SucheScriptoriumBuchversandArchiv IndexSponsor


Bd. 9: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Erster Teil


Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin

Kapitel 2: Das Deutsche Reich
unter der Staatsleitung Bismarcks 1871 - 1890
  (Forts.)

[241] 4. Ausdehnung des politischen Horizontes über See 1883 - 1885.

In den Jahren, die auf den Abschluß des Bündnisses mit Österreich-Ungarn folgten, hatte das Deutsche Reich innerhalb der Staatengesellschaft eine Stellung gewonnen, die weitreichenden Einfluß mit unangefochtener Sicherheit vereinte. Man würde sogar von einer hegemonischen Stellung sprechen dürfen, wenn sich mit einer solchen Kennzeichnung nicht allzu leicht die Vorstellung von einer hegemonischen Machtausübung, wenn nicht gar von einem übergreifenden Mißbrauch dieser Macht verbände. Die Beispiele dafür aus den letzten europäischen Jahrhunderten liegen allzu nahe. Das neue maßgebende Zentrum der Großmächte sollte seine Ausnahmestellung nicht in einem solchen Sinne der Vergewaltigung der andern ausnutzen, sondern ausschließlich zu dem Zwecke der allgemeinen Friedenssicherung verwenden. Das ist das Geheimnis dieser Jahre.

Alle Welt war sich darüber einig, daß um 1880 Fürst Bismarck den Höhepunkt seiner Macht und seines Ruhmes in Europa erreicht hatte. "In St. Petersburg", schrieb der englische Botschafter in Berlin an seinen neuen Chef Mr. Gladstone, "ist sein Wort Evangelium, sowohl wie in Paris und Rom, wo seine Worte Respekt einflößen und sein Schweigen Befürchtung".1 Und wenn das neue englische Ministerium auch die Linie der bündniswilligen Politik der Tories sofort verlassen hatte, so ist es doch bezeichnend, wie die diplomatische Technik des milden und nicht entschlußfreudigen Lord Granville alles daran setzte, in den schwebenden orientalischen Fragen zunächst Bismarcks Meinung zu ermitteln und seinen Rat zu erlangen.2 So wird es nicht überraschen, daß auch von Bismarck selbst, der wenig Neigung hatte, sich beruhigt auf das Faulbett zu legen, aus dem Jahre 1882 die befriedigte Äußerung überliefert ist, die auswärtige Politik mache ihm auch keine einzige schlaflose Nacht, die Sache sei seit zehn Jahren so aufgezogen, daß sie von selbst gehe.3 Der ehemalige französische [242] Ministerpräsident Waddington, damals Botschafter in London, gestand im August 1883 dem Grafen Herbert Bismarck, der Reichskanzler habe die Stellung eines Schiedsrichters in Europa, und kein anderer nach ihm werde eine ähnliche Stellung haben.4 Das glanzvolle Hauptquartier des Kaisers Wilhelm bei den Herbstmanövern in Homburg im Jahre 1883 war ein Beweis für die Weltgeltung, die die deutsche Monarchie im Kreise der Fürsten und Völker Europas gewonnen hatte. Und die Reise, die der deutsche Kronprinz bald hernach an die königlichen Höfe in Madrid und Rom sowie an den Vatikan unternahm, hinterließ den weithin wirkenden symbolischen Eindruck, daß, wenn die alte Generation eines Tages abtrete, eine neue Generation ihre Aufgabe übernehmen würde. Der Vorgang wurde wie eine Kräftigung der monarchischen Staaten in Europa überhaupt empfunden.

Das Bündnissystem, das sich um das Deutsche Reich gruppierte, - das einzige in dem damaligen Europa, - besaß nichts von dem offensiven Charakter, der in der Politik der letzten Jahrhunderte - man denke noch einmal an die letzten Allianzenpläne Napoleons III. von 1869 zurück! - in der Regel auf dem Untergrunde ihrer Bündnisbildung verborgen war. Die von Deutschland geführte Kombination stellte geradezu eine neue Erscheinung von Friedensbündnissen dar, in denen der Mächtigste nicht nur darüber wachte, daß die Sicherheit der Partner nicht durch Angriffe von fremder Seite gestört wurde, sondern zugleich darüber, daß die eigenen Bündnisglieder die Bündnisbestimmungen nicht mißbrauchten, um durch neue ausgreifende Bestrebungen den Frieden zu gefährden. Vom ersten Tage an hatte Bismarck das Motiv und den Bereich seiner Bündnispolitik zu verteidigen gegen Auslegungen oder Schlußfolgerungen, die ihm seine Idee von dem Wesen und Zweck dieser diplomatischen Hilfskonstruktionen zu verfälschen drohten. Unmittelbar nach dem Abschluß des österreichischen Bündnisses hatte er die Andeutungen Baron Haymerles abgelehnt, der englischen Politik im Orient "in deutlicherer Weise" seine Unterstützung in Aussicht zu stellen, und grundsätzlich davor gewarnt, daß "die Übertragung dieser Sympathien auf unser defensives Bündnis das Bündnis in Gefahr bringen würde, sich in eine aggressive Koalition zugunsten der englischen Politik zu verwandeln". Es handelt sich um eine Auffassung des Geistes der Bündnispolitik in Wien, die unter Kálnoky mehr und mehr zurücktritt, aber doch eines Tages wiederkehren wird. Selbst der bescheidenen Macht des Fürsten von Rumänien, so sahen wir, mußte sofort ein Zügel angelegt werden, weil er sich unter dem Abkommen "eher ein Schutz- und Trutzbündnis mit Gewinnanteil dächte, als eine rein defensive Friedensassekuranz". Als vollends die italienische Regierung im April 1884 das Eintreten des Deutschen Reiches für die von seiten Frankreichs angeblich bedrohten künftigen italienischen Interessen in Marokko erbat (bevor sie selbst einen Schritt getan hatte), konnte Bismarck seine schwere [243] Verstimmung über solches Verkennen der Gemeinschaft kaum verbergen: "Wir sind bereit, Italien zur Seite zu stehen, wenn es von Frankreich angegriffen oder auch nur ernstlich bedroht ist. Aber wegen vager Sorgen über nicht einmal aktuelle, sondern erst von der Zukunft gehoffte italienische Interessen in Marokko oder im Roten Meer oder in Tunis oder in Ägypten oder in irgendeinem anderen Weltteile Händel mit Frankreich anzufangen und Europa vor die Eventualität eines Krieges von größten Dimensionen zu stellen, das ist eine Zumutung, die man wegen der sich darin ausdrückenden Geringschätzung unserer und aller sonstigen nichtitalienischen Interessen kaum mit Gleichmut entgegennehmen kann."5 Ein Bündnissystem, in dem alle weiterreichenden politischen Nutzanwendungen von vornherein vorsichtig abgeschnitten waren, war geradezu darauf angelegt, jede Umbildung zu einer hegemonisch angehauchten Erwerbsgenossenschaft zu vermeiden. Es liegt auf der Hand, daß in dieser begrenzten Auffassung des Bündniszwecks das deutsche Interesse dominierte, und weiterhin, daß damit eine gewisse Grenze, wenn nicht gar Schwäche des Bündnissystems gegeben war, weil nun einmal die positiven Bedürfnisse des Handelnden wirksamere Bindemittel sein können, als die scheinbar nur negative Funktion der friedlichen Abwehrbereitschaft.

Die einzelnen Teile des Bündnissystems waren auch für Bismarck niemals unveränderliche, absolute Werte; sie waren politische Aushilfen, deren relativen Wert er möglichst scharf sich klar zu machen suchte. Er wußte, wie wir sahen, daß er mit dem Dreikaiserbündnisse vom 18. Juni 1881 nur das eine, das friedliche Rußland an seiner Seite hielt, und damit das andere, das angriffslustige Rußland zwar lahmlegte, aber doch nicht auslöschte. Er war sich weiter bewußt, daß der Russe trotz dieses Bündnisses seine Kavalleriepositionen an der deutschen Ostgrenze sehr verstärkte, oder jedenfalls eine solche Verstärkung für nötig hielt, um innerhalb des Bündnisses die richtige Stellung zu behaupten. Der deutsche Botschafter war durchaus im Recht, wenn er Herrn von Giers statt auf die eingebildeten russischen Besorgnisse vor Deutschland auf unbestrittene Tatsachen hinwies, "nämlich fünf Kavalleriedivisionen mit so und so viel bespannten Geschützen und Munitionswagen, verstärkten Mannschaftsbestand bei so und soviel Bataillonen, eine kaukasische Division von 16 Bataillonen nach Westen vorgeschoben - jeder General würde ihm zugestehen, daß diese Aufstellung eine Drohung sei".6 Als Bismarck bei einem Besuche des Herrn von Giers in Friedrichsruh am 14. November 1883 gleichfalls diese Rüstung, die mit dem Vertragsverhältnis nur schwer in Einklang zu bringen war, zur Sprache brachte, wußte dieser nur auf die Möglichkeit eines Thronwechsels in Berlin und eines dann stärker einsetzenden englischen Einflusses zu verweisen, also auf die Gefahr, daß das Vertragsverhältnis eines Tages nicht mehr bestehe. Um so eher verständigten [244] sich beide Staatsmänner darüber, daß bei der sich verschärfenden Spannung zwischen Rußland und Österreich die Kriegsgefahr nur durch die Verlängerung des Dreikaiserbündnisses zu bannen sein würde. So war Bismarck sehr erfreut, daß der Russe den Antrag auf Erneuerung des Dreikaiserbündnisses stellte. In den Verhandlungen, die an sich nicht besondere Schwierigkeiten machten, fehlte es nicht an einigen Quertreibereien von russischer Seite; auch mußte eine formale Abänderung zugestanden werden, die angeblich die russische freie Hand für den unwahrscheinlichen Fall verstärkte, daß Deutschland zum Angriff gegen Frankreich schreiten würde. Genug, daß die Erneuerung am 27. März 1884 auf drei Jahre vollzogen wurde. Bezeichnend bleibt, wie gelassen Bismarck die geschäftliche Behandlung nahm: "Das Wichtigste ist, daß ein Vertrag dieser Art überhaupt zwischen den Mächten existiert. Den Wortlaut so verklausulieren, daß böser Wille gar keine Fugen darin finde, in welchen sich unehrliche Vorwände zum Vertragsbruch anbringen ließen, ist sprachlich nicht ausführbar." Was das Bündnis bisher geleistet hatte, die Lahmlegung des deutschfeindlichen Elements in Rußland, konnte es auch fortan leisten, und ebenso setzte es allen französischen Hoffnungen eine gewisse Grenze. Seine Achillesferse, das wahre Verhältnis zwischen Rußland und Österreich, dessen bedenkliche Seiten gewissermaßen in dem Dreikaiserbündnisse "aufgehoben" wurden, blieb auch jetzt bestehen. Es war dafür charakteristisch, daß Zar Alexander nach erfolgtem Abschluß zu dem deutschen Botschafter nur von dem Nutzen des Bündnisses für "beide Staaten" sprach, mit dem Zusatz: "von Österreich spreche er nicht, weil zwischen diesem und Rußland so viele divergierende Interessen beständen". Aus diesem Grunde, aus Furcht vor der panslavistischen Kritik an der Einbeziehung Österreichs, hielt man in Petersburg auch an der strengen Geheimhaltung fest.7

Immerhin, die Maschinerie des Dreikaiserbündnisses, so vorsichtig sie auch gehandhabt werden mußte, war für weitere drei Jahre aufgestellt. Um so schwerer wiegt die Feststellung, welchen Gebrauch Bismarck, auf der Höhe seiner Macht, im Besitze der freien Hand und Sicherheit nach so viel Seiten von dem gesamten Bündnissystem zu machen gewillt war. Der grundsätzliche Charakter dieser Politik wird am deutlichsten in der Einstellung, die sie von dieser verstärkten Position aus gegenüber Frankreich und seinen Weltzielen beobachtete. Bismarck hatte, als die tunesische Frage noch schwebte, im Sommer 1881 die Franzosen wissenlassen, daß sie sich in ihrer afrikanischen Politik durchweg auf die freundliche und wohlwollende Nachbarschaft Deutschlands verlassen könnten. Immer wieder kam er auf seinen Lieblingsgedanken zurück, daß es in der Welt [245] ein freies Feld gäbe, auf dem wir Frankreich ganz freie Hand lassen könnten, und wollte die Hoffnung nicht aufgeben, "daß die französische Politik am Ende doch zu der Einsicht gelange, wie ein befreundetes Deutsches Reich mit 45 Millionen Einwohnern nützlicher sei und ein stärkerer Posten unter den französischen Aktiven sein würde als eine Million Elsaß-Lothringer". Er hielt an seinem Programm der wohlwollenden und friedlichen Nachbarschaft sowohl gegenüber einem Manne von der chauvinistischen Vergangenheit Gambettas als gegenüber den konservativen Gewalten Frankreichs fest, die nach dem Tode Gambettas noch einmal nach Rückhalt in Europa suchten. Es verstand sich auch jetzt für ihn von selbst, das Prinzip der "strengsten Unabhängigkeit in der Regelung seiner inneren Verhältnisse" im Hinblick auf Frankreich zu wahren. Auch als gegen Ende des Jahres 1883 sich französische monarchistische Bestrebungen auf Umwegen der Reichsregierung näherten, verließ er die Linie der Nichteinmischung nicht, die er seit dem Frankfurter Frieden, er könne sagen seit dem ersten Waffenstillstande im Jahre 1871, auf das strengste innegehalten habe. Auf die ihm vorgelegte Frage entschied er nicht mehr in der einfachen Weise, wie in den siebziger Jahren, ob "die Republik oder die Monarchie und welche Gattung derselben", gemessen an ihrer Bündnisreife, dem Frieden gefährlicher werden könnte, sondern begnügte sich mit der Feststellung, daß er auch einer französischen Monarchie gegenüber, wenn sie kommen sollte, die bisher gegen die Republik geübte Politik beibehalten würde. Auch diese Möglichkeit eines Konfliktes wollte er jetzt von vornherein ausschalten: "sicher bin ich nur, daß wir mit Frankreich wegen der Regierungsform, die es sich zu geben für gut findet, niemals Krieg führen werden, weder für noch gegen".8 Auch darin ist das Fundament einer Politik zu erkennen, die lehrreich und vorbildlich genannt werden kann und sich vorteilhaft von aller Machtpolitik abhebt, die sich - sei es durch vertragliche Bindung oder durch machtpolitische Einwirkung oder auf dunklen Schleichwegen - in die Regierungsform oder den Staatsaufbau eines Nachbarn sich einzumischen für berechtigt hält. Die Haltung Bismarcks zeigt den richtigen Weg an, in dem zwei große Völker nach der schweren Heimsuchung eines mörderischen Krieges mit der Zeit wieder zum Sichverstehen und Sichvertragen zurückgeführt werden können.

Eben das Festhalten an dieser Überzeugung ließ Bismarck geradezu ergrimmen, als sein italienischer Bundesgenosse ihm mit seinen leichtfertigen Vorschlägen die Kreise zu stören suchte. Er verwarf sie nicht nur, weil die leiseste Ingerenz Deutschlands in der Marokkofrage eine starke Verstimmung Frankreichs hervorrufen würde. "Ich gehe noch weiter," - so formulierte er seine Politik in [246] immer neuer Fassung - "die Wahrnehmung, daß Deutschland nicht nur Metz und Straßburg behalten will, sondern den Franzosen die Möglichkeit mißgönnt, in überseeischen Erfolgen eine Entschädigung für die Rheingrenze zu suchen, die Wahrnehmung, daß Frankreich auf allen seinen Wegen Deutschland als Gegner findet, würde die Parteien der Revanche, den Nationalhaß der Franzosen und ihre Energie uns gegenüber wesentlich kräftigen und den Ausbruch des neuen französischen Krieges beschleunigen".9

Die andern Mächte, Petersburg und London voran, hatten die Sorge Bismarcks vor dem französischen Angriff jederzeit als den sichersten unveränderlichen Posten in ihre politischen Berechnungen eingesetzt. Der große Realist selbst wird auch gegenüber dieser Gefahr, die dauernd auf seiner Schöpfung lastet, nicht von der Leidenschaft mitgerissen, er erkennt sogar die innere Berechtigung dieses nationalen Lebenswillens so vorbehaltlos an, wie er einst in den sechziger Jahren die innere Berechtigung der deutschen Politik Österreichs aus ihren eingeborenen Lebensbedürfnissen zu würdigen vermocht hatte.

Diese grundsätzliche Stellungnahme wird auch durch das Verhältnis Bismarcks zu der englischen Politik unter dem Ministerium Gladstone-Granville, zumal seit der englischen Festsetzung in Ägypten, nicht verändert. Er stand dem Haupte dieses Ministeriums politisch fremd und kühl gegenüber. Es ist nicht bekannt, daß er Gladstones Meinung, der in dem Kanzler ein Stück vom leibhaftigen Bösen erblickte, mit derselben gläubigen Überheblichkeit erwiderte; er begnügte sich, in ihm einen Reichsverminderer und Staatsverderber vom englischen Standpunkt aus zu sehen. Von diesen Werturteilen abgesehen: daß es sich bei den beiden Staatsmännern um zwei politische Antipoden handelt, bedarf keines Nachweises. Aber da Gladstone sich von den auswärtigen Geschäften durchweg fernhielt, kam es mehr auf Lord Granville an, der, wie wir sahen, Bismarck in der Haltung eines für jeden Rat in der großen Politik dankbaren Kollegen gegenübertrat.

Dieses lose Verhältnis trat in ein anderes Stadium, als der Ausbruch der ägyptischen Unruhen im Juni 1882 dazu führte, daß die Westmächte auf diesem alten Schauplatze englisch-französischer Zusammenarbeit und Rivalität einen getrennten Weg einschlugen. Während man in London bald zur Einmischung neigte, faßte man in Paris den folgenreichen Entschluß, sich aus dem ägyptischen Handel möglichst herauszuhalten, und zwar aus Gründen der Gesamtpolitik. Die Worte, die Clemenceau damals den Franzosen zurief, daß in dem von Soldaten wimmelnden Europa alle Mächte ihre Freiheit sich vorbehielten: "behalten Sie sich die Freiheit des Handelns vor", gaben den Ausschlag. Die maßgebenden französischen Staatsmänner sahen in jeder Verwendung französischer Truppen am Nil eine Entblößung der Front an den Vogesen. Infolge- [247] dessen schied Frankreich, in dem geheimen Bewußtsein seiner am Ende aller Dinge gegen Deutschland gerichteten Politik, als handelnde Macht auf dem Schauplatze der ägyptischen Rivalitäten aus, auf dem es hätte stark bleiben müssen, und begnügte sich fortan mit dem Versuch, auf diplomatisch-europäischem Wege der jetzt allein vorgehenden Festsetzung Englands in den Weg zu treten. Jedenfalls war durch die Ereignisse des Sommers 1882, das Bombardement von Alexandria und die Landung der englischen Truppen am 19. August eine Machtfrage von unabsehbarer Tragweite eröffnet. Im Kern dieser Machtfrage stand die alte, jetzt wieder ausbrechende Rivalität der beiden Westmächte, die seit 1871 immer auf vertraute Fühlung untereinander gehalten hatten: dadurch sah auch die deutsche Politik sich ganz neuen Möglichkeiten gegenüber.

Die Engländer gingen auf dem Wege ihrer Ägyptenpolitik nur zögernd vor, ob sie nun von einer rein machtpolitischen Erwägung ihres Interesses oder - um es mit den Worten Lord Cromers auszudrücken - von dem Gefühl der Verantwortlichkeit vorgetrieben wurden, das ihnen ihre Geschichte und ihre Stellung in der Welt zugewiesen habe.10 Sie waren sich von vornherein bewußt, daß sie in dem Fortgang eines so weitausschauenden Unternehmens die Vorteile ihrer insularen Lage einbüßen mußten, und, indem sie sich von der französischen Freundschaft trennten, auch ihre Stellung unter den europäischen Mächten gefährdeten. So waren sie denn von der Stunde ihres Eintritts in die Aktion an auf das Höchste begierig zu erfahren, wie Bismarck sich zu ihrer Unternehmung stellen würde. Dieser aber, der seit Mitte Juni 1882 seinen Sohn Herbert, gleichsam als einen persönlichen Vertreter für einen vertraulichen Meinungsaustausch, der Botschaft in London beigeordnet hatte, hielt zunächst zurück. Er hatte zwar von jeher eine Berücksichtigung der englischen Interessen in Ägypten gewünscht, aber immer wieder die Erfahrung gemacht, daß man in London so mißtrauisch war, in jeder Ermunterung nur ein berechnetes Mittel zu vermuten, die englische Politik mit Frankreich zu verhetzen. Jetzt freilich war durch den unerwarteten Lauf der Dinge, infolge des Ausscheidens der Franzosen, die Sache dahin gediehen, daß die Engländer ihrerseits ohne eine sichere Kenntnis der von Bismarck zu erwartenden Haltung ungern vorgehen wollten. Unmittelbar, nachdem der erste Versuch einer Konferenz ergebnislos verlaufen war und die englischen Truppen in Ägypten gelandet waren, wandte sich die englische Regierung auf einem naheliegenden diplomatischem Umwege vertraulich an den deutschen Reichskanzler. Auf Veranlassung seines Schwagers, des Prinzen von Wales, eröffnete Kronprinz Friedrich Wilhelm dem Kanzler am 4. September 1882 den Wunsch der englischen Staatsmänner ohne Unterschied der Parteistellung, "ein engeres und vertrauteres Verhältnis zu Deutschland zu finden"; er habe den Eindruck, daß man dem deutsch-österreichischen Bündnis im Sinne gemeinsamen Zusammen- [248] stehens gegen jede Gefahr, welche dem Frieden drohe, eine weitgehende Ausdehnung zu geben wünsche.

Eine in der Form unverbindliche Bündnissondierung, die aber im Keime mit den ganzen Konsequenzen der englischen Ägyptenpolitik belastet war! Es liegt auf der Hand, daß Bismarck in seiner Antwort an den Kronprinzen vom 7. September - die zugleich für London geschrieben war und sich daher auch in den Akten des Foreign Office wiederfindet - eine so weitgehende Anfrage etwas zu überhören für gut hielt.11 Der Ausgangspunkt seiner Antwort war ein europäisches Situationsbild: "Bei dem Mangel direkter deutscher Interessen an der Gestaltung der Zukunft Ägyptens, bei der Gewißheit, mit der wir Frankreich, und der Wahrscheinlichkeit, mit der wir Rußland unter Umständen zu Gegnern haben werden, habe ich bei Seiner Majestät die Notwendigkeit vertreten, unabhängig von den jeweiligen englischen Regierungen und ihrer mitunter wunderlichen Politik, mit der englischen Nation und der öffentlichen Meinung derselben jeden Konflikt zu vermeiden, der das englische Nationalgefühl gegen uns verstimmen könnte, ohne daß wir durch überwiegende deutsche Interessen dazu gezwungen würden." Er ging noch weiter: selbst dann, wenn der Ehrgeiz einer englischen Regierung die Grenzen einer besonnenen Politik überschritte, würden wir keinen Beruf haben, uns darüber anderen Mächten zuliebe mit England zu erzürnen. Danach habe man bis jetzt verfahren, immer in den Grenzen der Zurückhaltung verharrend, um nicht dem Verdacht Vorschub zu leisten, daß man England und Frankreich miteinander zu entzweien beabsichtige. Er schloß dann mit einigen Bemerkungen, die auf die Bündnissondierung deutlicher Bezug nahmen: "die größte Schwierigkeit, unserer Beziehung und Neigung für England praktischen Ausdruck zu geben, liegt in der Unmöglichkeit jeder vertraulichen Besprechung wegen der Indiskretionen der Minister dem Parlament gegenüber, und in dem Mangel an Sicherheit eines Bündnisses, für welches in England nicht die Krone, sondern nur eines der wechselnden Kabinette haftbar bleiben würde." Gegen diese Erinnerung an den Umschwung im April 1880 konnte das liberale Kabinett keine Einwände erheben. Unmittelbar darauf sprach Bismarck durch seinen Sohn Herbert sich dem Leiter der englischen Außenpolitik noch offener darüber aus, was er selbst in der ägyptischen Politik für richtig hielte: er würde als englischer Minister nicht auf direkte Besitznahme Ägyptens unter englischer Souveränität hinarbeiten, sondern auf den vorwiegenden Einfluß in ägyptischen Angelegenheiten auf Grund einer Verständigung mit dem Sultan, wie es englischer Tradition entspräche. Wenn man die Annexion vorziehe, so würde von Deutschland kein Einspruch erfolgen, da die dauerhafte Freundschaft des britischen Reiches für die deutsche Politik wichtiger sei als das Schicksal Ägyptens; er wolle keinen Rat geben, aber er sehe voraus, daß die Annexion große Schwierigkeiten mit Frankreich, Rußland und dem Islam nach sich ziehen werde; sie würde zumal [249] zwischen England und Frankreich viel Übelwollen zurücklassen und Gefahren für die Zukunft in sich schließen.12

So sehen wir die seit dem Jahre 1876 eingeschlagene Linie der Politik Bismarcks sich auch in dieser Stellungnahme fortsetzen: eigene Uninteressiertheit, mit dem Ziel, Befriedigung und Beschäftigung in den anderen Lagern hervorzurufen. Aber es wird die Frage sein, ob diese Grundlage der wunschlosen Saturiertheit des eigenen Landes, deren Vertretung der deutschen Politik zu ihrer innerlich und äußerlich überlegenen Stellung gegenüber den andern verholfen hat, sich auf die Dauer innehalten ließ: ob sie nicht eines Tages verlassen werden mußte, weil dieselben machtpolitischen Kräfte, die sie sonst überall in der Welt, in Tunis, in Ägypten hatte entbinden helfen, auch auf deutschem Boden das Bedürfnis verrieten, sich an das Licht zu drängen.

An den binnenländischen Staat des deutschen Reiches von 1870/71 und an seine ganz überwiegend binnenländisch gerichtete Bevölkerung tritt jetzt die Schicksalsfrage heran, mit ihren Machtmitteln auch über See zu gehen und eine neue Lebenssphäre zu gewinnen, nicht nur für den Einzelnen, sondern für die nationale Gemeinschaft. Eine solche Wendung konnte nur in einer vorbereiteten günstigen Weltgelegenheit vollzogen werden.

Der soziale Aufbau und die wirtschaftliche Lage der deutschen Bevölkerung unterlag seit der Reichsgründung einer fundamentalen Lebenstatsache: der stetigen Einwirkung einer noch sehr hohen Geburtenziffer und eines regelmäßig wachsenden Geburtenüberschusses. So war die Einwohnerzahl von 40,8 Millionen im Jahre 1870 auf 45,1 Millionen im Jahre 1880 gestiegen und wuchs im gleichen Verhältnis weiter auf 49,2 Millionen im Jahre 1890. Dieses Fünftel aber, um das die Bevölkerung sich in diesen beiden Jahrzehnten vermehrt hatte, mußte irgendwo von dem Wirtschaftskörper der Nation aufgenommen und ernährt, irgendwie in die sich verändernde soziale Struktur des Bevölkerungsaufbaus eingefügt werden. Daß bereits eine immer stärker zunehmende soziale Verschiebung von der ländlich-agrarischen zu der städtisch-gewerblich-industriellen Seite eingesetzt hatte, machten die Ergebnisse der ersten Berufszählung von 1882 zum ersten Male allgemein erkennbar. Aber auch dieser Umschwung reichte nicht aus, um dem Jahr für Jahr immer stärker anschwellenden Zuwachs Nahrung und Unterhalt zu gewähren. So begann denn die überseeische Auswanderung, vor allem durch die weiten Ebenen des Farmerlandes im mittleren Westen der Vereinigten Staaten verlockt, einen immer größeren Bruchteil der Bevölkerungszunahme an sich zu ziehen. In dem einzigen Jahrfünft von 1881 bis 1885 stieg die überseeische Auswanderung auf 857 287 Köpfe - davon allein nach [250] Nordamerika auf 797 019 -, die Zahlen gingen noch etwas über die Auswanderungsziffern des Jahrfünfts von 1851 bis 1855 hinaus. Damals hatte man die Enttäuschungen der Revolution und den Zwang der Reaktion dafür verantwortlich gemacht, daß in wenigen Jahren dreiviertel Millionen ihrem uneinigen und unfertigen Vaterlande den Rücken kehrten - sollte das wiederhergestellte Reich, der einige und mächtige Nationalstaat, seinen Söhnen auch nicht mehr Lebensmöglichkeiten in der Heimat geben können? Wenn in dem einen Jahre 1881 - in einem Augenblicke, wo dieses deutsche Reich nach allgemeinem Urteil auf der Höhe seiner Macht angelangt war - nicht weniger als 220 902 Menschen den deutschen Boden verließen, dann war das allein die Hälfte eines Jahreszuwachses und bedeutete für die Gesamtsumme der werktätigen Bevölkerung sogar eine Verminderung. Wie man sich auch zu dem Auswandern stellte - und Bismarck selbst konnte eine Abneigung gegen den das Land seiner Väter untreu verlassenden Landflüchtling niemals ganz überwinden, er beschäftigte sich kaum mit dem schwierigen Problem, wie die entfremdeten nationalen Werte doch noch dem Vaterlande wieder nutzbar gemacht werden könnten -, die eine Tatsache ließ sich nicht aus der Welt schaffen: die Einbuße an Blut und Leben, an wirtschaftlichen Energien, an verheißungsvoller Zukunft war ein national-politisches Problem erster Ordnung, das den Staat, der verlassen wurde, und seine Machthaber vor eine sehr ernste Frage stellte. Mochten die wirtschaftlichen Parteien sich darüber streiten, ob diese hohe Auswanderungszahl den Nachwehen der Freihandelszeit zuzuschreiben sei oder vielmehr die Antwort auf den Übergang zur Schutzzollära darstelle, schwerer wog die weitere Frage, ob nicht entweder neue wirtschaftliche Möglichkeiten im Vaterlande erschlossen werden konnten, oder sonst in der Welt noch "herrenlose" und offene koloniale Gebiete zu finden waren, damit der Auswanderer nicht unweigerlich verurteilt war, den politischen und nationalen Zusammenhang mit dem Staate und Volk seiner Geburt zu verlieren.

Sobald man sich nur diesem Gedanken näherte, eröffnete sich ein großer geschichtlicher Zusammenhang, die Zeit der verpaßten Gelegenheiten, die Jahrhunderte, in denen der einst meergewohnte Deutsche sich binnenländisch in seiner engen und gespaltenen Territorialwelt verkapselt hatte, während die andern Völker die Welt untereinander verteilten. Wohl hatten zu Beginn der Kolonialperiode in den Unternehmungen der Welser und Fugger die Gestalten der Hutten, Hohermuth und Federmann unter den verwegenen Konquistadoren Venezuelas gestanden, dann aber folgten die langen Zeiten, in denen der Deutsche nur als dienendes Glied an der kolonisatorischen Erschließung der Erde seinen Anteil nahm, und jene Frankfurter und Krefelder Teutsche Kompagnie, die unter Führung von Franz Daniel Pastorius in die Siedlung William Penns hinüberging und den Grundstein von Germantown legte, war zum Vorläufer von vielen Hunderttausenden geworden. Schon Goethe hatte den Strom dieses [251] Völkerschicksals als den würdigen Gegenstand einer großen Epopöe erkannt, und dann erst, nach ihm, waren die Millionen der Auswanderer nachgefolgt; derselbe deutsche Bauer, der im 18. Jahrhundert in den Wolganiederungen und in der ungarischen Pußta festen Fuß gefaßt hatte, war hundert Jahre später zu den Massen eines wandernden Volkes angewachsen, das nach Wisconsin, Illinois und Iowa hinüberging.

So war denn wohl der Gedanke aufgetaucht, im Augenblick der Reichsgründung schon, den Friedensschluß mit Frankreich zu kolonialen Erwerbungen zu benutzen, und statt der Annexionen am Rhein an Cochinchina oder Martinique zu denken. Bismarck lehnte das ab, und er blieb bei seiner Ablehnung auch später lange Zeit gegenüber allen Vorschlägen, die von Patrioten, Kaufleuten und Projektenmachern an ihn herangebracht wurden. Es käme ihm vor, so antwortete er wohl, wie bei den polnischen Adelsfamilien, wo man einen seidenen Zobelpelz, aber kein Hemd habe - er sah in solchen Plänen eine verfrühte und darum falsche Machtbetätigung. Wenn er dem englischen Botschafter gegenüber im Jahre 1873 sich gegen Kolonien aussprach, die eine Grundlage der Schwäche seien, weil sie nur durch mächtige Flotten verteidigt werden könnten,13 so erkennt man, daß sein machtpolitischer Realismus ihn vor Abenteuern warnte, hinter die das Deutsche Reich noch nicht eine starke Hand zu setzen imstande war. Wer die ganze Arbeit überblickt, die ihm bis in die achtziger Jahre hinein in dem inneren Ausbau und der äußeren Sicherung des Reiches oblag, wird das innere Widerstreben begreifen, den werdenden Staat mit überseeischen Aufgaben zu belasten, für deren Lösung ihm noch alle wesentlichen Vorbedingungen fehlten.

Bei dieser Abneigung gegen Kolonien verharrte der Kanzler auch dann, als die koloniale Erschließung Afrikas, mitbeflügelt durch das Übergreifen der europäischen Mächte in die nordafrikanischen Gebiete des Osmanenreiches, begann, als die kühnen Entdecker Afrikas die Kunde von nie gesehenen Welten brachten, und der ebenso geschäftsgewandte wie phantasiebegabte König Leopold von Belgien den Amerikaner Stanley mit der Erschließung Afrikas im Bereich des Kongoflusses beauftragte: als plötzlich ein allgemeines Wettlaufen der Völker einsetzte.

Über die Völker kam das Gefühl, daß der letzte Kampf um die Teilung der Erde beginne, und daß, wer jetzt zurückbleibe, sich selber für immer ausschließe. Eine auf Veranlassung von Adolf Woermann verfaßte Denkschrift der Hamburger Handelskammer vom 6. Juli 1883 suchte das Gebot der Stunde in einem größeren geschichtlichen Zusammenhange auszulegen: "Das energische Vorgehen der Franzosen und Portugiesen an der Westküste Afrikas zeige, daß, wenn Deutschland nicht für immer auf den Besitz von Kolonien daselbst verzichten wolle, jetzt gewissermaßen der letzte Augenblick sei, um solche zu erwerben. Wolle Deutschland dauernd einen größeren praktischen Vorteil aus Afrika ziehen [252] - worauf es gewiß berechtigten Anspruch habe..., so müsse es jetzt und zwar rasch vorgehen. Daß aber Deutschlands Handel und der Absatz deutscher Industrieprodukte in einer eigenen Kolonie sich schneller und günstiger entwickeln werde, als unter fremder Herrschaft, ergebe sich aus den dargelegten Verhältnissen."14 Gewiß trat bei den kolonialen Plänen der Kaufleute das Siedlungsmotiv der weißen Niederlassung stark hinter dem Handelsmotiv in tropischen Besitzungen zurück, aber die öffentliche Meinung, hingerissen von dem kolonialen Gedanken, fragte nicht nach dem Wie, sondern wollte das Ziel überhaupt.

Das koloniale Interesse wurde in Deutschland zunächst nur in kleinen Kreisen lebendig: der geographischen Forschung, des hanseatischen Handelsinteresses, der christlichen Mission, der volkswirtschaftlichen Erwägung: darüber hinaus trug es lange Zeit einen fast akademischen Zug. Man könnte sagen: wie der politischen Nationalbewegung der Deutschen die Denker und Dichter mit ihren Mahnrufen vorangingen, so der deutschen Kolonialbewegung ein schwungvolles Vereinstreiben von Männern, die durchweg keinen Atemzug kolonialer Luft in sich aufgenommen hatten. Nicht der koloniale Praktiker war die Regel, der auf eigene Faust hinausgezogen war und dann für sein und der Seinen Werk den Schutz der Macht von seinem Vaterlande erbat - dieser Typus konnte am ehesten das Ohr des politischen Praktikers Bismarck finden -, sondern häufiger fast war der koloniale Theoretiker, der Kolonialschwärmer, der aus wirtschaftlichen Berechnungen oder aus nationalen Erziehungsbedürfnissen die Notwendigkeit kolonialer Betätigung erwies und seinem Volke die Lehre verkündigte, daß es, ob es wolle oder nicht, Kolonien erwerben müsse. Damit begann der Zusammenschluß auch politischer Kreise, die den in Europa brachliegenden und gebundenen nationalen Kräften eine Betätigung, der Nation ein neues Erlebnis wünschten.

So vollzog sich im Laufe des Jahres 1882 die Bildung des "Deutschen Kolonialvereins" unter dem Vorsitz des Fürsten Hohenlohe-Langenburg, um einen Mittelpunkt für die vielfachen getrennten Bestrebungen zu schaffen und das "koloniale Gewissen" Deutschlands zu wecken. An seine noch rein theoretische Propaganda schlossen sich Agitationen an, die selber von den Worten zur Tat übergehen wollten, wie die von dem Grafen Behr-Bandelin und Carl Peters im März 1884 gegründete "Gesellschaft für deutsche Kolonisation". In ihrem Aufruf hieß es schon aktivistischer: "Jeder Deutsche, dem ein Herz für die Größe und die Ehre unserer Nation schlägt, ist aufgefordert, unserer Gesellschaft beizutreten; es gilt das Versäumnis von Jahrhunderten gutzumachen, der Welt zu beweisen, daß das deutsche Volk mit der alten Reichsherrlichkeit auch den alten deutsch-nationalen Geist der Väter überkommen hat."

[253] Daß es zu einer solchen Entwicklung kommen müsse, war tief begründet. Weitblickende Engländer hatten sie längst vorausgesehen. Schon im Jahre 1874 wollte der englische Diplomat Lord Lytton sich nicht mit der These von der grundsätzlichen Kolonialgegnerschaft Bismarcks zufrieden geben. Tiefer in die Psychologie der Völker und das Wesen der Macht eindringend, faßte er seine Anschauung in den Sätzen zusammen: "Es scheint mir ein völlig natürlicher und ganz unvermeidlicher Ehrgeiz seitens einer Macht, die so stark ist wie Deutschland, nicht länger als nötig ein binnenländischer Staat zu bleiben, sondern zur See zu gehen und seine Seeküsten nach allen Richtungen hin auszudehnen. Gibt es in der Geschichte irgendeinen Fall eines binnenländischen Staates, der plötzlich die militärische Vorherrschaft von Europa gewinnt, ohne sich mittels seiner militärischen Stärke und seines Ansehens zu bemühen, eine Seemacht zu werden? Aber man kann nicht eine Seemacht sein ohne Kolonien... Es scheint jedenfalls jetzt eine ziemlich allgemeine Stimmung durch Europa und selbst Amerika zu gehen, daß eine Politik der maritimen und kolonialen Entwicklung das natürliche Ergebnis von Deutschlands gegenwärtiger Position sein muß, und solche Instinkte pflegen untrüglich zu sein".15

Besser läßt sich nicht ausdrücken, was unausgesprochen dem dunklen Drange zugrunde lag, der im Laufe der Jahre immer weitere Kreise erfaßte und seit dem Frühjahr 1884 auch im Willen Bismarcks eine feste Stelle eroberte. Man könnte eher die Frage auswerfen, aus welchen Gründen es so spät geschehen, als warum es überhaupt geschehen sei. Aber es erscheint bezeichnend für das hohe Maß von Umsicht und Vorsicht, mit dem Bismarck zu operieren pflegte, daß es seiner Politik so lange widerstrebte, von dem gefahrenreichen, aber immerhin übersehbaren Boden und Interessenkreise Europas hinüberzutreten in eine seiner lebendigen Anschauung fremde Welt, in der die wirtschaftlichen Werte in dem gleichen Dunkel lagen wie die politischen Rechtstitel, während schon die Möglichkeit des Zugangs und der Behauptung zugleich eine Frage der Seemacht und jedenfalls eine Kompilierung der kontinentalen Außenpolitik war. Schon auf dem Schauplatze, auf dem er zunächst genötigt wurde, aus dem Kreise seiner Macht herauszutreten und sich für bedrohte hanseatische Handelsinteressen in der Südsee einzusetzen, mußte er die ihm nicht wünschenswerte Erfahrung machen, daß eine wirkliche Machtausübung im Konfliktsfalle an viele und von ihm nicht beherrschte Vorbedingungen geknüpft war.

Es ist nicht genau zu sagen, wann Bismarck den Standpunkt seiner Ablehnung deutscher Kolonialpolitik verlassen hat; von einer Bekehrung und bewußten Wendung wird überhaupt nicht die Rede sein können; eine Summe von Erfahrungen und äußeren Anstößen mußte sich mit der Gunst der Stunde vereinen, da ihm der erste entschlossene Schritt vorwärts in dieser Richtung angezeigt erschien. Wenn Lord Odo Russell (aus Anlaß der Fidji-Kommission) noch am [254] 15. März 1884 darauf zurückkam, es sei wohlbekannt, daß der Fürst dem feurigen Begehren der deutschen Handelskreise nach Erwerbung von Kolonien vollkommen entgegengesetzt und entschlossen sei, ihren wachsenden Einfluß zu bekämpfen,16 so formulierte er seinen Glaubenssatz in einem Augenblick, da Bismarck sich bereits den neuen Horizonten seiner Außenpolitik zuwandte. Der Engländer hatte im Mai 1878, nach dem Untergang eines großen deutschen Kriegsschiffes, die Prophezeiung gewagt, daß dieses Mißgeschick die eingeborene deutsche Abneigung gegen den seemännischen Beruf verstärken und die Admiralität von weiterem Panzerschiffbau abhalten würde; es ist dieselbe optimistische Selbsttäuschung, die man bei James Bryce beobachtet, wenn er die eingeborene Abneigung der Amerikaner gegen Flottenbau und Außenpolitik als eine Art von Lebensgesetz mit Befriedigung feststellt. Und allerdings hat die englische Regierung unter dem Einfluß ihres Berliner Vertreters sich viel zu lange dem Glauben hingegeben, daß es Bismarck gar nicht ernst mit seinen plötzlich auftauchenden kolonialen Liebhabereien sei und daß irgend etwas anderes dahinter stecken müsse.

Wenn man nach den Motiven für den Eintritt Bismarcks in die Kolonialpolitik sucht, darf nicht übersehen werden, daß für diese Wendung noch eine Erklärung angeführt wird, die sogar in das Bismarcksche Lager selbst zurückweist. Der Botschafter von Schweinitz will im März 1890, nach dem Sturze Bismarcks, von dem Grafen Herbert gehört haben: man habe in diesen Jahren mit einer langen Regierung des Kronprinzen rechnen müssen, während der ein englischer Einfluß hätte dominieren können, welcher die deutsche Politik für das eigene Interesse mißbrauchen würde; um diesem vorzubeugen, habe die Kolonialpolitik eingeleitet werden müssen, welche volkstümlich sei und jeden Augenblick Konflikte mit England herbeiführen könne.17 Daß ein Unterton solchen Kalküls gelegentlich einmal in die Erwägungen Bismarcks hineingespielt haben mag, könnte schon zugestanden werden. Daß es sich aber mit diesem Hintergedanken um das entscheidende und primäre Motiv gehandelt haben sollte, in dem ein unbändiger Herrscherwille, um sich nach innen und außen zugleich zu behaupten, mit kühlem Machiavellismus das Mittel der Kolonialpolitik aufgreift, kann nur derjenige glauben, der weder von den Voraussetzungen der Großmachtspolitik Bismarcks, noch von seinem sehr allmählichen Hineingleiten in koloniale Unternehmungen eine Vorstellung hat. Wer die etwas zynische Kraftäußerung Herbert Bismarcks auf die Goldwaage legt, kann schwer erklären, weshalb der Fürst [255] dann so lange grundsätzlich einer Kolonialpolitik widerstrebte, die ihm so wertvolle unterirdische Dienste leisten konnte. Schließlich aber darf die entscheidende Tatsache nicht außer acht gelassen werden, daß es sich ursprünglich gar nicht voraussehen ließ, daß der Eintritt des Deutschen Reiches in die Kolonialpolitik überhaupt mit ernsten Konflikten mit England verbunden sein würde.

Statt dessen muß man sich vergegenwärtigen, daß in dem Augenblicke, wo die ersten kolonialen Schritte getan werden, das Reich zwei Unternehmungen in die Hand nahm, die es auch als Macht zur See kennzeichneten. Schon in den Verhandlungen über den Beitritt von Hamburg und Bremen zum Zollverein hatte der Bau des Nordostseekanals eine gewisse Rolle gespielt. Die Pläne hatten sich zu großen Projekten verdichtet: im Winter 1883/84 und im Frühjahr 1884 wurden die entscheidenden Entschlüsse gefaßt. Dazu gesellte sich ein zweites Unternehmen, der Plan einer vom Reiche zu übernehmenden Subventionierung von Postdampferlinien nach Afrika und der Südsee, ursprünglich aus dem Ressortbedürfnis der Reichspostverwaltung hervorgegangen, aber dann aus allgemeinen weltpolitischen Erwägungen aufgegriffen. Von zwei verschiedenen Seiten her traten an Bismarck Unternehmungen heran, in die der Seewind hineinblies und in denen die weite Welt das Ziel war. Unter diesem Auftrieb konnten auch koloniale Pläne, wenn sie gleichsam als neue geschäftliche Aufgabe an das Auswärtige Amt gelangten, einer anderen Behandlung und eines tieferen Verständnisses gewärtig sein. Die Möglichkeit eines neuen Horizontes begann sich zu enthüllen.


1 [1/241]Lord Fitzmaurice a. a. O., 2, 207. ...zurück...

2 [2/241]Der Erlaß Granvilles vom 13. Oktober 1880 (Fitzmaurice a. a. O. 2, 218 ff.) kennzeichnet das Übergewicht, das Bismarcks Autorität erworben hatte, und die respektvolle Ergebenheit, mit der auch eine unabhängige großmächtliche Regierung diese Autorität anerkennt. ...zurück...

3 [3/241]Brauer-Marcks-Müller, Erinnerungen an Bismarck (1915), S. 319. ...zurück...

4 [1/242]Lucius, Bismarck-Erinnerungen, S. 270. ...zurück...

5 [1/243]Österreich: Gr. Politik 3, 130. Rumänien: Gr. Pol. 3, 266. Italien: Gr. Pol. 3, 410 ff. ...zurück...

6 [2/243]Schweinitz, Denkwürdigkeiten 2, 247 (11. Sept. 1883). ...zurück...

7 [1/244]Es soll nicht verschwiegen werden, daß man im russischen Außenministerium Katkow, als er von der Erneuerung erfahren, mit der Wendung zufriedenzustellen suchte: "D'ailleurs, cela n'est qu'un chiffon de papier que nous pourrons déchirer quand nous le voudrons." Saburow an Pobiédonostew, 19. 5. 87 (Constantin Pobiédonostew, Mémoires politiques S. 471). ...zurück...

8 [1/245]Bismarck an Reuß 18. November 1883 (Gr. Pol. 3, 406). Vgl. auch die bei dem Abschluß des Dreikaiserbündnisses gegen Saburows Intrige gerichtete Bemerkung vom 5. Februar 1884: "So lange ich Minister bin, wird ein Angriff Deutschlands auf Frankreich nicht stattfinden. Ich würde zurücktreten, wenn eine so unmotivierte Gewalttat befohlen würde." (Gr. Pol. 3, 324.) ...zurück...

9 [1/246]Gr. Politik 3, 401, 402, 405, 406 ff., 412. ...zurück...

10 [1/247]Lord Cromer, Modern Egypt, Deutsche Übersetzung I, 306. ...zurück...

11 [1/248]Gr. Pol. 4, 32 ff. Ein englischer Text bei Fitzmaurice, Granville 2, 274 ff. ...zurück...

12 [1/249]Aufzeichnung des Grafen Herbert Bismarck, September 1882 (Gr. Pol. 4, 36 ff.) Diese Form seines motivierten "Ratschlages" ist von Bismarck in seiner Reichstagsrede vom 2. März (s. u. S. 275) zugrunde gelegt worden. ...zurück...

13 [1/251]Fitzmaurice a. a. O. 2, 337 ...zurück...

14 [1/252]Vgl. zu dem Folgenden: P. Darmstädter, Geschichte der Aufteilung und Kolonisation Afrikas, 2 Bände (1916/20). M. von Hagen, Bismarcks Kolonialpolitik (1923). Dazu: Große Politik, Bd. 4, 48-108, verarbeitet von W. Stuhlmacher, Bismarcks Kolonialpolitik (1927). ...zurück...

15 [1/253]Cambridge History of British foreign policy 3, 207. ...zurück...

16 [1/254]Cambridge History of British foreign policy 3, 207. ...zurück...

17 [2/254]Briefwechsel des Botschafters von Schweinitz S. 193. Schweinitz hielt sich später für berechtigt, diese Version auch der Kaiserin Friedrich mitzuteilen, die am 21. Juni 1894 die Erzählung der Königin Victoria weitergab. Ponsonby, Letters of Empress Frederick S. 448. Bei ihr wird aber das Gespräch von Schweinitz nicht mit Herbert, sondern mit dem Fürsten Bismarck geführt, in dessen Munde diese "Enthüllung" seiner wahren Motive noch mehr als massive Vergröberung wirkt. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte