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Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil


Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin

Kapitel 1: Das Deutsche Reich
unter Kaiser Wilhelm II. (1890 - 1909)
  (Forts.)

[418] 2. Die Anfänge weltpolitischer Verflechtung 1894 - 1899.

Es war das Schicksal des alten Deutschen Reiches im 16. bis 18. Jahrhundert gewesen, daß es auf seiner damaligen Entwicklungsstufe sich an dem beginnendem Kampfe der Mächte um die Erschließung der Welt nicht selbständig beteiligen konnte. Die Folge war, daß auch die neuere Staatsentwicklung der Deutschen, bis zum Deutschen Bunde und zur Begründung des Deutschen Reiches, sich als ein im wesentlichen kontinental-europäischer Vorgang vollzog. Das dynamische Gesetz der großmächtlichen Entwicklung des Reiches lag demgemäß in Europa, überwiegend sogar auf dem Kontinent; wenn die Welt des nahen Orients einbezogen war, so lag das nicht an einem deutschen Bedürfnis, sondern an der historischen Tatsache, daß auf diesem Schauplatze das ewig flüssige Element der europäischen Machtinteressen sich zu erproben gewöhnt war. Noch zu Beginn der achtziger Jahre war das Deutsche Reich, ebenso wie seine mitteleuropäischen Verbündeten, ein rein europäischer Machtkomplex, der allein wirtschaftlich, aber nirgends politisch-militärisch in andere Welten oder über See hinausreichte.

Wir haben gesehen, aus welchen äußeren und inneren Anlässen die Politik Bismarcks in den Jahren 1883/85 sich doch noch, so spät es auch zur Aufteilung der Erde antrat, an kolonialem Erwerb in Afrika und in der Südsee beteiligte. Indem das Reich gegenüber diesem zunächst nur peripherischen, zusammenhangslosen und unbefestigten Besitz neue Verpflichtungen übernahm, trat in seiner bis dahin rein europäisch orientierten Außenpolitik unvermeidlich eine Verschiebung ein. Mit einem Male stand die Reichspolitik Aufgaben auf Gebieten gegenüber, in denen sie über Mittel der Machtanwendung nicht oder doch nur kaum verfügte. Gerade Bismarck empfand schon früh dieses Mißverhältnis als eine Beeinträchtigung seiner freien Hand in Europa. Er konnte, wie sich bei verschiedenen Gelegenheiten beobachten läßt, in den letzten Jahren seiner Staatsleitung koloniale Interessen unbarmherzig in die zweite Reihe schieben und hatte sogar Anwandlungen, in denen er z. B. den befreundeten Afrikareisenden Eugen Wolf fast unwillig auf die europäische Landkarte im Bereiche von Metz verwies: "Dies ist meine Karte von Afrika!" Aber sein eigenes Werk, das von ihm begründete Kolonialreich, wuchs trotzdem weiter, aus eigenen Lebensbedingungen, und forderte Schutz und Eintreten des Reiches. [419] Bei Caprivis kontinental-militärischer Denkweise war der natürliche Sinn für die Kolonien von Hause aus fast noch geringer, und das böse Wort "je weniger Afrika desto besser", zeigt an, daß die in diesen Jahren ansteigende Sorge um die europäische Existenz des Reiches ihm wenig Mut zu außereuropäischen Abenteuern machte. Und doch haben wir gesehen, daß in der Zeit seiner Kanzlerschaft koloniale Interessen so lebhaft in die große Politik des Reiches hineinspielen, daß man sich fragt, ob das richtige Verhältnis gewahrt blieb. Aber es war wohl mehr das Ressort als die Gesamtleitung, das diesen Ton anschlug. Der neue Kurs unter Caprivi stand weltpolitischen Phantasien innerlich noch ganz fremd gegenüber.

Seit der Mitte der neunziger Jahre wurde es üblich, von einem Zeitalter des Imperialismus zu sprechen und von dem besonderen Anteil, den das Deutsche Reich durch seinen zielbewußten Eintritt in die "Weltpolitik" genommen habe. Die Menschheit stand unter dem Eindruck, als wenn ein anderes Zeitalter sich anbahne, das unter einem besonderen neuen Gesetze stehe und die Gemeinschaft der Völker mit einem unwiderstehlichen Drang durcheinandertreibe; daß man einer weltgeschichtlichen Wendung entgegengehe, wurde fast nirgends so erregt empfunden und so lebhaft besprochen wie in Deutschland. Auch ferner stehenden Zuschauern teilte sich der Eindruck mit, daß ein allgemeiner Prozeß, der allerdings schon längere Zeit im Gange gewesen sei, durch die stürmische Art, mit der die Deutschen ihre Beteiligung aufnähmen, in ein beschleunigtes oder gar gewaltsames Tempo gerate. Man kann einen etwas weiter ausgreifenden außen- und innenpolitischen Ausblick nicht entbehren, um diese allgemeine Vorstellung auf einen historisch vertretbaren wahren Zusammenhang zurückzuführen.

In dem Jahrhundert, in dem das deutsche und das italienische Volk noch um die Grundlagen ihres Nationalstaates rangen - also lange bevor man von einem Zeitalter des Imperialismus zu sprechen pflegte -, hatte das Gesicht der Welt durch einen dreifachen, mächtigen und sich doch in der Stille vollziehenden Vorgang eine Veränderung von höchster Tragweite erfahren. Die englische Weltpolitik, die nach dem Auseinanderbrechen des ersten Imperiums in dem Aufbau eines zweiten ihre Genugtuung fand, das russische Kaiserreich, das gleichsam mit dem Rücken auf eine halbleere Welt stieß, und die Vereinigten Staaten, ihrem "offenbaren Berufensein" folgend, hatten die Hand auf den größten Teil der Erde gelegt. Die Summe dieser Tatsachen ist bis heute entscheidend für die Entwicklung des Erdballs. Und zwar vollzog sich diese folgenreiche Entwicklung, ohne daß "die Welt" von ihr erschüttert wurde, denn sie spielte sich ab in den überwiegend noch im Schatten liegenden Teilen der Erdoberfläche, ohne weitergreifende Reibungen und Rückwirkungen, als eine Summe von Vorgängen, deren voller Sinn erst in der Zukunft sich enthüllen würde. Dieses frühe Jugendstadium des modernen Imperialismus stieß ja auf unbewohnte oder nur von Völkern primitiver Kultur bewohnte Gebiete (wie etwa die Union bis zum [420] Felsengebirge oder Rußland in Sibirien und den transkaspischen Gebieten) oder auf Staatsgebiete mit tropisch entnervter Bevölkerung und alter versteinter Kultur (wie die Engländer in Indien): es dehnte sich aus, ohne ernsthafte Widerstände zu finden, und konnte seinen Gang lange Zeit fortsetzen, ohne sich in seinen drei großen Expansionsrichtungen in sich zu berühren. Diese Voraussetzung begann eines Tages zu schwinden. Ein neues Stadium dieses Prozesses setzte in dem Augenblick ein, als einzelne dieser imperialistischen Mächte sich mit bedrohlicher Rivalität näher rückten, wie es die englische und russische Ausdehnung in Asien eines Tages nicht mehr vermeiden konnte. Von diesem Augenblick an mußte eine neuartige Rückwirkung auf die Ursprungsländer eintreten. Aber auch dann mußte die begonnene imperialistische Aufrollung der Erde in einen gewissen Stillstand geraten, wenn eines der alten Kulturvölker, über die bisher die Räder der Ereignisse widerstandslos hinweggegangen waren, sich die technisch-militärischen Errungenschaften der Europäer aneignete und mit ihrer Hilfe Halt gebot. Schließlich konnte aber auch die Möglichkeit eintreten, daß in den Kreis der altimperialen Völker sich Staaten wieder einschoben, die vorübergehend eine ältere koloniale Tradition zugunsten anderer Bestrebungen zurückgestellt hatten wie die Franzosen, oder gar ganz neue Anwärter, die infolge einer verlangsamten nationalstaatlichen Entwicklung auf den Weltschauplätzen völlig zurückgeblieben waren und nun mit begehrlichem Wettbewerb einzudringen suchten: das ist die Rolle der Deutschen. In der Aufteilung Afrikas in den achtziger Jahren, wo sich Engländer, Franzosen, Deutsche und andere in den Weg traten, sieht man bereits ein viel unruhigeres Tempo, ein Sichdurchkreuzen und Sichabjagen der kolonialen Ziele. Man hatte plötzlich das Gefühl, daß die Welt kleiner werde, und man wurde sich bewußt, daß man vielleicht in einen letzten Aufteilungsprozeß eintrete. Das gilt vor allem von den Engländern, die das Wachstum ihres Kolonialreiches lange Zeit wie einen Naturvorgang sich selber überlassen hatten; in dem Augenblick, wo ihre beneidenswerten Vorzugschancen zusammenschrumpften, begann die freihändlerische Verhaltungsweise zu ihrem über die Welt verstreuten Kolonialbesitz sich zu einem historischen und ethischen Bewußtsein von der damit verbundenen menschheitlichen Aufgabe zu vertiefen. An diesem Punkte hat Seeleys Ausdehnung Englands den ihr vorbestimmten Platz gefunden und neben ihr die imperialistische Literatur, die der neuen politischen Bewegung den Namen, den Inhalt und die Schlagworte gibt. Was aber für die Engländer inmitten eines mächtigen Lebensprozesses nur ein Akt der tieferen Selbstbestimmung ist, wird für die anderen zu einem vorbildlichen und erzieherischen Antrieb, auf denselben Spuren zu wandeln.

So hat sich eine grundlegende Veränderung des Gesamtbildes vollzogen. Eine gewaltige Neigung zum "imperialen" Wettbewerb unter wachsender Rückwirkung dieser weltpolitischen Rivalitäten auf die europäische Staatengesellschaft erobert die Völker. Und da diese Dinge für das deutsche Erleben [421] etwas Neues sind, so verbindet sich mit ihnen seit der Mitte der neunziger Jahre die Vorstellung von der Notwendigkeit eines "Eintretens in die Weltpolitik".

Auf diesen Weg drängte nicht nur das äußere Weltbild, wie es sich um die Mitte der neunziger Jahre darstellte, sondern in demselben Maße die Betrachtung der inneren Lebensprobleme des Deutschen Reiches.

Der rasche Anstieg der deutschen Bevölkerungszahlen in den beiden ersten Jahrzehnten des Reiches setzte sich unter der Regierung Wilhelms II. in verstärktem Ausmaße fort. Er wuchs von 49,5 Millionen im Jahre 1890 auf 56,3 Millionen im Jahre 1900 und 64,9 Millionen im Jahre 1910, so daß von der Begründung des Reiches bis zur Schwelle des Weltkrieges eine Zunahme von über 25 Millionen zu verzeichnen ist. Das bedeutete nichts Geringeres, als eine Vermehrung um annähernd zwei Drittel der Bevölkerung, die das stationär gebliebene Frankreich überhaupt in dieser Zeit zählte. Wenn man sich klarmacht, daß es darauf ankam, diesen stetig wachsenden ungeheuren Überschuß zu ernähren, wird man ja zugleich erkennen, wie stark - im Unterschied zu Frankreich! - der Zwang dieser Lebenstatsache für die deutsche Politik sich auswirken mußte. Denn für diesen Überschuß gab es keinen normalen Abfluß mehr; die Auswanderung, die noch zu Anfang der achtziger Jahre von dem mittleren Westen der Vereinigten Staaten aufgenommen wurde, war längst zum Stillstand gekommen; die Aufnahmefähigkeit der deutschen Kolonialgebiete erwies sich als so beschränkt, daß sie für das Problem nicht in Betracht kam. Im Innern Deutschlands war die Landwirtschaft bei einem durchschnittlich mittleren und mäßig fruchtbaren Boden doch an enge Grenzen gebunden; nur im Osten kam es zu größeren Bauernansiedlungen auf dem käuflich erworbenen Boden polnischer Großgrundbesitzer. So blieb nichts übrig, als daß der weitaus größte Teil jenes Überschusses von den Erwerbsgebieten der Industrie, des Handels und des Verkehrs aufgenommen werden mußte. In welchem Umfange das tatsächlich geschehen ist, wird durch die Ziffern der Berufszählungen von 1882 und 1907 verdeutlicht. Während im Jahre 1882 die Landwirtschaft noch 19,2 Millionen Erwerbstätige (mit den Angehörigen) aufwies, Industrie, Handel und Verkehr 20,6 Millionen - also zwei etwa gleiche Gruppen einander gegenüberstanden -, war das Verhältnis im Jahre 1907 fast wie eins zu zwei geworden: die Erwerbstätigen der Landwirtschaft umfaßten nur noch 17,7 Millionen, während die Gruppe Industrie auf 34,7 Millionen angestiegen war. Der Bevölkerungsüberschuß war also wesentlich auf der einen Seite des wirtschaftlichen Lebens untergebracht worden.

Das war nicht möglich ohne eine ungeheure Verschiebung in der ökonomisch-sozialen Struktur: aus dem Deutschland von 1870, das ein Getreide ausführendes und Fabrikate einführendes Land gewesen war, wurde in steigendem Maße ein Getreide einführendes und Fabrikate ausführendes Land. Es war zugleich eine Verschiebung in der sittlich-kulturellen Struktur: man vergegenwärtige sich nur, [422] daß im Jahre 1871 knapp 2 Millionen Menschen in Großstädten über 100 000 Einwohnern lebten, während es in der ersten Statistik nach dem Weltkriege ungefähr 17 Millionen waren. So begann mit einer Schnelligkeit und Intensität, die ohnegleichen waren, der oft geschilderte Prozeß der Industrialisierung Deutschlands. Die Produktionssteigerung sollte in Kohle und Eisen sogar das alte Führerland England überholen. Die deutsche Eisenproduktion erreichte eine Höhe, die annähernd so groß war wie die von England und Frankreich zusammen. Bis zum Beginn des Weltkrieges schritten diese Zahlen unserer industriellen Leistungsfähigkeit Jahr für Jahr aufwärts, staunenerregend, verpflichtend, beinahe beunruhigend.

Denn wenn auch der gleichmäßig wachsende innere Markt einen großen Teil dieser Produktion in sich aufnehmen konnte, so war doch ein anderer Teil des Überschusses auf die Ausfuhr, auf den äußeren Markt angewiesen. Auch hier gingen die Zahlen sprunghaft in die Höhe. Der Wert der deutschen Ausfuhr, der im Jahre 1880 knapp 3 Milliarden Mark betrug, war im Jahre 1910 auf 7½ Milliarden Mark gestiegen, und unmittelbar vor dem Weltkriege marschierten die Endsummen der deutschen Außenhandelszahlen mit den entsprechenden Zahlen Großbritanniens in derselben Linie.

Wenn somit ein stets wachsender Teil des deutschen Bevölkerungsüberschusses von dem äußeren Markt lebte, wenn in immer weiter greifendem Umfange ein Teil der deutschen Energien auf die Behauptung und Ausdehnung des äußeren Marktes gerichtet war, so bedeutet das nichts anderes, als daß das Wohl und Wehe Deutschlands, wenigstens ökonomisch gesehen, von dieser Verflechtung in den Weltmarkt und seine Bedingungen immer abhängiger wurde. So kraftstrotzend dieser deutsche Wirtschaftskörper sich auch auswuchs, so blieb er doch immer mehr an etwas gebunden, worüber er nicht selbstherrlich verfügte, sondern mit anderen autonomen Gewalten der Erde sich auseinanderzusetzen hatte. Damit nähern wir uns dem innersten Problem, dem diese deutsche Machtstellung innerpolitisch und außenpolitisch verhaftet war.

Wenn in Deutschland der innere Druck am stärksten nötigte, die aus Bevölkerungs- und Energieüberschuß sich ergebenden Produktionsmengen auf dem Weltmarkt abzusetzen, so lagen die äußeren Bedingungen für diese Lebensnotwendigkeit, gemäß der historischen Entwicklung, ziemlich ungünstig. Wir hatten keine von unserem Reiche überschatteten Nebenländer, sondern waren in Europa fast nur von Gebieten umgeben, die eher unserer eigenen, von Spannungen überfüllten wirtschaftlichen Struktur ähnlich waren. Wir besaßen weder weiße Auswanderungsgebiete großen Stils, noch unentwickelte Nachbargebiete, deren Bedürfnisse sich steigern ließen, noch tropische Kolonialgebiete mit massenhafter Aufnahmefähigkeit. Wir mochten uns damit trösten, daß wir vielleicht einige besondere Chancen besaßen in technischer Geschicklichkeit und kaufmännischer Beweglichkeit, in Verbindung von Wissenschaft und Industrie, in Qualitäts- [423] leistungen und Energiesteigerung, aber wir konnten nicht damit rechnen, daß dies uns dauernd einen Vorsprung sicherte. Wir wurden in die Weltwirtschaft hineingestoßen, ob wir wollten oder nicht, und waren mit unserer ganzen Existenz darauf angewiesen, daß diese Welt und ihre Ordnung sich nicht zuungunsten unserer wirtschaftlichen Bedürfnisse verändere oder, wenn dies infolge fremder Machtausdehnung doch geschah, daß wir dann wenigstens einen Ausgleich zu unseren Gunsten, auf welchem Wege auch immer, herbeiführten.

Und nun haben wir gesehen, wie allerdings die Welt, von einem verschärften imperialen Wettbewerb der Großen überfallen, immer kleiner wurde und die Spannungen, die ein entlegenes Gebiet nach dem anderen in ihn hineinzogen, immer heftiger. Der Kampf der weißen Völker um die Teilung der Erde nahm einen ernsteren Charakter an. Dieses Zeitalter des Imperialismus, dessen äußere Voraussetzungen wir schon umrissen haben, brachte auch dadurch etwas Neues, daß dieser Kampf ganz neue und ungewohnte Methoden und Mittel erzeugte. Zu der einfachen Unterwerfung erworbener Gebiete begannen sich neue Formen der inneren Aneignung und der tatsächlichen Kontrolle zu gesellen. Im nahen Orient waren längst politische Methoden üblich, unter Beibehaltung der bestehenden Rechtsordnung im Osmanenreich, so gut wie selbständige Neuschöpfungen ins Leben zu rufen, wie es das Hineinwachsen Englands in das Protektorat von Ägypten zeigt - eine so einschneidende Umbildung war allerdings nur in Verbindung mit der großen Politik möglich gewesen. Die Vereinigten Staaten vollzogen in Mittelamerika - ob es sich nun um ehemalige Zwergrepubliken handelte oder um Reste des spanischen Kolonialreiches - eine verwandte Aneignung der tatsächlichen Macht, auch ohne Rechtsform, allein durch den Einfluß des Kapitals. In Ostasien wurden - in Fortbildung der Formen, unter denen sich die ersten Festsetzungen europäischer Mächte in chinesischen Häfen vollzogen hatten - Pachtungen gewisser Landesteile auf lange Fristen die Regel, bei denen die praktische Ausübung der Hoheitsrechte auf den pachtenden Staat überging; hinter einem so gesicherten Festpunkte erstreckten sich Interessensphären, in denen wirtschaftliche Monopole eingeräumt wurden, oder Hinterländer, in denen sie wenigstens beansprucht wurden. Wenn ein größeres Gebiet mehrere rivalisierende Mächte lockte, zum Nutznießer damit verbundener Vorteile zu werden, so verfiel man wohl auch auf den Ausweg, sich durch Demarkationslinien gesondert nebeneinander einzurichten oder gar gemeinsame Anwartschaft für die Zukunft anzumelden.

Während auf allen diesen Wegen geltende Souveränitätsrechte dahinschmolzen oder nur dem Scheine nach aufrechterhalten wurden, gab es ein weites Feld, auf dem die wirtschaftliche "Expansion" um sich griff, ohne in die völkerrechtliche Ordnung einzudringen. Das geschah, wenn etwa eine Macht, wie die Türkei, ein einzelnes Wirtschaftsmonopol, wie den Eisenbahnbau auf wichtigen Linien, einer Macht wie Deutschland übertrug; wobei sich dann doch [424] sofort herausstellte, daß Einrichtungen, die an sich nur der Wirtschaft und dem Verkehr dienten, indirekt eine politische und militärische Rückwirkung haben konnten und dementsprechend von den anderen gewertet wurden. Nicht anders stand es um die Anleihepolitik, die, zumal wenn sie mit naheliegenden Bedürfnissen der Rüstungspolitik verbunden war, zu einer regelmäßigen Begleiterscheinung jener politischen Beziehungen wurde, auf deren tiefstem Grunde die Worte Krieg und Frieden wohl zu erkennen sind. Diese Politisierung der Anleihen, für die später von den Amerikanern der Name der Dollardiplomatie geprägt wurde, erzeugte ein leicht verwirrbares Netz freundschaftlicher Verpflichtungen, in dem in der Regel der Gläubiger den Schuldner, in einzelnen Fällen aber auch der Schuldner den Gläubiger hinter sich zog. Es stellte sich bald heraus, daß auch das System der handelsvertraglichen Beziehungen nicht allein von den wohlverstandenen Wirtschaftsinteressen der beiden Partner bestimmt wurde, sondern von der Summe politischer, militärischer, ökonomischer, finanzieller Einflüsse, die sich in mannigfacher Kombination das Gebiet streitig machten.

Aber die großen Nationen begannen nicht nur alle diese Dinge auszuführen: Geld und Lokomotiven, Kanonen und Gewehre, Maschinen und Fabrikate - sie gingen auch dazu über, namentlich wenn es sich um Rückhalt und Sympathiewerte auf kulturärmerem, fremdem Boden handelte, auch die kulturellen Erzeugnisse ihrer geistigen Individualität auszusenden, von denen sie sich eine Unterstützung in dem Kampf um die materiellen Objekte versprachen: Schulen und Universitäten, Hospitäler und hygienische Institute, Zeitungen und Telegraphenbüros konnten zu Mitteln werden, ein fremdes Gebiet mit Einfluß zu durchtränken, zu beglücken oder zu unterwerfen - je nachdem. Eine besondere Eigenart dieses Imperialismus bestand eben darin, daß die imperialistischen Mächte (und ihre Mitläufer) sich nicht nur mit ihrer machtpolitischen und wirtschaftlichen Auswirkung in Bewegung gesetzt hatten, sondern in der ganzen Rüstung ihrer kulturellen und moralischen Vitalität zu Felde zogen und alle Lebenswerte, die sie an sich reißen konnten, zu Bestandteilen der Macht in dem großen Ringen über das künftige Gesicht der Erde erhoben. Das Ganze stellt einen ungeheuren Prozeß dar, der, auch wenn man sich das Deutsche Reich von der Erde wegdenkt, sich damals machtvoll ausgewirkt haben würde, aber durch den Zutritt dieses, auf die Kraftbetätigung ebenso begierigen wie angewiesenen energiegeladenen Körpers noch beschleunigt wurde.

Man tut gut - um den deutschen Anteil an diesen weltbewegenden Dingen von vornherein im richtigen Verhältnis zu sehen - sich die elementaren Ereignisse der Weltgeschichte von der Mitte der neunziger Jahre bis über die Jahrhundertwende hinaus wenigstens in den Daten sich zu vergegenwärtigen. Eroberung von Madagaskar durch die Franzosen, 1895 bis Januar 1896. - Intervention Rußlands, Frankreichs und Deutschlands im Japanisch-Chinesischen Kriege, April 1895. - Salisburys Vorschlag einer Teilung des Türkischen [425] Reiches, Juli 1895. - Erster englischer Vorstoß gegen die Burenrepubliken, Dezember 1895 bis Januar 1896. - Eröffnung der russischen ostsibirischen Bahn 1896. - Festsetzung der Deutschen in Kiautschou, November 1897 bis März 1898. - Zerstörung des spanischen Kolonialreiches durch Amerika, Februar bis Dezember 1898. - Festsetzung der Russen in Port Arthur, der Engländer in Wei-hai-wei, März bis April 1898. - Englisch-französischer Zusammenstoß in Faschoda, Juli bis November 1898. - Orientreise Kaiser Wilhelms II., Oktober bis November 1898. - Eröffnung des Hauptteiles der russisch-sibirischen Bahn 1899. - Deutsche Vorkonzession für die Bagdadbahn, Dezember 1899. - Burenkrieg, Oktober 1899 bis Mai 1902. - Bau der chinesisch-mandschurischen Bahn durch die Russen, Dezember 1899 bis Sommer 1902. - Strafexpedition in China 1901/1902. - Russische Festsetzung in Persien 1902.

Wenn man die Gesamtheit dieser Ereignisse und ihren inneren Zusammenhang überblickt, wird man einige allgemeine Eindrücke vorweg verzeichnen dürfen. Wir haben im Verlaufe unserer Darstellung beobachtet, wie sich z. B. im Jahre 1887 sämtliche Gegensätze der europäischen Staatengesellschaft in dem Kampf um das Schicksal Bulgariens wie in einem Brennpunkt zusammenfassen. Das Bild, das sich an Stelle jener ungewöhnlichen Konzentration nunmehr in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre bietet, kann gar nicht entgegengesetzter sein, denn es zeigt eine völlig dezentralisierte Zerstreuung aller politischen Machtziele über den ganzen Erdball hin. Es ist, als wenn eine völlig veränderte Dynamik die Beziehungen aller Mächte zueinander regierte. Schon angesichts dieser Tatsache wird das Bedürfnis, Verantwortlichkeiten aufzustellen und gegeneinander abzuwägen, genötigt sein, den Mund nicht allzu weit zu öffnen. Des weiteren läßt sich unschwer erkennen, daß als die Protagonisten auf der Weltbühne auch jetzt noch, was Umfang und gewaltsames Durchgreifen angeht, die drei vorher als altimperiale Großmächte bezeichneten Staaten in Betracht kommen und daß ihnen gegenüber Frankreich und Deutschland doch nur als Mächte zweiter Linie anzusehen sind. Dabei scheint jetzt schon die Feststellung erlaubt zu sein, daß in dieser Weltlage ein Sichheraushalten der deutschen Politik - des inneren wie des äußeren Zwanges wegen - sich von vornherein verboten haben würde. Eine kontinentalpolitische Enthaltsamkeit, um unbequemen Weltgefahren vorzubeugen, läßt sich rückblickend leichter verordnen; man darf dafür auch keinesfalls die Autorität Bismarcks anrufen, der mit einem ganz anderen Weltbilde zu rechnen hatte. Tritt man von der Staatspraxis und den Erfahrungen Bismarcks an ein neues Zeitalter heran, das offenbar seine Aufgaben anders stellte, so scheint der Kern des politischen Problems darin zu liegen: Unter welchen Umständen durfte das Land der Mitte, das an gewisse eindeutige Lebensvoraussetzungen unabänderlich gebunden war, diesen unabsehbar verschobenen Schauplatz der großen Politik betreten? Wie ließen sich die kontinen- [426] talen Maßstäbe der Bismarckschen Politik mit den weitreichenden Aufgaben, wenn man will, mit den weltpolitischen Zielen der neuen Ära in das richtige Verhältnis bringen?

Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte