ist verändert. Von einer
deutschen Hegemonie ist nicht mehr die Rede", glaubte Giers bereits urteilen zu
dürfen, nachdem er während eines Jahrzehntes aus dem Schatten
Bismarcks nicht herausgetreten war. Unter dem Eindruck dieser Wendung wird
auch die deutsche Politik, soweit diese Darstellung sie zu verfolgen hat, wie unter
einem Schicksal stehen. Aber ihre Wirkungen reichen weit darüber hinaus.
Kluge Beobachter fühlten damals schon, daß diese russischen Massen
von Kronstadt zum ersten Male sich des Schwergewichts bewußt wurden,
das sie in dem Riesenreiche zur Geltung zu bringen vermochten,68 und in weiter Ferne sieht man den
tragischen Ausgang des russisch-französischen Bündnisses für
die Zarendynastie heraufziehen.
Der russisch-französische Notenaustausch vom 27. August 1891 sah eine
vertrauliche Fühlung über gemeinsame Maßregeln vor, falls
eine der beiden Mächte von einem Angriff bedroht würde. Der
Anwendung dieser Verpflichtung, die Frankreich vergeblich auf Europa zu
beschränken versucht hatte, wurde auf russisches Verlangen ein
allgemeiner Charakter gegeben. Es lag in der Natur der Dinge, daß nach
dem ersten Schritte die weiteren Schritte nicht lange ausbleiben. Der
entscheidende Übergang zu formulierten militärischen
Verbindlichkeiten erfolgte durch den Abschluß einer
Militärkonvention am 17. August 1892. Der Hauptartikel lautete: "Beide
Mächte verpflichten sich, falls eine von ihnen von einem Mitgliede des
Dreibundes mit Unterstützung des Dreibundes
an- [402] gegriffen werden sollte,
ihre Hauptmacht gegen Deutschland zu werfen." Fast ebenso bedeutsam war der
zweite Artikel: "Falls die Streitkräfte des Dreibundes oder einer der
Mächte des Dreibundes mobilisiert werden sollten, werden Frankreich und
Rußland auf die erste Nachricht dieses Vorganges und ohne daß es
vorherigen Einvernehmens bedürfte,69 unverzüglich und gleichzeitig
die Gesamtheit ihrer Streitkräfte mobilisieren und sie so nahe wie
möglich an ihren Grenzen versammeln."
Die Verträge, für die Dauer des Dreibundes abgeschlossen, lehnten
sich in gewisser Weise an seine Bestimmungen an, tatsächlich gingen sie,
auf das Maß der ihnen innewohnenden Aktivität beurteilt, weit
über seine militärische Schlagfertigkeit hinaus. Die Verpflichtung
der Mobilisierung, die noch Bismarck in der Krisis von 1887/88 mit so viel
Vorbehalten zu umgeben gesucht hatte,70 setzte hier automatisch und
unbegrenzt ein, wurde auch grundsätzlich mit dem Kriegsausbruch
gleichgesetzt. Es ist überhaupt bezeichnend, wie rasch nach dem
diplomatischen Abkommen präzise militärische Vereinbarungen,
insbesondere über Mobilisierung in Kraft getreten sind, während
zwischen den beiden Zentralmächten trotz 35jährigen Bestehens
ihres Bündnisses nichts derartiges erfolgte.71 Aber auch von den technischen
Einzelheiten abgesehen, hatte das russisch-französische Abkommen einen
viel eindeutigeren Offensivcharakter, als er der verwickelten
Bündnismaschinerie Bismarcks eigen war. Vor allem die betonte Spitze
gegen Deutschland, die sich mit der Zeit nur noch schärfer herausarbeitete,
wurde durch die Natur des Zweifrontenkrieges, durch die gleichgerichteten Ziele
der sich in die Hände arbeitenden Generalstäbe, von einem
militärischen Angriffswillen kommandiert, wie er sich in den
deutsch-österreichischen Kriegsbesprechungen kaum entwickeln konnte.
Das entscheidende Wort über die größere oder geringere
Friedensgefährlichkeit solcher militärischer Bestimmungen wird
freilich nicht allein durch die technische Formulierung gesprochen, sondern von
dem Geist der politischen Kräfte, die dahinterstehen und die Maschine in
Bewegung setzen.
Das Frankreich von 1891, das sich dem ersehnten Abschluß mit
Rußland näherte, hat nach außen gern betont, daß es
nunmehr erst aus seiner Isolierung herausgetreten und in den Besitz der wahren
Sicherheit gelangt sei. Das ist die Formel, die Dinge ausschließlich defensiv
zu sehen: sie deckt einen politischen Machtinstinkt, der auch den offensiven Sinn
der Dinge kennt und von dem Gedanken der Aktion lebt. Gewiß
bemühte sich Herr von Giers, als er im November 1891 auf der
Rückreise von Paris durch Berlin kam, beruhigend anzudeuten, das Wort
"Alsace" sei nicht einmal ausgesprochen worden. Daß es,
unausgesprochen, für die französische Seite den Sinn der Dinge
enthielt, wußte auch er. Einige Wochen vor Kronstadt sagte der
französische General Marquis de Gallifet [403] zum deutschen General
von Loë: in beiden Nationen wünsche niemand den Krieg,
aber alle vernünftigen Leute seien der Ansicht, daß er wegen
Elsaß-Lothringen unvermeidlich
sei - wenn Rußland den Krieg gegen Deutschland beginne, so sei gar
keine Regierung imstande, Frankreich zurückzuhalten. Ja, der Franzose
schreckte nicht vor der prophetischen Wendung zurück: es würde nur
eines Zwischenfalles auf dem Balkan bedürfen, um den friedlichen Kaiser
von Rußland zu zwingen, den Krieg gegen Österreich zu
beginnen.72 Schon vor dem Notenaustausch
machte man sich in Paris keine Illusion darüber, was es eines Tages
bedeuten mußte, wenn der
elsaß-lothringische Gegensatz mit irgendeinem Brandherd des Orients in
einen Vertragszusammenhang gebracht wurde.
Aber auch die Freunde Deutschlands konnten aus dieser Feststellung gewisse
Schlußfolgerungen ziehen. Die französische Flotte wurde auf ihrer
Rückfahrt aus Kronstadt von der englischen Regierung, auf
vorgängige Anfrage von Paris, nach Portsmouth eingeladen. Dieser
Meisterzug Salisburys, der unmittelbar vorher die Höhe seiner
Intimität mit dem Dreibunde erstiegen hatte, besagte nichts für die
praktische Politik des Augenblicks, aber er deutete symbolisch und vor der Welt
auf einen Weg hin, auf dem England in dem nunmehr in Dreibund und Zweibund
geteilten Europa in die Hinterhand gelangen konnte. Salisbury erkannte diese
Möglichkeit so früh, weil er im Grunde seines Herzens immer nach
ihr ausgeschaut hatte. Er gestand einige Monate später dem
österreichischen Botschafter: Bismarck habe mit Rußland, trotz der
äußerlichen Gegnerschaft, doch immer geheime Beziehungen
unterhalten, die ihm eine gewisse Stütze verliehen
hätten - das sei heute zu Ende, dieser mögliche
Rückhalt fehle dem deutschen Kabinett und dies sei der Grund, warum man
jetzt in Berlin so unruhig und nervös bei jeder auftauchenden Frage sei,
wenn sie auch Deutschland keineswegs direkt berühre.73 Damit rührte er an das tiefste
und innerste Geheimnis des
Rückversicherungsvertrages - mit dieser Politik, die dem englischen
Konzept zuwiderlief, hatte Bismarck gerade England immer wieder auf seine
Seite hinübernötigen können und in der Hinterhand das
höchste Maß der Autonomie erreicht. Die Epigonen Bismarcks, die
auf dieses Druckmittel verzichtet hatten, mußten sich daran
gewöhnen, daß ein anderer auch Geschmack für
Rückversicherungstendenzen zeigte, um damit eine freiere Hand zu
gewinnen. Natürlich wäre es verfrüht, an dieser Stelle von
einer eindeutigen Tatsache zu sprechen. Die
russisch-französische Entente, zumal seit ihrer Vertiefung zum
Bündnis, konnte zwar eines Tages auch der englischen Politik eine gewisse
Erleichterung bringen, aber zunächst war sie eine ernste Bedrohung. Aus
beiden Gründen ergab sich für die englische Politik das
Bedürfnis, trotz ihrer engen Fühlung mit dem Dreibunde, sich
gelegentlich an der Gabelung des Weges aufzuhalten, die zu den [404] beiden
Mächtegruppen führten. Es sind zunächst nur leichte
Schattierungen der Haltung, an denen das bemerkbar wird, aber die Politik setzt
sich aus der Summe solcher Schattierungen zusammen, die bald sich wieder
ausgleichen, bald aber sich häufen und zu einem neuen Farbenton steigern.
Wenn die Russen und Franzosen mit tiefer Befriedigung empfanden, daß
das in Kronstadt begründete Gleichgewicht Deutschland die hegemonische
Stellung koste, und daß erst jetzt für sie das Zeitalter Bismarcks zu
Ende gehe, so waren doch die Rückwirkungen bei beiden Völkern
sehr unterschieden. Das neue Freundschaftsverhältnis bedeutete für
die Franzosen einen starken Antrieb ihrer Revanchehoffnungen, und erlegte
dadurch den Russen die Verpflichtung auf, den Franzosen immer wieder zu sagen,
daß sie eine Erfüllung dieser Hoffnung von dem Wortlaut des
Vertrages nicht zu erwarten hätten. Aber es kommt nicht nur darauf an, was
ein Bündnisvertrag an positiven Zusagen enthält, sondern auch
wesentlich darauf, was die Völker glauben, daß er ihnen früher
oder später bescheren könne, was sie in einen solchen Vertrag
hineinlegen und was sie aus ihm - ohne seinen Wortlaut zu
kennen - als Richtschnur für die eigene Haltung entnehmen. So sah
das französische Volk in dem
Vertrag - um einen französischen Geschichtschreiber zu
hören - "gleichsam das Vorspiel zur nationalen Rache, die es
leidenschaftlich seit zwanzig Jahren herbeisehnte. Man glaubte nur zu leicht, der
Zar habe damit, daß er die Marseillaise anhörte, gegen den
Frankfurter
Frieden Einspruch erhoben und seine Bereitwilligkeit zeigen wollen,
ihn zu zerreißen".74 Der Abschluß der
Militärkonventionen vom August 1892 steigerte diesen Glauben und
verstärkte die Sprache. Zu Beginn des Jahres 1893 hielt ein aktiver
französischer Generalstabsoffizier Molard es schon für angezeigt, in
einem militärischen Werke auszuführen: "Die französische
Politik hat stets nur einen Zweck gehabt, die Zurückeroberung der von der
deutschen Rasse usurpierten Gebietsteile des linken Rheinufers. Der Rhein ist
nicht ein deutscher Fluß - mögen es die deutschen
Geschichtschreiber auch noch so oft
sagen - sondern er bildet die Grenzbarriere. Er teilt in Wirklichkeit das
westliche Europa in zwei große Gebiete, in das französische Gebiet,
das vom Atlantischen Ozean bis zum Rhein reicht, und in das deutsche Gebiet
vom Rhein bis zur Elbe. Auf jeder Seite dieser Grenzbarriere waren seit 2000
Jahren Gallier und Germanen Feinde, wie es Deutsche und Franzosen heutzutage
noch sind. Wir waren es, wir sind es und wir werden es
bleiben - bis zum Tage der endgültigen
Entscheidung - Erbfeinde! - Das ist nicht eine Phrase, sondern die
einfache Feststellung der historischen Wahrheit!"
Es ist nicht die Stimme eines einzelnen Säbelrasslers, die hier ertönt;
man hört den Chor der Stimmen derer, die im 17. und
18. Jahrhundert in den könig- [405] lichen Heeren, und
dann in den Armeen der Republik und unter Napoleon den deutschen Westen
verheerten; man hört den gellenden Zuruf der Nation, der
Napoleon III. bei der leichtfertigen Entfesselung des Krieges von 1870
vorwärtstrieb, dessen Urheberschaft mit einer niemals endenden
Verantwortung belastet ist. Diese ganze geschlossene und in ihrer Art große
Tradition, längst in dem Geiste der Revanche aufgenommen, hat nunmehr
die Haltung des Bedrohten abgelegt und läßt wieder die Fanfaren
zum Angriff, wie damals, als alles vom "grand Rhin" und vom "petit
Rhin" träumte, herausfordernd erschallen.
Das russisch-französische Bündnis und seine Rückwirkung auf
den kriegerischen Geist der Franzosen legten der deutschen Staatsleitung eine
schwere Verantwortung auf. So wenig auch im Augenblick eine bedrohliche
Spannung nach der einen oder anderen Seite bestand, so war schon die
militärische Tatsache, der man sich fortan gegenübersah, derartig
eindeutig, daß man ihr, nachdem die Diplomatie ihre Kunst erschöpft
hatte, nur mit militärischen Tatsachen begegnen konnte. Die jetzt
einsetzende und auf die deutsche Front gerichtete Zusammenarbeit der russischen
und französischen Generalstäbe konnte nur durch eine höhere
Anspannung der eigenen Wehrkraft ausgeglichen werden.
Nachdem der große Heeresreorganisationsplan Verdys während der
Kanzlerkrisis zurückgestellt worden war,75 war eine
Ergänzungsvorlage (Erhöhung der Präsenzstärke um
etwa 18 000 Mann, in der Hauptsache Feldartillerie)
zurückgeblieben; der Reichstag hatte jedoch ihre Annahme mit
Resolutionen begleitet, die für die Zukunft eine grundsätzliche
Schranke aufrichteten; sie sprachen sich gegen die volle Durchführung der
allgemeinen Wehrpflicht, gegen das Septennat und anderseits für die
Einführung der zweijährigen Dienstzeit bei den Fußtruppen
aus. Wenn Caprivi eine namhafte Verstärkung durchsetzen wollte, hatte er
eine doppelte Aufgabe zu lösen: nach außen hin mußte er
verhindern, daß die Vorlage als ein Anzeichen politischer Absichten
aufgefaßt werde und statt zu einer Friedenssicherung zu ihrem geraden
Gegenteil führe; nach innen hin mußte er, wenn er nicht in einen
Konflikt hineintreiben wollte, die Erhöhung der Präsenzstärke
und damit der Schlagfertigkeit durch den immerhin gewagten Schritt der
Dienstverkürzung erkaufen. Im September
1892 - in den Wochen nach dem Abschluß der
russisch-französischen
Militärkonvention - war der Kaiser, wenn auch gegen starke
Widerstände, für diesen Weg gewonnen, mit dem, unter dem
gleichzeitigen Zwang der inneren wie der äußeren Situation, die seit
dem Jahre 1860 festgehaltene Heerespraxis verlassen wurde.
Die deutsche Militärvorlage von 1892/93, in der eine Erhöhung der
Präsenzstärke um ursprünglich 86 000 Mann
vorgesehen war, stand durchaus unter dem unheimlichen Zeichen des
Zweifrontenkrieges. Mit dieser bitteren Tatsache mußte jetzt mit dem
Eintritt jedes Kriegsfalles unweigerlich gerechnet werden. Die [406] Motivierung des
Reichskanzlers machte aus ihr kein Hehl: "Wir wollen weder Frankreich noch
Rußland angreifen; wir wollen aber für den Fall, daß diese
beiden Staaten sich noch mehr nähern sollten, alle Mittel aufbieten, die uns
zur Verfügung stehen, um einen etwaigen Angriff zurückschlagen zu
können. Wir stehen vor der Notwendigkeit, wenn wir an einen
künftigen Krieg denken, uns den mit zwei Fronten zu denken, und zwar
nicht als Ausnahme, sondern als den wahrscheinlichen Fall."76 Nirgends schlagen die Motive der
Heeresverwaltung einen anderen Ton als den der Abwehr drohender
Überlegenheit an. Ein präventiver Angriffsgeist, wie man ihn in den
Jahren 1887 - 1889 in den Spitzen des Heeres beobachten konnte,
scheint so gut wie ausgelöscht zu sein.77 Zumal dem Nachfolger Waldersees,
dem Generalstabschef Grafen Schlieffen,
der im scharfen Gegensatz zu seinem
Vorgänger sich eine strenge Zurückhaltung von der Politik zur
Pflicht machte, war der Präventivgedanke als Forderung fremd. Um so
mehr war er, ein Kopf von wundervoller Schärfe des Urteils, sich
darüber klar, daß ein machtpolitischer Druck auf beide deutsche
Grenzen auch ohne Krieg eine gefährliche Sache war, wenn ihm nicht mit
einem ebenbürtigen machtpolitischen Druck aus dem Inneren begegnet
werden konnte. Wir haben aus seinem Munde damals das ebenso
persönlich wie realistisch geformte Urteil über die Kosten der
Heeresreorganisation: "Geld muß man für alles geben. Schlechte
Behandlung, Fußtritte, Unterwürfigkeit, Elend muß man auch
bezahlen, vielleicht sehr hoch. Hat man die Wahl, so ist es am billigsten und
angenehmsten, sich die Macht zu kaufen."78 Der Machtgedanke des
preußischen Generalstabs (wenn man diese vertrauliche
Äußerung so bezeichnen will) verleugnet auch jetzt noch nicht seine
Herkunft; noch zittert in ihm nach, auf wie langem und bitterm Wege des
Erlebens den Deutschen der Sinn der Macht im Völkerleben aufgegangen
ist. Denn dieser Machtgedanke war, den Lehren der Geschichte und der deutschen
Mittellage gemäß, nichts anderes als der Sicherheitsgedanke, der ihn
in dem internationalen Sprachgebrauch von heute abgelöst hat.
Trotz der starken Erleichterung, die in der Herabsetzung der Dienstzeit für
die Fußtruppen lag, stieß die Heeresvorlage anfänglich auf
ernste Schwierigkeiten im Reichstage. Caprivi ließ sich sogar herbei, einen
Vermittlungsantrag des Abgeordneten von Huene, durch den die
angeforderte Erhöhung der Präsenzstärke um 13 000
Mann gekürzt wurde, als annehmbar zu bezeichnen. Als aber auch dieser
Kompromißvorschlag keine Mehrheit gewann, wurde der Reichstag [407] am 6. Mai 1893
aufgelöst. Während der Reichstagsberatungen hatte die gesamte
Pariser Presse wie auf geheimen Befehl zurückgehalten, erst nach der
Ablehnung des Antrages Huene brach der Jubel los. In der Patrie war
schon zu lesen: "Eine Stunde, die vielleicht nicht fern ist, wird dieses
anscheinende Gerüste von Macht und despotischer Tyrannei mit einem
Stoße unerwartet umwerfen, unter dem Antrieb von Ereignissen, deren
Gang niemand aufzuhalten oder aufzuschieben vermag." Solche
Äußerungen sind in der Pariser Presse in der Zeit von 1871 bis 1914
eine nicht seltene und darum nicht zu tragisch zu nehmende Begleiterscheinung,
nur ihre Temperaturhöhe ist von der jeweiligen Situation
abhängig.
Einstweilen wurde, nachdem die Neuwahlen die Zusammensetzung des
Reichstages im günstigen Sinne verändert hatten, die Caprivische
Heeresvorlage, in der Beschränkung des Antrages Huene, am 15. Juli 1893
angenommen. Es war bezeichnend für die damalige Auffassung der
europäischen Lage, daß die polnischen Reichstagsabgeordneten sich
von vornherein in den Abstimmungen auf der Regierungsseite hielten: sie hatten
damals alle ihre Hoffnungen in dem nahenden Weltkriege auf die Seite der
Mittelmächte gesetzt.
Wenn die Franzosen in der Heeresvorlage eine Antwort auf den Zweifrontendruck
durch das russisch-französische Bündnis sahen, so hatten sie jetzt das
dringende Bedürfnis, ihrem Bündnis einen neuen glänzenden
Ausdruck vor der Welt und nach innen die leidenschaftlich ersehnte
völkerrechtliche Bestätigung zu geben: das erste geschah durch den
Besuch, durch den das russische Geschwader den Kronstädter Besuch in
Toulon erwiderte, und das zweite durch den Austausch der von den
Staatshäuptern unterzeichneten Verträge am 27. Dezember
1893 bzw. 4. Januar 1894.
Der Besuch in Toulon hinterließ, nachdem der Rausch der nationalen
Feststimmung verflogen war, in beiden Völkern die aufregende
Empfindung, daß Rußland und Frankreich vereint, wie Chateaubriand
es einst formuliert hatte, der ganzen Welt das Gesetz des Handelns vorschreiben
könnten: und der Rhythmus der politischen Geschäftigkeit der
Kabinette wurde allerdings von diesem Eindruck bestimmt. Zwar hatten auch die
Feste von Toulon das tatsächliche Machtverhältnis noch nicht weiter
verschoben, aber sie wirkten doch beunruhigend auf die Luft der Imponderabilien
zurück, in der die reale Staatenordnung eingebettet ist. Es war, als wenn die
verbündete russisch-französische Kraft durch jede neue Stufe ihrer
Manifestation ihre offensive Tendenz verstärkte, und wenigstens der eine
Partner begann diese "Vertiefung" des Bündnisses gründlich
auszukosten.79 Sorgenvoll verzeichnete der belgische
Gesandte in Paris, daß fast niemand mehr in Frankreich an der Verbindung
der beiden Völker und Heere zum Zwecke einer gemeinsamen
Unternehmung gegen Deutschland und seine Verbündeten zweifle:
"Es ist zu fürchten, daß
der Zar wider [408] Willen doch nur
erreicht hat, in Frankreich Gefühle zu erhitzen, die bei dem
Nervenzustande, in dem sich gegenwärtig diese leicht zu beeinflussende
Nation befindet, keine Erregung mehr nötig hatten. Ihre Regierenden
würden sie viel schwerer als noch vor einigen Wochen zur Bewahrung der
Kaltblütigkeit veranlassen können, wenn ein Zwischenfall
plötzlich auftauchte."80
Ein anderer objektiver Urteiler, der belgische Gesandte in Berlin, faßte
seinen Eindruck in den Sätzen zusammen:
"Gibt es einen Franzosen, der nicht die
Revanche wünschte? Die einen, die Besessenen, wollen sie auf der Stelle.
Das sind die weniger zahlreichen... Die andern, die Klugen, erwägen die
Revanche für später, wenn die Konjunktur besser geworden ist.
Dieses Gefühl... hat seinen Ausdruck in dem Taumel des Empfanges
für die russischen Matrosen gefunden, der sich weder durch die Sympathie
für die russischen Zustände noch durch gemeinsame
Überlieferungen erklären läßt. Das einzig Gemeinsame
ist der Haß gegen Deutschland, dem man es nicht verzeihen kann, die
vorherrschende Macht in der Welt zu sein, wie es Frankreich gewesen ist und
Rußland zu werden träumt. Im Munde der Pariser Bevölkerung
hat der Ruf »Es lebe Rußland« die gleiche Bedeutung wie der
Schrei »Nach Berlin«, den sie 1870 ausstieß."81
Das ist die eine Seite der sichtbaren Nachwirkungen von Toulon. Die andere Seite
ist allgemeinerer Natur. Der Welt wurde zu Gemüte geführt,
daß das politische Energiezentrum, die bewegende Kraft der Initiative sich
in Europa zu verschieben begann. Diese Verschiebung wirkte auf alle Teile des
Bismarckischen Systems zurück, auf den Dreibund und seine Glieder und
auf das locker ihm angeschlossene England; ja nach Toulon überwog der
Eindruck, daß die unmittelbare Spitze geradezu gegen die englische
Machtstellung im Mittelmeere gerichtet sei. Aber selbst wenn das der Fall war,
wurde der europäische Kredit der deutschen Politik nicht auch davon
betroffen?
Das innere Selbstvertrauen der deutschen Außenpolitik wurde durch diese
Umgruppierung um so weniger erhöht, als die scharfe Kritik Bismarcks
jeden ihrer Schritte begleitete und ihr mit wachsendem Widerhall im Volke die
Schuld daran zuschob. So wuchs die Neigung bei den leitenden Männern
des neuen Kurses, nur dem Alten von Friedrichsruhe keine Blöße zu
geben, nachdem das unglückliche Vorgehen Caprivis gegen die Reise
Bismarcks nach Wien im Sommer 1892 eine so furchtbare Antwort
ausgelöst hatte. Es scheint, daß man gerade in der Außenpolitik
den Zweifel nicht los ward, ob die Staatsräson Bismarcks nicht sicherer
orientiert gewesen sei, und es läßt sich schon seit dem Herbst 1892
beobachten, daß man auf den russischen Weg zurückzutasten
suchte.
Diese Tendenz sollte bei dem Abschluß des
deutsch-russischen Handelsvertrages bereits sichtbarer in die Erscheinung treten.
Nachdem man von Ende 1891 bis zum Sommer 1893 nicht über
akademische Erörterungen hinausgelangt [409] war, bedurfte es
schließlich noch des Zwischenspieles eines
deutsch-russischen Zollkrieges, um am 1. Oktober 1893 die Verhandlungen neu
zu eröffnen. Aus diesen Verhandlungen, begonnen unter dem
ungünstigen Gestirn von Toulon, ging der Handelsvertrag hervor, der am
10. März 1894 gegen eine starke agrarische und Bismarckische Opposition
angenommen wurde.
Der Kampf um den deutsch-russischen Handelsvertrag geht nicht allein und in
erster Linie um seinen wirtschaftspolitischen Inhalt - wenn auch schon in
höherem Grade als bei den handelspolitischen Kämpfen des Jahres
1891. Der Vertrag hat im ganzen dazu beigetragen, die Handelsbeziehungen
zwischen Rußland und Deutschland inniger und fester zu gestalten. Die
Herabsetzung der Landwirtschaftszölle war eigentlich nur die notwendige
Folge der früheren Verträge; aber sie trug dazu bei, die
wirtschaftspolitische Schwenkung zu vertiefen und das Schwergewicht von der
agrarischen auf die industrielle Seite zu verlagern; so wurde denn auch die
Begründung des Bundes der Landwirte von dem damals entfesselten
Interessenkampf ausgelöst.
Aber grundsätzlich noch bedeutsamer waren die Kämpfe, die auf
einem andern Schauplatze um die Frage gingen: was bedeuten gute
handelspolitische Beziehungen für Völker, die nicht durch
Bündnisverträge miteinander verknüpft sind (darauf war die
Argumentation von 1891 zugeschnitten), sondern sogar verschiedenen politischen
Bündnisgruppen angehören? Caprivi erklärte in seiner
Reichstagsrede vom 27. Februar 1894, daß er in dem Vertrage eine
Brücke für den friedlichen Verkehr zweier großer Nationen
sehe und die Wirkung von ihm erwarte, die Spannungen zwischen den Nationen
zu vermindern; ja er wagte es, mit Anspielung auf den "zerrissenen" Draht nach
Petersburg von einem "starken, kräftigen, neuen Draht" zu sprechen. Der
Kaiser hatte sich im Kronrat vom 18. Februar 1894 sogar übertreibend zu
der Auffassung bekannt, daß ein gutes politisches Verhältnis
zwischen Staaten, deren wirtschaftliche Beziehungen schlechte seien, auf die
Dauer nicht bestehen könne, und die Hoffnung ausgesprochen, daß
der Vertrag zu einer Verbesserung der Beziehungen zwischen Rußland und
Deutschland und zur Lockerung derjenigen zwischen Rußland und
Frankreich führen könne.
Während Bismarck die beiden Gebiete Politik und Wirtschaft durchweg
streng auseinandergehalten hatte, suchte Caprivi in dem neuen Zeitalter des
wachsenden Einflusses der Wirtschaft auf die politischen Entscheidungen gerade
der deutschen Politik eine führende Rolle dadurch zu verschaffen,
daß sie diesen Umschwung entsprechend auswerte. Das war eine Illusion,
sobald man glaubte, jemals den Primat der Außenpolitik, den Umkreis
dessen was die Völker als ihre Macht, Sicherheit und Lebensnotwendigkeit
begreifen, zugunsten überragender und richtig verstandener wirtschaftlicher
Interessen zu durchbrechen. Wohl aber war es eine Erkenntnis, die in einem
begrenzten Geltungsbereich eine sekundäre (und mit der Zeit wachsende)
Bedeutung schon damals besaß. Und da [410] der Russe von Haus
aus seinem Bündnis mit Frankreich keineswegs eine offensive Spitze gegen
Deutschland geben wollte, konnte ein dauerndes und beide Teile befriedigendes
deutsch-russisches Wirtschaftsverhältnis dazu beitragen, die von Paris aus
genährte Gefahr politischer Spannungen zu verringern. Wie hoch der Wert
der Karte in dem großen Spiel der europäischen Mächte
einzuschätzen war, stand allerdings dahin.
Während die kontinentalen Bündnisgruppen sich versteiften, blieb
die einzige großmächtliche Beziehung des Deutschen Reiches von
labiler Natur, die Beziehung zu England. Sie war in ein neues Stadium getreten,
weil seit dem August 1892 ein Ministerium
Gladstone-Rosebery die Staatsleitung Salisburys ablöste. Das liberale
Kabinett hatte zwar die Erbschaft seines konservativen Vorgängers in dem
allgemeinen Verhältnis zu Deutschland angetreten und sich mit einer
entsprechenden Erklärung bei den Dreibundsmächten
eingeführt,82 aber es hatte es abgelehnt, die
Dreier-Abkommen vom Februar bzw. November 1887 anzuerkennen.83 Es konnte also formell zur Politik der
freien Hand übergehen und ließ die Stetigkeit um so stärker
vermissen, als es mit Widerständen im eigenen Lager zu rechnen hatte;
wenn Rosebery auch seiner Außenpolitik einen aktiveren Zug zu geben
suchte, so verfügte seine sanguinische Sprunghaftigkeit weder über
den Rückhalt der nötigen Machtmittel, noch über die
Festigkeit einer großen Linie. So lagen die Dinge für die Frage
Intimität und Bündnis zwischen Deutschland und England seit dem
August 1892 eher ungünstiger als vorher. Was Bismarck auf der
Höhe seiner Macht von Salisbury nicht hatte erlangen können,
konnten seine Epigonen von Rosebery kaum erwarten.
Dazu kam, daß die Reibungen, die sich aus den mannigfachen kolonialen
Berührungen in der Welt ergaben, sich in den nächsten Jahren
unglücklich häuften; und es ließ sich nicht verkennen,
daß auch die englischen Liberalen die Proteste und Klagen von dem
nachbismarckischen Deutschland nicht so leicht ertrugen, wie von dem
bismarckischen Deutschland in der Periode von 1884/85; sie legten sich schon die
Frage vor, ob man sie von einem zwischen Rußland und Frankreich
eingerahmten Deutschland überhaupt schweigend hinnehmen müsse.
Gleich in den ersten Monaten zeigte ein Zwischenfall, daß man in London
empfindlicher wurde. Als Anfang Januar 1893 der englische Botschafter in
Konstantinopel in der anatolischen Eisenbahnfrage zum Nachteile Deutschlands
für die französischen Interessen eintrat, wies Herr
von Marschall den deutschen Vertreter in Kairo am 7. Januar an, die
deutsche Zustimmung zu einer englischen Truppenvermehrung in Ägypten
zurückzuhalten; eine Weisung, die übrigens nicht praktisch wurde,
da die Zustimmung bereits ausgesprochen war; die Episode [411] lief so rasch ab,
daß schon in den nächsten Wochen der Beistand des Dreibundes
Rosebery ermöglichte, die französische Aktion in Ägypten zu
überwinden und sich zu einer dankbaren Verpflichtung gegenüber
dem Dreibunde zu bekennen.
Die Episode ist nur wegen einer psychologischen Nachwirkung bemerkenswert.
Denn der junge parlamentarische Unterstaatssekretär im Foreign
Office, Sir Edward Grey, will, wie er in seinen Memoiren
erzählt, damals von dem deutschen "Ultimatum", das in der
ägyptischen Frage die Schlinge um den englischen Hals mit einem groben
Ruck zusammengezogen habe, einen bitteren Nachgeschmack
zurückbehalten haben. In Wirklichkeit scheint die Aufbauschung des
Vorganges, der in den Erinnerungen Greys zum bestimmenden Auftakt des
Erlebens gemacht wird, den Rückschluß auf eine bereits vorhandene
antideutsche Voreingenommenheit zuzulassen.84 Immerhin
bemerkt man, daß Grey amtlich auch schon vor dem Weltkrieg auf seine in
der kurzen Episode von 1892 - 1895 mit den Deutschen gemachten
Erfahrungen kritisch zurückkommt, und eine längere Liste von
unangenehmen Streitfragen anführt.85 Man hat
doch die Vorstellung, daß in dem dreibundfreundlichen Ministerium
Roseberys einflußreiche Elemente überhaupt nur zögernd
mitgingen.
Jedenfalls kam in die deutsch-englischen Beziehungen ein merkwürdiges
Element springender Unruhe. Sobald es sich um ägyptische
Angelegenheiten handelte, war Rosebery zu dem Geständnis bereit: Was
sollte ich wohl ohne den Dreibund machen? Als der Siamkonflikt zwischen
England und Frankreich einen Augenblick sich kriegerisch anließ, wollte
man hastig an Deutschland heranrücken. In afrikanischen und
Südseefragen verschwanden kleine Konflikte niemals von der
Tagesordnung, und bis in untergeordnete Fragen hinein, wie
Geschützlandungen in der Walfischbai oder Kulitransporte in Singapore
tauschte man gereizte Noten aus. Am 14. September 1893 mußte wieder
einmal - nach alten bismarckischen Rezepten von
1884/85 - ein scharfer Erlaß nach London zur Erinnerung bringen,
Deutschland könnte gezwungen sein, "künftig sein Entgegenkommen
gegenüber englischen politischen Wünschen nach dem Grade
englischen Entgegenkommens auf kolonialem Gebiete abzuwägen". So
bewegte man sich in einem steten Kreislauf von freundschaftlichen
Versicherungen für die Zukunft und ärgerlichen Vorstellungen
für die Gegenwart. Und es ließ sich auf keiner Seite ein
führender Wille erkennen, aus diesem Zustande der Unsicherheit in eine
klarere und festere Stellung gegenüber den umgebenden Gefahren
zurückzukehren.
[412] So war es denn
bezeichnend für die Konstellation, die sich seit Toulon in Europa ergeben
hatte, daß die einzige weitausschauende diplomatische Gegenaktion aus
dem Lager des Dreibundes nicht von Berlin und der führenden
Dreibundmacht ausging, sondern von Wien, von dem Grafen Kálnoky, der
ein Jahrzehnt lang neben dem deutschen Reichskanzler eher die zweite Geige im
Bunde gespielt, aber immerhin eine so starke Erfahrung in dieser Gemeinschaft
angesammelt hatte, daß sich seit dem Frühjahr 1893, nach dem Urteil
von Feind und Freund, sogar das Schwergewicht des Dreibundes von Berlin nach
Wien verschoben haben sollte.
Kálnoky kam gegen Ende des Jahres 1893 zu dem Entschluß, die
neue Weltlage dazu zu benutzen, um die Identität der Interessen des
Dreibundes und Englands, die im letzten Jahre ziemlich unverbunden
nebeneinander hergelaufen waren, in einer neuen Vertragsform zu
verknüpfen, - und zwar auf der Grundlage der Meerengenpolitik. Die
deutsche Politik hatte seit Beginn der Handelsvertragsverhandlungen sich
bemüht, die Russen über die Fortdauer ihrer Meerengenpolitik zu
beruhigen und auch in Wien keinen Zweifel über ihre Haltung aufkommen
lassen. Kaiser Wilhelm hatte schon die Manöver in Güns (September
1893) zu solcher Mitteilung benutzt;86 und Ende
November 1893 sah sich der Generalstabschef Graf Schlieffen zu der Mitteilung
an den österreichischen Militärattaché veranlaßt,
Deutschland würde im Falle einer Besetzung Konstantinopels durch die
Russen keinen casus belli darin erblicken, da außer England
niemand in dieser Frage interessiert sei. Der österreichische
Generalstabschef glaubte ein Wiederauftauchen der Bismarckpolitik zu bemerken
und erinnerte an die feierlichen Versprechungen vom August
1889 - aber augenscheinlich war die damalige Haltung von der deutschen
Politik gründlichst aufgegeben worden.87
In dieser Lage setzte Kálnoky sich die Aktivierung des Dreibundes zur
Aufgabe. Sie verfolgte im einzelnen das Ziel, Italiens Abspringen zu verhindern
und seine Bundestreue durch englischen Kitt zu befestigen, England zu
bestimmter Stellungnahme im Orient und Mittelmeer zu veranlassen und
Deutschland aus seiner Rolle der Entsagung in Konstantinopel herauszuholen. Er
operierte gleichsam als Fortsetzer der Aktionen Bismarcks von 1887, aber wenn
das Ganze gelang, so wäre der Zentralnerv der neuen Gruppierung
allerdings von London nach Wien verlaufen.
[413] Am 25. Januar 1894
regte Kálnoky in mehreren Depeschen nach London an, die
Stellungnahme Englands für den Fall einer ernsten Erwägung zu
unterwerfen, daß Rußland an den Meerengen rütteln
werde - ohne England werde Österreich die Wacht am Bosporus
aufgeben müssen. Daraufhin gab Rosebery am
31. Januar/26. Februar die positive Versicherung ab, er werde es um
der Erhaltung des status quo willen an den Meerengen nötigenfalls
auf Krieg mit Rußland ankommen lassen, vorausgesetzt daß
"Österreich und seine Freunde", also der Dreibund, "Frankreich in Schach
halten", d. h. zur Neutralität zwingen würden. Das Ergebnis
war formell eine an eine Voraussetzung geknüpfte verbindliche
Erklärung, zugleich mit der verschleierten Anfrage, ob die formulierte
Voraussetzung zutreffe.88 Es kam also darauf an, diese
"Anfrage", mit welchen Vorbehalten immer sie umgeben war, so zu beantworten,
daß eine Brücke der Verhandlung und womöglich aus den
beiden Gliedern der Erklärung eine feste, bis nach Berlin reichende Kette
hergestellt werden konnte.
Die deutsche Reichsregierung hatte in diesem Augenblick gerade den russischen
Handelsvertrag abgeschlossen, in dem sie eine wesentliche Garantie des Friedens
auf der realen Grundlage der Wirtschaftsinteressen erblickte, und war daher nur
wenig geneigt, die soeben beruhigte Atmosphäre durch gewagte
Experimente nach der anderen Seite wieder zu stören. So ließ sich
Caprivi wohl zu der platonischen Erklärung herbei, "daß ein Appell
Englands an die Unterstützung der Tripleallianz a priori
nicht wohl abgelehnt werden könne", aber seine amtliche Antwort vom 8.
März 1894 brachte eine glatte Ablehnung; er zog aus einer berechtigten
Kritik der englischen Unklarheit (die sich ihre Initiative am Bosporus in einem
besser zu lokalisierenden Kriege vorbehielt und daraufhin schon die Verpflichtung
Deutschlands zur Pression auf Frankreich erwerben wollte) den Schluß,
daß für Deutschland ein Zweifrontenkrieg eine zu ernste Sache sei,
um ihn wegen der Meerengen zu provozieren. Kálnoky unternahm dann
am 20. April noch einen zweiten Anlauf in Berlin, um sich dem für ihn so
wünschenswerten Ziel zu nähern; er glaubte jetzt einer gewissen
Bereitschaft Roseberys zu Äquivalenten sicher zu sein89 und auch auf eine günstige
Aufnahme bei Kaiser Wilhelm rechnen zu dürfen. Noch einmal empfahl er
auf das dringlichste, eine entgegenkommende Antwort zu geben, die
unverbindlich in der Form und an Bedingungen geknüpft sein könne.
Aber schon am 23. April lehnte Caprivi den österreichischen Vorschlag
auch in dieser Form ab - so unbedingt, man darf sagen, aus der gleichen
Menta- [414] lität heraus, wie
er im Frühjahr 1890 seine Absage an Rußland gegeben hatte. Er blieb
dabei, daß England in diese Politik sehr wenig, Deutschland aber den
letzten Mann und den letzten Groschen einzusetzen habe.
Man kann seine Entscheidung an sich nicht tadeln, denn die Gegengründe
gegen das mehr von Wien als von London aus betriebene Unternehmen wogen zu
schwer, und die Annahme, als wenn damals wirklich das erste der sibyllinischen
Bücher von England an Deutschland herangetragen und verbrannt worden
sei,90 läßt sich nach allem, was
wir von Roseberys Politik wissen,91 kaum aufrechterhalten. Man
könnte höchstens zur Erwägung geben, ob es sich nicht
trotzdem gelohnt hätte, den dünnen Verhandlungsfaden aufzuheben
und für irgendein Gespinst zu nützen; aber ein solches Vorgehen
würde, wenn es versucht worden wäre, schon im nächsten
Augenblick sich als vergeblich erwiesen haben.
Denn einige Wochen später kam es zu einem ganz unvorhergesehenem
Anlaß, zu einem diplomatischen Konflikt zwischen Deutschland und
England, dessen Verlauf die Illusion über einen ernsten
Bündniswillen Roseberys völlig zerstörte. Ein am 12. Mai
1894 zwischen England und dem Kongostaat geschlossener Vertrag führte
fast gleichzeitig zu einem deutschen und zu einem französischen
Protest - es war eine Situation wie vor zehn Jahren, die auch die
Möglichkeit eines gemeinsamen
deutsch-französischen Vorgehens auftauchen ließ. Daß dieser
der Kongoakte widersprechende Vertrag einwandfreie deutsche
Rechtsansprüche verletzte, und zwar mehr aus Vergeßlichkeit als aus
Illoyalität, steht außer jeder Frage.92 Der scharfe Ton der deutschen Note,
der bei der Unanfechtbarkeit der Rechtslage nicht einmal erforderlich gewesen
wäre, erklärt sich wohl aus der Absicht, bei dieser Gelegenheit den
unbefriedigenden Tatbestand der kolonialen Differenzen überhaupt einmal
aufzurechnen.
Aber welchen turbulenten Umschwung der englischen Politik löste eine
Sache aus, in der sie völlig im Unrecht war! Schon am 13. Juni
kündigte Rosebery dem österreichischen Botschafter an, daß er
durch Deutschlands Vorgehen in der Kongofrage genötigt sei, in der Frage
der Zusicherung hinsichtlich der Meerengen und Konstantinopels eine Revision
der englischen Politik vorzunehmen. Als der Kaiser dann in entsprechendem Tone
Klage führte, daß der Schritt in Afrika möglicherweise
unberechenbare Komplikationen in Europa schaffen würde, ließ
Rosebery andern Tages die Österreicher wissen, daß die Umstellung
seiner Politik auch Italien und den ganzen Dreibund betreffen würde; das
deutsch-französische [415] Zusammengehen
erinnere ihn daran, daß es auch Punkte in der Welt gebe, wo England und
Frankreich sich verständigen könnten.93
Das alles war um so schwerer verständlich, als England und Deutschland
schon nach wenigen Wochen, nach Aufhebung des "Korridorparagraphen" im
Kongovertrag, die ganze Streitfrage aus der Welt schafften, und Rosebery sich
bemühte, den Weg zum Dreibund, zunächst zu Österreich,
zurückzufinden. Aber der Ablauf des Kongostreites, einer zeitlich in sich
abgegrenzten Episode, hat immerhin die Bedeutung, daß
vorübergehend der englische Partner in schärferer Beleuchtung
erscheint; danach aber behält man den Eindruck, daß der innere Wert
der Bereitwilligkeit Roseberys, auf die Pläne Kálnokys einzugehen,
nicht allzu hoch bemessen werden dürfte. Der Kongostreit war zugleich
eine neue Stufe in den deutsch-englischen Kolonialreibungen; schon wiederholt
hatte Deutschland sein sachliches Recht mit einer gewissen Schärfe in der
Form ausgedrückt und damit dazu beigetragen, die laufende
Bündnisunterhaltung mit peinlichen Vorhaltungen zu durchsetzen. Ein
Erlaß Marschalls vom 16. November 1894 stellte fest, daß das
Kabinett Rosebery nach und nach das Wohlwollen Deutschlands durch
Rücksichtslosigkeiten in Fragen von untergeordneter Bedeutung
verscherze. Er hatte recht, daß er die Anlässe tadelte, aber die
Schlußfolgerungen, die er zog, waren eine Sache der großen Politik.
Zwar ließ Rosebery im November 1894 amtlich erklären, daß
er die bestehenden guten und nahen Beziehungen zum Dreibunde fortsetzen
wolle, aber er schien jetzt doch sehr abgekühlt, und von einem Abkommen
war nicht mehr die Rede. Wenn er einmal klagte, daß man in Berlin mit
allen auf dem besten Fuße stehen wolle und schließlich die wirklich
befreundeten Mächte verstimmen würde, so ist darauf zu erwidern,
daß er selbst von solcher Gabe mindestens den gleichen Gebrauch
machte.
Denn seine Staatskunst der freien Hand, die seit Monaten nach engerer
Fühlung mit Petersburg und Paris Ausschau hielt, ging gegen Ende des
Jahres 1894 dazu über, nach dem Scheitern einer Orientpolitik mit
dem Dreibunde, eine Orientpolitik ohne den Dreibund einzuleiten.
Unleugbare Mißstände der türkischen Verwaltung in
Armenien, armenische "Greuel", hatten der englischen öffentlichen
Meinung einen Anstoß zu einem Entrüstungsfeldzuge gegeben.
Entscheidend war, daß die englische Regierung diese Agitationen jetzt
aufgriff, um entgegen ihrer früheren Überlieferung von dieser
gefährlichen Stelle aus die große türkische Reformfrage in
Fluß zu bringen. Im Dezember 1894 lud sie die russische und die
französische Regierung zu gemeinsamen Schritten zur Klärung der
armenischen Angelegenheiten ein. Unter [416] solchen Vorzeichen trat
ein ganz neues Element in die Beziehungen der Großmächte, und es
ist begreiflich, daß man in Berlin eine weltgeschichtliche Wendung darin zu
sehen meinte, "wenn gerade England die türkische Erbschaft für
eröffnet erkläre".94
Von der deutschen Politik gegenüber England im Jahre 1893/94 scheidet
man nicht mit dem Eindruck, daß sie etwas gestört oder
versäumt habe, was ihr im Gegenspiel gegen die Weltlage seit Toulon
wertvolle Aussichten geboten haben würde: für die Pläne
Kálnokys, so richtig sie von Wien aus gesehen waren, erwiesen sich
Männer und Umstände in London doch nicht als bündnisreif.
Ein besonderes Schuldkonto der deutschen Seite ist nicht festzustellen, und nur
die große Suche nach verpaßten Gelegenheiten, die sich retrospektiv
eine Zeitlang der Durchforschung der
deutsch-englischen Beziehungen bemächtigte, hat diese Vorgänge
zeitweise in einem überscharfen und künstlichen Lichte erscheinen
lassen. Ob man auf der deutschen Seite gut daran tat, gleichzeitig mit der im
Orient geübten Zurückhaltung die kolonialen Schwierigkeiten so
scharf zu unterstreichen, läßt sich verschieden beurteilen. Wenn der
Spannung damals trotz allem nur ein episodenhafter Charakter innewohnte, so
liegt der Grund darin, daß die Geschäftsführung Roseberys,
dessen Nervosität selbst das sprunghafte Temperament des Kaisers
überbot, schon im Juni 1895 wieder von Salisbury abgelöst und
damit für die deutsch-englischen Beziehungen, so viel Reibungsballast sie
auch schon mit sich schleppten, noch einmal die Möglichkeit eines neuen
Ansatzes eröffnet wurde.
Die österreichisch-englischen Entwürfe von 1894 hatten die Politik
Caprivis in dem ungünstigen Augenblick berührt, als er sich
gegenüber dem russisch-französischen Bündnis vor die
Aufgabe gestellt sah, das Wachstum der (ihm nicht genau bekannten)
Intimität und seines Druckes auf die beiden deutschen Fronten zu
verhindern; wenn er auch kaum Erfolg in dem Bestreben haben konnte,
Rußland von Frankreich wieder zu entfernen, so konnte er doch die
unmittelbare Gefahr der verbundenen Fronten von Mitteleuropa ablenken. Ein
Eingehen auf Roseberys Pressionsvorschlag würde dieses Ziel
gefährdet haben. So bereitete Caprivi tatsächlich eine Situation vor,
in der auch der neue Zar zu einem relativ freundlichen Verhalten gegenüber
Deutschland veranlaßt werden konnte.
Auch wer die politischen Gedankengänge Caprivis billigt, wird dies
bemerken: daß er unter dem Verhältnis zu der Ära Bismarck
litt. Schon bei den letzten Bemühungen Kálnokys fällt es auf,
wie lehrhaft der Österreicher, eigentlich schon seine Grenze
überschreitend, den richtigen gegen den mißverstandenen Bismarck
auszuspielen wagte: denn allerdings hatte auch er zu kämpfen mit dem
Schatten dessen, der - ob richtig oder falsch
verstanden - längst wieder unsichtbar in den Entscheidungen der
Wilhelmstraße zu spüren war. Als Caprivi dem [417] österreichischen
Botschafter am 23. April 1894 seine Absage begründete, klagte er
darüber: der Autorität Bismarcks würde die öffentliche
Meinung es leicht verziehen haben, wenn er sich in Fragen der großen
Politik auch in diametralen Gegensatz zu seinen früheren
Aussprüchen gesetzt hätte; er aber sei in einer schwierigeren Lage
und könne die von seinem Vorgänger geerbten Rezepte nicht
unberücksichtigt lassen; aber gewiß werde er auch seine eigenen
abweichenden Anschauungen nach Tunlichkeit zur Geltung bringen und dabei
nicht bloß die Interessen Deutschlands, sondern auch die der
verbündeten Mächte sich stets vor Augen halten. Der Botschafter
gewann aus diesem Geständnis innerer Unsicherheit den Eindruck:
"Augenscheinlich kämpft Graf
Caprivi - der sonst ein klarer Kopf
ist - mit Bismarckschen Traditionen und eigenen Ansichten und kann zu
keinem Entschluß gelangen. Er traut sich selbst und seinem Urteil nicht,
und demzufolge sind seine Aussprüche nebulos." Die Erfahrungen seit
1890 waren für die deutschen Staatsmänner doch so stark gewesen,
daß sie innerlich zu manchen Positionen der Bismarckzeit
zurückstrebten - als wenn man einfach, bei veränderter
Weltlage, in den Strom wieder hätte steigen können, da wo man ihn
im März 1890 verlassen hatte! Ja, man rechtfertigte sich schon vor sich
selber dadurch, daß der neue Kurs nur den alten Kurs fortsetze95 - als wenn nicht eine der
Voraussetzungen des alten Kurses unwiederbringlich entglitten wäre! In
diesem Kampfe der zwei Seelen in einer
Brust - der sich von der unbedingten Herrschaft einer leitenden politischen
Idee im Geiste Bismarcks tief
unterscheidet - mochte dann die Gefühlsseite einen allzu
großen Raum in kritischen Stunden einnehmen. In den Entscheidungen, die
nun einmal der deutschen Politik in ihrer Mittelstellung zwischen Rußland
und England auferlegt waren, bestimmte sie schon die Akzente. Man war so
ausgesprochen zu der russischen Tendenz
zurückgekehrt - die äußere Versöhnung des
Kaisers mit Bismarck war gleichsam auf diesem Hintergrunde vor sich
gegangen! - daß man in den Reibungen mit England die
schärfere Tonart vielleicht allzu sorglos walten ließ.
Der neue Kurs besaß längst nicht mehr den ursprünglichen
Glauben an seinen Weg, als er im Oktober 1894, aus einem plötzlichen
Anlaß der Innenpolitik, durch den gleichzeitigen Rücktritt des
Reichskanzlers Grafen Caprivi und des preußischen
Ministerpräsidenten Grafen Eulenburg, sein erstes Stadium beschloß.
Die Außenpolitik spielte dabei nicht mit, aber doch gewisse, in demselben
Augenblicke sich einstellende außenpolitische Möglichkeiten: der
Tod des Zaren und die Thronbesteigung Nikolaus' II. boten der
längst in einer gewissen Rückbiegung begriffenen
Außenpolitik des neuen Kurses zusammen mit einer allgemeinen
Änderung der Weltlage ganz neue Aussichten.
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