Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 1: Das Deutsche Reich
unter Kaiser Wilhelm II. (1890 - 1909) (Forts.)
2. Die Anfänge weltpolitischer Verflechtung
1894 - 1899. (Forts.)
Mit dieser weltweiten Lebensluft eines neuen Zeitalters hing die
Persönlichkeit des neuen Reichskanzlers an sich kaum zusammen.
Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst war, als er am 29.
Oktober 1894 an die Spitze der Geschäfte im Reich und in Preußen
berufen wurde, schon älter (und ermüdeter) als Bismarck damals, wo
er, angeblich überaltert, zum Rücktritt genötigt wurde, und
seine Verdienste wie seine politische Denkweise gehörten der
Vergangenheit an. Sie ruhten auf seinem Anteil an der nationalen Geschichte des
letzten Menschenalters. Hatte doch schon vor mehr als zweiunddreißig
Jahren Großherzog Friedrich von Baden diesen süddeutschen und
liberalen katholischen Standesherrn dem König Wilhelm I. als
preußischen Ministerpräsidenten, in vorbismarckscher Zeit, zu
empfehlen versucht; dann hatte seine Laufbahn als bayrischer
Ministerpräsident in der Zeit des Norddeutschen Bundes, als Botschafter in
Paris und als Statthalter von Elsaß-Lothringen ihm reiche Erfahrung und
allgemeine Anerkennung verschafft. So trat er sein verantwortungsreiches Amt
mit einem stärkeren inneren Anrecht an als einst Caprivi; man konnte sogar
ohne Übertreibung aussprechen, daß kein deutscher Staatsmann, vom
Fürsten Bismarck abgesehen, über ein gleiches Vertrauen
verfügte.1 Manche Voraussetzungen schienen
günstig für seine Amtsführung zu liegen. Er trat dem Kaiser
nicht, wie Caprivi, in den Formen eines
militärisch-dienstlichen Verhältnisses gegenüber, sondern auf
der Ebene einer fast gleichgestellten Vornehmheit, mit einer abgeklärten
Altersreife; auch nach dem Bismarckschen Lager hin war er nicht belastet,
sondern konnte von vornherein, da die förmliche Versöhnung des
Kaisers schon vorausgegangen war, nach Friedrichsruh eine achtungsvolle
gesellschaftliche Beziehung wieder anknüpfen. Der außenpolitische
Kurs hatte schon im Laufe des letzten Jahres eine gewisse Rückbiegung
nach der russischen Seite hin erfahren, die durch den in Petersburg erfolgten
Thronwechsel erleichtert wurde; es war nicht zu erwarten, daß der Schatten
der Bismarckschen Kritik noch länger störend auf die deutsche
Außenpolitik fallen würde. Man mochte von der
Schicksalsfügung sprechen, die durch das zeitliche Zusammenfallen der
Thronbesteigung des Zaren Nikolaus II. mit dem Wechsel in der deutschen
Staatsleitung gegeben war.
Freilich, Fürst Hohenlohe verfügte nach den Lebensgewohnheiten
seines Alters nicht mehr über die Beweglichkeit und Aktivität, die
allein dem Kaiser das Gegenpart hätte halten können, und es war die
Frage, ob der lässigere [427] Rhythmus seiner
Geschäftsführung den gleichen Schritt mit dem persönlichen
Betätigungsdrangs des Kaisers zu halten vermochte. Gerade die
Thronbesteigung Nikolaus' II. gab Wilhelm II. die Gelegenheit, in
einem persönlichen Briefwechsel, der in den neunziger Jahren in der Regel
nicht zur dienstlichen Kenntnis des Auswärtigen Amtes kam, die
persönliche Note der Politik in Fühlung mit seinem autokratischen
Verwandten nur noch stärker zu betonen: in dem Glauben, damit ein
wertvolles Aktivum der Außenbeziehungen in Bewegung zu setzen, ging
der Kaiser, auch seinerseits von der gefürchteten
Bismarck-Kritik befreit, fortan dazu über, in der auswärtigen Politik,
in der sich plötzlich ganz neue Schauplätze eröffneten, der
Verführung persönlichen Eingreifens nachzugeben.
Noch während Hohenlohe zur Abwicklung seiner
Statthaltergeschäfte nach seinem Amtsantritt für einige Tage nach
Straßburg zurückgekehrt war, erhielt er am 17. November
1894 - in einem gleichsam symbolischen
Vorgange - ein langes Telegramm Wilhelms II.: Es seien Anzeichen
vorhanden, daß England demnächst im Orient aktiv zu werden
beginne, sich mit Rußland über die Dardanellenfrage einige und in
den chinesisch-japanischen Wirren sich in den Besitz von Shanghai zu setzen
suche, was zweifellos zur Folge haben werde, daß Rußland und
Frankreich gleichfalls wichtige Punkte in China besetzen würden. "Wir
dürfen hierbei unter keinen Umständen zu kurz kommen oder uns
überraschen lassen. Wir bedürfen gleichfalls eines festen Punktes in
China, wo unser Handelsumsatz jährlich 400 Millionen beträgt. Ich
schlage dazu Formosa vor... Es empfiehlt sich daher, möglichst schnell im
Geheimen sich mit Japan zu verständigen und demnächst unser
Geschwader mit Anweisungen zu versehen. Eile ist geboten, da, wie Ich unter der
Hand erfahren habe, Frankreich bereits nach Formosa angelt."2 Die Voraussetzungen trafen zum guten
Teil nicht zu, die Schlußfolgerungen aber liefen mit einer beunruhigenden
Schnelligkeit ab. Schon in diesem Augenblick hielt Holstein es für
angezeigt, dem neuen Kanzler eine bestimmte Marschroute anzudeuten: "Die Art,
welche S. M. sich allmählich angewöhnt hat, Politik mit Hinz
und Kunz zu machen, wird auf die Dauer nicht verträglich mit einem
geordneten Geschäftsbetrieb sein. Ich hege die Hoffnung, daß Eure
Durchlaucht von Anfang an eine günstige Änderung
herbeiführen werden, da Sie auf eine diplomatische Autorität
Anspruch machen können, welche dem Grafen Caprivi und Herrn von
Marschall abgeht."3 Die Episode wirkt wie [428] ein erstes Vorspiel
eines dienstlichen Verhältnisses, in dem sich bei aller Beobachtung der
Form die eigenmächtigen Durchkreuzungen und Übergehungen
immer häufiger wiederholten. Sie nehmen vielleicht auch darum einen
größeren Raum ein, weil die außenpolitische Bühne, die
in der Caprivi-Periode mehr von der stillen Umgruppierung der Staaten
erfüllt war, nunmehr durch erregende, dramatische Vorgänge in
Atem gehalten wurde.4
Indem sich der deutschen Außenpolitik unter Hohenlohe von der ersten
Stunde an ein weiterer Welthorizont eröffnete, suchte sie in einer
entscheidenden Voraussetzung den Kurs des März 1890 bewußt zu
verlassen und an den alten Kurs wiederanzuknüpfen. Als Fürst
Hohenlohe nach seinem Amtsantritt dem Fürsten Bismarck am 13. Januar
1895 einen Besuch in Friedrichsruhe abstattete, brachte dieser das Gespräch
auf den Gegenstand seiner geheimsten Sorgen, auf den
Rückversicherungsvertrag, den Caprivi nicht wieder erneuert habe, weil
ihm die daraus folgende Politik zu kompliziert gewesen sei.5 Dieser Gedankenaustausch setzte sich
in den nächsten Tagen in Berlin in merkwürdiger Weise fort. Als
Graf Paul Schuwalow bei der Überreichung seines Abberufungsschreibens
mit leisen Vorwürfen an die Nichterneuerung des
Rückversicherungsvertrags erinnerte, schilderte der Kaiser seine
Zwangslage im März 1890 unter dem "Ultimatum" Caprivis6 und verband damit die
überraschende Frage: ob die Beziehungen nicht wiederherzustellen seien,
wie sie damals bestanden. In seiner offenherzigen Weise fügte
Wilhelm II. hinzu, in Friedrichsruh sei soeben dasselbe Gespräch
geführt und derselbe Vorwurf gegen Caprivi erhoben worden.7 Es ist begreiflich, daß man in
Petersburg die Eröffnung mit einer gewissen Genugtuung über den
Wandel der Zeiten und die Verschiebung des Schwergewichtes aufnahm. Die
beiden Szenen stehen, gleichsam wie ein Eingangstor, vor den Jahren der
Staatsleitung Hohenlohes. Man spürt die Sehnsucht, eine Vergangenheit zu
erneuern - ob eine solche Erneuerung nicht am ehesten in den Beziehungen
des Reiches zum fernen Osten möglich war, die jetzt so unerwartet in den
Vordergrund rückten?
In den Beziehungen zum fernen Osten hatten bisher die rein wirtschaftlichen und
die kulturellen Interessen weit vorangestanden. In Japan vor allem hatten die
Deutschen in der Zeit von 1886 bis 1894 einen ungewöhnlichen Bereich
des Einflusses als militärische und wirtschaftskulturelle Ratgeber sich
angeeignet; nach deutschem Vorbilde suchten die Japaner sich in mancher
Richtung zu formen, und es war zu erwägen, ob das damit gewonnene
Kapital an Sympathien sich nicht zu einer bleibenden politischen Zukunftsanlage
ausgestalten ließe. Dagegen wurde Japan als selbständiger Faktor in
der hohen Politik noch kaum gewertet, [429] auch dann nicht, als es
kraft seiner Heeresorganisation von 1889 zu einer beachtenswerten
Möglichkeit an der russischen Peripherie wurde.
Als im Juli 1894 der japanisch-chinesische Krieg ausbrach, sah auch die
Reichsregierung darin eine zunächst nur Rußland und England
angehende Sache, in der sie, eben wegen der Gefahr
russisch-englischer Interessenkollision, nur gemeinsam mit den übrigen
Großmächten friedlich einzuwirken geneigt war.
Demgemäß hielt sie sich auch zurück, als die englische Politik
im Oktober 1894 einen Anlauf nahm, eine gemeinsame Intervention der
Mächte zugunsten Chinas herbeizuführen; wenn man sich in Berlin
diesem Versuch versagte, der an der allgemeinen Zurückhaltung scheiterte,
so spielte dabei eine Japan wohlwollende Haltung mit. Erst als China am 12.
November die Vermittlung der Mächte auf der Grundlage der
Unabhängigkeit Koreas und der Zahlung einer Kriegsentschädigung
anrief, war die große politische Frage aufgeworfen. Wir haben gesehen, wie
weitreichend und temperamentvoll die kaiserliche Phantasie sich sofort dieser
Möglichkeiten bemächtigte.
Schon eine leise Hinwendung Deutschlands zu solchen Wünschen war von
unabsehbarer Tragweite. Es handelte sich nicht nur um seine
wirtschaftlich-kulturelle Stellung in Ostasien im engsten Sinne, nicht nur um die
Summe der Rückwirkungen, die durch einen Anstoß von der einen
Seite hier ausgelöst werden konnten. Sondern vor allem war zu bedenken,
daß die Stellung Deutschlands in der noch im Fluß befindlichen
Gruppierung der Mächte, insbesondere zwischen Rußland und
England, durch den Zutritt dieses neuen Interessengebietes mit neuen
Reibungsflächen entscheidend berührt werden konnte.8 Von jeder Kohlenstation aus, deren
Namen die Welt bisher noch gar nicht vernommen hatte, konnte die große
Politik eine andere Wendung nehmen. Um so mehr sahen der Kanzler und das
Auswärtige Amt sich zunächst genötigt, dem
stürmischen Zuruf des Kaisers mit unbedingter Mahnung zur
Zurückhaltung zu begegnen. Man kam ihm nur insoweit entgegen, als
für den Fall, daß europäische Mächte beim
Friedensschluß besondere Vorteile anstrebten, auch Deutschland nicht leer
ausgehen dürfe - im übrigen blieb jenes kaiserliche
Telegramm zunächst Episode.
Erst nach Beginn der chinesisch-japanischen Friedensverhandlungen zu Anfang
Februar 1895 trat die Entscheidung an die Großmächte heran.
Für Deutschland enthielt sie in ihrem Kern noch eine besondere Frage, eben
das Problem, das auf dem Grunde aller Politik ruhte, ob man in Ostasien seine
Stellung an der Seite der englischen oder der russischen Macht nehmen wolle. So
lange wie möglich bekannte man sich in Berlin zu dem Grundsatz der
Zurück- [430] haltung, auch
gegenüber einer dringlichen englischen Ermunterung zum Mitgehen; dabei
behielt man sich für den Fall, daß dritte Mächte die Lage
zugunsten eigener Vorteile ausnützen würden, einen Anspruch auf
vollwichtige Kompensationen vor. Denn diese Hoffnungen spielen doch bei den
weiteren diplomatischen Schritten anreizend mit. Erst als die chinesische
Regierung die deutsche Intervention unmittelbar anrief, ließ die
Reichsregierung sich herbei, in Tokio am 6. März den freundschaftlichen
Rat zu erteilen, man möge in den Friedensbedingungen mäßig
sein und namentlich von festländischen Gebietsabtretungen absehen; auf
diesen Rat ging Japan, seinen freundschaftlichen Geist anerkennend, nicht ein,
aber es verfehlte nicht (da es gern einen dritten Interessenten auf der Bühne
sah), von sich aus zu deutschen Gebietserwerbungen in Südostchina zu
ermutigen.9 Dann aber verschoben die
hochgespannten und auf das Festland übergreifenden Friedensforderungen
Japans vom 4. April das Bild von Grund aus. Wenn die europäischen
Mächte diese Forderungen so weit zurückschrauben wollten,
daß sie keiner von ihnen einen Vorwand für weitere Erwerbungen
boten, so blieb allerdings auch für die deutschen Wünsche kein
Raum. Aber das Stichwort für eine neue Mächtegruppierung war
jetzt gefallen. Am 8. April ergriff die russische Regierung die Führung,
indem sie bei den Mächten anregte, die Annexion von Port Arthur als "eine
beständige Bedrohung des Friedens in Ostasien" zu bezeichnen. Diese
Basis für ein allgemeines Vorgehen kam jedoch nicht zustande. Denn
England, damals noch der sprunghaften Staatsleitung Roseberys unterstehend,
faßte den Beschluß, eine Intervention abzulehnen, sich von den
Mächten zu trennen und aus einem Beschützer
Chinas - welche Rolle es bisher gespielt
hatte - sich plötzlich in einen Anwalt Japans, der moderneren Macht
der Zukunft, zu verwandeln.
Es war ein politisch bedeutsamer Vorgang, als die deutsche Regierung durch
dieses plötzliche Umspringen Englands veranlaßt wurde, die
russische Anregung zur Intervention - da man sich Japan gegenüber
seit der Ablehnung vom 6. März nicht mehr verpflichtet
fühlte - mitzumachen. Das eine Motiv lag in den jetzt nach
außen hin zurückgestellten deutschen Zukunftswünschen: man
sah in solcher Haltung "vielleicht die einzige Möglichkeit, von einem
dankbaren China die Abtretung oder Vermietung eines Platzes für eine
Flotten- oder Kohlenstation zu erhalten", sobald sich eine Gelegenheit dazu bieten
sollte. Mindestens so ausschlaggebend war eine andere, allgemeinpolitische
Erwägung. Wenn man mit Rußland im fernen Osten zusammenging,
so eröffnete diese Kombination eine Aussicht, die Druckwirkung des
russisch-französischen Bündnisses auf
Mittel- [431] europa
überhaupt abzuschwächen, "eine Entlastung unserer östlichen
Grenze herbeizuführen", wie Wilhelm II. sofort formulierte. Dieser
Politik hatte man schon im Jahre 1894 zugeneigt, und seit der Thronbesteigung
des Zaren Nikolaus II. mochte man sich noch mehr davon versprechen,
wenn man über den fernen Osten den abgerissenen Draht nach Petersburg
wiederherstellte. Soeben führte der neue russische Botschafter in Berlin,
Graf v. d. Osten-Sacken, sich bei dem Grafen Philipp Eulenburg mit
einer Meldung über die Absicht des Zaren ein, mit Wilhelm II. "in
den allerbesten Beziehungen" zu bleiben. Vor allem folge Rußland mit dem
äußersten Interesse dem Kampf, den Kaiser Wilhelm in kraftvoller
Art gegen die destruktiven Elemente in Deutschland führe. Mit der
monarchischen Solidarität glaubte der Russe sogar eine bestimmte Zusage
verbinden zu können: "Hält Kaiser Wilhelm seine dominierende
Stellung aufrecht - zugleich als Hort des Friedens, denn dieser ruht
wesentlich, ja fast ausschließlich in seiner
Hand - so garantiert Rußland den Frieden an Deutschlands Grenze."
Von solchem Entgegenkommen erwies sich Kaiser Wilhelm geradezu
entzückt. Schon seine Randbemerkung malte hoffnungsfroh die
Folgerungen aus: "Das so bestimmte Versprechen bezüglich der Garantie
an unserer Ostgrenze, wenn wir Frieden halten, ist von so hohem Wert, und unser
Dank dafür äußert sich am besten in einheitlichem Auftreten
im Orient! So zeigt sich der Welt das so erwünschte Bild von Dreibund
plus Rußland."10 - Wir werden sehen, mit wie
vollen Segeln der Monarch in den nächsten Wochen den neuen Kurs
steuern wird.
So erfolgte denn die russisch-französisch-deutsche Intervention gegen den
Friedensschluß von Shimonoseki. Lobanow hatte am 17. April angeregt,
zunächst an Japan in freundschaftlicher Form Vorhaltungen wegen seiner
Friedensbedingungen zu richten; wenn Tokio ablehnen sollte, waren gemeinsame
kriegerische Unternehmungen der drei Mächte zur See vorgesehen. Als
dann am 23. April der russische, französische und deutsche Gesandte der
japanischen Regierung den Einspruch gegen den Frieden amtlich mitteilten,
begnügte sich der deutsche Gesandte nicht damit, sich
instruktionsgemäß den Erklärungen der beiden anderen
Gesandten anzuschließen, sondern fügte unter Überschreitung
seiner Instruktion noch Kritik und Mahnungen hinzu, von denen er nur zur
Regelung seiner Sprache Gebrauch zu machen berechtigt war. So erweckte das
unüberlegte Ungeschick eines Gesandten den Anschein, als wenn
Deutschland (das sich in der Sache erst den beiden anderen angeschlossen hatte)
sogar energischer als diese aufzutreten wünsche. Für die Japaner und
ihren Glauben an deutsche Sympathien blieb von diesem Vorgang, der nur der
herrischen Sprache eines Agenten zuzuschreiben war, eine besondere Verletzung
zurück, die damals leider keine amtliche Korrektur gefunden hat.
[432] Der Kaiser verfolgte
inzwischen in seinem persönlichen Briefwechsel mit dem Zaren11 weiter den Weg der
Annäherung. Auf die sehr allgemeinen Eröffnungen durch
Osten-Sacken antwortete er ihm am 26. April: "Ich werde sicherlich alles tun, was
in meiner Macht steht, um Europa ruhig zu halten, und auch den Rücken
Rußlands decken, so daß niemand Deine Aktion in der Richtung des
fernen Ostens behindern wird. Denn dies ist offenbar in Zukunft die große
Aufgabe für Rußland, seine Aufmerksamkeit dem asiatischen
Kontinent zuzuwenden und Europa gegen die Eingriffe der gelben Rasse zu
verteidigen."11 In der Hoffnung, daß
Deutschland irgendwo in China doch noch zu Erwerbungen schreiten und
dafür die Dankbarkeit des Zaren gebrauchen könne, glaubte er, das
Eisen nicht oft genug schmieden zu können. "Niemandem würde er
den Versuch erlauben", so wiederholte er am 10. Juli dem Zaren, "Dich in Europa
von rückwärts anzugreifen während der Zeit, da Du die
große Mission erfüllst, die der Himmel Dir vorgezeichnet hat." Er
vertraute Schweinitz sogar an, er habe dem Zaren sein Ehrenwort gegeben,
daß er ihm den Rücken frei halten werde. Man beobachtet, wie die
Phantasie des Kaisers allmählich die Wirklichkeit übersteigert, und
sieht die Keimzelle des Kampfes gegen "die gelbe Gefahr" sich immer weiter
entwickeln, bis dieser ganze Stimmungskomplex (der mit der früheren
deutschen Japanpolitik nichts zu tun hatte) seinen Niederschlag in der ebenso
pathetischen wie in hohem Grade unpolitischen Zeichnung von Knackfuß
fand. Der Kaiser gab diese Bemühung auch nicht auf, als er in Ostasien (in
Sachen der chinesischen Anleihe) die ersten unerfreulichen Erfahrungen mit den
Russen machte - als er einen Versuch wagte, die neue Freundschaft auf die
bedrohlichen französischen Rüstungen an der deutschen Westgrenze
aufmerksam zu machen, erhielt er von dem zärtlich geliebten Freunde
eigentlich keine Antwort.
Immerhin hatte die Verschiedenheit der Ziele, welche Rußland und
Frankreich im Zweibund verfolgten, der deutschen Politik die Möglichkeit
gegeben, den auf das Land der Mitte gerichteten Druck von sich abzulenken. Die
Lage war zunächst so, wie sie Holstein bald darauf kennzeichnete:
"Frankreich wollte die Russen in erster Linie gegen Deutschland, Rußland
wollte die Franzosen jedenfalls in erster Linie gegen die Engländer
verwerten. Bisher aber entspricht keiner der beiden Freunde den Erwartungen des
anderen" (15. April 1894).12 Vor allem
waren die Franzosen außerstande, ihre russischen Freunde zu verhindern,
aus dem Zweibunde gerade das herauszuholen, was ihre Interessen förderte;
aber sie waren [433] nicht gewillt, wegen
einer zufälligen Konstellation ihre eigentlichen Ziele
zurückzustellen. So sehr man sich in Berlin in den nächsten Jahren
auf freundlichere Stimmung in Frankreich hinzuwirken bemühte, der Geist
der Revanche blieb derselbe. Selbst der österreichische
Außenminister hielt eine Warnung in Berlin für angezeigt, die Dinge
nicht zu leicht zu nehmen;13 und
gelegentlich erinnerten chauvinistische Ansprachen hochgestellter
französischer Offiziere in den Grenzgarnisonen daran, daß die
berechnete Liebenswürdigkeit des Kaisers doch ihr Ziel verfehlte.
Einstweilen aber war gerade diejenige Konsequenz, die man in den Tagen von
Toulon und Kronstadt am wenigsten hatte voraussehen können, eine
Annäherung zwischen Dreibund und Zweibund oder zum mindesten eine
engere Fühlung zwischen Berlin und Petersburg seit der Intervention gegen
Shimonoseki im Fortschreiten begriffen, und gerade diejenige Großmacht,
die bisher mit freier Hand den beiden Bündnisgruppen
gegenübergestanden hatte, sollte durch eine unerwartete Wendung diesen
Prozeß beschleunigen und vertiefen.
In England war inzwischen wieder der gewohnte politische Umschwung erfolgt.
Als gegen Ende Juni 1895, nach dem Sturz des Ministeriums Rosebery, Lord
Salisbury zum dritten Male in die Leitung des Staates einrückte, sah man in
Berlin nach den Erfahrungen der letzten Jahre den Wechsel nicht ungern. Man
mochte hoffen, daß der neue Minister die von seinem Vorgänger
ziemlich verfahrene Außenpolitik in Bahnen zurückführen
werde, die sie wieder zu näherer Fühlung mit der Dreibundspolitik
bringen würden.14 Diese Erwartung sollte sich nicht
erfüllen. Es stellte sich bald heraus, daß Salisbury, sei es, weil er
wollte oder weil er mußte, die ganze Erbschaft der armenischen
Greuelpropaganda, mit der sein Vorgänger sich den Zugang zu einer
näheren Beziehung mit Rußland zu eröffnen bemüht
hatte, zu übernehmen entschlossen war. Nach allem Anschein gedachte er
auf diesem Wege noch einen Schritt weiter zu gehen: und wenn die
Entwürfe, die seine Phantasie nach allen Seiten umhertastend zu gestalten
suchte, nicht ganz feste Umrisse gewonnen haben, so bleibt es doch
denkwürdig, daß sie jetzt in den Mittelpunkt der englischen Politik
rückten. Und nicht minder denkwürdig ist es, daß er sie
zunächst den deutschen Staatsmännern vortrug. Schon in seinen
ersten Unterredungen mit dem deutschen Botschafter hatte er den bei ihm
überraschenden Gedanken eines Endes der Türkenherrschaft
durchblicken [434] lassen.15 Als die deutsche Regierung ihm die
Berücksichtigung der italienischen Wünsche in Abessinien
nahelegte, lehnte er - wie vordem schon sein
Vorgänger - jede Erleichterung auf dem abessinischen Schauplatz
ab, erklärte sich aber um so großmütiger bereit, dem Italiener
einen Ersatz in Albanien oder in Tripolis in Aussicht zu stellen, und als er auf der
deutschen Seite eine Beunruhigung wegen des albanischen Objektes bemerkte,
ebenso unbekümmert Tunis und Marokko als Ersatz zu erwägen: die
Türkei sei zu verfault, um noch lange existieren zu können. Immer
wieder kam er auf den Gedanken zurück, man solle sich beizeiten
über eine Art Verteilungsplan im Orient und am Mittelmeer vertraulich
verständigen. Zwar meinte Hatzfeldt des Eindrucks sicher zu sein,
daß Salisbury vor allem, soweit dies von ihm abhänge, eine Erhaltung
und Kräftigung des Dreibundes wünsche, aber die leitenden
Männer in Berlin wurden doch mißtrauischer, ob sich nicht gewisse
Hintergedanken hinter einem so weitreichenden Plane wie diesem
"Balkanbrandprojekt" verbergen möchten. Zumal Holstein sah nichts als
das Bestreben, die englische Position in Ägypten durch orientalische
Komplikationen, die alle Mächte erfaßten, zu erleichtern. Nur ein
sehr akutes und schwerwiegendes Interesse könne es sein, das von dem
Worte "Albanien" verdeckt werde; und es würde das Beste sein, wenn
dieser gefährliche Plan bei dem Kaiser, dessen Besuch in Cowes damals
bevorstand, auf einen festen Widerstand stoße.
Die Frage, welche letzten Ziele Salisbury mit seinem geheimnisvollen Plane einer
Teilung der Türkei16 verfolgt
habe, wird noch heute von der Forschung nicht eindeutig beantwortet. Es handelte
sich um eine Teilung, bei der Rußland sehr gut wegkommen sollte
(Konstantinopel), bei der auch Österreich (in Saloniki) und Italien, wie wir
sahen, reichlich befriedigt werden, Frankreich aber isoliert werden sollte; man
ließ in London durchblicken, daß Deutschland in Afrika
entschädigt werden könne. Daß dieser Plan sein
ägyptisches und daneben auch sein armenisches Motiv hatte, lag zu nahe,
aber er zielte doch auch wohl auf eine Umgruppierung der Staatengesellschaft hin.
Es war kaum zu bestreiten, daß er die Linie Roseberys in der
Annäherung an Rußland fortzusetzen suchte. Sollte der Plan [435] nicht vor allem darauf
gerichtet sein, das im fernen Osten sich anbahnende Zusammenwirken des
Dreibundes mit Rußland, jene Träume, denen Wilhelm II. sich
im Sommer 1895 begeistert hingab, zu durchkreuzen? War es Deutschlands
Sache, dem sich in der asiatischen Türkei soeben ein großes Gebiet
für Eisenbahnbauten zu erschließen begann, an dem entscheidenden
Stoße mitzuwirken? Wohl warnte Hatzfeldt, der das Berliner
Mißtrauen nicht völlig teilte: wenn man sich ganz zurückziehe,
würde man auch keinen nennenswerten Einfluß auf die Entwicklung
der Dinge ausüben können. Hohenlohe und Holstein aber waren,
wohl mit Recht, darüber einig, es müsse vermieden werden,
daß Deutschland als Vater des Teilungsgedankens vorgeschickt werde.17
Als Wilhelm II. am 5. August zu einer vertraulichen Besprechung mit Salisbury
bei der Regatta in Cowes zusammentraf, verhielt er sich in der entscheidenden
Frage genau nach den Direktiven des Auswärtigen Amtes.18 Den uns ihrem Sinne nach bekannten
Darlegungen des Premierministers über die Unheilbarkeit des kranken
Mannes setzte der Kaiser, schon verletzt durch erziehliche Artikel der englischen
ministeriellen Presse, in bestimmter Form seinen Glauben an die Reformierbarkeit
der Türkei entgegen. Die Unterhaltung dauerte nicht lange, aber sie
hinterließ infolge ihres Verlaufes oder noch mehr infolge eines Nachspiels
auf beiden Seiten gewisse Empfindlichkeiten. Der Kaiser sah das Gespräch
nicht als abgeschlossen an und erwartete den Engländer am folgenden Tage
zu einer bestimmten Zeit vergeblich, um es fortzusetzen. Salisbury war zwar
tatsächlich durch eine Audienz bei der Königin verhindert, legte aber
anscheinend auch keinen besonderen Wert auf die Fortsetzung; er wünschte
sich eher zu entziehen und begnügte sich mit einem Minimum der ihm
obliegenden Entschuldigung.19 Die neuen
englischen Darstellungen verzeichnen als Ergebnis, daß der Kaiser seitdem
eine starke Animosität gegen Salisbury zurückbehalten habe, aber
auch Salisbury jene Abneigung gegen ein Bündnis mit Deutschland,
[436] die noch in den letzten
Jahren seiner Staatsleitung eine so bedeutende Rolle spielen sollte. Über
der Besprechung, die vielleicht die Geschicke hätte anders bestimmen
können, stand kein günstiger Stern. Wir lassen dahingestellt, ob die
Männer, die einander entgegentraten, einen Anteil daran hatten (der Kaiser
hatte ein gewisses Recht, gekränkt zu sein), oder ob es nicht vor allem der
große sachliche Gegensatz war, um den es sich dabei handelte.
Erst aus den Papieren Salisburys wird man erfahren können, welche letzten
Ziele er in dieser Episode, die nur bis zum Rand der Sondierung gelangt ist,
tatsächlich verfolgt hat. Bis dahin möchte ich mich für die
Annahme entscheiden, daß er mit seinen Sondierungen über die
Teilung der Türkei ebensogut den Weg zu Rußland als zu
Deutschland (mit dem er wegen des früheren Verhältnisses das Spiel
zunächst begann) zu finden suchte. Daß er mit seinem Plane in die
Karten des Dreibundes zu spielen gedachte, scheint mir weder aus der
Vorgeschichte noch aus dem Nachspiel hervorzugehen; das brüske
Verhalten, mit dem er sich dem Kaiser entzog, spricht ebenso dagegen, wie die
Eilfertigkeit, mit der er schon nach einer Woche den französischen Appetit
auf Marokko zu erwecken suchte (das soeben noch für Italien bestimmt
gewesen war). Seine ganze Aktion läßt sich nur künstlich in
einen Zusammenhang bringen, in dem der Kern eine englische Annäherung
an den Dreibund gewesen sei, die Wilhelm II. und Holstein schuldhaft
verpaßt hätten.20 Auch wer
bei Holstein die Anlage zum Mißtrauen für allzu stark entwickelt
hält, kann seinem Urteil über die
Teilungspläne - "als englisches Programm
erklärlich" - nicht widersprechen. Das Endziel stand dem englischen
Ministerpräsidenten, der gleich darauf auch öffentlich in einer
Oberhausrede - anders als vor zwanzig
Jahren - an die Türkei eine Absage richtete, klar vor Augen. Sein
rascher Übergang zu Frankreich deutet an, daß die Frage, ob es mit
dem Dreibund oder mit dem Zweibund zu erreichen sei, für ihn nur
sekundär war, und befestigte daher Holstein noch mehr in der
Überzeugung, daß man angesichts einer solchen englischen Politik
weniger als je die Brücken nach Rußland abbrechen dürfe.
Lord Salisbury legte anscheinend Wert darauf, seine Orientpläne, für
die er niemanden zu erwärmen vermocht hatte, zu den Akten zu legen, um
sie bei nächster Gelegenheit wieder aufzunehmen. So erklärte er dem
deutschen Botschafter am 25. Oktober: "Sollte es dennoch infolge irgendeines
russischen Vorgehens im Orient zu einer Krisis kommen, so werde er sich sofort
und vor allem nach Berlin wenden, sich sofort und zunächst mit uns
verständigen." Aber die Spannung, die er zu verwischen strebte, war
inzwischen - und nicht durch deutsche
Schuld - auf einem anderen Gebiete noch stärker hervorgetreten.
[437] Es ist charakteristisch
für die deutsch-englischen Beziehungen, in ihrem labilen Zustande,
daß sie immer wieder von einem anderen Ende der Weltperipherie in
Unruhe gesetzt werden: im Laufe des Jahres 1895 verschob sich ihr Brennpunkt
von Ostasien über den Bosporus hinweg nach Südafrika. Hier liegt
das eigentliche, empfindliche Zentrum der kolonialen Rivalitäten, denn hier
handelte es sich um Objekte von rasch ansteigendem Wert, und hier war der
Schauplatz, auf dem die aktivsten Kräfte des britischen Imperialismus auf
eine entschlossene deutsche Abwehrstellung stießen. Das deutsche Interesse
beschränkte sich nicht nur auf die eigenen Kolonien, die sich nur langsam
entwickelten, sondern griff auf die Burenstaaten über, die infolge der
Gold- und Diamantenfunde plötzlich eine starke Anziehungskraft auf
deutsche Einwanderung und noch mehr auf deutsche Kapitalanlage und
Industrieausfuhr ausübten. Vor allem war es für die afrikanische
Gesamtpolitik des Reiches von Bedeutung, daß die Burenstaaten,
insbesondere Transvaal - in dem Ausmaß der Selbständigkeit,
das ihm im Vertrage mit England vom Jahre 1884 garantiert
war - erhalten blieben.
Je mehr aber in dem Geiste von Cecil Rhodes jene weitgreifenden
Zukunftspläne eines afrikanischen Imperialismus aufstiegen, um so
empfindlicher nahm man von Kapstadt bis Kairo die moralische
Rückendeckung auf, die das Deutsche Reich den Burenstaaten und ihrer
Rechtsstellung bewußt gewährte. Auch die Londoner Politik begann
diese Haltung, die nur an dem status quo festhielt, als unzulässig zu
betrachten, ebenso wie die Sympathien der Buren, die dadurch hervorgerufen
würden. Schon in den letzten Zeiten Roseberys war es einmal zu einer
Vorhaltung in Berlin gekommen. Ein zweiter Versuch im Herbst 1895
führte sogar zu einem diplomatischen Zwischenfall. Am 14. Oktober 1895
stellte der abgehende Botschafter Sir Edward Malet dem
Staatssekretär von Marschall gegenüber ohne einen
geschäftlichen Anlaß fest, daß es in den
deutsch-englischen Beziehungen nur einen schwarzen Punkt gäbe: die
deutsche Haltung in Transvaal. Er machte der Reichsregierung den Vorwurf,
daß sie die Buren zu einer feindlichen Haltung gegen England encouragiere,
so daß diese, des deutschen Schutzes sich sicher wähnend, in
zunehmendem Maße sich feindlich stellten. Die Fortsetzung dieser Haltung
gegenüber Transvaal sei auf die Dauer unerträglich und könne
zu ernsten Verwicklungen führen. Ähnlich sprach der Botschafter zu
dem Reichskanzler. Das war eine Warnung, wenn nicht eine Drohung. In seiner
Antwort betonte Marschall, daß die deutsche Politik in Transvaal
ausschließlich die Erhaltung des status quo anstrebe, es aber als eine
Verletzung seiner Interessen ansehen würde, wenn der Burenstaat die ihm
1884 garantierte Selbständigkeit verlieren und zu einem Bestandteil des
großen "Rhodesia" werden sollte. Er ging dann dazu über, seinerseits
ein Sündenregister der englischen Kolonialpolitik aufzurollen, und gab
sogar zu bedenken, ob England so viel Freunde auf der Welt besitze, daß es
leichthin einem Bruche mit Deutschland zutreibe. [438] Der nach Form und
Inhalt ungewöhnliche Vorstoß des englischen Diplomaten wurde vom
Kaiser, der ihm einen ultimativen und kriegerischen Sinn zuschrieb, sehr ernst
aufgenommen. In seiner Beschwerde gegenüber dem englischen
Militärattaché führte er, sich nun seinerseits
übernehmend, die Argumentation Marschalls erregt weiter: ein solches
Verhalten Englands zwinge dazu, gemeinschaftliche Sache mit Frankreich und
Rußland zu machen, die an der deutschen Grenze ungefähr eine
Million zu stehen hätten; es war, als wenn er dem Engländer nur
noch die Wahl zwischen dem vertragsmäßigen Anschluß an
den Dreibund oder dem Übergang ins andere Lager stelle. Seine seit dem
Frühjahr ansteigende Gereiztheit gegen England schien ein bewußt
antienglisches Programm in der großen Politik zu enthüllen. Der
Bericht des Obersten Swaine hinterließ daher in London einen tiefen
Eindruck; er ist ein Dokument, das man aus dem psychologischen Zusammenhang
des Kommenden nicht herauslösen darf.
Der Zwischenfall selbst nahm ein rasches Ende, weil Salisbury jeden Auftrag zu
dem Vorgehen Malets in Abrede stellte und auf das Drängen der deutschen
Regierung ihr sein förmliches Bedauern über das
"Mißverständnis" aussprechen ließ. Da in einem
diplomatischen Mißverständnis in der Regel ein realer Kern zu
stecken pflegt, so kommt man kaum um die Vermutung herum, daß Malet
in Voraussicht der sich in Südafrika anspinnenden Dinge eine Art
Einschüchterung der deutschen Politik versucht habe, wobei er sich freilich
in der Form peinlich vergriff und eine weitere Übersteigerung der
Gegenseite auslöste. Wenn Malet gleichsam einen Auftakt zum
Jameson-Einfall lieferte, so war auch eine deutliche Antwort nicht
ausgeblieben.
Kaum war diese peinliche Episode verschmerzt, so erregte der Orient erneutes
Mißtrauen zwischen den beiden Mächten. Man witterte jetzt vollends
in Berlin, daß in London ein vorbereitetes Doppelspiel getrieben werde.
Was man vom englischen Standpunkt als "splendid isolation"
bezeichnete, dieses System des Lavierens, Abtastens, Ausspielens des
Zweibundes und des Dreibundes, stellte sich dem deutschen Standpunkt als das
Herauslösen aus einer bis dahin eindeutig genommenen Stellung und der
Übergang zu undurchsichtigeren Methoden dar. Soeben noch hatte man zu
bemerken geglaubt, daß die englische Seite den österreichischen und
italienischen Verbündeten in der Flottendemonstration vor den Dardanellen
in die vorderste Linie zu manövrieren suchte; gleich darauf vernahm man
von Petersburg mit einer gewissen Empörung, daß die englische
Diplomatie, augenscheinlich an dem Teilungsgedanken festhaltend, dort ein
russisch-englisches Kondominat am Bosporus in Anregung gebracht habe. Am 20.
Dezember hielt der Kaiser dem englischen Militärattaché dieses
Verfahren in höchst temperamentvoller Weise vor: das Verhalten Englands
in der letzten Zeit auf diplomatischem Gebiet sei dergestalt zweideutig und
fragwürdig, daß ihm keine der Kontinentalmächte mehr
über den Weg traue; falls, was er nicht annehmen könne, Englands
Absicht dabei gewesen sei, die Mächte untereinander zu
ver- [439] feinden und
gegeneinander auszuspielen, so werde es kein Glück damit haben, sondern
den Kontinent als einen festen Block sich gegenüber finden. Aus der
Vorhaltung des Kaisers, die im einzelnen die Grenzen der
Vorsicht - zum Kummer Holsteins - überschritt, ist zu
erkennen, wie mißtrauisch man nunmehr jeden Schritt der englischen
Orientpolitik beobachtete. Auf der anderen Seite erwiderte
Salisbury - wir haben seine vertraulichen Äußerungen
unmittelbar aus den Tagen vor Jameson-Zug und
Krüger-Telegramm - das deutsche Mißtrauen mit einer gegen
den Kaiser höchst gereizten Stimmung.21
Nachdem die deutsche Politik in Ostasien einen Anschluß an Rußland
vollzogen und gleich darauf den englischen Teilungsgedanken abgelehnt hatte,
glaubte sie sich immer mehr zu überzeugen, daß England mit seinem
Vorschlag die ostasiatische Dreiergruppe zu sprengen und einen neuen
Brennpunkt der Mächtegruppierung im Orient zu schaffen gedenke:
dagegen war man entschlossen, die Idee des Kontinentalbundes ins Feld zu
führen. Das Endziel dieser Politik ist nicht englandfeindlich, sondern lief
eher darauf hinaus, den Engländer, der überall in der Welt andere
Wege zu gehen suchte, durch eine verdiente Lektion wieder an den Dreibund
heranzuholen. Seitdem die Isolierung Englands auch in seinem Verhältnis
zu Amerika durch die Clevelandbotschaft zutage getreten war, glaubte man auch
von Europa her einen starken Ton anschlagen zu dürfen. Es geht um das
alte Problem: die Einordnung Englands in die in Dreibund und Zweibund
gespaltene Staatengesellschaft, also um ein Spiel von höchst delikater
Natur, unzweifelhaft für die deutsche Seite dadurch erschwert, daß
der Kaiser selbst, infolge seiner Beziehungen zu den Höfen von London
und Petersburg, jetzt in die vorderste Linie der Spielleitung eingerückt
war.
Während der Kaiser diese schwierige Auseinandersetzung vornahm, war in
den südafrikanischen Grassteppen in größter Heimlichkeit
schon jene Abenteurertruppe auf dem Marsche, die sich vorgesetzt hatte, mit
einem Gewaltstreich das Gesicht des Erdteils zu verändern. Schon kurz vor
Weihnachten trafen aus Pretoria beunruhigende Nachrichten ein, aus denen zu
entnehmen war, daß sich hinter dem abgeleugneten Vorstoß Malets
doch noch mehr verberge. Als Marschall den englischen Botschafter am 28.
Dezember auf die seitens der englischen Partei in Johannesburg drohenden
Unruhen hinwies, erinnerte er erneut daran, daß man auf der
Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit von Transvaal nach Maßgabe
des Vertrages von 1884 bestehe und in den Plänen von Rhodes eine
[440] schwere
Beeinträchtigung der deutschen Interessen erblicke;22 es war die letzte Warnung an die
englische Regierung, in deren Mitte Mr. Chamberlain über das
Kommende ohne Zweifel tief unterrichtet war. Als die Nachricht von dem Einfall
der 800 Mann unter Führung Jamesons am 1. Januar in Berlin
eintraf, wirkte sie zwar wie eine Bombe, aber sie stieß zugleich auf eine
gleichsam dafür vorbereitete politische Einstellung.
Der Kaiser wollte sofort nach Eintreffen der Nachricht telegraphisch seinen
empörten Einspruch anmelden. Dann aber folgte die zweite Nachricht von
der Gefangennahme der Jameson-Truppe durch die Buren der ersten so schnell
auf dem Fuße, daß die Reichsregierung instand gesetzt wurde, sich zu
der vollendeten Tatsache zu äußern. So erging am Mittag des 3.
Januar 1896 die berühmte Depesche Wilhelms II. an den
Präsidenten Krüger mit dem Wortlaut: "Ich spreche Ihnen Meinen
aufrichtigen Glückwunsch aus, daß es Ihnen, ohne an die Hilfe
befreundeter Mächte zu appellieren,23 mit Ihrem
Volke gelungen ist, in eigener Tatkraft gegenüber den bewaffneten Scharen,
welche als Friedensstörer in Ihr Land eingebrochen sind, den Frieden
wieder herzustellen und die Unabhängigkeit des Landes gegen Angriffe von
außen24 zu wahren." Noch wenige Tage vorher
hatte Königin Victoria persönlich den Zaren und den deutschen
Kaiser im Namen der Menschlichkeit gegen die armenischen Greuel aufrufen
wollen, jetzt lief eine andere Rechtsverwahrung zugunsten der Kleinen und
Schwachen um die Welt.
Die Krüger-Depesche, anfänglich mit Begeisterung vom deutschen
Volke aufgenommen, ist später, sobald die bedenklichen Folgen sichtbar
wurden, als ein Akt des unverantwortlichen Monarchen, als ein typisches Beispiel
seiner "Impulsivität" gescholten worden. In Wahrheit handelt es sich um
einen Staatsakt, der auf normale Weise zustande kommt; der Reichskanzler
trägt die konstitutionelle Verantwortung; die Mitwirkung des Kaisers
vollzieht sich innerhalb der korrekten Grenzen.25 In die
politische Verantwortung haben sich Hohenlohe und Marschall mit dem Kaiser zu
teilen. Herr von Marschall liebäugelte schon längst mit der Idee des
Kontinentalbundes, um einen gewissen Druck auf England auszuüben und
es zugleich zum Dreibund herüberzuholen. Jetzt ergriff er mit einer
gewissen Leidenschaft die günstige Gelegenheit zu einer
Bloßstellung des skrupellosen [441] Gegenspielers: "Nun
muß gehandelt werden", hieß es in seinem Tagebuch schon am
31. Dezember. Wie in dem Kongokonflikt vom Sommer 1894, der
überhaupt als ein Vorspiel dieses allerdings weit heftigeren
Zusammenstoßes zu deuten ist, hatte er im ersten Augenblick auch dem
französischen Botschafter ein Zusammengehen der
Kontinentalmächte nahe gelegt. Und wenn man in seinem Tagebuch vom 3.
Januar 1896 auf den Satz stößt: "Endlich richtet
S. Majestät auf meinen Vorschlag ein
Beglückwünschungstelegramm an Präsident Krüger", so
könnte man annehmen, daß Marschall der eigentliche Urheber
gewesen, und der spätere Versuch des Kaisers, sich selbst weitgehend zu
entlasten, durchaus berechtigt sei. Ein solches Bild würde aber sehr
unvollkommen sein. In Wirklichkeit ging Wilhelm II. nicht nur mit dem
leidenschaftlich vorwärtsdrängenden Marschall,
sondern - Stimmungsmensch, der er
war - er hatte sogar noch viel weiter gehen wollen. Da England sich so
offensichtlich ins Unrecht gesetzt hatte, schwelgte er in gefährlichen
Einfällen, wie der Übernahme des Protektorates über
Transvaal, der Mobilisierung der Seebataillone, der Entsendung von Truppen nach
der Delagoabai, der Abordnung eines militärischen Erkunders, der
Besetzung von Lourenço-Marques - alle diese ganz
unmöglichen Pläne mußten dem Kaiser erst ausgeredet
werden, bevor die im Vergleich damit harmlose Glückwunschdepesche zur
Annahme gebracht wurde.26 Wenn es
nach dem Willen des Kaisers gegangen wäre, würde er eine noch
weit schwerere Verantwortung auf sich genommen haben.
Die deutschen Staatsmänner, die zu der Krüger-Depesche
zusammenwirkten, standen unter dem doppelten Eindruck des offenkundigen
Rechtsbruches, der auch in deutsche Interessen einschnitt, und der Notwendigkeit,
einem neuen Kurs der englischen Politik mit starker Warnung zu begegnen:
über die psychologische Aufnahme und Nachwirkung der von ihnen
gewählten Mittel haben sie sich weniger Gedanken gemacht. Gerade von
hier aus gesehen, erwies sich die Depesche als ein schwerer Fehler.27 Der Fehler lag nicht so sehr darin,
daß in der Fassung die Linie der völkerrechtlichen Korrektheit leise
überschritten wurde; auch eine korrektere und vorsichtigere Fassung
würde die verhängnisvolle Nachwirkung kaum vermieden haben.
Denn diese ging von dem Ganzen der deutschen Aktion aus: daß der Kaiser,
der Enkel der Königin Victoria, in dem Augenblick, da der gescheiterte
Rechtsbruch schon eine allgemeine Verurteilung gefunden hatte, mit dem
Schwerte des Rechts an die Seite der Buren trat. Wilhelm II. sprach das
Urteil der Welt aus, aber daß gerade er es tat, berührte das
Unwäg- [442] bare, die
Empfindlichkeit einer großen Nation. So geschah es, daß man jenseits
des Kanals die Schmach des Mißgeschickes vor der öffentlichen
Meinung in den Zorn über den deutschen Kaiser ablenkte.
Auch alle Kritik der Krüger-Depesche darf nicht daran vorbeigehen,
daß die öffentliche Meinung Deutschlands und weit darüber
hinaus das mannhafte Hervortreten des Kaisers billigte. Der Reichstag verlieh
dieser Zustimmung einen starken und einmütigen Ausdruck. Niemals hatte
der Kaiser eine so beifällige öffentliche Meinung hinter sich. Eine
realistische Staatskunst wie diejenige Bismarcks wird diesen Erfolg der
Popularität als zu teuer erkauft in der Welt großmächtlicher
Wirklichkeiten beanstanden. Nicht so einfach ist die Stellungnahme für
jede politische Denkweise, der die Ideale der Rechtsordnung der Völker
höchste Güter schlechthin sind. Wenn die deutsche Politik der
Stimme der Gerechtigkeit (nicht ohne gleichzeitige Wahrnehmung ihres
Interesses) freien Lauf ließ, so sollten diejenigen, die einem veredelten
Völkerrecht der Zukunft als ihrem Ideale zustreben, ein solches Vorgehen
nicht verurteilen, sondern eher anerkennen.
Auch war die Krüger-Depesche kein Fehler, der nicht wieder gutzumachen
gewesen wäre. Ein Urteil, welches sie zum Drehpunkt macht, an dem die
vorher guten Beziehungen der beiden Staaten sich zum Bösen gewandelt
hätten, scheint mir zweierlei zu übersehen: daß einmal die
Beziehungen schon vordem nicht so einwandfrei gut waren, und daß sie
auch nachher nicht für immer verdorben wurden. Trotz der Depesche sind
die deutsch-englischen Bündnissondierungen der Jahre seit 1898 doch noch
möglich gewesen; wenn auch ihre Erfolgschancen in der öffentlichen
Meinung wohl dauernd verringert waren, so waren sie von diesem Erlebnis aus
noch nicht zerstört. Für den Augenblick hatten die Deutschen jeder
Anfechtung des status quo in Transvaal einen Riegel vorgeschoben. Die
Frage war nur, wie lange er hielt. Der alte Reichskanzler in Friedrichsruh verwarf
das Telegramm nicht, wenn er auch den Wortlaut nicht billigte, aber er blickte in
die Zukunft voraus: "Der Streit um Transvaal ist damit nicht erledigt. England
wird darauf nicht verzichten, es wird seine Aktion nur vertagen."28 Und so sei vorausblickend hier
gesagt: die Sühne für den deutschen Schritt sollte nicht darin
bestehen, daß man am 3. Januar 1896 die englische
Bündnismöglichkeit für immer verscherzte, sondern darin,
daß man wenige Jahre später dem Untergang der Buren tatenlos
zusehen mußte.
Zunächst aber zu den Nachwirkungen des Augenblicks. Die englische
Politik setzte alles daran, um der Offensive der Depesche auf breiter Front zu
begegnen. Sie stellte nicht nur ein fliegendes Geschwader gegen Deutschland in
Dienst,29 sondern suchte in ihren gesamten
Weltbeziehungen das Steuer mit der Richtung [443] gegen Deutschland
herumzuwerfen. Am weitesten griff der Entschluß, in dem schweren
Konflikt mit Amerika ungesäumt den Rückzug anzutreten; am 12.
Januar ließ man in Washington vertraulich wissen, daß
Großbritannien, wenn die Vereinigten Staaten eine internationale Konferenz
berufen würden, zur Anerkennung der
Monroe-Doktrin als eines Bestandteils des internationalen Rechtes bereit sein
würde.30 In Europa aber nahm man einen
Anlauf, allen Gegnerschaften gegen Deutschland die Hand zu reichen und alle
Verbindungen zu dem deutschen Bündnislager abzubrechen. Selbst von
Kopenhagen kamen unbestimmte Nachrichten, daß von London dort
angefragt worden sei, ob Dänemark im Kriegsfalle mitgehen
würde.31 Vor allem suchte man sofort die
Fühlung mit Frankreich. Wenn Salisbury dem deutschen Botschafter zu
verstehen gab, daß England schließlich auch ohne Ägypten
fertig werden könne,32 so mochte
man in Berlin daraus entnehmen, welchen Preis das Inselreich für Transvaal
zu zahlen bereit war. Ob das Wort des französischen Botschafters in
London: Frankreich kennt nur einen Feind, amtlich ausgesprochen wurde, mag auf
sich beruhen; die Pariser Presse, der Temps an der Spitze, sollte sich bald
auf die Formel einigen, daß Transvaal nicht geeignet sei, die
Aufmerksamkeit Frankreichs von Elsaß-Lothringen
abzulenken - und die englische Presse wußte, mit welcher Tonart sie
diesen Ball aufzunehmen hatte.33 Auf der
anderen Seite griff Salisbury auf den türkischen Teilungsplan zurück,
von dem zu erwarten war, daß er mit der Kraft des Scheidewassers die
bestehende Mächtegruppierung zersetzen würde; ähnlich wie
Rosebery im April 1894 die Bindungen an die Dreibundmächte
aufgelockert hatte, zog auch er die Konsequenz, die mit Österreich und
Italien bestehenden Orientabkommen entweder als belanglos auszulegen oder aber
formell außer Kraft zu setzen;34 ein
österreichischer Versuch, die Entente zu verlängern oder zu
vertiefen, wurde im Laufe des Februar 1896 abgelehnt.35 Innerhalb des Dreibundes aber blieben
die Rückwirkungen der englischen Umstellung [444] nicht ganz aus; es kam
doch dazu, daß Italien für gewisse Modalitäten seine
Bündnisverpflichtung gegenüber Deutschland einschränkte.36
Gegenüber diesen überraschenden Umstellungsversuchen der
englischen Politik hatte die optimistische Auffassung Holsteins: daß die
Sache "mit einem kleinen diplomatischen Erfolg für Deutschland und einer
kleinen politischen Lektion für England"37 zu Ende
gehen würde, keinen Bestand. Denn in der Tiefe des englischen Volkes und
nicht nur gewisser Interessenkreise blieb ein Rückstand bitterer
Empfindungen. Während der Krisis hatte die von Frank Harris geleitete
Saturday Review, hinter der das Kapital der südafrikanischen
Minenspekulanten Cecil Rhodes, Alfred Beit und Alfred Ochs stand, zum ersten
Male das früher unmögliche Wort: "Germania est delenda"
sich entfahren lassen. Und bald spürt man an manchen Stellen des
englischen Lebens Kräfte am Werke, die mit der Zeit in die Vorgeschichte
des Weltkrieges verantwortlich eingreifen werden.
Inzwischen war die Episode der Krüger-Depesche als solche längst
abgelaufen. Kaiser Wilhelm II. hatte schon nach kaum einer Woche in
einem Schreiben die Königin Victoria über seine persönlichen
Absichten beruhigt (woraus dann die enttäuschten Franzosen eine
demütigende Unterwerfung machten), und es stellte sich alsbald heraus,
daß der Zwischenfall, der eine so tiefgehende Verbitterung verursacht hatte,
auf dem Kampfplatze selbst eigentlich ohne praktische politische Wirkung blieb,
insofern, als weder die grundsätzliche Rechtslage in Südafrika noch
der augenblickliche Rechtsstreit durch ihn verändert wurde. Auch die
Ausnutzung der Spannung zum Einbringen einer Flottenvorlage, die einen
Augenblick dem Temperament des Kaisers möglich schien, wurde zum
Glück, vermutlich aus der naheliegenden politischen Erwägung,
vermieden.38 So wurde es denn nach einigen
Monaten möglich, daß wenigstens [445] der geschäftliche
Verkehr in den alten Formen wiederhergestellt und ein sachliches
Zusammengehen auf einem begrenzten Schauplatz durchgeführt wurde.
Am 1. März 1896 erlitt das italienische Heer durch die Truppen
Abessiniens eine schwere Niederlage - das bedeutete nicht nur, daß
die Leistungsfähigkeit der Dreibundmacht Italien durch diesen Schlag
beeinträchtigt wurde, sondern auch, daß der Dreibundgedanke in
Italien selbst eine Schwächung erfuhr. Der Rücktritt Crispis war die
unmittelbare Folge. Grund genug für Kaiser Wilhelm, daß er in
höchst persönlichem Stil alles daran setzte, dem König von
Italien sein Mißgeschick in aller irgendwie dienlichen Weise zu erleichtern.
Er kam dabei auf den glücklichen Gedanken, eine Bemühung bei
England zugunsten Italiens mit dem Bestreben zu verbinden, ein normales
Verhältnis zu England wiederherzustellen.39 Noch
gingen allerdings die Wogen in London hoch. Es kennzeichnet die Lage, wenn der
Daily Telegraph und die Times vom 6. bis 7. März den
Fehlschlag einer Dreibundmacht zum Anlaß nahmen, um die Revision des
Frankfurter
Friedens, vorsichtigerweise als eine Aufgabe für
Rußland, zur Sprache zu bringen.40 Die
englische Regierung jedoch lenkte nach dieser Entgleisung ein. So wenig sie
geneigt war, die aussichtslose Stellung der Italiener in Abessinien zu
stützen, so nahm sie doch die Gelegenheit wahr, wenigstens die eigene
Stellung im Sudan durch die Expedition nach Dongola zu verstärken und
sich dabei des Rückhalts seitens des Dreibundes zu bedienen.41 Dieses Unternehmen bedingte
zwischen den Kabinetten ein förmliches Begräbnis der
Jameson-Krüger-Episode. So las denn Sir Frank Lascelles im
Auswärtigen Amt in Berlin am 13. März einen Brief Lord Salisburys
vor, in dem es hieß, er wünsche, wie in früherer Zeit, mit
Deutschland auf dem Fuße gegenseitiger freundschaftlicher Beziehungen zu
stehen. England wolle sich an den Dreibund anlehnen, werde aber nie ein
Versprechen geben, welches für irgendeine zukünftige
Eventualität die Ver- [446] pflichtung zum Kriege
enthalte. So suchte der afrikanische Flügel des britischen Imperialismus,
dessen Träume sich auf der Linie von Kap bis Kairo bewegten, die im
Süden erlittene Schlappe zunächst im Norden auszugleichen, alles
weitere der Zukunft überlassend. Die Folge war, daß die weitere
Gestaltung der deutsch-englischen Beziehungen vornehmlich wieder von dem
orientalischen und dem ostasiatischen Schauplatze beeinflußt werden
sollte.
Auf dem Orientschauplatze blieb der in: Sommer 1895 eröffnete Gegensatz
bestehen. Die deutschen Staatsmänner waren überzeugt, daß
England noch immer auf eine Orientkrise hinarbeite42 und am
liebsten die Absetzung des Sultans sehen würde.43 Vor allem nahm Lord Salisbury jede
Gelegenheit wahr, um dem deutschen Gegenspieler zu verstehen zu geben,
daß er sich in dem freigewählten Zustand der splendid
isolation wohl befinde und keine Änderung wünsche. Daher
betonte er, daß England mit Rußland und Frankreich im Mittelmeer
allein fertig werden könne und den Dreibund nicht nötig habe;44 auf der anderen Seite hielt er dem
deutschen Botschafter vor, daß die Berliner Politik den Dreikaiserbund,
d. h. einen schon in den siebziger Jahren immer nur mit Mißtrauen
beobachteten Zustand der Dinge, wiederherstellen wolle. Graf Hatzfeldt, der seit
über einem Jahrzehnt in einem vertraulichen Verhältnis zu dem
Ministerpräsidenten stand, setzte dieser Annahme einen Rückblick
auf die deutsch-englischen Beziehungen entgegen: "Was ich aber wisse und ihm
ebenso gut bekannt sein müsse, sei, daß ich mich jahrelang
vergeblich bemüht hätte, die englische Regierung über ihr
eigenes Interesse in bezug auf die Gruppierung der Mächte in Europa
aufzuklären." Lord Salisbury gab dies bereitwillig zu, fügte aber mit
einer gewissen Freundlichkeit hinzu, daß der Anschluß Englands an
den Dreibund dem englischen Interesse vielleicht entsprochen hätte,
daß er sich aber nicht machen lasse, "weil er einmal mit den hiesigen
Traditionen im Widerspruch stehe".45
Es lag auf derselben Linie, wenn Salisbury einige Wochen später die Idee
einer Verständigung mit Frankreich streifte. Der deutsche Botschafter zog
aus seinen bisherigen Beobachtungen noch nicht den Schluß, daß ein
positiver Plan vorliege, der vielleicht nur durch einen hohen Preis erkauft werden
könne. Aber er gelangte doch zu Erwägungen, die, gerade von ihm
ausgesprochen, sehr zu denken gaben. "Die heutigen vertraulichen
Äußerungen des Premierministers sind aber [447] jedenfalls von hohem
Interesse, weil sie darüber keinen Zweifel lassen, daß er den
Gedanken einer Allianz mit Frankreich zu bestimmten Zwecken im Kopfe hat und
zu verarbeiten sucht.46 Lord Salisbury ist nach meinen
Erfahrungen ein Opportunist, dessen inneres Gleichgewicht durch eintretende
äußere Schwierigkeiten niemals ernstlich beeinträchtigt wird,
weil er von sich selbst überzeugt ist, daß es seinem erfinderischen
Geiste niemals an Auswegen und Kombinationen fehlen wird, um England mit
Hilfe seiner ungeheuren Flotte gegen alle denkbaren Gefahren zu decken."47, 48 Als im Februar 1897
zwischen Österreich und England eine Unterhaltung über die
Meerengenfrage stattfand, stellte sich ein überraschender Widerspruch
zwischen den früheren und jetzigen Äußerungen Salisburys
heraus. Während er bis vor kurzem stets die Möglichkeit offen
gelassen hatte, daß England unter gewissen Voraussetzungen
Österreich im Orient zur Seite stehen werde, betonte er jetzt die
Unmöglichkeit, sich im Orient mit Österreich festzulegen. Als er
aber die Schuld für das dadurch in Wien hervorgerufene Mißtrauen
auf Berlin zu schieben suchte, kam man hier mit Recht zu dem Ergebnis: "Je
nachdem es ihm paßt, andere Kabinette einzuschüchtern oder zu
ködern, läßt Lord Salisbury die eine oder die andere dieser
Verständigungen am Horizonte auftauchen oder verschwinden''.49
Die aus allen diesen Symptomen erkennbare Abkühlung der
deutsch-englischen Beziehungen wurde dadurch verschärft, daß die
öffentliche Meinung Englands seit der
Krüger-Episode ihren gereizten Ton nicht wieder aufgab. Noch im Jahre
1896 hatte ein zeitkundiger Schriftsteller es bereits unternommen, in einem Buche
Made in Germany allerhand kleine Eifersüchte, die bisher eine
Angelegenheit der geschäftlichen Konkurrenz waren, unter einem
politischen Schlagwort für die Allgemeinheit zusammenzufassen. Wie viele
deutsche Autoren habe ich früher dazu geneigt, in dieser Haltung der Presse
einen ursprünglichen Ausdruck der Wirtschaftsrivalität und des
Handelsneides zu sehen,50 doch habe ich mich immer mehr
davon überzeugt, daß diese als primäres Motiv der
Entfremdung überhaupt nicht in Betracht kommen: sie sind vielmehr als ein
brauchbares sekundäres Motiv von den Führern des politischen
Gegensatzes aufgegriffen und zur Bearbeitung der Massen verwendet worden.51 Wenn z. B. das [448] Organ der
südafrikanischen Imperialisten und Spekulanten, die durch eine
ausgesprochene antideutsche Haltung ausgezeichnete Saturday Review,
am wildesten auf die deutsche Konkurrenz losschlägt, so geschieht das,
weil ihre Hintermänner aus naheliegenden Gründen die große
politische Wendung in der öffentlichen Meinung durchdrücken
wollen. So griff sie jedes Schlagwort auf, das am europäischen Horizont
auftauchte, um ihr mit der ganzen Zähigkeit eines angelsächsischen
publizistischen Kreuzzuges verfolgtes Ziel zu erreichen. Am 27. August 1897
[448a]
Präsident Felix Faure in Petersburg, Juli
1897.
|
hatte der Trinkspruch des Zaren Nikolaus bei dem Besuch des Präsidenten
der französischen Republik zum ersten Male von den beiden befreundeten
und alliierten Nationen gesprochen. Vierzehn Tage darauf schoß der
berühmte Artikel der Saturday Review unter den deutschfeindlichen
Organen den Vogel ab:
"England mit seiner langen Geschichte
erfolgreicher Offensiven, mit seinem wunderbaren Glauben, daß es in
Verfolg seiner eigenen Interessen zugleich Licht unter den im Dunkel lebenden
Völkern verbreitet, und Deutschland, Blut von demselben Blut, Bein von
demselben Bein, mit einer geringeren Willenskraft, aber vielleicht einer
schärferen Intelligenz ausgestattet, treten in jedem Winkel des Erdballs in
Wettbewerb. In Transvaal, am Kap, in Zentralafrika, in Indien und im Orient, auf
den Inseln der Südsee und im fernen Nordwesten, wo nur die Flagge der
Bibel und der Handel der Flagge folgte, da steht der deutsche
Geschäftsreisende mit dem englischen Handelsmann im Kampfe. Gibt es
dort ein Bergwerk auszubauen, eine Eisenbahn zu bauen, einen Eingeborenen von
der Brotfrucht zum Büchsenfleisch, von der Temperenz zum Branntwein zu
bekehren, so kämpfen Deutsche und Engländer um den ersten Platz.
Eine Million kleiner Streitigkeiten erzeugt die größte Kriegsursache,
die die Welt je gesehen hat. Wenn Deutschland morgen ausgelöscht
wäre, so würde es übermorgen keinen Engländer in der
Welt geben, der nicht um so viel reicher wäre. Nationen haben jahrelang
um eine Stadt oder um ein Erbrecht gefochten: müssen sie nicht fechten
für einen Handelswert von 200 Millionen Pfund? England ist die einzige
Großmacht, die Deutschland ohne furchtbare Gefahr und ohne Zweifel
über den Ausgang bekämpfen könnte... Ein paar Tage nur, und
die deutschen Schiffe werden auf dem Meeresgrunde liegen oder als Prisen nach
England geleitet werden. Hamburg und Bremen, der Kieler Kanal und die
Ostseehäfen würden unter den Kanonen Englands liegen, bis die
Kriegsentschädigung gezahlt wäre. Unser Werk getan, brauchten wir
weiter nichts, als Frankreich und Rußland zu sagen: Sucht euch irgendeine
Kompensation. Nehmt vom deutschen Boden, was ihr
wollt - ihr könnt es haben."52
[449] Man sieht: den Stoff
liefert die Handelsrivalität, aber der Kern und Zielpunkt des Artikels liegt
in dem zum Schluß durchbrechenden verlockenden Anerbieten an den
Zweibund.
Unter dem Eindruck dieser Gestaltung der deutsch-englischen Beziehungen in den
Jahren 1896/97 hat der Gedanke des Baues einer größeren Flotte, der
schon kurze Zeit vor der Krüger-Episode ernsthaft erwogen worden war,
von dem politischen Willen des Kaisers und seiner Berater, ja des
überwiegenden Teiles der öffentlichen Meinung im deutschen Volke
Besitz ergriffen. Aus dem Erlebnis des Januar 1896 war doch ein starkes
Gefühl der Wehrlosigkeit zur See zurückgeblieben, und hinter dem
Einzelfall hatte sich mit einem Schlage etwas Allgemeineres, die innere
Problematik, die verborgene Abhängigkeit des ganzen Kolonialbesitzes und
der ganzen überseeischen Handelswerte des Reiches eindringlich und
demütigend enthüllt. Man konnte sich nicht mehr darüber
hinweg täuschen, daß die deutschen Kolonien, ohne alle maritimen
Machtmittel einzig kraft der hegemonischen Stellung des Bismarckschen Reiches
in den Jahren 1884/85 erworben, mit ihren Entwicklungsmöglichkeiten nur
dann sicher behauptet werden könnten, wenn Deutschland auch über
Seestreitkräfte in einem für eine Großmacht nennenswerten
Umfange verfügte. Wie konnte man hoffen, die stark wachsende
Handelsflotte und die ununterbrochen fortschreitende Festlegung von Kapitalien
und Errichtung von Anlagen in Übersee gegen alle Gefahren zu sichern,
wenn das Reich, wie es der Fall war, als (nach
Österreich-Ungarn) schwächste der Großmächte zur See
vier sog. Schlachtschiffe - in Wahrheit nur schwere
Küstenverteidiger - und vier kleinere Panzerschiffe in Dienst stellen
konnte.53 Und ließ sich schließlich
erwarten, daß man bei dieser Unvergleichbarkeit mit wirklicher Seemacht
von einer Großmacht wie Großbritannien jemals ernst genommen
werden würde - da man an der für sie entscheidenden Stelle
überhaupt nicht "Macht" war, so war es unvermeidlich, daß man als
Bundesgenosse zu leicht wog, in Streitfragen aber kurz und ungnädig
abgefertigt wurde.
So lauteten die Grundgedanken, die der neue Staatssekretär des
Reichsmarineamtes Alfred Tirpitz,
der am 31. März 1897 von der
ostasiatischen Station zurückgekehrt war, mit einer seltenen Verbindung
von Sachlichkeit und Feuer verkündete. Mit ihm betrat einer der
bedeutendsten Männer, willensmäßig vielleicht die
stärkste Persönlichkeit des nachbismarckschen Zeitalters, die
Bühne der Öffentlichkeit. Ein unvergleichlicher Organisator und ein
umstrittener Politiker, hat er mit seinem Werke und seinem Wollen tiefe Spuren
in der Geschichte Wilhelms II. hinterlassen, wie er selbst mit dessen
Schicksal auf das stärkste verbunden bleibt. [450] Es war ein
denkwürdiger Tag, der 15. Juni 1897, der das zehnte Regierungsjahr
Wilhelms II. eröffnete, als Tirpitz dem Kaiser einen Immediatvortrag
über seinen großen Flottenplan hielt, der durch seinen
zweckmäßigen Aufbau, seine überzeugende
Begründung, seine geschickte Mittelverteilung allen seinen
Vorgängern überlegen war. Der Plan fand das Einverständnis
des Kaisers. Mit der Geschlossenheit seiner Natur, der von Schwung getragenen
Sachkunde und auch mit politischen Illusionen, die er aber immer wieder in
gewissen Grenzen zu halten wußte, hat Tirpitz von diesem Tage an einen
Einfluß begründet, dem Wilhelm II. dauernder gefolgt ist als
jedem anderen seiner Berater.
Tirpitz hatte seinem Flottenplan den Leitsatz "Stärkung unserer politischen
Macht und Bedeutung gegen England" zugrunde gelegt. Wenn der Kaiser sich mit
diesem Gedanken "absolut einverstanden" erklärte, so glaubte er nach den
politischen Erfahrungen der letzten Jahre, zumal aber seit der
Krüger-Depesche, dazu Ursache genug zu haben. Liest man in einer
Randbemerkung des Kaisers vom 31. Juli 1897 die Worte: "Nach der
Anerkennung der Überlegenheit der deutschen Industrie wird deren
Vernichtung in Bälde von Albion angestrebt und unzweifelhaft erreicht
werden, wenn nicht energisch und rasch ein starker Flottenbau bei uns dem Urteil
vorbeugt: ceterum censeo naves esse aedificandas —" so
hört man in der Schlußwendung noch eine Erinnerung an den ersten
Artikel der Saturday Review nachklingen und zu
dem - in dieser Form sehr
übertriebenen! - Bilde des englischen Vernichtungswillens
gegenüber seinem Konkurrenten beitragen. In dem psychologischen
Zusammenhange sind diese Dinge bei der Entstehung des Tirpitzschen
Flottenplanes nicht zu streichen; und man könnte sich schon vorstellen,
daß, als der Admiral am 15. September 1897 dem Reichskanzler
Fürsten Hohenlohe seinen Vortrag über die nunmehr fertig
ausgearbeitete Flottenvorlage hielt, er ihm gleichzeitig den einige Tage vorher
erschienenen zweiten Artikel der Saturday Review (vom
11. September) überreichte, dessen maßlose Herausforderung
wir oben wiedergegeben haben.54
Daß die Idee der Flottenvorlage auf den politischen Gegensatz gegen
England als Kern der deutschen Außenpolitik abzielte, würde eine
durchaus irrige Annahme sein. Allerdings will sie in jeder Auseinandersetzung
mit England dem von deutscher Seite vertretenen Standpunkt ein
größeres Schwergewicht geben, um ihn entsprechend zur Geltung zu
bringen. Schon in dem erwähnten Gutachten von Tirpitz, Anfang des Jahres
1896, war der Gedanke ausgeführt worden: "Selbst der größte
Seestaat würde entgegenkommender gegen uns sein, wenn wir
2 - 3 gute und hochgeschulte Geschwader in die Waagschale der
Politik und dementsprechend nötigenfalls in diejenige des Konflikts zu
werfen imstande wären" - eine Vorform des späteren
problematischen "Risikogedankens". Das alles ist [451] zunächst eine
Zukunftserwägung, die wenig für einen Staat besagt, der bis zum 1.
April 1905 während des Sexennats lediglich 11 Linienschiffe, 5
große und 17 kleinere Kreuzer auf Stapel zu legen sich vorsetzt. Selbst
diese Zukunftsmöglichkeiten besaßen damals für die
Engländer nicht den geringsten Grad von Beunruhigung, ganz abgesehen
davon, daß es ihnen noch als unbewiesen galt, ob die Deutschen
überhaupt imstande wären, eine solche Flotte aus eigenen
Kräften zu bauen und auszurüsten, zu organisieren und
auszubilden.55 Im übrigen waren damals in
den deutsch-englischen Beziehungen die akuten Reibungsflächen fast
verschwunden, es war der Augenblick, in dem Südafrika aus dem
deutschen Interessenkreise wieder ganz zurückzuweichen begann und in der
Ferne China in den Vordergrund des Mächtespiels rückte; in den
Wochen nach der Verabschiedung der Flottenvorlage fingen die Engländer
zum ersten Male wieder an, einen vertraulicheren Ton anzuschlagen.
Unmittelbar vor dem Amtsantritt des Staatssekretärs Tirpitz hatte der
Reichstag eine bescheidene Vorlage abgelehnt. Im März 1898 bewilligte er
mit großer Mehrheit eine weitausschauende, langfristige Vorlage von sehr
viel größerem Umfange. Dieser politische Umschwung ist nicht
allein dem agitatorischen Geschick von Tirpitz zuzuschreiben, der, wie der Kaiser
ihm nachrühmt, das Riesenwerk fertiggebracht habe, nicht nur ein Volk von
"50 Millionen widerhaariger, nicht informierter, übelgelaunter
Deutscher", sondern auch die Mehrheit der Minister zu seiner Ansicht zu
bekehren. Es war auch nicht nur das starke Lebensinteresse des Handels und der
Industrie, das sich mit der Flotte verband, nicht allein das Erleben dieser Jahre, in
denen immer wieder von neuem durch aufregende Geschehnisse in der Welt einem
sehr binnenländisch gewordenen Volke das Wesen der Seemacht
eingehämmert wurde. Es war das nationale Bewußtsein selbst, aus
dem dieser Umschwung hervorging, das nationale Bewußtsein, das, im
Reiche saturiert und in seinen Kontinentalgrenzen wieder fest eingeengt,
über See nach größeren Schauplätzen der
Betätigung sucht - es war der politische Sinn eines Volkes, das in
dem Reiche häufig genug nur die monarchische Repräsentation mit
ihrem höfischen Glanz, die Intrigen der
höfisch-ministeriellen Cliquen und den kleinlichen Streit der Parteien sah
und von einer tiefen Sehnsucht nach einem weiteren und freieren Horizont, nach
einem Jungbrunnen für das ganze Leben der nationalen Gemeinschaft
erfüllt war.
[452] Der alte Hohenlohe
war von Hause alles andere eher als ein Phantast und "Marinist". Wenn er sich
jetzt für die Schlachtflotte aussprach und einem alten, von schwarzen
Bedenken erfüllten bayrischen Freunde die sachliche Notwendigkeit zu
erweisen suchte,56 ging er vor allem davon aus, es sei
ungerecht, dem Kaiser vorzuwerfen, daß er die Flotte aus Laune oder zu
seinem Vergnügen baue:57 "Er tut
nichts anderes als das ausführen, was das deutsche Volk seit
hundertfünfzig Jahren angestrebt hat." Das war gerade in seinem Munde
keine Redensart. Selbst einer der Senioren der alten liberalen Nationalpartei,
konnte er den historischen Nachweis führen. So stellte sich ihm der Lauf
der Vergangenheit dar: das friedliche, unbedeutende, machtlose Dasein in der Zeit
des Bundestages, das eines Tages dem deutschen Volke nicht mehr
genügte: "es wollte einheitlich gestaltet sein und eine Rolle in der Welt
spielen"; und dann nach Burschenschaft und Nationalverein, der ganze Weg von
1848 bis 1871, bis zur Gründung des Reiches; und als dieses Reich Mittel
brauchte, um zu leben, der Übergang vom Freihandel zum Schutzzoll, der
mächtige Aufschwung von Industrie und Außenhandel; und nun die
Notwendigkeit, alle diese Werte der Nation durch eine Flotte von Rang zu
schützen. In diesen Dingen lag allerdings ein tieferer historischer
Zusammenhang, und wenn der alte pessimistische Münchner Freund des
Kanzlers sich jetzt auch nicht mehr überzeugen ließ, so mußte
er doch gestehen, selbst im Jahre 1846 in einem Drama die schönen Worte
ausgesprochen zu haben: Deutschland müsse eine Seemacht werden, Gott
habe die Meere an unseren Küsten nicht ausgegossen, damit fremde Kiele
sie durchfurchen sollten.
Das alles hatte der Engländer Lord Lytton schon 1874 vorausgesehen, wenn
er die Frage aufwarf: Gibt es in der Geschichte irgendeinen Fall eines
binnenländischen Staates, der plötzlich die militärische
Vorherrschaft in Europa gewinnt, ohne sich mittels seiner militärischen
Stärke und seines Ansehens zu bemühen, eine Seemacht zu werden?
Aber man kann keine Seemacht sein ohne Kolonien.58
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