SucheScriptoriumBuchversandArchiv IndexSponsor


Bd. 9: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Erster Teil


Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin

Kapitel 2: Das Deutsche Reich
unter der Staatsleitung Bismarcks 1871 - 1890
  (Forts.)

4. Ausdehnung des politischen Horizontes über See 1883 - 1885.   (Forts.)

In dem Fortgang der deutsch-englischen Kolonialauseinandersetzung seit dem Sommer 1884 sollte nunmehr ein neuer Schauplatz nach dem andern auftauchen. Dabei stellte sich heraus, daß jene Rivalität, die bei der Besitzergreifung von Südwestafrika zu beobachten gewesen war, sich immer wiederholte: in Kamerun und Togo, in Neu-Guinea, in Ostafrika. Das große Problem war überall das gleiche, auch wenn es im Einzelfalle ein sehr verschiedenes Gesicht gewann.

Die neue deutsche Aktion setzte mit der Entsendung des Afrikareisenden Nachtigal zu weiteren Besitzergreifungen an der afrikanischen Westküste ein; sie schob sich hier, was an sich dem englischen Interesse nicht unerwünscht war, zwischen englische und französische Niederlassungen und Bestrebungen ein. Daß [268] in dem jetzt beginnenden Wettlauf von beiden Seiten kein Mittel verschmäht wurde, soll nicht verschwiegen werden. Die Fahrt Nachtigals war ursprünglich als Unternehmen eines geographischen Forschungsreisenden auch durch Empfehlungsschreiben englischer Beamter unterstützt worden. An Ort und Stelle hinwiederum suchten amtliche und nichtamtliche Vertreter englischer Lokalinteressen ihm innerhalb der Grenzen europäischer Höflichkeit, Intrigue und Übervorteilung so viel Steine wie möglich in den Weg zu werfen. Jedenfalls gelang es im Laufe des Juli, diejenigen Besitzergreifungen vorzunehmen, die den Grundstock der späteren Kolonien in Togo und vor allem in Kamerun bildeten.

Im Laufe des August und September 1884 griffen die Besitznahmen auf die inneren Landschaften von Südwestafrika über. Auf diesem Schauplatz suchten auch die Burenregierungen sich durch umfangreiche Annexionen an dem allgemeinen Zugreifen zu beteiligen (Betschuanaland), um dann doch durch englische Drohungen zurückgescheucht zu werden. Noch flammte der Streit zwischen der Kapregierung und den deutschen Ansprüchen von neuem auf, und es bedurfte dringlicher Noten, die diplomatische Schwierigkeiten an anderen Stellen ankündigten, um den Rückzug zu erzwingen. Immer wieder suchte das englische Weltreich, das seit Menschenaltern sich einer solchen kolonialen Situation nicht gegenüber gesehen hatte, die Wünsche und Ansprüche seiner Kolonialen doch noch zu retten. Selbst ein so wenig imperialistisch gesinnter Staatsmann wie Gladstone gab in einer Rede vom 1. September 1884 zu bedenken, ob nicht England von der Vorsehung zu diesem hohen Beruf ausersehen sei, und ob nicht andere Völker bei einem Wettbewerb um diese Aufgaben leicht ihre politische Stärke einbüßen könnten. Erst am 22. September erfolgte von englischer Seite die bedingungslose Anerkennung des deutschen Protektorates über das ganze in Südwestafrika okkupierte Gebiet, mit Ausnahme der Walfischbai.

Inzwischen war in der Südsee, die schon in Fidji und Samoa zu heftigen Rivalitäten Anlaß gegeben hatte, ein neues Ziel zwiefacher kolonialer Bestrebungen aufgetaucht: Neu-Guinea, dessen weitaus größter Teil (abgesehen von dem von den Holländern beanspruchten westlichen Drittel) von den Europäern noch kaum berührt war. Anfangs schien es, als ob es hier nicht zu einem Wettstreit kommen könne; noch am 17. Juni 1884 teilte Granville dem deutschen Vertreter aus eigenem Antrieb seine weitgehende Uninteressiertheit in Neu-Guinea mit, da in England selbst, angesichts der großen Ausdehnung des Kolonialreiches, eine sehr starke Opposition gegen die volle Annexion der auf jenen Inseln okkupierten Striche erhoben würde. Vermutlich trug diese Erklärung dazu bei, daß eine Neu-Guinea-Kompagnie, die sich in Berlin mit Hilfe eines von Herrn von Hansemann geführten Konsortiums am 26. Mai 1884 gebildet hatte, in den nächsten Wochen den Reisenden Otto Finsch nach Neu-Guinea entsandte, der auf seinem weiteren Wege allerdings erhebliche Verzögerungen erlitt, bevor er mit der Landerwerbung beginnen konnte.

[269] Während dieser Monate begann man sich in Australien, wohin die Nachrichten von diesen Plänen drangen, zu beunruhigen, besonders in der Kolonie Queensland, deren Nordküste dem Südrande von Neu-Guinea gegenüberliegt. So erklärt es sich, daß in dem Schwebezustande, während nähere Nachrichten von Neu-Guinea ausblieben, sowohl die deutsche als auch die englische Regierung unabhängig voneinander zu amtlichen Schritten vorgingen. Der deutsche Reichskanzler sprach in einer Note vom 2. August den Wunsch nach einer deutsch-englischen Verständigung über die beiderseitigen Interessensphären in der Südsee aus. Bisher seien die deutschen Südseewünsche vom britischen Kolonialamt dilatorisch behandelt worden, das zwar die eigene Annexion vermeide, aber ein australisches Vorgehen nicht ungern geschehen lasse; da man dort aber die Gebiete der bisher dem Handel offenen Südsee für eine natürliche Domäne Australiens halte und alle von anderen gemachten Erwerbungen schon im voraus für null und nichtig erkläre, so könne er nicht früh und bestimmt genug dagegen Verwahrung einlegen: er könne die Verantwortlichkeit der englischen Kolonialregierungen von derjenigen der Reichsregierung nicht trennen. Er sei wohl bereit, die Berechtigung des australischen Wunsches auf einen Schutz der Südküste Neu-Guineas anzuerkennen, darüber hinaus müsse er ein australisches "Naturrecht" bestreiten. Damit war die Deckung für die noch bevorstehenden deutschen Erwerbungen vorbereitet.

Als Graf Münster diese Note am 8. August Granville zur Kenntnis gab, war aber auch in London bereits eine Entschließung erfolgt, sei es infolge eines Durchsickerns der deutschen Absichten, sei es infolge australischen Drängens. Am Nachmittag des 6. August hatte das Kabinett auf Antrag des Kolonialministers den Beschluß gefaßt, ein britisches Protektorat über die Insel Neu-Guinea zu errichten, soweit sie nicht von den Holländern beansprucht würde. Als Motive dieser Entscheidung bezeichnet Lord Derby der Königin: den starken einmütigen Willen der ganzen australischen Bevölkerung; die bestehende Furcht vor Sträflingskolonien; die Ermutigung, die Fürst Bismarck, wie man glaube, deutschen Kolonisationsplanen gebe; schließlich die Unmöglichkeit, auf anderem Wege Unordnungen und Gesetzwidrigkeiten unter den Eingeborenen zu verhindern. Beglückt hatte Königin Viktoria am 8. August, also an dem Tage, wo Granville die deutsche Note empfing, die Mitteilung Derbys begrüßt, da sie England instand setze, die armen Eingeborenen zu beschützen und die Zivilisation zu verbreiten, die sie als Mission Großbritanniens betrachtete.35

Es ist begreiflich, daß Lord Granville bei diesem überraschenden zeitlichen Zusammentreffen in eine gewisse Verlegenheit geriet. Den Beschluß jetzt veröffentlichen, oder - als eine Antwort auf die Note vom 2. August! - nach Berlin mitteilen, hätte nicht nur einer unfreundlichen, sondern vielleicht sogar einer hinterhältigen Handlung gleichgesehen: ein solcher Eindruck mußte unter [270] allen Umständen vermieden werden. So gewann er die Zustimmung Derbys für eine Einschränkung des Programms, und teilte am 9. August dem Grafen Münster mit, daß "die Ausdehnung der britischen Oberhoheit in Neu-Guinea nur denjenigen Teil der Insel umfassen solle, der ein spezielles Interesse für die australischen Kolonien habe".36 Diese Beschränkung des Schutzes auf die Südküste wurde durch Gladstone am 11. August im Unterhause bekanntgegeben.

Auf dieser Grundlage wurde von der deutschen Reichsregierung der Neu-Guinea-Kompagnie die zur Wahrung ihres nationalen Charakters erforderliche amtliche Unterstützung am 20. August zugesichert. Am 26. September begannen die rasch sich ausdehnenden deutschen Besitzergreifungen. Nachträglich aber äußerte das englische Kolonialamt, wohl von Australien her wieder vorwärtsgetrieben, den Wunsch, im Ostzipfel der Insel von der Südküste auch ein Stück auf die Nordküste überzugreifen.

Granville erachtete eine vorherige Rückfrage in Berlin für erforderlich und erhielt zur Antwort, daß dieser Wunsch jetzt unerwartet komme und eine Verständigung auf dem Kommissionswege nötig mache.37 Bei dieser Sachlage konnte es nicht ausbleiben, daß in der Südsee selber die Tätigkeit der Pioniere, auf beiden Seiten von hitzigem Eifer vorwärtsgetrieben, sich in weitem Umfange ins Gehege kam. Über die Abgrenzung kam es seit dem Dezember 1884 zu erneuter schwieriger Auseinandersetzung. So sehr man auch in London die australische Erregung für übertrieben hielt, so eifrig war man bemüht, das deutsche Vorgehen, gegen das man keine eigentlichen Einwände geltend machen konnte, in engere Grenzen einzuschließen.38

Während auf allen diesen Gebieten, in Südwestafrika, in Togo und Kamerun, in der Südsee, die deutsche Kolonisation dem deutschen Handel folgte, an bestehende Handelsniederlassungen oder doch vorhandene Interessen anknüpfte, sollte eine letzte koloniale Gründung ganz aus wilder Wurzel erstehen, ohne den kaufmännischen Pionier und ohne den vorgängig gesicherten Rückhalt des Reiches: das ist Deutsch-Ostafrika. Diese Erwerbung ging aus dem aktivistischeren Kreise der Gesellschaft für deutsche Kolonisation hervor, die sich um den achtundzwanzigjährigen Karl Peters gebildet hatte. Und wie dieser tatkräftige junge Mann seine Vorstellungswelt gleichsam an dem Studium des englischen Imperialismus entzündet hatte, so übertrug er in seine Pläne und sein Tun etwas von dem harten und abenteuerlichen Geiste angelsächsischen Konquistadorentums. Mit einer kleinen Gruppe, in der allein Graf Pfeil über afrikanische Farmererfahrung verfügte, begab er sich im Herbst 1884 nach Sansibar und begann im Laufe des November mit Flaggenhissungen und Vertragsschlüssen. Es gelang Peters nach seiner Rückkehr, Ende Februar 1885, in dem Augenblicke, da die englisch-deutsche [271] Spannung auf den Höhepunkt gelangt war, einen kaiserlichen Schutzbrief für sein verwegenes Unternehmen zu erwirken.39

Also begann sich seit dem Herbst 1884 das Angesicht der Erde zu verändern. In dem allgemeinen Wettlauf der Völker war auch der Deutsche in die Reihe getreten und zog überall da, wo noch vor Toresschluß Niemandesland zu erwerben war, die schwarzweißrote Fahne auf. Jene Träume, in denen auch der junge Cecil Rhodes damals mit naivem Stolze geschwelgt hatte, daß das ganze Kolonialgebiet der Erde eines Tages doch noch auf der Landkarte rot würde angestrichen werden, waren ausgeträumt. Es war ein überaus günstiger weltgeschichtlicher Moment, der diesen fast stürmischen Eintritt der Deutschen in die überseeische Welt ermöglichte. Die führende Macht des Dreibundes stand jetzt im Mittelpunkt des ganzen Kontinentes.

Dreikaiserzusammenkunft in Skiernewice im September 1884.
[272a]      Dreikaiserzusammenkunft in Skiernewice im September 1884. (Erneuerung des Dreibund-Vertrages.)

Um Mitte September 1884 war die Dreikaiserzusammenkunft in Skiernewice erfolgt, die gleichsam das persönliche Siegel unter den im Frühjahr erneuerten Vertrag setzte. In einer kleinen polnischen Kreisstadt, deren Namen die Welt bis dahin kaum gekannt hatte, bekräftigten die Monarchen die Geltung ihres den Frieden sichernden und die künftigen Geschicke bestimmenden Bundes. Bis tief nach Asien waren die Auswirkungen dieser gegenseitigen Versicherung der Macht zu erkennen; zu Beginn des Jahres 1884 hatten die Russen die Oase Merw in Turkestan besetzt und im Herbst schon, während die allgemeine Aufmerksamkeit auf Afrika gerichtet war, beobachteten weltkundige Diplomaten mit Interesse ein kleines Staubwölkchen, das in der Turkmenensteppe an den Grenzen von Afghanistan und Persien aufwirbelte.40 Gleichzeitig aber, am 8. Oktober 1884, ergingen die Einladungen zur Kongokonferenz, die sich am 15. Oktober in Berlin versammelte, und der Welt das Einvernehmen zwischen Deutschland und Frankreich in afrikanischen Fragen und damit die Isolierung Englands auf einem zweiten Schauplatz der Zukunft offenbarte. Befriedigt konnte Bismarck in jenen Wochen, in denen Neuwahlen zum Reichstag stattfanden, Vertrauten gegenüber feststellen, daß die afrikanischen Unternehmungen unerwartet viel Wind in seine Segel gebracht hätten. In dieser Weltlage hatte er alle Trümpfe in seiner Hand vereinigt, um die kolonialen Erwerbungen gegen den überall einsetzenden oder zu erwartenden Widerspruch Englands zu behaupten. Schon Anfang Dezember 1884 richtete er die Weisung nach London, wenn in dem Verhalten des englischen Kolonialressorts nicht eine Wandlung einträte, so werde er die deutsche Gesamtpolitik mit Bezug auf England und namentlich in der ägyptischen Frage einer erneuten Prüfung unterwerfen müssen, und in der Erwartung einer solchen Wandlung sich zunächst jeder Äußerung über die ägyptische Angelegenheit enthalten. Der ägyptische Hebel, den er jeden Augenblick in die Hand nehmen konnte, gewann eben damals [272] eine erhöhte Bedeutung. Der Aufstand des Mahdi begann die englische Machtstellung in Ägypten so zu gefährden, daß ihrer Politik jetzt ein Rückzug unmöglich wurde; der Fall Khartums und das tragische Schicksal General Gordons, das im Februar 1885 in London bekannt wurde, band die englische Ehre und die englischen Waffen vollends an das Land, das sie ursprünglich nur vorübergehend hatten besetzen wollen. Sie waren jetzt, wie sie sich selber gestanden, in der "Mausefalle der Politik Bismarcks".

Auf diesem Welthintergrunde sollten sich die entscheidenden Auseinandersetzungen zwischen London und Berlin vollziehen, aus denen die Grundlegung eines deutschen Kolonialreiches hervorging.

Inzwischen hatten sich auf den verschiedenen kolonialen Schauplätzen Reibungen und Streitigkeiten aller Art gehäuft. Ihnen folgten in der Presse Vorwürfe und Wortgefechte, zwischen den Kabinetten ein umfangreicher und ärgerlicher Notenwechsel - ohne daß ein Ausweg aus dieser Sackgasse sichtbar wurde. So beschloß Bismarck, wie er schon mehrfach angekündigt hatte, auch das Instrument der öffentlichen Verhandlung in die Hand zu nehmen. In einer Reichstagsrede vom 10. Januar 1885 stellte er den ganzen Bereich der Kolonialfragen - noch zog er den Ausdruck "Schutz unserer überseeischen Ansiedlungen" vor - zur Debatte. Er betonte, daß man diese Politik nur machen könne, wenn eine gesicherte Reichstagsmehrheit mit nationalem Enthusiasmus hinter ihr stehe; wenn man zu dem Wagemut und der Sachkunde der Hamburger königlichen Kaufleute kein Vertrauen habe, dann müsse man auf die Aktion verzichten, "dann kriechen wir auf unseren Thüringer Bergen zusammen und sehen das Meer mit dem Rücken an". In der Auseinandersetzung mit England war er versöhnlich genug, die Schwierigkeiten anzuerkennen, die sich aus dem kaum übersehbaren englischen Kolonialnetz ergäben, aber er unterließ es nicht, mehr als eine nach London gerichtete Mahnung damit zu verknüpfen. Er schilderte die glänzende außenpolitische Lage des Reiches ("wir sind von Freunden umgeben in Europa") und erwähnte mit besonderer Wärme die Beziehungen zu der "weisen und gemäßigten" Regierung Frankreichs. Den Engländern aber deutete er jetzt auch öffentlich an, was er ihnen bisher mit wachsender Deutlichkeit auf diplomatischem Wege zu verstehen gegeben hatte: daß die deutsche Politik bei Fortdauer der kolonialen Schwierigkeiten kaum imstande sein würde, sie in anderen Fragen zu unterstützen. Die dunkle Ausmalung kriegerischer Gefahren, mit der der Abgeordnete Windthorst zu warnen suchte, wurde schließlich vom Kanzler benutzt, um auch die eigene unerschrockene Festigkeit anklingen zu lassen. Er könne, so antwortete er seinem alten parlamentarischen Gegner, nach seinen diplomatischen Erfahrungen keinen Grund absehen, warum ein Friedensbruch zwischen Deutschland und England möglich sein sollte: "es müßte denn irgendein unberechenbares Ministerium in England, das weder da ist noch nach der politischen erblichen Weisheit der englischen Nation wahrscheinlich ist, in der ruch- [273] losesten Weise uns angreifen und beschießen - ja mein Gott, dann werden wir uns wehren - aber abgesehen von dieser Unwahrscheinlichkeit ist gar kein Grund für eine Friedensstörung".

Auf diesen Appell an die politische Erbweisheit glaubte Lord Granville irgendwie antworten zu müssen. Es war wohl in diesem Augenblick, daß er im strengsten Geheimnis dem deutschen Botschafter gegenüber auf den Helgolandplan zurückkam.41 Er hatte immer auf eine erneute Initiative von deutscher Seite gewartet, und stand vielleicht auch der negativ verlaufenen Unterhausdebatte nicht fern, in der im Dezember 1884 ein nicht zur Mehrheit gehöriger Abgeordneter die Abtretung Helgolands angeregt hatte. So eröffnete er jetzt dem Botschafter, daß er nach endgültigem Abschluß der ägyptischen Sache und einer befriedigenden Vereinigung der Kolonialfragen bereit sein würde, das Kabinett zu befragen, ob man in eine freundschaftliche Besprechung der Helgolandfrage eintreten wolle. Selbst wenn Graf Münster es gewagt hätte, seinem längst mit ihm unzufriedenen Vorgesetzten dieses von vielen Vorbehalten umgebene Angebot zu berichten,42 so muß man es für ausgeschlossen halten, daß Bismarck auf solche Ungewißheiten hin seine kolonialen Forderungen mit den Helgoländer Wünschen vermengt haben würde.

Vielmehr gab ihm schon das Eintreten Münsters für die englischen Vorschläge in der ägyptischen Frage den Anlaß, in seinen Erlassen vom 24. und 25. Januar den Botschafter energisch auf seine Linie der Verhandlung zurückzurufen. Gegenüber den englischen Reklamationen stellte er fest, daß nicht die deutsche Politik in Ägypten eine Ursache der unfreundlichen Kolonialpolitik Englands, sondern umgekehrt, die anti-englische Politik des Deutschen Reiches sei erst die Folge der anti-deutschen Kolonialpolitik in Guinea, in Neu-Guinea und in Südwestafrika. Er machte dem Botschafter den ernstlichen Vorwurf, dieses Verhältnis nicht instruktionsgemäß rückhaltlos betont und dadurch die Entfremdung mit verschuldet zu haben. Gerade weil er es mit einem heimlichen Kolonialgegner zu tun hatte, schärfte er ihm ein: "ich wiederhole, daß alle ägyptischen Dinge für uns nur ein mittelbares Interesse haben, daß die Kolonialfrage aber schon aus Gründen der inneren Politik eine Lebensfrage für uns ist... Der kleinste Zipfel von Neu-Guinea oder Südwestafrika, wenn derselbe objektiv [274] auch ganz wertlos sein mag, ist gegenwärtig für unsere Politik wichtiger, als das gesamte Ägypten und seine Zukunft".

Gegenüber dem sich verstärkenden deutschen Druck, der sich jetzt vor allem in der ägyptischen Frage bemerkbar machte, verfiel Lord Granville auf den unglücklichen Gedanken, eine Sprengung des deutsch-französischen Zusammengehens zu versuchen. Bismarck hatte schon Anfang Dezember, vielleicht ohne zureichenden Grund, zu bemerken geglaubt, daß Granville den Franzosen gegenüber nicht die geschäftsübliche Diskretion wahre, und ziemlich grobes Geschütz auffahren lassen.43 Einige Wochen später kam es auch in der englischen Presse zu Erörterungen, in denen die zweideutige, anfangs zuratende, dann Schwierigkeiten machende Politik Deutschlands aufzudecken versucht wurde. Auf der Höhe des Streites um die Kolonien griff Granville selbst nach dem Mittel, gegenüber den Vorwürfen der öffentlichen Meinung sich in einer Sitzung des Oberhauses am 27. Februar 1885 mit der Erklärung zu verteidigen, man sei seinerzeit in Ägypten auf den Ratschlag Bismarcks "es zu nehmen" vorgegangen. Diese jetzt amtlich aufgenommene "Enthüllung" widersprach nicht nur den im diplomatischen Verkehr der Großmächte üblichen Regeln, sondern im besonderen auch den vertraulichen Umständen, unter denen man in London zuerst im Herbst 1882 den Rat des unbeteiligten Kanzlers erbeten hatte. Sie war aber auch insofern unrichtig, als die mit allem Vorbehalt gegebene Meinung Bismarcks gar nicht auf ein einfaches "Nehmen" hinausgelaufen war, sondern auf eine im Grunde mit der Türkei durchzuführende Ausdehnung des tatsächlichen englischen Einflusses. So mußte Bismarck den öffentlichen Vorstoß als eine unfreundliche, wenn nicht berechnet feindselige Handlung auffassen. Nicht nur, daß durch eine solche Enthüllung die deutsche Politik dem Sultan gegenüber bloßgestellt wurde, in Paris mußte geradezu der Eindruck erweckt werden, als ob der Reichskanzler ein hinterlistiges Spiel gespielt hätte. Granvilles Stratagem schien doch vor allem den Sinn zu haben, sich nicht bloß nach innen zu decken, sondern zugleich die deutsch-französische Kombination, deren Druck die englische Politik auf Schritt und Tritt begegnete, zu sprengen und durch eine Wiederauffrischung des französischen Mißtrauens gegen Berlin sich selber etwas Luft zu verschaffen. Je mehr für Bismarcks Politik Ägypten ein tatsächliches Arcanum imperii in der Weltlage war, um so weniger durfte er zulassen, daß die vorsichtige Methode seiner Operationen in vergröbernder Mißdeutung benutzt wurde, ihm den europäischen Kredit zu verkürzen und vor allem in Paris die Früchte seiner sorgfältig gepflegten Entspannungspolitik zu zerstören. So beschloß er denn, die Indiskretionen Granvilles, die den verletzlichsten Punkt seiner Gesamtpolitik trafen, zum Anlaß zu nehmen, um im Reichstag, wie er früher schon gedroht hatte, die ganze zwischen Deutschland und England schwebende [275] Kolonialfrage aufzurollen, das volle Gewicht der öffentlichen Meinung hinter die endgültige Auseinandersetzung zu werfen und zugleich, auf dem Höhepunkt des Streites, den Weg zu seiner endgültigen Vereinigung zu eröffnen.44

Er ergriff sofort die erste Gelegenheit, um in einer Rede im Reichstage am 2. März das Problem, das sich zwischen Deutschland und England erhoben hatte, in seinem ganzen Umfange zu behandeln. Er schickte voraus, daß Kolonialpolitik nur dann möglich sei, wenn sie von einer Mehrheit des nationalen Willens mit Entschlossenheit getragen werde; das Ausland werde eine andere Stellung einnehmen, wenn der Reichstag sich einheitlich und mit Enthusiasmus hinter sie stelle. Dann ging er dazu über, eine Reihe von Beschwerden gegen das englische Verhalten im geschäftlichen Verkehr vorzubringen und in ausführlicher Form, unter Benutzung des Aktenmaterials,45 sich gegen seine angebliche Ermunterung zur Annexion Ägyptens zu verwahren - an dieser Stelle mußte das aufflackernde Mißtrauen Frankreichs schleunigst zur Ruhe gebracht werden. Aber er verband mit der langen Liste seiner Beschwerden die Ankündigung, er hoffe diese Dinge wieder in das Geleise des freundschaftlichen und ruhigen Verkehrs zu bringen, der zwischen Deutschland und England jederzeit bestanden habe. Nur halte er es für einen Irrtum in der Schätzung, wenn England uns unsere bescheidenen Kolonialversuche nicht gönne. Die deutschen Vorgänge erweckten ja sehr leicht den Eindruck, daß unter Umständen wohl, wie 1870, wie 1813, die geharnischten Männer aus der Erde wüchsen, wie nach der Saat der Drachenzähne in dem griechischen Mythos in Kolchis, aber daß sich dann auch stets irgendein Zaubersteinchen der Medea finde, das man zwischen sie werfen könne, worauf sie übereinander herfielen. Im Schlußsatz sprang er vom antiken zum germanischen Mythos über, in dem eine eigentümliche prophetische Voraussicht liege, insofern als, so oft ein deutscher Völkerfrühling anbreche, auch stets der Loki nicht fehle, der seinen Hödur finde - er gab dem letzten Bilde wieder eine Spitze gegen die inneren Gegnerschaften, aber der Eindruck blieb doch zurück, daß er der englischen Staatsleitung mit diesem ernsten Appell an das deutsche Nationalgefühl eine Warnung hätte erteilen wollen. Um so mehr beeilte er sich fast mit derselben Post, statt der gepanzerten Faust die Freundeshand mit dem Ölzweig über den Kanal hinüberzureichen. Am zweiten Tage nach seiner Rede entsandte er seinen Sohn Herbert nach London, um in dieser persönlichsten Form die zerrissenen Fäden wieder anzuknüpfen. Schon am 5. März hatte [276] Herbert Gelegenheit, mit Gladstone vertraulich zu sprechen und ihm den Sinn der anspruchslosen deutschen Kolonialpolitik und ihre Rückwirkung auf die beiderseitigen Beziehungen freundschaftlich und maßvoll vorzutragen. So wenig Gladstone auch außenpolitischer Weitblick eignete, er überzeugte sich jetzt sofort, daß alles darauf ankomme, das Hindernis für die ägyptische Vereinbarung aus dem Wege zu schaffen; dringlichst legte er Granville nahe, die Grenzregulierung an der Küste von Nord-Neu-Guinea unter allen Umständen zu fördern. So verliefen denn die weiteren Verhandlungen in den folgenden Tagen nach Wunsch. Wenn in Nord-Neu-Guinea und in Kamerun die deutschen Wünsche erfüllt wurden, so gab man in südwestafrikanischen Fragen (Betschuanaland, Luciabai46) auf deutscher Seite nach. Schon am 12. März konnte Gladstone in einer Unterhausrede mit einer freundlichen Begrüßung des Eintritts Deutschlands in die Reihe der kolonisierenden Mächte die letzten Schatten verwischen. Der Führer der größten Kolonialmacht der Erde rief Gottes Segen auf die deutschen Bestrebungen herab; Deutschland werde Englands Bundesfreund und Genosse zum Segen der Menschheit sein; indem es sein Genosse in der Verbreitung des Lichts und der Zivilisation werde, werde es bei diesem Werke die herzlichsten Wünsche Englands und jede Ermutigung finden, die in seiner Macht stehe. Die Rede wurde, wie Gladstone sofort der Königin meldete, mit einer allgemeinen und bemerkenswerten Herzlichkeit von dem Unterhause aufgenommen.47 Es war wie eine Wende der Zeiten. Jenes Zeitalter, in dem England in vielen Teilen der Erde fast das Monopol der kolonialen Betätigung ausgeübt und infolge seines Vorsprungs die unerschlossene Welt offen gehalten oder nur nach Bedarf seinem eigenen Zugreifen reserviert hatte, war endgültig geschlossen. Die europäischen Rivalitäten hatten in diese neu zu erschließende Welt übergegriffen. Auch Bismarck konnte, als er am 13. März im Reichstage bei Beratung der Postdampfervorlage das Wort ergriff, dankbar die Einigung anerkennen. Schon wandte er den kampfbereiten Ton der letzten Debatten vollends von außen nach innen. So, wenn er, zu dem Bilde vom Völkerfrühling und seinem Loki zurücklenkend, das persönliche Bekenntnis ablegte, daß diese Analogie der deutschen Geschichte mit der deutschen Göttersage etwas sei, was ihn in den letzten zwanzig Jahren ununterbrochen gequält und beunruhigt habe. Er malte aus, worin dieser Völkerfrühling für die Deutschen bestanden habe, und wie der Loki über ihn gekommen sei: "Der alte deutsche Erbfeind, der Parteihader, der in dynastischen und konfessionellen, in Stammesverschiedenheiten und in Fraktions- [277] kämpfen seine Nahrung findet": ihn klage er vor Gott und der Geschichte an, wenn das ganze herrliche Werk der Nation von 1866 und 1870 wieder in Verfall gerate. Er redete, so schildert ihn ein Hörer unter den Abgeordneten, als wenn eine Inspiration über ihn gekommen sei, die Sprache, sonst zögernd und stockend, floß leicht dahin, die Stimme tönte gewaltig durch den weiten Raum, sein Antlitz und seine Augen wurden feucht.48

Mochte der Kanzler auch in den nächsten Tagen diese Gedanken gegen die Abgeordneten Windthorst und Eugen Richter weiter verfolgen und dabei die taktischen Vorteile seiner Kampfstellung gegen den politischen Gegner berechnend und erbarmungslos ausnutzen, er war sich bewußt, von einer ansteigenden Woge der nationalen Stimmung getragen zu werden. Von dem Ganzen seines Lebenswerkes aus wandte sich der Siebzigjährige an die heranwachsende Generation: "In unserer Jugend ist ein ganz anderer Schwung und eine großartigere Auffassung des politischen Lebens als in allen meinen Altersgenossen, die durch die Jahre 1847/48 mit dem Fraktions- und Parteistempel hindurchgegangen sind. Lassen Sie uns mal alle erst sterben, dann sollen Sie sehen, wie Deutschland in Flor kommt." Wohl fühlte er einen neuen Ton und ein neues Geschlecht, das Geschlecht, das auf dem Boden des wiedergewonnenen Reiches erwachsen war. Gerade auf dem Gebiet der kolonialen Unternehmungen sehen wir es bald mit dreisterem Ausgreifen und schrofferen Ansprüchen sich erheben. In dem einzigartigen Augenblick einer günstigen Weltlage hatte Bismarck selber den Schlauch des Äolus geöffnet, um diesen jugendlichen Kräften einen Ausweg in die Welt zu schaffen. Er mußte bald erleben, daß diese Kräfte sich nicht ohne weiteres wieder einfangen ließen, wenn die Stellung der Gestirne am politischen Himmel ungünstiger wurde, sondern über ihn selber hinausstrebend, das Recht ihrer Generation für sich verlangten. Schon im nächsten Jahre sollte er auf den neuen Typus eines deutschen "Kolonialjingos" stoßen, dessen Begehrlichkeit viel größer sei als unser Bedürfnis und unsere Verdauungsfähigkeit. Für den Kanzler verstand es sich von selbst, diesen abenteuernden Geist in seine durch die Gesamtpolitik gebotenen Grenzen zurückzuweisen.

Wir sehen unsere Aufgabe nicht darin, die Abmachungen über die Kolonialgebiete bis in alle Einzelheiten zu verfolgen, und fassen nur noch die Summe und den Sinn dieses Geschehens in der Entwicklung der deutschen Außenpolitik zusammen. Die ganze Erwerbung dieser Kolonien im Laufe eines Jahres und damit die Grundlegung des deutschen Kolonialreiches in seinem wesentlichen Umfange war der Gunst der Stunde abgewonnen, ohne den Besitz maritimer Machtmittel, die auf Englands Entschließungen hätten einwirken können: so ruhte denn das Ergebnis auf der Machtstellung Deutschlands, wie sie seit dem Anfang der achtziger Jahre errichtet, und auf der Weltkonjunktur, wie sie zum Teil sich ungewollt ergeben hatte, zum Teil von Bismarck geschickt gefördert [278] wurde: die Bindung Englands in Ägypten und der Fall Khartums, die deutsch-französische Entente und die Kongokonferenz, die herannahende russisch-englische Spannung in Afghanistan, das alles trug zu seinem Triumphe bei. So waren die Kolonien in ausgesprochener Weise die Frucht der kontinentalen Politik Bismarcks. Ihr Besitz, ihre Blüte, ihre Erweiterung ruhten weitgehend auf diesem Grunde unserer heimischen Kräfte.

Dabei war Bismarck sich durchaus bewußt, daß dieser Gewinn der Kolonien die Bewegungsfreiheit der deutschen Politik England gegenüber dauernd modifizieren würde. Er hatte am 5. März dem englischen Premierminister durch seinen Sohn einen Gedankengang vortragen lassen, der den charakteristischen Stempel seines realistischen, mächte-dynamischen Denkens trug. Es hieß darin: "Wir sind die jüngste der Großmächte, und wir wünschen die Art von kolonialer Betätigung, die einer Großmacht zusteht. Aber wir denken es nur in sehr kleinem und bescheidenem Umfang zu tun, und, indem wir es tun, geben wir Euch den stärksten Beweis des Vertrauens auf die künftige Freundschaft der beiden Länder. Denn wir wissen, daß, wenn eine Kontinentalmacht unsere kleinen Kolonien angreifen sollte, wir in ihr Gebiet zur Vergeltung wieder einmarschieren können. Aber wir wissen auch, daß Ihr unsere Kolonien wirksam angreifen könnt, und daß wir an Euch nicht zur Vergeltung herankommen können, weil Ihr Herren der See seid."49 So sehr das Argument auf den Hörer berechnet war, so war darin zugleich eine Erkenntnis ausgesprochen, die in der Tiefe der Seele Bismarcks ruhte: daß jede Kolonialerwerbung auf Kosten Englands letzten Endes auch ein gewisses Maß von Abhängigkeit von der englischen Politik in sich schloß, daß die rein kontinentale Grundlage der Machtstellung Deutschlands nicht ganz mehr die alte sei, sondern leise verlassen werde, daß insbesondere ein neues Element in das Verhältnis zu England, in die einzige noch nicht endgültig geklärte und noch immer labilste aller großmächtlichen Beziehungen einzutreten beginne. Das bedeutete im Augenblick noch nicht viel und konnte in der Gesamtlage wohl ertragen werden. Aber eines Tages konnte auch von hier aus das Gesicht der deutschen Politik sich stärker verändern; es konnte geschehen, daß die kolonialen Interessen Deutschlands weiter um sich griffen, daß die hinter ihnen stehenden Kräfte stürmischer über das bescheidene Anfangsprogramm hinausdrängten oder auch die maritimen Machtmittel der kolonialen Betätigung auszudehnen verlangten.

Der schnelle Verlauf der deutsch-englischen Verständigung stand schon unter der Einwirkung einer dunklen Wolke, die sich infolge des russischen Vormarsches in den afghanischen Grenzgebieten zusammenzog und sich plötzlich in einer ernsten englisch-russischen Kriegsgefahr zu entladen drohte. Der Zusammenstoß russischer und afghanischer Truppen am 29. März in Pendjeh stellte die ganze Welt [279] vor die bange Erwartung, daß sich ein ungeheurer Aufeinanderprall der russischen und englischen Macht im mittleren Osten anbahne. Gegenüber dieser Gefahr, mit der Rußland seine Revanche für die englische Intervention im nahen Osten im Jahre 1877/78 zu nehmen schien, standen die Engländer vor dem Zwange einer ganz eindeutigen Rechnung: wenn der Emir von Afghanistan, durch das russische Vordringen beschwert, sich an ihre Hilfe wende und keinen Schutz empfinge, würde er sich den Russen in die Arme werfen und zu einem Trabanten Rußlands herabsinken. Ein solcher Ausgang, nahe den Toren Indiens, müsse mit allen Mitteln, selbst mit Waffengewalt, verhindert werden. Der Kampf um Afghanistan, bei dem so gewaltige Einsätze auf dem Spiele standen, mußte also auf den ganzen Orient übergreifen - es ist begreiflich, daß die Engländer in einem Kriegsfalle auch auf türkische Diversionen an der russischen Grenze rechneten. In solcher Erwartung erinnerte Rußland sofort bei dem Beginn der Krisis in Berlin an die Bestimmung der Verträge von 1881/84, die Deutschland gegen jede Störung in den Dardanellen (auch gegen den Eventualfall) festlegte. Unverzüglich beteiligte sich Bismarck am 9. April an einer formellen Erklärung der Kaisermächte an die Pforte, daß eine Öffnung der Dardanellen für Kriegsschiffe der Kriegführenden einen Bruch der Neutralität bedeute. Es war die Probe auf die Festigkeit des Vertrags von 1884 - wäre sie nicht bestanden worden, so wäre der Vertrag zerrissen worden. So erfolgte unter Leitung Deutschlands der entscheidende Schritt, um die Pforte in dem drohenden Kriege in der Neutralität zu erhalten und dadurch diesen Krieg, der wohl eine ungeheure Resonanz, aber kaum einen unmittelbaren Schauplatz hatte, wesentlich zu lokalisieren. Gegen Ende April und im ersten Drittel des Mai stieg die Kriegsgefahr immer höher, um dann, auf der Spitze der Erregung, umzuschlagen und einer englischen Bereitschaft zur Entscheidung durch Schiedsspruch Platz zu machen. Diese Nachgiebigkeit war "der offenkundige Beweis dafür, daß England in der europäischen Situation keinen Rückhalt für kriegerisches Vorgehen gegen Rußland fand". Die unter deutscher Führung herbeigeführte neutrale Haltung der Türkei hatte entschieden dazu beigetragen, diese englische Entschließung für den Frieden zu erleichtern.50 Der Reichskanzler führte durch seine Haltung zugleich den Nachweis, daß Deutschland nicht etwa einen englisch-russischen Krieg wünschte, wie die englische Presse nachher behauptete - es lag im deutschen Interesse, daß er vermieden wurde. Denn man mußte sich in Berlin sagen, daß ein unterlegenes Rußland sich blindlings in der französischen Allianz erholen, ein Unterliegen Englands aber ein noch weiteres Ansteigen des russischen Druckes zur Folge haben würde. Gewiß lag es im deutschen Interesse, nicht darauf hinzuwirken, eine russische militärische Beschäftigung in Asien zu verhindern und dadurch auf sich selbst zu lenken. Aber es tauchten auf dem Höhepunkte der englisch-russischen Spannung schon Stimmen auf, die sie in eine russisch-englische [280] Verbindung zu überführen suchten. Bismarck war sich sofort darüber klar, daß damit eine Basis für eine englisch-russische Koalition gegeben sein würde, wie sie gefährlicher nicht gedacht werden könne. Er führte aber unter dem 27. Mai 1885 seinem greisen Monarchen aus: "Es liegt daher für die deutsche Politik die Versuchung sehr nahe, zwischen Rußland und England lieber feindselige als zu intime Verhältnisse herbeizuführen. Wir haben derselben aber gewissenhaft widerstanden und nichts getan, um Kriegsaussichten zu fördern; aber wenn wir diese Enthaltsamkeit aus allgemeinen christlichen Erwägungen üben, so sind wir doch der deutschen Nation schuldig, alles zu vermeiden, was dahin führen könnte, daß wir England die russische Feindschaft abnehmen, indem wir sie uns selbst aufladen. Um dies herbeizuführen, dazu würde schon der leiseste direkte oder indirekte Druck auf Rußland genügen, schon eine freundschaftliche Empfehlung Frieden zu halten."51 Nur sorgfältige Zurückhaltung bedeute sorgfältige Pflege des Friedens. So bewährte diese Politik in den schwierigsten Situationen und auf lange Fristen hinaus, daß ihr nichts weniger innewohne, als das billige Wohlgefallen am Zwiste der anderen untereinander: sie schaute vielmehr mit starkem Verantwortungsgefühl über diese Zwistigkeiten hinweg und sah in ihnen nur eine Ermutigung, auf dem geraden Wege weiterzugehen.

Die deutsch-englische Spannung war durch die höher gehenden Wogen des englisch-russischen Weltgegensatzes überdeckt worden: sie erschien nur noch als eine Episode, die beruhigt in sich selber ablief. Schon aber hatte in der Staatengesellschaft, insbesondere in dem Verhältnis der beiden Westmächte zum Deutschen Reiche, eine Wandlung von Grund aus begonnen sich anzukündigen.

Den ersten Stoß brachte ein Umschwung in Frankreich. Am 30. März wurde Jules Ferry, das Ministerium der Entspannung mit Deutschland, gestürzt. Den äußeren Anlaß des Sturzes gab eine im ersten Schreck überschätzte Niederlage der französischen Truppen in Hinterindien gegenüber den Chinesen; während die leitenden Männer in Paris eine deutsche Intervention in China zugunsten Frankreichs erbaten52 - gleichsam eine Steigerung der Vertraulichkeiten in der Welt -, waren ihre Gegner sofort entschlossen, diesen Vertraulichkeiten ein Ende zu bereiten; was eine Schlappe der französischen Kolonialpolitik auf einem einzelnen Schauplatz war, erschien als eine allgemeine und grundsätzliche Bloßstellung dieser Politik überhaupt, insbesondere ihres Zusammengehens mit Deutschland. Das innerste Motiv des Sturzes von Ferry war die Verurteilung seines Verhältnisses zu dem deutschen Nachbar. Während des ganzen Winters schon hatte die Opposition den Ministerpräsidenten angeklagt, daß er in die Vasallität Bismarcks geraten sei und um eines kolonialen Linsengerichtes willen die Zukunft Elsaß-Lothringens verrate, jetzt bot ihr ein flüchtiger Anlaß die Handhabe, "den Preußen" zu beseitigen. Ein nationalistischer Radikaler wie [281] Clemenceau, der von jeher die englischen Beziehungen gepflegt hatte, setzte sich an die Spitze der Gegner, um Ferry, den Schöpfer der neuen französischen Kolonialmacht, als unwürdig zu brandmarken, "die großen Interessen des Vaterlandes zu diskutieren". Jeder verstand diese Sprache: es war der Geist der Revanche, der über die weltpolitische Möglichkeit, zu einem dauernden Frieden mit Deutschland zu kommen, triumphierte.

Natürlich sprang der Wind nicht mit einem Male in die entgegengesetzte Richtung um. Aber Bismarck konnte die Tragweite der Wendung, die fast auf den Tag mit seinem siebzigsten Geburtstage zusammenfiel, nicht verkennen. Schon am 25. Mai kam er zu dem Ergebnis, "daß die Furcht vor den Revanchebewegungen und der Ausbeutung derselben durch die jeweilige Opposition jede Regierung hindern werde, feste Anlehnung an Deutschland zu nehmen." Da die gereizte Politik des verschmähten Liebhabers nicht seine Sache war, so begnügte er sich mit der sachlichen Schlußfolgerung: "Eine vorübergehende Anlehnung ist deshalb von uns noch nicht zu verschmähen, aber wir können keine politischen Häuser darauf bauen; das Mißtrauen gegen uns wird im entscheidenden Augenblick immer noch größer sein als der Ärger über England. Aus diesem Grunde müssen wir uns fortgesetzt enthalten, die Spitze gegen England zu nehmen und französischer zu sein als die Franzosen." Unter diesem Zeichen wird immer mehr die Abwicklung der deutsch-englischen kolonialen Schwierigkeiten stehen. Schon in den nächsten Monaten mußte man erleben, daß angesichts der bevorstehenden Neuwahlen zur Deputiertenkammer der chauvinistische Geist weiter um sich griff; als die französische Presse die Verlegung von Kavallerieregimentern an die deutsch-französische Grenze verlangte, hielt Bismarck es doch für angezeigt, einen kalten Wasserstrahl in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung vom 3. August nach Paris zu senden; der Artikel suchte von den "turbulenten Minoritäten à la Déroulède" an die friedliebende Mehrheit der französischen Nation zu appellieren und verband damit die kühle Feststellung, daß die deutsche Politik der Versöhnung gescheitert sei. Als sich dann während der vorübergehenden Spannung zwischen Deutschland und Spanien (aus Anlaß der Karolinenfrage) herausstellte, daß die französische öffentliche Meinung, auch auf überseeischen Schauplätzen gegen Deutschland Partei nehmend, mit allen Kräften den Streit zu schüren sich vorsetzte, zog der Kanzler unter die bisherige Politik einen entschlossenen Strich: "Fünfzehn Jahre freundlichen Entgegenkommens auf jedem Gebiete der Politik, mit alleiniger Ausnahme des Elsaß", so hieß es in einem Erlasse vom 21. September 1885, "haben hierin eine Wandlung oder Ermäßigung nicht bewirken können. Das Mißtrauen, womit die französische Bevölkerung unser langjähriges Entgegenkommen aufgenommen hat, ihre nicht bloß im Geheimen günstige Haltung gegenüber der Patriotenliga, der Terrorismus, den letztere auf die öffentliche Meinung ausübt, die Fortdauer agitatorischer Einwirkungen auf die Bevölkerung der Reichslande, das sind Momente, die wir nicht [282] unberücksichtigt lassen können."53 Die Episode der deutsch-französischen Entspannung von 1884/85, die einen breiten Weg zum Weltfrieden hätte eröffnen können, war endgültig abgelaufen, um bis zu dem Weltkriege hin sich nicht zu erneuern. Sie schlug unvermittelt, wie schon das nächste Jahr lehren wird, in den schärfsten Gegensatz um und wird einem Nationalismus Platz machen, der nur ein Gebot kannte.

Das dynamische Gesetz, das die Beziehungen innerhalb der Staatengesellschaft regiert, brachte es mit sich, daß während der Sommermonate, in denen dieser Umschwung sich vorbereitete, der entgegengesetzte Umschwung in den Beziehungen zwischen Deutschland und England einsetzte. Die Regierung Gladstones, durch vielerlei auswärtiges Mißgeschick in ihrem Ansehen erschüttert, nahm eine am 8. Juni 1885 durch Tories und Irländer erlittene Niederlage im Unterhause zum Anlaß des Rücktritts, und so ging die Staatsleitung, obgleich die Tories nicht über die Mehrheit verfügten, an Lord Salisbury über - an den Staatsmann, der sechs Jahre zuvor den Abschluß des deutsch-österreichischen Bündnisses als eine "frohe Botschaft" begrüßt hatte. Er machte gleich bei Antritt seines Amtes kein Hehl daraus, daß er die unglückliche Politik der Liberalen in den Beziehungen zu Deutschland zu verlassen gedenke; der tatkräftige Lord Randolph Churchill, der als Sekretär für Indien in das Kabinett eingetreten war, suchte ihn durch seinen Einfluß noch stärker auf die andere Seite zu drängen. So nahm er gleich den ersten Empfang der Botschafter am 26. Juni wahr, um dem Grafen Münster ein gutes Verhältnis mit Deutschland als leitenden Grundsatz der konservativen Partei zu bezeichnen. Als Bismarck die Erklärung mit Dank aufnahm, da auch nach seiner Auffassung solches Einvernehmen dem Interesse beider Staaten entspreche, und er sich gern der Zeiten erinnere, da er mit Salisbury in freundschaftlicher Beziehung gestanden habe, ging der englische Premierminister noch einen Schritt weiter. Er ließ dem Kanzler seine Ansichten über die Zukunft der englischen Politik vertraulich aussprechen und wiederholte auch in einem Privatbriefe den Wunsch, das gute Einvernehmen wiederherzustellen, das in der neueren Zeit leicht umwölkt gewesen sei. In seiner Antwort vom 8. Juli beteuerte wiederum Bismarck seine feste Überzeugung, daß die traditionellen freundlichen Beziehungen zwischen den beiden Dynastien und den beiden Nationen genügende Sicherheit gäben, jede vorhandene oder aufsteigende Frage in einem versöhnlichen Sinne zu begleichen; die Kolonialfragen seien zu seiner großen Genugtuung fast ganz erledigt und der Endabschluß vor der Tür.54 Es [283] war von beiden Seiten eine auch in das Persönliche übertragene Absage an den Geist der Rivalität und Verstimmung, der in den letzten Jahren zwischen London und Berlin geherrscht hatte. Daß diese Rückkehr zu einem früheren Einvernehmen in Paris nur mit gemischten Gefühlen aufgenommen wurde und die längst wieder im Ansteigen begriffene Revancheneigung verstärken mußte, liegt auf der Hand.

"Zwischen den beiden Dynastien und den beiden Nationen" - so hatte Bismarck sich in dem Schreiben an Salisbury ausgedrückt. Mit gutem Grunde. Denn allerdings schien der Augenblick sich zu nähern, wo diese dynastischen Beziehungen, die so lange in dem Schatten zukünftiger Möglichkeiten gelegen hatten, aus der zweiten Linie heraustreten und eine höhere Bedeutung gewinnen konnten. Es schien, als ob das lange Herrscherdasein des greisen Kaisers sich seinem Ende zuneige. Schon bei der Thronrede zur Eröffnung des Reichstages im Oktober 1884 hatte er nur mit Mühe die körperliche Hemmung überwinden können; seit Anfang des Jahres 1885 wiederholten sich Ermattungsanfälle in besorgniserregender Weise, und im Laufe des Mai 1885 konnte sich der Kaiser nur langsam von den ihn häufig heimsuchenden Anfällen seines Blasenleidens erholen. Als er dann im Juni zu seiner Wiederherstellung nach Ems übergesiedelt war, erlitt er einen schweren Ohnmachtsanfall, der zu ernster Beunruhigung Anlaß gab: man mußte fortan jeden Augenblick damit rechnen, daß das Leben des achtundachtzigjährigen Greises zu Ende gehe. Diese plötzlich auftauchende Möglichkeit stellte den Kronprinzen Friedrich Wilhelm und den Reichskanzler vor schwerwiegende politische Entscheidungen, vor das Problem einer grundsätzlichen Verständigung über ihre Zusammenarbeit. Am 7. Juli 1885 sprachen die beiden Männer, die schon in der nächsten Stunde aufeinander angewiesen sein konnten, sich eingehend über die Zukunft des Reiches aus - ein flüchtiges Nachbild jener ersten Besprechung, die der Gesandte von Bismarck ein Menschenalter zuvor mit König Wilhelm im Parke von Babelsberg gepflogen. Die Einigung war vollkommen. Der Kronprinz erklärte dem Kanzler "in sehr gnädiger Form und mit rückhaltlosem Vertrauen", daß er die Zusammenarbeit wolle, und dieser antwortete, daß er seinem König, nach seiner Denkungsweise, noch den letzten Rest, der ihm an Arbeitskraft bleibe, nicht versagen könne, wenn er seiner Dienste zu bedürfen glaube und sie von ihm verlange, ohne ihm Handlungen zuzumuten, die dem Lande, der Dynastie oder seiner Ehre schädlich seien.55 Es war am nächsten Tage, daß Bismarck jene Antwort an Salisbury [284] schrieb, die neben der Freundschaft der Nationen auch von der Freundschaft der Dynastien sprach - wie denn auch die vorgehende Annäherung der englischen Seite durch Nachrichten von der Möglichkeit eines Thronwechsels beschleunigt oder vertieft worden sein mag. Genug, die zu Anfang Juli sichtbare deutsch-englische Freundschaftserneuerung stand dieses Mal unter einem besonderen Zeichen.

Mit diesen Möglichkeiten mußte auch die eingeweihte politische Welt im Sommer 1885 rechnen. Wie viele Fragen schloß doch der deutsche Thronwechsel in sich! Würde die Persönlichkeit eines neuen Kaisers und seiner englischen Gemahlin, die so oft ihre Neigungen und Hoffnungen hatten unterdrücken müssen, nicht doch einen stärkeren Einfluß auf die deutsche Außenpolitik, insbesondere auf das Verhältnis zu England hier und Rußland dort ausüben, so wie es in London herbeigewünscht und in Petersburg befürchtet wurde? Würde die Alleinherrschaft Bismarcks, die soeben wieder alle Krisen siegreich durchschritten hatte, sich in der großen Politik auch fortan ungeschwächt behaupten? Welche Erwartungen immer sich mit dem Wechsel verbanden, welche Sicherheit immer Bismarck für seinen Kurs zu gewinnen glaubte, irgendwie konnten gerade an derjenigen Stelle des Weltzusammenhanges, an der seit langem das höchste Maß von Beständigkeit und Kraft gewaltet hatte, fortan die Dinge in Bewegung kommen.

Die Engländer glaubten mit der neuen Ära schon rechnen zu dürfen. Als der jüngere Sohn Bismarcks im Laufe des August, gleichsam als ein persönlicher Horchposten des Kanzlers, nach London entsandt wurde, bekam er von dem aktivistischen Lord Randolph Churchill eine ganz ungewohnte Tonart zu hören: kriegerische Entschlossenheit in dem noch keineswegs gelösten englisch-russischen Konflikt wegen Afghanistan, und heißes Bemühen, die deutsche Bundesgenossenschaft in die antirussische Weltfront Englands hineinzuwerfen. Die englischen Phantasien kreisten, über Konstantinopel und Ägypten hinausreichend, jetzt um die Verteidigung Indiens in Afghanistan: hier in Mittelasien sollte auch Deutschland, vermöge einer englisch-deutschen Garantie Persiens, mit deutscher Vorhand in der wirtschaftlichen Erschließung des Landes, ein angemessener Kampfpreis geboten werden! Diese Ideen, unverbindlich hingeworfen von einem jüngeren stürmischen Kabinettsmitgliede, wogen um so weniger schwer, als das Torykabinett, wie der Engländer selbst gestand, auf sehr unsicherem Grunde ruhte; und wenn er auch dem deutschen Botschafter zurief: "Zusammen würden wir beide die Welt regieren können, aber Ihr habt ja nicht gewollt", so blieb Bismarck solchen Weltherrschaftsteilungen gegenüber, die er auch von russischer und sogar von französischer Seite kannte, sehr kühl: "reicht nicht" lautete die knappe Randbemerkung.56

[285] Wie wenig die Kolonialpolitik Bismarcks, bei allem ihrem Ausgreifen, die Grenzen verkannte, an die sie durch den Weltfrieden und die Gesamtlage gebunden war, sollte eben in diesen Wochen, in der wie ein plötzliches Gewitter am heiteren Himmel losbrechenden Episode des Streites mit Spanien vor aller Welt erwiesen werden. In der deutsch-englischen Südseevereinbarung vom April 1885 war auch das Gebiet der Karolinen und benachbarten Inseln als deutsche Interessensphäre anerkannt worden; schon vor Jahren waren von Spanien erhobene Ansprüche auf die Karolinen auf einen englischen und einen deutschen Protest gestoßen, und Spanien konnte, wenn es sich nicht auf die Bulle Papst Alexanders VI. und ihre Weltteilung zwischen Spanien und Portugal berufen wollte, nur sehr zweifelhafte Akte tatsächlicher Hoheitsübung hier geltend machen. Die Reichsregierung hatte die Absicht der Besetzung in Madrid mitgeteilt und die Flaggenhissung im Laufe des August vorgenommen. Wenn schon die erste Mitteilung eine Erregung in Spanien hervorrief, die weder zu dem Wert des Objektes noch zu den spanischen Interessen in einem rechten Verhältnis stand, so führte die vollzogene Tatsache am 4. September 1885 zu schweren Ausschreitungen gegen die deutsche Gesandtschaft und zu einer hochgradigen Spannung, die jeden Augenblick in eine wirkliche Kriegsgefahr oder in eine Erschütterung des spanischen Thrones ausmünden konnte. Beides aber war Bismarck entschlossen zu vermeiden. Vom ersten Augenblick an war er, obgleich sich der "schönste Kriegsgrund" dargeboten hätte, zu einem versöhnlichen Ausgang vermöge eines Schiedsgerichtes, d. h. bei der verwickelten, wenn auch nicht ungünstigen Rechtslage, zur Nachgiebigkeit bereit. Auf einem Wege, den nur er wagen durfte. Da es durch Zufall bekannt wurde, daß ein Wortführer der katholischen Partei in Spanien stolz erklärt hatte, sie würde als Schiedsrichter nur einen Nachfolger Alexanders VI. anerkennen können, so griff der Reichskanzler mit der blitzschnellen Intuition des Genius zu dem damals die ganze Welt überraschenden Ausweg, seinerseits den Papst Leo XIII. als Schiedsrichter in Vorschlag zu bringen. Nachdem Spanien zugestimmt hatte, übernahm der Papst mit hoher Freude die "dem Geiste und dem Wesen des Papsttums" so gemäße Aufgabe. Was außenpolitisch eine rasche Lösung des Konflikts brachte, war zugleich ein verblüffender innerpolitischer Schachzug Bismarcks, der den Papst, in der endlichen Befriedung des kirchenpolitischen Streites, vollends auf den Weg der Versöhnung hinüberführte und der Zentrumspartei eine niemals erwartete Bundesgenossenschaft gegenüberstellte. Die salomonische Entscheidung der Kurie sprach zwar, wie zu erwarten gewesen, Spanien die Karolinen und die Palauinseln zu, aber den Deutschen alle wünschbaren Schiffahrts- und Handelsrechte, einschließlich des Rechtes einer Marinestation. Bismarck aber hatte der Welt gezeigt, daß das kunstvolle System der europäischen Friedenspolitik ihm wertvoller war als alle "Korallen der Südsee", und daß die stärkste Macht am ehesten einem Schwächeren nachgeben könne: nachdem sie der englischen Weltmacht in langwierigem diplo- [286] matischen Kampfe den Eintritt in die Kolonialpolitik abgerungen hatte, durfte sie es auf sich nehmen, vor einem Gegner zurückzuweichen, der selber für eine Nachgiebigkeit zu schwach war.

Gerade in dem Augenblicke der höchsten spanischen Erregung sollte es in dem sprunghaft-dramatischen Ablauf der Dinge, der dieses Jahr beherrschte, sich ereignen, daß dieses letzten Endes ungefährliche Feuerwerk durch den Ausbruch eines wirklichen Brandherdes in Europa abgelöst wurde. Während vielerorten die Dinge noch in einer gewissen Schwebe verharrten, entschloß man sich an einer Stelle zu handeln, im Orient, in dem das verantwortungslose Vorgehen einzelner am leichtesten die allgemeine Ordnung verwirren und mit einem geringen Aufwand von Verschwörerkünsten ganz Europa zu erschüttern vermochte. Unmittelbar nachdem der Kaiser Alexander III. und Franz Joseph eine Zusammenkunft in Kremsier gehabt hatten, brach am 17. September 1885 eine längst vorbereitete und von mehr als einer Seite geförderte Revolution in Ostrumelien aus, die eine Vereinigung Ostrumeliens mit Bulgarien verkündigte und den Fürsten Alexander nötigte, sich an ihre Spitze zu stellen. Damit war das mühsam auf dem Berliner Kongreß geschaffene Werk der großen Mächte zerstört und die Orientfrage eröffnet, so wenig sich auch im ersten Augenblick die Verteilung der Rollen und die Gruppierung der Parteien vorhersagen ließ. Am 20. September 1885 rief die Türkei bereits die Intervention der Großmächte an: statt Afrika und Asien beherrschte fortan wieder der nahe Orient die Geschicke. Als die Nachricht von der Revolution nach Petersburg gelangte, schrieb General von Schweinitz in sein Tagebuch: "Dies ist die größte Nachricht, welche ich seit dem Jahre 1870 erhalten habe". Und allerdings, der Einschnitt, den die Ereignisse in der europäischen Geschichte machten, war tief und von Dauer. Eine neue Epoche, von höchster Spannung erfüllt, setzt ein - ihre Kämpfe werden die letzten und schwersten Jahre der Staatsleitung Bismarcks erfüllen.


35 [1/269]Buckle, Letters of Queen Victoria, 3, 524 f. ...zurück...

36 [1/270]M. v. Hagen, a. a. O., S. 445. ...zurück...

37 [2/270]Granville, 30. September 1884. Fitzmaurice, a. a. O., 2, 371 f. ...zurück...

38 [3/270]Gladstone an Königin Victoria, 5. Januar 1885, Buckle, a. a. O., 3, 591. ...zurück...

39 [1/271]Karl Peters, Die Gründung von Deutsch-Ostafrika (1906). Dazu unentbehrlich: Graf Pfeil, Zur Erwerbung von Deutsch-Ostafrika (1907). ...zurück...

40 [2/271]Schweinitz, a. a. O., 2, 291. ...zurück...

41 [1/273]Die Initiative ging nicht von Bismarck, bzw. von Münster, aus, wie Fitzmaurice, a. a. O., 2, 425 (danach auch M. v. Hagen) das an Gladstone gerichtete Memorandum Granvilles falsch interpretiert. Es lag für Bismarck kein Grund vor, die grundsätzliche Haltung vom Mai (zumal nach der Parlamentsdebatte!) aufzugeben und sich einem zweiten Korbe auszusetzen. Seine Erlasse vom 24./25. Januar lassen für einen solchen Schritt weder vorher noch nachher Raum. Wie ich nachträglich sehe, hat schon H. Rothfels, Englische Bündnispolitik Bismarcks, S. 86, den richtigen Tatbestand erkannt. ...zurück...

42 [2/273]In den Akten findet sich keine Spur davon. Eine private Benachrichtigung bleibt nicht ausgeschlossen. Wahrscheinlicher ist, daß Münster fürchtete, mit der Mitteilung dieses Angebots noch mehr zu verderben, und darüber schwieg. ...zurück...

43 [1/274]Aus der Konfrontation der deutschen und der englischen Akten (Fitzmaurice, a. a. O., 2, 376) läßt sich kein ganz eindeutiges Bild gewinnen. ...zurück...

44 [1/275]Zu dem Schreiben Gladstones an Königin Victoria vom 28. 2. 1882 (Buckle a. a. O. 3, 615), in dem von einer Note Bismarcks, die nicht weniger als drohend genannt werden könne, und einem englischen Antwortentwurf die Rede ist, sei bemerkt, daß beide Aktenstücke nicht bekannt sind. Es ist nicht unmöglich, daß man in den nächsten Tagen, anläßlich der Mission Herbert Bismarcks, mit dem laufenden Papierkrieg großzügig aufgeräumt und vielleicht ergangene Aktenstücke als nicht vorhanden behandelt hat. ...zurück...

45 [2/275]Er gab die Aufzeichnung seines Sohnes Herbert vom September 1882 (s. o. S. 248 f.), den englischen Text während der Rede übersetzend, zum größten Teile wieder. ...zurück...

46 [1/276]Über die Bedeutung dieser Konzessionen, die für die Situation der Burenstaaten sehr wichtig waren, vgl. Joh. Andreas Wüd, Die Rolle der Burenrepubliken, a. a. O., S. 37 - 74. Die deutsche Politik ließ damals die Burenkarte, die sie eine Zeitlang hatte ergreifen wollen, wieder fallen. Vgl. Bismarcks Gespräch mit dem Transvaalfarmer Adolf Schiel. Gesammelte Werke 8, 515. ...zurück...

47 [2/276]Gladstone an Königin Victoria, 12./13. März 1883, Buckle, Letters of Queen Victoria, 3, 625 f. ...zurück...

48 [1/277]H. v. Poschinger, Bismarck und die Parlamentarier, 3, 163. ...zurück...

49 [1/278]Fitzmaurice, Granville 2, 431. ...zurück...

50 [1/279]Radowitz, Aufzeichnungen und Erinnerungen 2, 246. ...zurück...

51 [1/280]Große Politik 4, 125 f. ...zurück...

52 [2/280]Ebenda 3, 699 f., 13, 53 f. ...zurück...

53 [1/282]Bismarck an Hohenlohe, 21. September 1885. Gr. Pol. 3, 452. Vgl. auch die Äußerungen zu Lucius am 6. Oktober 1885. Bismarck-Erinn. S. 319. ...zurück...

54 [2/282]Daß in verkleinertem Umfange sich auch jetzt noch Beschwerden auf deutscher Seite (in Sansibar und Samoa) und kolonialbritischer Widerstand fortsetzten, sei hier übergangen, weil es den Gesamtverlauf der Politik nicht mehr beeinflußt. Das koloniale Interesse begann von diesem Augenblick an für Bismarck in die zweite Linie zu rücken. ...zurück...

55 [1/283]Vgl. General von Albedyll an Bismarck, 7. Juli 1885, Bismarck an Albedyll, 16. Juli 1885 (Anhang zu Ged. u. Er. 2, 540 ff.), ferner Waldersee I., 261, 266. Die Verständigung setzte sich im Laufe des Jahres fort. Aus dem November 1883 liegt das Zeugnis des Kronprinzen vor, er habe wieder gefunden, wie seit den Tagen von Nikolsburg, daß er sich in allen großen Fragen in vollem Einvernehmen mit dem Fürsten befinde. Sie hätten sich gegenseitig die Worte aus dem Munde genommen (Lucius, Bismarck-Erinnerungen, S. 324). ...zurück...

56 [1/284]Graf Wilhelm Bismarck an Bismarck, 19. August 1885. Graf Hatzfeldt an Bismarck, 5. Dezember 1882 ("À nous deux nous pourrions gouverner le monde. Mais vous n'avez pas voulu.") Gr. Pol. IV, 134 ff., 138 ff. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte