Bd. 9: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Erster Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 2: Das Deutsche Reich
unter der Staatsleitung Bismarcks 1871 - 1890 (Forts.)
[241] 4. Ausdehnung des politischen
Horizontes über See 1883 - 1885.
In den Jahren, die auf den Abschluß des Bündnisses mit
Österreich-Ungarn folgten, hatte das Deutsche Reich innerhalb der
Staatengesellschaft eine Stellung gewonnen, die weitreichenden Einfluß mit
unangefochtener Sicherheit vereinte. Man würde sogar von einer
hegemonischen Stellung sprechen dürfen, wenn sich mit einer solchen
Kennzeichnung nicht allzu leicht die Vorstellung von einer hegemonischen
Machtausübung, wenn nicht gar von einem übergreifenden
Mißbrauch dieser Macht verbände. Die Beispiele dafür aus den
letzten europäischen Jahrhunderten liegen allzu nahe. Das neue
maßgebende Zentrum der Großmächte sollte seine
Ausnahmestellung nicht in einem solchen Sinne der Vergewaltigung der andern
ausnutzen, sondern ausschließlich zu dem Zwecke der allgemeinen
Friedenssicherung verwenden. Das ist das Geheimnis dieser Jahre.
Alle Welt war sich darüber einig, daß um 1880 Fürst Bismarck
den Höhepunkt seiner Macht und seines Ruhmes in Europa erreicht hatte.
"In St. Petersburg", schrieb der englische Botschafter in Berlin an seinen
neuen Chef Mr. Gladstone, "ist sein Wort Evangelium, sowohl wie in Paris
und Rom, wo seine Worte Respekt einflößen und sein Schweigen
Befürchtung".1 Und wenn das neue englische
Ministerium auch die Linie der bündniswilligen Politik der Tories sofort
verlassen hatte, so ist es doch bezeichnend, wie die diplomatische Technik des
milden und nicht entschlußfreudigen Lord Granville alles daran setzte, in
den schwebenden orientalischen Fragen zunächst Bismarcks Meinung zu
ermitteln und seinen Rat zu erlangen.2 So wird es
nicht überraschen, daß auch von Bismarck selbst, der wenig Neigung
hatte, sich beruhigt auf das Faulbett zu legen, aus dem Jahre 1882 die befriedigte
Äußerung überliefert ist, die auswärtige Politik mache
ihm auch keine einzige schlaflose Nacht, die Sache sei seit zehn Jahren so
aufgezogen, daß sie von selbst gehe.3 Der
ehemalige französische [242]
Ministerpräsident Waddington, damals Botschafter in London, gestand im
August 1883 dem Grafen Herbert Bismarck, der Reichskanzler habe die Stellung
eines Schiedsrichters in Europa, und kein anderer nach ihm werde eine
ähnliche Stellung haben.4 Das
glanzvolle Hauptquartier des Kaisers Wilhelm
bei den Herbstmanövern in
Homburg im Jahre 1883 war ein Beweis für die Weltgeltung, die die
deutsche Monarchie im Kreise der Fürsten und Völker Europas
gewonnen hatte. Und die Reise, die der deutsche Kronprinz bald hernach an die
königlichen Höfe in Madrid und Rom sowie an den Vatikan
unternahm, hinterließ den weithin wirkenden symbolischen Eindruck,
daß, wenn die alte Generation eines Tages abtrete, eine neue Generation
ihre Aufgabe übernehmen würde. Der Vorgang wurde wie eine
Kräftigung der monarchischen Staaten in Europa überhaupt
empfunden.
Das Bündnissystem, das sich um das Deutsche Reich gruppierte, - das
einzige in dem damaligen Europa, - besaß nichts von dem offensiven
Charakter, der in der Politik der letzten
Jahrhunderte - man denke noch einmal an die letzten Allianzenpläne
Napoleons III. von 1869 zurück! - in der Regel auf dem
Untergrunde ihrer Bündnisbildung verborgen war. Die von Deutschland
geführte Kombination stellte geradezu eine neue Erscheinung von
Friedensbündnissen dar, in denen der Mächtigste nicht nur
darüber wachte, daß die Sicherheit der Partner nicht durch Angriffe
von fremder Seite gestört wurde, sondern zugleich darüber,
daß die eigenen Bündnisglieder die Bündnisbestimmungen
nicht mißbrauchten, um durch neue ausgreifende Bestrebungen den Frieden
zu gefährden. Vom ersten Tage an hatte Bismarck das Motiv und den
Bereich seiner Bündnispolitik zu verteidigen gegen Auslegungen oder
Schlußfolgerungen, die ihm seine Idee von dem Wesen und Zweck dieser
diplomatischen Hilfskonstruktionen zu verfälschen drohten. Unmittelbar
nach dem Abschluß des österreichischen Bündnisses hatte er
die Andeutungen Baron Haymerles abgelehnt, der englischen Politik im Orient "in
deutlicherer Weise" seine Unterstützung in Aussicht zu stellen, und
grundsätzlich davor gewarnt, daß "die Übertragung dieser
Sympathien auf unser defensives Bündnis das Bündnis in Gefahr
bringen würde, sich in eine aggressive Koalition zugunsten der englischen
Politik zu verwandeln". Es handelt sich um eine Auffassung des Geistes der
Bündnispolitik in Wien, die unter Kálnoky mehr und mehr
zurücktritt, aber doch eines Tages wiederkehren wird. Selbst der
bescheidenen Macht des Fürsten von Rumänien, so sahen wir,
mußte sofort ein Zügel angelegt werden, weil er sich unter dem
Abkommen "eher ein Schutz- und Trutzbündnis mit Gewinnanteil
dächte, als eine rein defensive Friedensassekuranz". Als vollends die
italienische Regierung im April 1884 das Eintreten des Deutschen Reiches
für die von seiten Frankreichs angeblich bedrohten künftigen
italienischen Interessen in Marokko erbat (bevor sie selbst einen Schritt getan
hatte), konnte Bismarck seine schwere [243] Verstimmung
über solches Verkennen der Gemeinschaft kaum verbergen: "Wir sind
bereit, Italien zur Seite zu stehen, wenn es von Frankreich angegriffen oder auch
nur ernstlich bedroht ist. Aber wegen vager Sorgen über nicht einmal
aktuelle, sondern erst von der Zukunft gehoffte italienische Interessen in Marokko
oder im Roten Meer oder in Tunis oder in Ägypten oder in irgendeinem
anderen Weltteile Händel mit Frankreich anzufangen und Europa vor die
Eventualität eines Krieges von größten Dimensionen zu
stellen, das ist eine Zumutung, die man wegen der sich darin ausdrückenden
Geringschätzung unserer und aller sonstigen nichtitalienischen Interessen
kaum mit Gleichmut entgegennehmen kann."5 Ein
Bündnissystem, in dem alle weiterreichenden politischen
Nutzanwendungen von vornherein vorsichtig abgeschnitten waren, war geradezu
darauf angelegt, jede Umbildung zu einer hegemonisch angehauchten
Erwerbsgenossenschaft zu vermeiden. Es liegt auf der Hand, daß in dieser
begrenzten Auffassung des Bündniszwecks das deutsche Interesse
dominierte, und weiterhin, daß damit eine gewisse Grenze, wenn nicht gar
Schwäche des Bündnissystems gegeben war, weil nun einmal die
positiven Bedürfnisse des Handelnden wirksamere Bindemittel sein
können, als die scheinbar nur negative Funktion der friedlichen
Abwehrbereitschaft.
Die einzelnen Teile des Bündnissystems waren auch für Bismarck
niemals unveränderliche, absolute Werte; sie waren politische Aushilfen,
deren relativen Wert er möglichst scharf sich klar zu machen suchte. Er
wußte, wie wir sahen, daß er mit dem Dreikaiserbündnisse vom
18. Juni 1881 nur das eine, das friedliche Rußland an seiner Seite hielt, und
damit das andere, das angriffslustige Rußland zwar lahmlegte, aber doch
nicht auslöschte. Er war sich weiter bewußt, daß der Russe
trotz dieses Bündnisses seine Kavalleriepositionen an der deutschen
Ostgrenze sehr verstärkte, oder jedenfalls eine solche Verstärkung
für nötig hielt, um innerhalb des Bündnisses die richtige
Stellung zu behaupten. Der deutsche Botschafter war durchaus im Recht, wenn er
Herrn von Giers statt auf die eingebildeten russischen Besorgnisse vor
Deutschland auf unbestrittene Tatsachen hinwies, "nämlich fünf
Kavalleriedivisionen mit so und so viel bespannten Geschützen und
Munitionswagen, verstärkten Mannschaftsbestand bei so und soviel
Bataillonen, eine kaukasische Division von 16 Bataillonen nach Westen
vorgeschoben - jeder General würde ihm zugestehen, daß diese
Aufstellung eine Drohung sei".6 Als
Bismarck bei einem Besuche des Herrn von Giers in Friedrichsruh am 14.
November 1883 gleichfalls diese Rüstung, die mit dem
Vertragsverhältnis nur schwer in Einklang zu bringen war, zur Sprache
brachte, wußte dieser nur auf die Möglichkeit eines Thronwechsels in
Berlin und eines dann stärker einsetzenden englischen Einflusses zu
verweisen, also auf die Gefahr, daß das Vertragsverhältnis eines
Tages nicht mehr bestehe. Um so eher verständigten [244] sich beide
Staatsmänner darüber, daß bei der sich verschärfenden
Spannung zwischen Rußland und Österreich die Kriegsgefahr nur
durch die Verlängerung des Dreikaiserbündnisses zu bannen sein
würde. So war Bismarck sehr erfreut, daß der Russe den Antrag auf
Erneuerung des Dreikaiserbündnisses stellte. In den Verhandlungen, die an
sich nicht besondere Schwierigkeiten machten, fehlte es nicht an einigen
Quertreibereien von russischer Seite; auch mußte eine formale
Abänderung zugestanden werden, die angeblich die russische freie Hand
für den unwahrscheinlichen Fall verstärkte, daß Deutschland
zum Angriff gegen Frankreich schreiten würde. Genug, daß die
Erneuerung am 27. März 1884 auf drei Jahre vollzogen wurde.
Bezeichnend bleibt, wie gelassen Bismarck die geschäftliche Behandlung
nahm: "Das Wichtigste ist, daß ein Vertrag dieser Art überhaupt
zwischen den Mächten existiert. Den Wortlaut so verklausulieren,
daß böser Wille gar keine Fugen darin finde, in welchen sich
unehrliche Vorwände zum Vertragsbruch anbringen ließen, ist
sprachlich nicht ausführbar." Was das Bündnis bisher geleistet hatte,
die Lahmlegung des deutschfeindlichen Elements in Rußland, konnte es
auch fortan leisten, und ebenso setzte es allen französischen Hoffnungen
eine gewisse Grenze. Seine Achillesferse, das wahre Verhältnis zwischen
Rußland und Österreich, dessen bedenkliche Seiten
gewissermaßen in dem Dreikaiserbündnisse "aufgehoben" wurden,
blieb auch jetzt bestehen. Es war dafür charakteristisch, daß Zar
Alexander nach erfolgtem Abschluß zu dem deutschen Botschafter nur von
dem Nutzen des Bündnisses für "beide Staaten" sprach, mit dem
Zusatz: "von Österreich spreche er nicht, weil zwischen diesem und
Rußland so viele divergierende Interessen beständen". Aus diesem
Grunde, aus Furcht vor der panslavistischen Kritik an der Einbeziehung
Österreichs, hielt man in Petersburg auch an der strengen Geheimhaltung
fest.7
Immerhin, die Maschinerie des Dreikaiserbündnisses, so vorsichtig sie auch
gehandhabt werden mußte, war für weitere drei Jahre aufgestellt. Um
so schwerer wiegt die Feststellung, welchen Gebrauch Bismarck, auf der
Höhe seiner Macht, im Besitze der freien Hand und Sicherheit nach so viel
Seiten von dem gesamten Bündnissystem zu machen gewillt war. Der
grundsätzliche Charakter dieser Politik wird am deutlichsten in der
Einstellung, die sie von dieser verstärkten Position aus gegenüber
Frankreich und seinen Weltzielen beobachtete. Bismarck hatte, als die tunesische
Frage noch schwebte, im Sommer 1881 die Franzosen wissenlassen, daß sie
sich in ihrer afrikanischen Politik durchweg auf die freundliche und wohlwollende
Nachbarschaft Deutschlands verlassen könnten. Immer wieder kam er auf
seinen Lieblingsgedanken zurück, daß es in der
Welt [245] ein freies Feld
gäbe, auf dem wir Frankreich ganz freie Hand lassen könnten, und
wollte die Hoffnung nicht aufgeben, "daß die französische Politik am
Ende doch zu der Einsicht gelange, wie ein befreundetes Deutsches Reich mit 45
Millionen Einwohnern nützlicher sei und ein stärkerer Posten unter
den französischen Aktiven sein würde als eine Million
Elsaß-Lothringer". Er hielt an seinem Programm der wohlwollenden und
friedlichen Nachbarschaft sowohl gegenüber einem Manne von der
chauvinistischen Vergangenheit Gambettas als gegenüber den
konservativen Gewalten Frankreichs fest, die nach dem Tode Gambettas noch
einmal nach Rückhalt in Europa suchten. Es verstand sich auch jetzt
für ihn von selbst, das Prinzip der "strengsten Unabhängigkeit in der
Regelung seiner inneren Verhältnisse" im Hinblick auf Frankreich zu
wahren. Auch als gegen Ende des Jahres 1883 sich französische
monarchistische Bestrebungen auf Umwegen der Reichsregierung näherten,
verließ er die Linie der Nichteinmischung nicht, die er seit dem Frankfurter
Frieden, er könne sagen seit dem ersten Waffenstillstande im Jahre 1871,
auf das strengste innegehalten habe. Auf die ihm vorgelegte Frage entschied er
nicht mehr in der einfachen Weise, wie in den siebziger Jahren, ob "die Republik
oder die Monarchie und welche Gattung derselben", gemessen an ihrer
Bündnisreife, dem Frieden gefährlicher werden könnte,
sondern begnügte sich mit der Feststellung, daß er auch einer
französischen Monarchie gegenüber, wenn sie kommen sollte, die
bisher gegen die Republik geübte Politik beibehalten würde. Auch
diese Möglichkeit eines Konfliktes wollte er jetzt von vornherein
ausschalten: "sicher bin ich nur, daß wir mit Frankreich wegen der
Regierungsform, die es sich zu geben für gut findet, niemals
Krieg führen werden, weder für noch gegen".8 Auch darin ist das Fundament einer
Politik zu erkennen, die lehrreich und vorbildlich genannt werden kann und sich
vorteilhaft von aller Machtpolitik abhebt, die
sich - sei es durch vertragliche Bindung oder durch machtpolitische
Einwirkung oder auf dunklen
Schleichwegen - in die Regierungsform oder den Staatsaufbau eines
Nachbarn sich einzumischen für berechtigt hält. Die Haltung
Bismarcks zeigt den richtigen Weg an, in dem zwei große Völker
nach der schweren Heimsuchung eines mörderischen Krieges mit der Zeit
wieder zum Sichverstehen und Sichvertragen zurückgeführt werden
können.
Eben das Festhalten an dieser Überzeugung ließ Bismarck geradezu
ergrimmen, als sein italienischer Bundesgenosse ihm mit seinen leichtfertigen
Vorschlägen die Kreise zu stören suchte. Er verwarf sie nicht nur,
weil die leiseste Ingerenz Deutschlands in der Marokkofrage eine starke
Verstimmung Frankreichs hervorrufen würde. "Ich gehe noch
weiter," - so formulierte er seine Politik in [246] immer neuer
Fassung - "die Wahrnehmung, daß Deutschland nicht nur Metz und
Straßburg behalten will, sondern den Franzosen die Möglichkeit
mißgönnt, in überseeischen Erfolgen eine
Entschädigung für die Rheingrenze zu suchen, die Wahrnehmung,
daß Frankreich auf allen seinen Wegen Deutschland als Gegner
findet, würde die Parteien der Revanche, den Nationalhaß der
Franzosen und ihre Energie uns gegenüber wesentlich kräftigen und
den Ausbruch des neuen französischen Krieges beschleunigen".9
Die andern Mächte, Petersburg und London voran, hatten die Sorge
Bismarcks vor dem französischen Angriff jederzeit als den sichersten
unveränderlichen Posten in ihre politischen Berechnungen eingesetzt. Der
große Realist selbst wird auch gegenüber dieser Gefahr, die dauernd
auf seiner Schöpfung lastet, nicht von der Leidenschaft mitgerissen, er
erkennt sogar die innere Berechtigung dieses nationalen Lebenswillens so
vorbehaltlos an, wie er einst in den sechziger Jahren die innere Berechtigung der
deutschen Politik Österreichs aus ihren eingeborenen
Lebensbedürfnissen zu würdigen vermocht hatte.
Diese grundsätzliche Stellungnahme wird auch durch das Verhältnis
Bismarcks zu der englischen Politik unter dem Ministerium
Gladstone-Granville, zumal seit der englischen Festsetzung in Ägypten,
nicht verändert. Er stand dem Haupte dieses Ministeriums politisch fremd
und kühl gegenüber. Es ist nicht bekannt, daß er Gladstones
Meinung, der in dem Kanzler ein Stück vom leibhaftigen Bösen
erblickte, mit derselben gläubigen Überheblichkeit erwiderte; er
begnügte sich, in ihm einen Reichsverminderer und Staatsverderber vom
englischen Standpunkt aus zu sehen. Von diesen Werturteilen abgesehen:
daß es sich bei den beiden Staatsmännern um zwei politische
Antipoden handelt, bedarf keines Nachweises. Aber da Gladstone sich von den
auswärtigen Geschäften durchweg fernhielt, kam es mehr auf Lord
Granville an, der, wie wir sahen, Bismarck in der Haltung eines für jeden
Rat in der großen Politik dankbaren Kollegen gegenübertrat.
Dieses lose Verhältnis trat in ein anderes Stadium, als der Ausbruch der
ägyptischen Unruhen im Juni 1882 dazu führte, daß die
Westmächte auf diesem alten Schauplatze
englisch-französischer Zusammenarbeit und Rivalität einen
getrennten Weg einschlugen. Während man in London bald zur
Einmischung neigte, faßte man in Paris den folgenreichen Entschluß,
sich aus dem ägyptischen Handel möglichst herauszuhalten, und
zwar aus Gründen der Gesamtpolitik. Die Worte, die Clemenceau damals
den Franzosen zurief, daß in dem von Soldaten wimmelnden Europa alle
Mächte ihre Freiheit sich vorbehielten: "behalten Sie sich die Freiheit des
Handelns vor", gaben den Ausschlag. Die maßgebenden
französischen Staatsmänner sahen in jeder Verwendung
französischer Truppen am Nil eine Entblößung der Front an
den Vogesen. Infolge- [247] dessen schied
Frankreich, in dem geheimen Bewußtsein seiner am Ende aller Dinge gegen
Deutschland gerichteten Politik, als handelnde Macht auf dem Schauplatze der
ägyptischen Rivalitäten aus, auf dem es hätte stark bleiben
müssen, und begnügte sich fortan mit dem Versuch, auf
diplomatisch-europäischem Wege der jetzt allein vorgehenden Festsetzung
Englands in den Weg zu treten. Jedenfalls war durch die Ereignisse des Sommers
1882, das Bombardement von Alexandria und die Landung der englischen
Truppen am 19. August eine Machtfrage von unabsehbarer Tragweite
eröffnet. Im Kern dieser Machtfrage stand die alte, jetzt wieder
ausbrechende Rivalität der beiden Westmächte, die seit 1871 immer
auf vertraute Fühlung untereinander gehalten hatten: dadurch sah auch die
deutsche Politik sich ganz neuen Möglichkeiten gegenüber.
Die Engländer gingen auf dem Wege ihrer Ägyptenpolitik nur
zögernd vor, ob sie nun von einer rein machtpolitischen Erwägung
ihres Interesses oder - um es mit den Worten Lord Cromers
auszudrücken - von dem Gefühl der Verantwortlichkeit
vorgetrieben wurden, das ihnen ihre Geschichte und ihre Stellung in der Welt
zugewiesen habe.10 Sie waren sich von vornherein
bewußt, daß sie in dem Fortgang eines so weitausschauenden
Unternehmens die Vorteile ihrer insularen Lage einbüßen
mußten, und, indem sie sich von der französischen Freundschaft
trennten, auch ihre Stellung unter den europäischen Mächten
gefährdeten. So waren sie denn von der Stunde ihres Eintritts in die Aktion
an auf das Höchste begierig zu erfahren, wie Bismarck sich zu ihrer
Unternehmung stellen würde. Dieser aber, der seit Mitte Juni 1882 seinen
Sohn Herbert, gleichsam als einen persönlichen Vertreter für einen
vertraulichen Meinungsaustausch, der Botschaft in London beigeordnet hatte,
hielt zunächst zurück. Er hatte zwar von jeher eine
Berücksichtigung der englischen Interessen in Ägypten
gewünscht, aber immer wieder die Erfahrung gemacht, daß man in
London so mißtrauisch war, in jeder Ermunterung nur ein berechnetes
Mittel zu vermuten, die englische Politik mit Frankreich zu verhetzen. Jetzt
freilich war durch den unerwarteten Lauf der Dinge, infolge des Ausscheidens der
Franzosen, die Sache dahin gediehen, daß die Engländer ihrerseits
ohne eine sichere Kenntnis der von Bismarck zu erwartenden Haltung ungern
vorgehen wollten. Unmittelbar, nachdem der erste Versuch einer Konferenz
ergebnislos verlaufen war und die englischen Truppen in Ägypten gelandet
waren, wandte sich die englische Regierung auf einem naheliegenden
diplomatischem Umwege vertraulich an den deutschen Reichskanzler. Auf
Veranlassung seines Schwagers, des Prinzen von Wales, eröffnete
Kronprinz Friedrich Wilhelm dem Kanzler am 4. September 1882 den Wunsch
der englischen Staatsmänner ohne Unterschied der Parteistellung, "ein
engeres und vertrauteres Verhältnis zu Deutschland zu finden"; er habe den
Eindruck, daß man dem deutsch-österreichischen Bündnis im
Sinne gemeinsamen Zusammen- [248] stehens gegen jede
Gefahr, welche dem Frieden drohe, eine weitgehende Ausdehnung zu geben
wünsche.
Eine in der Form unverbindliche Bündnissondierung, die aber im Keime
mit den ganzen Konsequenzen der englischen Ägyptenpolitik belastet war!
Es liegt auf der Hand, daß Bismarck in seiner Antwort an den Kronprinzen
vom 7. September - die zugleich für London geschrieben war und
sich daher auch in den Akten des Foreign Office
wiederfindet - eine so weitgehende Anfrage etwas zu
überhören für gut hielt.11 Der
Ausgangspunkt seiner Antwort war ein europäisches Situationsbild: "Bei
dem Mangel direkter deutscher Interessen an der Gestaltung der Zukunft
Ägyptens, bei der Gewißheit, mit der wir Frankreich, und der
Wahrscheinlichkeit, mit der wir Rußland unter Umständen zu
Gegnern haben werden, habe ich bei Seiner Majestät die Notwendigkeit
vertreten, unabhängig von den jeweiligen englischen Regierungen und ihrer
mitunter wunderlichen Politik, mit der englischen Nation und der
öffentlichen Meinung derselben jeden Konflikt zu vermeiden, der das
englische Nationalgefühl gegen uns verstimmen könnte, ohne
daß wir durch überwiegende deutsche Interessen dazu gezwungen
würden." Er ging noch weiter: selbst dann, wenn der Ehrgeiz einer
englischen Regierung die Grenzen einer besonnenen Politik überschritte,
würden wir keinen Beruf haben, uns darüber anderen Mächten
zuliebe mit England zu erzürnen. Danach habe man bis jetzt verfahren,
immer in den Grenzen der Zurückhaltung verharrend, um nicht dem
Verdacht Vorschub zu leisten, daß man England und Frankreich
miteinander zu entzweien beabsichtige. Er schloß dann mit einigen
Bemerkungen, die auf die Bündnissondierung deutlicher Bezug nahmen:
"die größte Schwierigkeit, unserer Beziehung und Neigung für
England praktischen Ausdruck zu geben, liegt in der
Unmöglichkeit jeder vertraulichen Besprechung wegen der Indiskretionen
der Minister dem Parlament gegenüber, und in dem Mangel an Sicherheit
eines Bündnisses, für welches in England nicht die Krone, sondern
nur eines der wechselnden Kabinette haftbar bleiben würde." Gegen diese
Erinnerung an den Umschwung im April 1880 konnte das liberale Kabinett keine
Einwände erheben. Unmittelbar darauf sprach Bismarck durch seinen Sohn
Herbert sich dem Leiter der englischen Außenpolitik noch offener
darüber aus, was er selbst in der ägyptischen Politik für richtig
hielte: er würde als englischer Minister nicht auf direkte Besitznahme
Ägyptens unter englischer Souveränität hinarbeiten, sondern
auf den vorwiegenden Einfluß in ägyptischen Angelegenheiten auf
Grund einer Verständigung mit dem Sultan, wie es englischer Tradition
entspräche. Wenn man die Annexion vorziehe, so würde von
Deutschland kein Einspruch erfolgen, da die dauerhafte Freundschaft des
britischen Reiches für die deutsche Politik wichtiger sei als das Schicksal
Ägyptens; er wolle keinen Rat geben, aber er sehe voraus, daß die
Annexion große Schwierigkeiten mit Frankreich, Rußland und dem
Islam nach sich ziehen werde; sie würde zumal [249] zwischen England und
Frankreich viel Übelwollen zurücklassen und Gefahren für die
Zukunft in sich schließen.12
So sehen wir die seit dem Jahre 1876 eingeschlagene Linie der Politik Bismarcks
sich auch in dieser Stellungnahme fortsetzen: eigene Uninteressiertheit, mit dem
Ziel, Befriedigung und Beschäftigung in den anderen Lagern hervorzurufen.
Aber es wird die Frage sein, ob diese Grundlage der wunschlosen Saturiertheit des
eigenen Landes, deren Vertretung der deutschen Politik zu ihrer innerlich und
äußerlich überlegenen Stellung gegenüber den andern
verholfen hat, sich auf die Dauer innehalten ließ: ob sie nicht eines Tages
verlassen werden mußte, weil dieselben machtpolitischen Kräfte, die
sie sonst überall in der Welt, in Tunis, in Ägypten hatte entbinden
helfen, auch auf deutschem Boden das Bedürfnis verrieten, sich an das
Licht zu drängen.
An den binnenländischen Staat des deutschen Reiches von 1870/71 und an
seine ganz überwiegend binnenländisch gerichtete
Bevölkerung tritt jetzt die Schicksalsfrage heran, mit ihren Machtmitteln
auch über See zu gehen und eine neue Lebenssphäre zu gewinnen,
nicht nur für den Einzelnen, sondern für die nationale Gemeinschaft.
Eine solche Wendung konnte nur in einer vorbereiteten günstigen
Weltgelegenheit vollzogen werden.
Der soziale Aufbau und die wirtschaftliche Lage der deutschen
Bevölkerung unterlag seit der Reichsgründung einer fundamentalen
Lebenstatsache: der stetigen Einwirkung einer noch sehr hohen Geburtenziffer
und eines regelmäßig wachsenden Geburtenüberschusses. So
war die Einwohnerzahl von 40,8 Millionen im Jahre 1870 auf 45,1 Millionen im
Jahre 1880 gestiegen und wuchs im gleichen Verhältnis weiter auf 49,2
Millionen im Jahre 1890. Dieses Fünftel aber, um das die
Bevölkerung sich in diesen beiden Jahrzehnten vermehrt hatte, mußte
irgendwo von dem Wirtschaftskörper der Nation aufgenommen und
ernährt, irgendwie in die sich verändernde soziale Struktur des
Bevölkerungsaufbaus eingefügt werden. Daß bereits eine
immer stärker zunehmende soziale Verschiebung von der
ländlich-agrarischen zu der
städtisch-gewerblich-industriellen Seite eingesetzt hatte, machten die
Ergebnisse der ersten Berufszählung von 1882 zum ersten Male allgemein
erkennbar. Aber auch dieser Umschwung reichte nicht aus, um dem Jahr für
Jahr immer stärker anschwellenden Zuwachs Nahrung und Unterhalt zu
gewähren. So begann denn die überseeische Auswanderung, vor
allem durch die weiten Ebenen des Farmerlandes im mittleren Westen der Vereinigten
Staaten verlockt, einen immer größeren Bruchteil der
Bevölkerungszunahme an sich zu ziehen. In dem einzigen Jahrfünft
von 1881 bis 1885 stieg die überseeische Auswanderung auf 857 287
Köpfe - davon allein nach [250] Nordamerika auf
797 019 -, die Zahlen gingen noch etwas über die
Auswanderungsziffern des Jahrfünfts von 1851 bis 1855 hinaus. Damals
hatte man die Enttäuschungen der Revolution und den Zwang der Reaktion
dafür verantwortlich gemacht, daß in wenigen Jahren dreiviertel
Millionen ihrem uneinigen und unfertigen Vaterlande den Rücken
kehrten - sollte das wiederhergestellte Reich, der einige und
mächtige Nationalstaat, seinen Söhnen auch nicht mehr
Lebensmöglichkeiten in der Heimat geben können? Wenn in dem
einen Jahre 1881 - in einem Augenblicke, wo dieses deutsche Reich nach
allgemeinem Urteil auf der Höhe seiner Macht angelangt
war - nicht weniger als 220 902 Menschen den deutschen Boden
verließen, dann war das allein die Hälfte eines Jahreszuwachses und
bedeutete für die Gesamtsumme der werktätigen Bevölkerung
sogar eine Verminderung. Wie man sich auch zu dem Auswandern
stellte - und Bismarck selbst konnte eine Abneigung gegen den das Land
seiner Väter untreu verlassenden Landflüchtling niemals ganz
überwinden, er beschäftigte sich kaum mit dem schwierigen
Problem, wie die entfremdeten nationalen Werte doch noch dem Vaterlande
wieder nutzbar gemacht werden
könnten -, die eine Tatsache ließ sich nicht aus der Welt
schaffen: die Einbuße an Blut und Leben, an wirtschaftlichen Energien, an
verheißungsvoller Zukunft war ein
national-politisches Problem erster Ordnung, das den Staat, der verlassen wurde,
und seine Machthaber vor eine sehr ernste Frage stellte. Mochten die
wirtschaftlichen Parteien sich darüber streiten, ob diese hohe
Auswanderungszahl den Nachwehen der Freihandelszeit zuzuschreiben sei oder
vielmehr die Antwort auf den Übergang zur Schutzzollära darstelle,
schwerer wog die weitere Frage, ob nicht entweder neue wirtschaftliche
Möglichkeiten im Vaterlande erschlossen werden konnten, oder sonst in der
Welt noch "herrenlose" und offene koloniale Gebiete zu finden waren, damit der
Auswanderer nicht unweigerlich verurteilt war, den politischen und nationalen
Zusammenhang mit dem Staate und Volk seiner Geburt zu verlieren.
Sobald man sich nur diesem Gedanken näherte, eröffnete sich ein
großer geschichtlicher Zusammenhang, die Zeit der verpaßten
Gelegenheiten, die Jahrhunderte, in denen der einst meergewohnte Deutsche sich
binnenländisch in seiner engen und gespaltenen Territorialwelt verkapselt
hatte, während die andern Völker die Welt untereinander verteilten.
Wohl hatten zu Beginn der Kolonialperiode in den Unternehmungen der Welser
und Fugger die Gestalten
der Hutten, Hohermuth und Federmann unter den
verwegenen Konquistadoren Venezuelas gestanden, dann aber folgten die langen
Zeiten, in denen der Deutsche nur als dienendes Glied an der kolonisatorischen
Erschließung der Erde seinen Anteil nahm, und jene Frankfurter und
Krefelder Teutsche Kompagnie, die unter Führung von Franz Daniel
Pastorius in die Siedlung William Penns hinüberging und den Grundstein
von Germantown legte, war zum Vorläufer von vielen Hunderttausenden
geworden. Schon Goethe hatte den Strom dieses [251] Völkerschicksals
als den würdigen Gegenstand einer großen Epopöe erkannt,
und dann erst, nach ihm, waren die Millionen der Auswanderer nachgefolgt;
derselbe deutsche Bauer, der im 18. Jahrhundert in den Wolganiederungen
und in der ungarischen Pußta festen Fuß gefaßt hatte, war
hundert Jahre später zu den Massen eines wandernden Volkes
angewachsen, das nach Wisconsin, Illinois und Iowa hinüberging.
So war denn wohl der Gedanke aufgetaucht, im Augenblick der
Reichsgründung schon, den Friedensschluß mit Frankreich zu
kolonialen Erwerbungen zu benutzen, und statt der Annexionen am Rhein an
Cochinchina oder Martinique zu denken. Bismarck lehnte das ab, und er blieb bei
seiner Ablehnung auch später lange Zeit gegenüber allen
Vorschlägen, die von Patrioten, Kaufleuten und Projektenmachern an ihn
herangebracht wurden. Es käme ihm vor, so antwortete er wohl, wie bei den
polnischen Adelsfamilien, wo man einen seidenen Zobelpelz, aber kein Hemd
habe - er sah in solchen Plänen eine verfrühte und darum
falsche Machtbetätigung. Wenn er dem englischen Botschafter
gegenüber im Jahre 1873 sich gegen Kolonien aussprach, die eine
Grundlage der Schwäche seien, weil sie nur durch mächtige Flotten
verteidigt werden könnten,13 so erkennt
man, daß sein machtpolitischer Realismus ihn vor Abenteuern warnte,
hinter die das Deutsche Reich noch nicht eine starke Hand zu setzen imstande
war. Wer die ganze Arbeit überblickt, die ihm bis in die achtziger Jahre
hinein in dem inneren Ausbau und der äußeren Sicherung des
Reiches oblag, wird das innere Widerstreben begreifen, den werdenden Staat mit
überseeischen Aufgaben zu belasten, für deren Lösung ihm
noch alle wesentlichen Vorbedingungen fehlten.
Bei dieser Abneigung gegen Kolonien verharrte der Kanzler auch dann, als die
koloniale Erschließung Afrikas, mitbeflügelt durch das
Übergreifen der europäischen Mächte in die nordafrikanischen
Gebiete des Osmanenreiches, begann, als die kühnen Entdecker Afrikas die
Kunde von nie gesehenen Welten brachten, und der ebenso
geschäftsgewandte wie phantasiebegabte König Leopold von Belgien
den Amerikaner Stanley mit der Erschließung Afrikas im Bereich des
Kongoflusses beauftragte: als plötzlich ein allgemeines Wettlaufen der
Völker einsetzte.
Über die Völker kam das Gefühl, daß der letzte Kampf
um die Teilung der Erde beginne, und daß, wer jetzt zurückbleibe,
sich selber für immer ausschließe. Eine auf Veranlassung von Adolf
Woermann verfaßte Denkschrift der Hamburger Handelskammer vom 6.
Juli 1883 suchte das Gebot der Stunde in einem größeren
geschichtlichen Zusammenhange auszulegen: "Das energische Vorgehen der
Franzosen und Portugiesen an der Westküste Afrikas zeige, daß,
wenn Deutschland nicht für immer auf den Besitz von Kolonien daselbst
verzichten wolle, jetzt gewissermaßen der letzte Augenblick sei, um solche
zu erwerben. Wolle Deutschland dauernd einen größeren praktischen
Vorteil aus Afrika ziehen [252] - worauf es
gewiß berechtigten Anspruch habe..., so müsse es jetzt und zwar
rasch vorgehen. Daß aber Deutschlands Handel und der Absatz deutscher
Industrieprodukte in einer eigenen Kolonie sich schneller und günstiger
entwickeln werde, als unter fremder Herrschaft, ergebe sich aus den dargelegten
Verhältnissen."14 Gewiß trat bei den kolonialen
Plänen der Kaufleute das Siedlungsmotiv der weißen Niederlassung
stark hinter dem Handelsmotiv in tropischen Besitzungen zurück, aber die
öffentliche Meinung, hingerissen von dem kolonialen Gedanken, fragte
nicht nach dem Wie, sondern wollte das Ziel überhaupt.
Das koloniale Interesse wurde in Deutschland zunächst nur in kleinen
Kreisen lebendig: der geographischen Forschung, des hanseatischen
Handelsinteresses, der christlichen Mission, der volkswirtschaftlichen
Erwägung: darüber hinaus trug es lange Zeit einen fast akademischen
Zug. Man könnte sagen: wie der politischen Nationalbewegung der
Deutschen die Denker und Dichter mit ihren Mahnrufen vorangingen, so der
deutschen Kolonialbewegung ein schwungvolles Vereinstreiben von
Männern, die durchweg keinen Atemzug kolonialer Luft in sich
aufgenommen hatten. Nicht der koloniale Praktiker war die Regel, der auf eigene
Faust hinausgezogen war und dann für sein und der Seinen Werk den
Schutz der Macht von seinem Vaterlande
erbat - dieser Typus konnte am ehesten das Ohr des politischen Praktikers
Bismarck finden -, sondern häufiger fast war der koloniale
Theoretiker, der Kolonialschwärmer, der aus wirtschaftlichen
Berechnungen oder aus nationalen Erziehungsbedürfnissen die
Notwendigkeit kolonialer Betätigung erwies und seinem Volke die Lehre
verkündigte, daß es, ob es wolle oder nicht, Kolonien erwerben
müsse. Damit begann der Zusammenschluß auch politischer Kreise,
die den in Europa brachliegenden und gebundenen nationalen Kräften eine
Betätigung, der Nation ein neues Erlebnis wünschten.
So vollzog sich im Laufe des Jahres 1882 die Bildung des "Deutschen
Kolonialvereins" unter dem Vorsitz des Fürsten
Hohenlohe-Langenburg, um einen Mittelpunkt für die vielfachen getrennten
Bestrebungen zu schaffen und das "koloniale Gewissen" Deutschlands zu wecken.
An seine noch rein theoretische Propaganda schlossen sich Agitationen an, die
selber von den Worten zur Tat übergehen wollten, wie die von dem Grafen
Behr-Bandelin und Carl Peters im März 1884 gegründete
"Gesellschaft für deutsche Kolonisation". In ihrem Aufruf hieß es
schon aktivistischer: "Jeder Deutsche, dem ein Herz für die
Größe und die Ehre unserer Nation schlägt, ist aufgefordert,
unserer Gesellschaft beizutreten; es gilt das Versäumnis von Jahrhunderten
gutzumachen, der Welt zu beweisen, daß das deutsche Volk mit der alten
Reichsherrlichkeit auch den alten
deutsch-nationalen Geist der Väter überkommen hat."
[253] Daß es zu einer
solchen Entwicklung kommen müsse, war tief begründet.
Weitblickende Engländer hatten sie längst vorausgesehen. Schon im
Jahre 1874 wollte der englische Diplomat Lord Lytton sich nicht mit der These
von der grundsätzlichen Kolonialgegnerschaft Bismarcks zufrieden geben.
Tiefer in die Psychologie der Völker und das Wesen der Macht
eindringend, faßte er seine Anschauung in den Sätzen zusammen: "Es
scheint mir ein völlig natürlicher und ganz unvermeidlicher Ehrgeiz
seitens einer Macht, die so stark ist wie Deutschland, nicht länger als
nötig ein binnenländischer Staat zu bleiben, sondern zur See zu
gehen und seine Seeküsten nach allen Richtungen hin auszudehnen. Gibt es
in der Geschichte irgendeinen Fall eines binnenländischen Staates, der
plötzlich die militärische Vorherrschaft von Europa gewinnt, ohne
sich mittels seiner militärischen Stärke und seines Ansehens zu
bemühen, eine Seemacht zu werden? Aber man kann nicht eine Seemacht
sein ohne Kolonien... Es scheint jedenfalls jetzt eine ziemlich allgemeine
Stimmung durch Europa und selbst Amerika zu gehen, daß eine Politik der
maritimen und kolonialen Entwicklung das natürliche Ergebnis von
Deutschlands gegenwärtiger Position sein muß, und solche Instinkte
pflegen untrüglich zu sein".15
Besser läßt sich nicht ausdrücken, was unausgesprochen dem
dunklen Drange zugrunde lag, der im Laufe der Jahre immer weitere Kreise
erfaßte und seit dem Frühjahr 1884 auch im Willen Bismarcks eine
feste Stelle eroberte. Man könnte eher die Frage auswerfen, aus welchen
Gründen es so spät geschehen, als warum es überhaupt
geschehen sei. Aber es erscheint bezeichnend für das hohe Maß von
Umsicht und Vorsicht, mit dem Bismarck zu operieren pflegte, daß es
seiner Politik so lange widerstrebte, von dem gefahrenreichen, aber immerhin
übersehbaren Boden und Interessenkreise Europas hinüberzutreten in
eine seiner lebendigen Anschauung fremde Welt, in der die wirtschaftlichen
Werte in dem gleichen Dunkel lagen wie die politischen Rechtstitel,
während schon die Möglichkeit des Zugangs und der Behauptung
zugleich eine Frage der Seemacht und jedenfalls eine Kompilierung der
kontinentalen Außenpolitik war. Schon auf dem Schauplatze, auf dem er
zunächst genötigt wurde, aus dem Kreise seiner Macht
herauszutreten und sich für bedrohte hanseatische Handelsinteressen in der
Südsee einzusetzen, mußte er die ihm nicht wünschenswerte
Erfahrung machen, daß eine wirkliche Machtausübung im
Konfliktsfalle an viele und von ihm nicht beherrschte Vorbedingungen
geknüpft war.
Es ist nicht genau zu sagen, wann Bismarck den Standpunkt seiner Ablehnung
deutscher Kolonialpolitik verlassen hat; von einer Bekehrung und bewußten
Wendung wird überhaupt nicht die Rede sein können; eine Summe
von Erfahrungen und äußeren Anstößen mußte
sich mit der Gunst der Stunde vereinen, da ihm der erste entschlossene Schritt
vorwärts in dieser Richtung angezeigt erschien. Wenn Lord Odo Russell
(aus Anlaß der Fidji-Kommission) noch am [254] 15. März 1884
darauf zurückkam, es sei wohlbekannt, daß der Fürst dem
feurigen Begehren der deutschen Handelskreise nach Erwerbung von Kolonien
vollkommen entgegengesetzt und entschlossen sei, ihren wachsenden
Einfluß zu bekämpfen,16 so
formulierte er seinen Glaubenssatz in einem Augenblick, da Bismarck sich bereits
den neuen Horizonten seiner Außenpolitik zuwandte. Der Engländer
hatte im Mai 1878, nach dem Untergang eines großen deutschen
Kriegsschiffes, die Prophezeiung gewagt, daß dieses Mißgeschick die
eingeborene deutsche Abneigung gegen den seemännischen Beruf
verstärken und die Admiralität von weiterem Panzerschiffbau
abhalten würde; es ist dieselbe optimistische Selbsttäuschung, die
man bei James Bryce beobachtet, wenn er die eingeborene Abneigung der
Amerikaner gegen Flottenbau und Außenpolitik als eine Art von
Lebensgesetz mit Befriedigung feststellt. Und allerdings hat die englische
Regierung unter dem Einfluß ihres Berliner Vertreters sich viel zu lange
dem Glauben hingegeben, daß es Bismarck gar nicht ernst mit seinen
plötzlich auftauchenden kolonialen Liebhabereien sei und daß irgend
etwas anderes dahinter stecken müsse.
Wenn man nach den Motiven für den Eintritt Bismarcks in die
Kolonialpolitik sucht, darf nicht übersehen werden, daß für
diese Wendung noch eine Erklärung angeführt wird, die sogar in das
Bismarcksche Lager selbst zurückweist. Der Botschafter von Schweinitz
will im März 1890, nach dem Sturze Bismarcks, von dem Grafen Herbert
gehört haben: man habe in diesen Jahren mit einer langen Regierung des
Kronprinzen rechnen müssen, während der ein englischer
Einfluß hätte dominieren können, welcher die deutsche Politik
für das eigene Interesse mißbrauchen würde; um diesem
vorzubeugen, habe die Kolonialpolitik eingeleitet werden müssen, welche
volkstümlich sei und jeden Augenblick Konflikte mit England
herbeiführen könne.17 Daß
ein Unterton solchen Kalküls gelegentlich einmal in die Erwägungen
Bismarcks hineingespielt haben mag, könnte schon zugestanden werden.
Daß es sich aber mit diesem Hintergedanken um das entscheidende und
primäre Motiv gehandelt haben sollte, in dem ein unbändiger
Herrscherwille, um sich nach innen und außen zugleich zu behaupten, mit
kühlem Machiavellismus das Mittel der Kolonialpolitik aufgreift, kann nur
derjenige glauben, der weder von den Voraussetzungen der
Großmachtspolitik Bismarcks, noch von seinem sehr allmählichen
Hineingleiten in koloniale Unternehmungen eine Vorstellung hat. Wer die etwas
zynische Kraftäußerung Herbert Bismarcks auf die Goldwaage legt,
kann schwer erklären, weshalb der Fürst [255] dann so lange
grundsätzlich einer Kolonialpolitik widerstrebte, die ihm so wertvolle
unterirdische Dienste leisten konnte. Schließlich aber darf die entscheidende
Tatsache nicht außer acht gelassen werden, daß es sich
ursprünglich gar nicht voraussehen ließ, daß der Eintritt des
Deutschen Reiches in die Kolonialpolitik überhaupt mit ernsten Konflikten
mit England verbunden sein würde.
Statt dessen muß man sich vergegenwärtigen, daß in dem
Augenblicke, wo die ersten kolonialen Schritte getan werden, das Reich zwei
Unternehmungen in die Hand nahm, die es auch als Macht zur See
kennzeichneten. Schon in den Verhandlungen über den Beitritt von
Hamburg und Bremen zum Zollverein hatte der Bau des Nordostseekanals eine
gewisse Rolle gespielt. Die Pläne hatten sich zu großen Projekten
verdichtet: im Winter 1883/84 und im Frühjahr 1884 wurden die
entscheidenden Entschlüsse gefaßt. Dazu gesellte sich ein zweites
Unternehmen, der Plan einer vom Reiche zu übernehmenden
Subventionierung von Postdampferlinien nach Afrika und der Südsee,
ursprünglich aus dem Ressortbedürfnis der Reichspostverwaltung
hervorgegangen, aber dann aus allgemeinen weltpolitischen Erwägungen
aufgegriffen. Von zwei verschiedenen Seiten her traten an Bismarck
Unternehmungen heran, in die der Seewind hineinblies und in denen die weite
Welt das Ziel war. Unter diesem Auftrieb konnten auch koloniale Pläne,
wenn sie gleichsam als neue geschäftliche Aufgabe an das
Auswärtige Amt gelangten, einer anderen Behandlung und eines tieferen
Verständnisses gewärtig sein. Die Möglichkeit eines neuen
Horizontes begann sich zu enthüllen.
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