Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 1: Das Deutsche Reich
unter Kaiser Wilhelm II. (1890 - 1909) (Forts.)
[418] 2. Die Anfänge
weltpolitischer Verflechtung 1894 - 1899.
Es war das Schicksal des alten Deutschen Reiches im 16. bis 18. Jahrhundert
gewesen, daß es auf seiner damaligen Entwicklungsstufe sich an dem
beginnendem Kampfe der Mächte um die Erschließung der Welt
nicht selbständig beteiligen konnte. Die Folge war, daß auch die
neuere Staatsentwicklung der Deutschen, bis zum Deutschen Bunde und zur
Begründung des Deutschen Reiches, sich als ein im wesentlichen
kontinental-europäischer Vorgang vollzog. Das dynamische Gesetz der
großmächtlichen Entwicklung des Reiches lag
demgemäß in Europa, überwiegend sogar auf dem Kontinent;
wenn die Welt des nahen Orients einbezogen war, so lag das nicht an einem
deutschen Bedürfnis, sondern an der historischen Tatsache, daß auf
diesem Schauplatze das ewig flüssige Element der europäischen
Machtinteressen sich zu erproben gewöhnt war. Noch zu Beginn der
achtziger Jahre war das Deutsche Reich, ebenso wie seine
mitteleuropäischen Verbündeten, ein rein europäischer
Machtkomplex, der allein wirtschaftlich, aber nirgends
politisch-militärisch in andere Welten oder über See
hinausreichte.
Wir haben gesehen, aus welchen äußeren und inneren Anlässen
die Politik Bismarcks
in den Jahren 1883/85 sich doch noch, so spät es
auch zur Aufteilung der Erde antrat, an kolonialem Erwerb in Afrika und in der
Südsee beteiligte. Indem das Reich gegenüber diesem
zunächst nur peripherischen, zusammenhangslosen und unbefestigten
Besitz neue Verpflichtungen übernahm, trat in seiner bis dahin rein
europäisch orientierten Außenpolitik unvermeidlich eine
Verschiebung ein. Mit einem Male stand die Reichspolitik Aufgaben auf Gebieten
gegenüber, in denen sie über Mittel der Machtanwendung nicht oder
doch nur kaum verfügte. Gerade Bismarck empfand schon früh
dieses Mißverhältnis als eine Beeinträchtigung seiner freien
Hand in Europa. Er konnte, wie sich bei verschiedenen Gelegenheiten beobachten
läßt, in den letzten Jahren seiner Staatsleitung koloniale Interessen
unbarmherzig in die zweite Reihe schieben und hatte sogar Anwandlungen, in
denen er z. B. den befreundeten Afrikareisenden Eugen Wolf fast unwillig
auf die europäische Landkarte im Bereiche von Metz verwies: "Dies ist
meine Karte von Afrika!" Aber sein eigenes Werk, das von ihm begründete
Kolonialreich, wuchs trotzdem weiter, aus eigenen Lebensbedingungen, und
forderte Schutz und Eintreten des Reiches. [419] Bei Caprivis
kontinental-militärischer Denkweise war der natürliche Sinn
für die Kolonien von Hause aus fast noch geringer, und das böse
Wort "je weniger Afrika desto besser", zeigt an, daß die in diesen Jahren
ansteigende Sorge um die europäische Existenz des Reiches ihm wenig Mut
zu außereuropäischen Abenteuern machte. Und doch haben wir
gesehen, daß in der Zeit seiner Kanzlerschaft koloniale Interessen so lebhaft
in die große Politik des Reiches hineinspielen, daß man sich fragt, ob
das richtige Verhältnis gewahrt blieb. Aber es war wohl mehr das Ressort
als die Gesamtleitung, das diesen Ton anschlug. Der neue Kurs unter Caprivi
stand weltpolitischen Phantasien innerlich noch ganz fremd gegenüber.
Seit der Mitte der neunziger Jahre wurde es üblich, von einem Zeitalter des
Imperialismus zu sprechen und von dem besonderen Anteil, den das Deutsche
Reich durch seinen zielbewußten Eintritt in die "Weltpolitik" genommen
habe. Die Menschheit stand unter dem Eindruck, als wenn ein anderes Zeitalter
sich anbahne, das unter einem besonderen neuen Gesetze stehe und die
Gemeinschaft der Völker mit einem unwiderstehlichen Drang
durcheinandertreibe; daß man einer weltgeschichtlichen Wendung
entgegengehe, wurde fast nirgends so erregt empfunden und so lebhaft besprochen
wie in Deutschland. Auch ferner stehenden Zuschauern teilte sich der Eindruck
mit, daß ein allgemeiner Prozeß, der allerdings schon längere
Zeit im Gange gewesen sei, durch die stürmische Art, mit der die
Deutschen ihre Beteiligung aufnähmen, in ein beschleunigtes oder gar
gewaltsames Tempo gerate. Man kann einen etwas weiter ausgreifenden
außen- und innenpolitischen Ausblick nicht entbehren, um diese allgemeine
Vorstellung auf einen historisch vertretbaren wahren Zusammenhang
zurückzuführen.
In dem Jahrhundert, in dem das deutsche und das italienische Volk noch um die
Grundlagen ihres Nationalstaates rangen - also lange bevor man von einem
Zeitalter des Imperialismus zu sprechen
pflegte -, hatte das Gesicht der Welt durch einen dreifachen,
mächtigen und sich doch in der Stille vollziehenden Vorgang eine
Veränderung von höchster Tragweite erfahren. Die englische
Weltpolitik, die nach dem Auseinanderbrechen des ersten Imperiums in dem
Aufbau eines zweiten ihre Genugtuung fand, das russische Kaiserreich, das
gleichsam mit dem Rücken auf eine halbleere Welt stieß, und die
Vereinigten Staaten, ihrem "offenbaren Berufensein" folgend, hatten die Hand auf
den größten Teil der Erde gelegt. Die Summe dieser Tatsachen ist bis
heute entscheidend für die Entwicklung des Erdballs. Und zwar vollzog
sich diese folgenreiche Entwicklung, ohne daß "die Welt" von ihr
erschüttert wurde, denn sie spielte sich ab in den überwiegend noch
im Schatten liegenden Teilen der Erdoberfläche, ohne weitergreifende
Reibungen und Rückwirkungen, als eine Summe von Vorgängen,
deren voller Sinn erst in der Zukunft sich enthüllen würde. Dieses
frühe Jugendstadium des modernen Imperialismus stieß ja auf
unbewohnte oder nur von Völkern primitiver Kultur bewohnte Gebiete (wie
etwa die Union bis zum [420] Felsengebirge oder
Rußland in Sibirien und den transkaspischen Gebieten) oder auf
Staatsgebiete mit tropisch entnervter Bevölkerung und alter versteinter
Kultur (wie die Engländer in Indien): es dehnte sich aus, ohne ernsthafte
Widerstände zu finden, und konnte seinen Gang lange Zeit fortsetzen, ohne
sich in seinen drei großen Expansionsrichtungen in sich zu berühren.
Diese Voraussetzung begann eines Tages zu schwinden. Ein neues Stadium dieses
Prozesses setzte in dem Augenblick ein, als einzelne dieser imperialistischen
Mächte sich mit bedrohlicher Rivalität näher rückten,
wie es die englische und russische Ausdehnung in Asien eines Tages nicht mehr
vermeiden konnte. Von diesem Augenblick an mußte eine neuartige
Rückwirkung auf die Ursprungsländer eintreten. Aber auch dann
mußte die begonnene imperialistische Aufrollung der Erde in einen
gewissen Stillstand geraten, wenn eines der alten Kulturvölker, über
die bisher die Räder der Ereignisse widerstandslos hinweggegangen waren,
sich die technisch-militärischen Errungenschaften der Europäer
aneignete und mit ihrer Hilfe Halt gebot. Schließlich konnte aber auch die
Möglichkeit eintreten, daß in den Kreis der altimperialen
Völker sich Staaten wieder einschoben, die vorübergehend eine
ältere koloniale Tradition zugunsten anderer Bestrebungen
zurückgestellt hatten wie die Franzosen, oder gar ganz neue
Anwärter, die infolge einer verlangsamten nationalstaatlichen Entwicklung
auf den Weltschauplätzen völlig zurückgeblieben waren und
nun mit begehrlichem Wettbewerb einzudringen suchten: das ist die Rolle der
Deutschen. In der Aufteilung Afrikas in den achtziger Jahren, wo sich
Engländer, Franzosen, Deutsche und andere in den Weg traten, sieht man
bereits ein viel unruhigeres Tempo, ein Sichdurchkreuzen und Sichabjagen der
kolonialen Ziele. Man hatte plötzlich das Gefühl, daß die Welt
kleiner werde, und man wurde sich bewußt, daß man vielleicht in
einen letzten Aufteilungsprozeß eintrete. Das gilt vor allem von den
Engländern, die das Wachstum ihres Kolonialreiches lange Zeit wie einen
Naturvorgang sich selber überlassen hatten; in dem Augenblick, wo ihre
beneidenswerten Vorzugschancen zusammenschrumpften, begann die
freihändlerische Verhaltungsweise zu ihrem über die Welt
verstreuten Kolonialbesitz sich zu einem historischen und ethischen
Bewußtsein von der damit verbundenen menschheitlichen Aufgabe zu
vertiefen. An diesem Punkte hat Seeleys Ausdehnung Englands den ihr
vorbestimmten Platz gefunden und neben ihr die imperialistische Literatur, die der
neuen politischen Bewegung den Namen, den Inhalt und die Schlagworte gibt.
Was aber für die Engländer inmitten eines mächtigen
Lebensprozesses nur ein Akt der tieferen Selbstbestimmung ist, wird für die
anderen zu einem vorbildlichen und erzieherischen Antrieb, auf denselben Spuren
zu wandeln.
So hat sich eine grundlegende Veränderung des Gesamtbildes vollzogen.
Eine gewaltige Neigung zum "imperialen" Wettbewerb unter wachsender
Rückwirkung dieser weltpolitischen Rivalitäten auf die
europäische Staatengesellschaft erobert die Völker. Und da diese
Dinge für das deutsche Erleben [421] etwas Neues sind, so
verbindet sich mit ihnen seit der Mitte der neunziger Jahre die Vorstellung von
der Notwendigkeit eines "Eintretens in die Weltpolitik".
Auf diesen Weg drängte nicht nur das äußere Weltbild, wie es
sich um die Mitte der neunziger Jahre darstellte, sondern in demselben
Maße die Betrachtung der inneren Lebensprobleme des Deutschen
Reiches.
Der rasche Anstieg der deutschen Bevölkerungszahlen in den beiden ersten
Jahrzehnten des Reiches setzte sich unter der Regierung Wilhelms II. in
verstärktem Ausmaße fort. Er wuchs von 49,5 Millionen im
Jahre 1890 auf 56,3 Millionen im Jahre 1900 und 64,9 Millionen im
Jahre 1910, so daß von der Begründung des Reiches bis zur Schwelle
des Weltkrieges eine Zunahme von über 25 Millionen zu
verzeichnen ist. Das bedeutete nichts Geringeres, als eine Vermehrung um
annähernd zwei Drittel der Bevölkerung, die das stationär
gebliebene Frankreich überhaupt in dieser Zeit zählte. Wenn man
sich klarmacht, daß es darauf ankam, diesen stetig wachsenden ungeheuren
Überschuß zu ernähren, wird man ja zugleich erkennen, wie
stark - im Unterschied zu Frankreich! - der Zwang dieser
Lebenstatsache für die deutsche Politik sich auswirken mußte. Denn
für diesen Überschuß gab es keinen normalen Abfluß
mehr; die Auswanderung, die noch zu Anfang der achtziger Jahre von dem
mittleren Westen der Vereinigten Staaten aufgenommen wurde, war
längst zum Stillstand gekommen; die Aufnahmefähigkeit der
deutschen Kolonialgebiete erwies sich als so beschränkt, daß sie
für das Problem nicht in Betracht kam. Im Innern Deutschlands war die
Landwirtschaft bei einem durchschnittlich mittleren und mäßig
fruchtbaren Boden doch an enge Grenzen gebunden; nur im Osten kam es zu
größeren Bauernansiedlungen auf dem käuflich erworbenen
Boden polnischer Großgrundbesitzer. So blieb nichts übrig, als
daß der weitaus größte Teil jenes Überschusses von den
Erwerbsgebieten der Industrie, des Handels und des Verkehrs aufgenommen
werden mußte. In welchem Umfange das tatsächlich geschehen ist,
wird durch die Ziffern der Berufszählungen von 1882 und 1907
verdeutlicht. Während im Jahre 1882 die Landwirtschaft noch
19,2 Millionen Erwerbstätige (mit den Angehörigen) aufwies,
Industrie, Handel und Verkehr
20,6 Millionen - also zwei etwa gleiche Gruppen einander
gegenüberstanden -, war das Verhältnis im Jahre 1907 fast wie
eins zu zwei geworden: die Erwerbstätigen der Landwirtschaft
umfaßten nur noch 17,7 Millionen, während die Gruppe
Industrie auf 34,7 Millionen angestiegen war. Der
Bevölkerungsüberschuß war also wesentlich auf der einen
Seite des wirtschaftlichen Lebens untergebracht worden.
Das war nicht möglich ohne eine ungeheure Verschiebung in der
ökonomisch-sozialen Struktur: aus dem Deutschland von 1870, das ein
Getreide ausführendes und Fabrikate einführendes Land gewesen
war, wurde in steigendem Maße ein Getreide einführendes und
Fabrikate ausführendes Land. Es war zugleich eine Verschiebung in der
sittlich-kulturellen Struktur: man vergegenwärtige sich nur, [422] daß im Jahre
1871 knapp 2 Millionen Menschen in Großstädten über
100 000 Einwohnern lebten, während es in der ersten Statistik nach
dem Weltkriege ungefähr 17 Millionen waren. So begann mit einer
Schnelligkeit und Intensität, die ohnegleichen waren, der oft geschilderte
Prozeß der Industrialisierung Deutschlands. Die Produktionssteigerung
sollte in Kohle und Eisen sogar das alte Führerland England
überholen. Die deutsche Eisenproduktion erreichte eine Höhe, die
annähernd so groß war wie die von England und Frankreich
zusammen. Bis zum Beginn des Weltkrieges schritten diese Zahlen unserer
industriellen Leistungsfähigkeit Jahr für Jahr aufwärts,
staunenerregend, verpflichtend, beinahe beunruhigend.
Denn wenn auch der gleichmäßig wachsende innere Markt einen
großen Teil dieser Produktion in sich aufnehmen konnte, so war doch ein
anderer Teil des Überschusses auf die Ausfuhr, auf den
äußeren Markt angewiesen. Auch hier gingen die Zahlen sprunghaft
in die Höhe. Der Wert der deutschen Ausfuhr, der im Jahre 1880 knapp
3 Milliarden Mark betrug, war im Jahre 1910 auf
7½ Milliarden Mark gestiegen, und unmittelbar vor dem Weltkriege
marschierten die Endsummen der deutschen Außenhandelszahlen mit den
entsprechenden Zahlen Großbritanniens in derselben Linie.
Wenn somit ein stets wachsender Teil des deutschen
Bevölkerungsüberschusses von dem äußeren Markt
lebte, wenn in immer weiter greifendem Umfange ein Teil der deutschen Energien
auf die Behauptung und Ausdehnung des äußeren Marktes gerichtet
war, so bedeutet das nichts anderes, als daß das Wohl und Wehe
Deutschlands, wenigstens ökonomisch gesehen, von dieser Verflechtung in
den Weltmarkt und seine Bedingungen immer abhängiger wurde. So
kraftstrotzend dieser deutsche Wirtschaftskörper sich auch auswuchs, so
blieb er doch immer mehr an etwas gebunden, worüber er nicht
selbstherrlich verfügte, sondern mit anderen autonomen Gewalten der Erde
sich auseinanderzusetzen hatte. Damit nähern wir uns dem innersten
Problem, dem diese deutsche Machtstellung innerpolitisch und
außenpolitisch verhaftet war.
Wenn in Deutschland der innere Druck am stärksten nötigte, die aus
Bevölkerungs- und Energieüberschuß sich ergebenden
Produktionsmengen auf dem Weltmarkt abzusetzen, so lagen die
äußeren Bedingungen für diese Lebensnotwendigkeit,
gemäß der historischen Entwicklung, ziemlich ungünstig. Wir
hatten keine von unserem Reiche überschatteten Nebenländer,
sondern waren in Europa fast nur von Gebieten umgeben, die eher unserer
eigenen, von Spannungen überfüllten wirtschaftlichen Struktur
ähnlich waren. Wir besaßen weder weiße
Auswanderungsgebiete großen Stils, noch unentwickelte Nachbargebiete,
deren Bedürfnisse sich steigern ließen, noch tropische
Kolonialgebiete mit massenhafter Aufnahmefähigkeit. Wir mochten uns
damit trösten, daß wir vielleicht einige besondere Chancen
besaßen in technischer Geschicklichkeit und kaufmännischer
Beweglichkeit, in Verbindung von Wissenschaft und Industrie, in
Qualitäts- [423] leistungen und
Energiesteigerung, aber wir konnten nicht damit rechnen, daß dies uns
dauernd einen Vorsprung sicherte. Wir wurden in die Weltwirtschaft
hineingestoßen, ob wir wollten oder nicht, und waren mit unserer ganzen
Existenz darauf angewiesen, daß diese Welt und ihre Ordnung sich nicht
zuungunsten unserer wirtschaftlichen Bedürfnisse verändere oder,
wenn dies infolge fremder Machtausdehnung doch geschah, daß wir dann
wenigstens einen Ausgleich zu unseren Gunsten, auf welchem Wege auch immer,
herbeiführten.
Und nun haben wir gesehen, wie allerdings die Welt, von einem
verschärften imperialen Wettbewerb der Großen überfallen,
immer kleiner wurde und die Spannungen, die ein entlegenes Gebiet nach dem
anderen in ihn hineinzogen, immer heftiger. Der Kampf der weißen
Völker um die Teilung der Erde nahm einen ernsteren Charakter an. Dieses
Zeitalter des Imperialismus, dessen äußere Voraussetzungen wir
schon umrissen haben, brachte auch dadurch etwas Neues, daß dieser
Kampf ganz neue und ungewohnte Methoden und Mittel erzeugte. Zu der
einfachen Unterwerfung erworbener Gebiete begannen sich neue Formen der
inneren Aneignung und der tatsächlichen Kontrolle zu gesellen. Im nahen
Orient waren längst politische Methoden üblich, unter Beibehaltung
der bestehenden Rechtsordnung im Osmanenreich, so gut wie selbständige
Neuschöpfungen ins Leben zu rufen, wie es das Hineinwachsen Englands
in das Protektorat von Ägypten
zeigt - eine so einschneidende Umbildung war allerdings nur in Verbindung
mit der großen Politik möglich gewesen. Die Vereinigten Staaten
vollzogen in Mittelamerika - ob es sich nun um ehemalige
Zwergrepubliken handelte oder um Reste des spanischen
Kolonialreiches - eine verwandte Aneignung der tatsächlichen
Macht, auch ohne Rechtsform, allein durch den Einfluß des Kapitals. In
Ostasien wurden - in Fortbildung der Formen, unter denen sich die ersten
Festsetzungen europäischer Mächte in chinesischen Häfen
vollzogen hatten - Pachtungen gewisser Landesteile auf lange Fristen die
Regel, bei denen die praktische Ausübung der Hoheitsrechte auf den
pachtenden Staat überging; hinter einem so gesicherten Festpunkte
erstreckten sich Interessensphären, in denen wirtschaftliche Monopole
eingeräumt wurden, oder Hinterländer, in denen sie wenigstens
beansprucht wurden. Wenn ein größeres Gebiet mehrere
rivalisierende Mächte lockte, zum Nutznießer damit verbundener
Vorteile zu werden, so verfiel man wohl auch auf den Ausweg, sich durch
Demarkationslinien gesondert nebeneinander einzurichten oder gar gemeinsame
Anwartschaft für die Zukunft anzumelden.
Während auf allen diesen Wegen geltende Souveränitätsrechte
dahinschmolzen oder nur dem Scheine nach aufrechterhalten wurden, gab es ein
weites Feld, auf dem die wirtschaftliche "Expansion" um sich griff, ohne in die
völkerrechtliche Ordnung einzudringen. Das geschah, wenn etwa eine
Macht, wie die Türkei, ein einzelnes Wirtschaftsmonopol, wie den
Eisenbahnbau auf wichtigen Linien, einer Macht wie Deutschland übertrug;
wobei sich dann doch [424] sofort herausstellte,
daß Einrichtungen, die an sich nur der Wirtschaft und dem Verkehr dienten,
indirekt eine politische und militärische Rückwirkung haben konnten
und dementsprechend von den anderen gewertet wurden. Nicht anders stand es
um die Anleihepolitik, die, zumal wenn sie mit naheliegenden Bedürfnissen
der Rüstungspolitik verbunden war, zu einer regelmäßigen
Begleiterscheinung jener politischen Beziehungen wurde, auf deren tiefstem
Grunde die Worte Krieg und Frieden wohl zu erkennen sind. Diese Politisierung
der Anleihen, für die später von den Amerikanern der Name der
Dollardiplomatie geprägt wurde, erzeugte ein leicht verwirrbares Netz
freundschaftlicher Verpflichtungen, in dem in der Regel der Gläubiger den
Schuldner, in einzelnen Fällen aber auch der Schuldner den
Gläubiger hinter sich zog. Es stellte sich bald heraus, daß auch das
System der handelsvertraglichen Beziehungen nicht allein von den
wohlverstandenen Wirtschaftsinteressen der beiden Partner bestimmt wurde,
sondern von der Summe politischer, militärischer, ökonomischer,
finanzieller Einflüsse, die sich in mannigfacher Kombination das Gebiet
streitig machten.
Aber die großen Nationen begannen nicht nur alle diese Dinge
auszuführen: Geld und Lokomotiven, Kanonen und Gewehre, Maschinen
und Fabrikate - sie gingen auch dazu über, namentlich wenn es sich
um Rückhalt und Sympathiewerte auf kulturärmerem, fremdem
Boden handelte, auch die kulturellen Erzeugnisse ihrer geistigen
Individualität auszusenden, von denen sie sich eine Unterstützung in
dem Kampf um die materiellen Objekte versprachen: Schulen und
Universitäten, Hospitäler und hygienische Institute, Zeitungen und
Telegraphenbüros konnten zu Mitteln werden, ein fremdes Gebiet mit
Einfluß zu durchtränken, zu beglücken oder zu
unterwerfen - je nachdem. Eine besondere Eigenart dieses Imperialismus
bestand eben darin, daß die imperialistischen Mächte (und ihre
Mitläufer) sich nicht nur mit ihrer machtpolitischen und wirtschaftlichen
Auswirkung in Bewegung gesetzt hatten, sondern in der ganzen Rüstung
ihrer kulturellen und moralischen Vitalität zu Felde zogen und alle
Lebenswerte, die sie an sich reißen konnten, zu Bestandteilen der Macht in
dem großen Ringen über das künftige Gesicht der Erde
erhoben. Das Ganze stellt einen ungeheuren Prozeß dar, der, auch wenn
man sich das Deutsche Reich von der Erde wegdenkt, sich damals machtvoll
ausgewirkt haben würde, aber durch den Zutritt dieses, auf die
Kraftbetätigung ebenso begierigen wie angewiesenen energiegeladenen
Körpers noch beschleunigt wurde.
Man tut gut - um den deutschen Anteil an diesen weltbewegenden Dingen von
vornherein im richtigen Verhältnis zu
sehen - sich die elementaren Ereignisse der Weltgeschichte von der Mitte
der neunziger Jahre bis über die Jahrhundertwende hinaus wenigstens in
den Daten sich zu vergegenwärtigen. Eroberung von Madagaskar durch die
Franzosen, 1895 bis Januar
1896. - Intervention Rußlands, Frankreichs und Deutschlands im
Japanisch-Chinesischen Kriege, April
1895. - Salisburys Vorschlag einer Teilung des Türkischen [425] Reiches, Juli
1895. - Erster englischer Vorstoß gegen die Burenrepubliken,
Dezember 1895 bis Januar
1896. - Eröffnung der russischen ostsibirischen Bahn
1896. - Festsetzung der Deutschen in Kiautschou, November 1897 bis
März 1898. - Zerstörung des spanischen Kolonialreiches
durch Amerika, Februar bis Dezember
1898. - Festsetzung der Russen in Port Arthur, der Engländer in
Wei-hai-wei, März bis April
1898. - Englisch-französischer Zusammenstoß in Faschoda,
Juli bis November 1898. - Orientreise Kaiser Wilhelms II., Oktober
bis November 1898. - Eröffnung des Hauptteiles der
russisch-sibirischen Bahn
1899. - Deutsche Vorkonzession für die Bagdadbahn, Dezember
1899. - Burenkrieg, Oktober 1899 bis Mai
1902. - Bau der chinesisch-mandschurischen Bahn durch die Russen,
Dezember 1899 bis Sommer
1902. - Strafexpedition in China
1901/1902. - Russische Festsetzung in Persien 1902.
Wenn man die Gesamtheit dieser Ereignisse und ihren inneren Zusammenhang
überblickt, wird man einige allgemeine Eindrücke vorweg
verzeichnen dürfen. Wir haben im Verlaufe unserer Darstellung beobachtet,
wie sich z. B. im Jahre 1887 sämtliche Gegensätze der
europäischen Staatengesellschaft in dem Kampf um das Schicksal
Bulgariens wie in einem Brennpunkt zusammenfassen. Das Bild, das sich an
Stelle jener ungewöhnlichen Konzentration nunmehr in der zweiten
Hälfte der neunziger Jahre bietet, kann gar nicht entgegengesetzter sein,
denn es zeigt eine völlig dezentralisierte Zerstreuung aller politischen
Machtziele über den ganzen Erdball hin. Es ist, als wenn eine völlig
veränderte Dynamik die Beziehungen aller Mächte zueinander
regierte. Schon angesichts dieser Tatsache wird das Bedürfnis,
Verantwortlichkeiten aufzustellen und gegeneinander abzuwägen,
genötigt sein, den Mund nicht allzu weit zu öffnen. Des weiteren
läßt sich unschwer erkennen, daß als die Protagonisten auf der
Weltbühne auch jetzt noch, was Umfang und gewaltsames Durchgreifen
angeht, die drei vorher als altimperiale Großmächte bezeichneten
Staaten in Betracht kommen und daß ihnen gegenüber Frankreich und
Deutschland doch nur als Mächte zweiter Linie anzusehen sind. Dabei
scheint jetzt schon die Feststellung erlaubt zu sein, daß in dieser Weltlage
ein Sichheraushalten der deutschen
Politik - des inneren wie des äußeren Zwanges
wegen - sich von vornherein verboten haben würde. Eine
kontinentalpolitische Enthaltsamkeit, um unbequemen Weltgefahren
vorzubeugen, läßt sich rückblickend leichter verordnen; man
darf dafür auch keinesfalls die Autorität Bismarcks anrufen, der mit
einem ganz anderen Weltbilde zu rechnen hatte. Tritt man von der Staatspraxis
und den Erfahrungen Bismarcks an ein neues Zeitalter heran, das offenbar seine
Aufgaben anders stellte, so scheint der Kern des politischen Problems darin zu
liegen: Unter welchen Umständen durfte das Land der Mitte, das an
gewisse eindeutige Lebensvoraussetzungen unabänderlich gebunden war,
diesen unabsehbar verschobenen Schauplatz der großen Politik betreten?
Wie ließen sich die kontinen- [426] talen
Maßstäbe der Bismarckschen Politik mit den weitreichenden
Aufgaben, wenn man will, mit den weltpolitischen Zielen der neuen Ära in
das richtige Verhältnis bringen?
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