Bd. 9: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Erster Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 2: Das Deutsche Reich
unter der Staatsleitung Bismarcks 1871 - 1890 (Forts.)
4. Ausdehnung des politischen
Horizontes über See 1883 - 1885. (Forts.)
Die Beziehungen der deutschen und englischen Politik waren bisher diejenigen
zweier Großmächte gewesen, deren Interessenbereiche sich
unmittelbar gar nicht berührten. Erst seit Beginn der deutschen kolonialen
Bemühungen begannen die beiden Kreise einander zu schneiden. Wenn die
erste Episode dieser Auseinandersetzung einen nichts weniger als glatten Verlauf
nahm, sondern durch eine Reihe von Spannungen, von
Mißverständnissen und Vorwürfen auf beiden Seiten
gestört wurde, so hat daran die in der Sache nicht begründete und auf
den ersten Blick kaum erklärbare Art der englischen
Geschäftsführung einen ganz überwiegenden Anteil gehabt.
Der Grundfehler der englischen Politik im Anfang war, daß sie an den Ernst
der kolonialen Pläne Bismarcks nicht glauben wollte, sondern sich durch
ihren Berliner Botschafter bis in den Mai 1884 in der Meinung erhalten ließ,
daß er eigentlich ein heftiger Gegner der Kolonialpolitik sei, der nur durch
chauvinistische Schlagworte genötigt werde, wider bessere Meinung der
Kolonialmanie nachzugeben, um dann allerdings eine unausgebeutete Mine der
Popularität in ihr zu entdecken. Ein weiteres schweres Hindernis der
geschäftlichen Verständigung war das unverbundene Nebeneinander
des englischen Auswärtigen Amtes und des englischen Kolonialamtes.
Dieses stand unter dem Einfluß eines [256] kolonialen
Chauvinismus, der sowohl in Südafrika als auch in Australien keine
deutsche Nachbarschaft in Gebieten wünschte, die man zwar noch nicht
rechtsgültig und tatsächlich besetzt hatte, aber mit der naiven
Selbstverständlichkeit der alten Kolonialmacht als der künftigen
Okkupation verfallen ansah. Der eigentliche Kampf wurde von deutscher Seite
weniger ausgefochten mit der Leitung der Außenpolitik, die nichts weniger
als imperialistisch, eher noch in der liberalen Doktrin kolonialer Enthaltsamkeit
befangen war, als mit dem robusten Nationalismus der Kolonialengländer,
die von Kapstadt aus, wie Bismarck bald erkannte, eine afrikanische
Monroedoktrin, und bald darauf von Sidney und Melbourne aus eine australische
Monroedoktrin zu verkünden sich anmaßten. Diese Gesinnungen
wurden nicht nur im Kolonialamt gepflegt, sondern griffen auch auf die Londoner
Presse derartig über, daß es bald aus dem Walde der deutschen Presse
ebenso laut zurückschallte. Außenamt und Kolonialamt schoben sich
wechselseitig die Kompetenzen zu, bis Bismarck die doppelte Buchführung
mit getrennten Konten nachdrücklich ablehnte. Dabei verkannte man in
London viel zu lange, daß diese Fragen nicht von der Kolonialperspektive
aus, sondern nur im Rahmen der allgemeinen Großmachtspolitik und der
englischen Weltinteressen entschieden werden konnten. Der Mangel an jeder
politischen Einstellung größeren Stils machte die unklare und
schleppende Geschäftsführung Lord Granvilles für Bismarck
fast unverständlich; daß sie über alle Maßen ungeschickt
gewesen sei, wird von angesehenen liberalen Kabinettsmitgliedern
übereinstimmend zugestanden.18 So
geschah es, daß es immer wieder zu Ärgernissen kam, die mit dem
sachlichen Gewicht des Gegenstandes nicht verbunden, sondern durchaus zu
vermeiden waren, auch von Bismarck kaum in diesem Umfange hatten
vorausgesehen werden können.
Schon das erste Vorspiel stand nicht
unter einem glücklichen Stern. Am 1.
Mai und dann am 25. August 1883 hatte ein Agent des Bremer Tabakkaufmanns F. A. E. Lüderitz,
der schon in den früheren
kolonialen Bestrebungen sich mehrfach bemerkbar gemacht hatte, von einem
Häuptlinge in Angra Pequeña in Südwestafrika ein
zunächst kleines, später durch gleichartige Verträge wesentlich
vergrößertes Gebiet auf die übliche Weise gekauft. Bereits
vorher hatte die Reichsregierung angesichts der undurchsichtigen Rechtslage in
London vorsichtig sondiert, ob England in diesen Gegenden Schutz
gewähren könne, aber die ausweichende Antwort erhalten, ohne
genaue Angaben sei eine Entscheidung nicht möglich: man mochte daraus
entnehmen, daß die Engländer einen eindeutigen Rechtsanspruch
nicht besaßen. Nach geschlossenem Kaufe ließ die Reichsregierung
am 10. September 1883 mündlich und nichtamtlich, dann von neuem am
12. November formell anfragen, ob England für die bezeichneten Gebiete
die [257]
Suzeränität beanspruche oder nicht. Die Antwort besagte nunmehr,
die Suzeränität werde nicht längs der ganzen Küste,
sondern nur an bestimmten
Punkten - wie der Walfischbai und den "Inseln" (!) von Angra
Pequeña - beansprucht, man sei aber der Ansicht, daß
irgendwelche Souveränitäts- oder Jurisdiktionsansprüche einer
fremden Macht auf jenes Gebiet in die eigenen legitimen Rechte eingreifen
würden. Eine eigene territoriale Besitzergreifung hielt man in
London - wegen des angenommenen geringen Wertes des
Objektes - für noch nicht angezeigt, wohl aber behielt man sie sich
mit einer Formel, die einer afrikanischen Monroedoktrin gleichkam, für
später vor. Darauf wurde Bismarck deutlicher. Er stellte in einer Note vom
31. Dezember 1883 die amtliche Anfrage in London, auf welche Rechtstitel sich
der von ihm bezweifelte Anspruch Großbritanniens gründe und
welche Einrichtungen es dort besitze, um den Rechtsschutz, den Deutschland
seinen kolonisierenden Untertanen schulde, seinerseits entbehrlich zu machen; er
berief sich dabei auf frühere Fälle, in denen man
übereingekommen sei, daß nur effektive Okkupation und faktisch
ausgeübte Souveränität einen Anspruch auf Anerkennung
begründeten. Die Absicht Bismarcks, der mit der Note auch eine
Erneuerung schwebender Reklamationen in einer Streitfrage in Fidji verband, war
unverkennbar, auf diese Fragen eine formelle Anerkennung zu erhalten, daß
der Landstreifen im europäischen Sinne res nullius sei, eine positive
Erklärung, daß England bis zu diesem Augenblick keinen Anspruch
oder kein Anrecht dort habe. Die englischen Staatsmänner aber, die in der
Vorstellung von einer ihnen zustehenden Einflußsphäre und in der
Abneigung gegen unerwünschte Nachbarschaft lebten, hörten nur
den Wunsch nach effektivem Schutz für deutsche Kolonisten in diesen
unbekannten Gegenden heraus, praktisch also die Frage, ob England noch mehr
als die Walfischbai dort zu annektieren wünsche. So traten sie einstweilen
in gemächliche Verhandlungen mit der Kapregierung und legten ihr unter
der Hand nahe, ob man nicht die Kontrolle über Angra Pequeña
übernehmen wolle, da man sonst den deutschen Ansprüchen nicht
widersprechen könne. Auf diese Weise sollte es bis in den Mai 1884
dauern, daß eine Antwort von Kapstadt erging. So wurde von
englisch-kapländischer Seite die Verhandlung in ihrem Anfangsstadium in
einer Weise hingezogen, die der selbstherrlichen Tradition der alten
Kolonialmacht nicht fremd war, aber sich im Ernstfalle gegen den Vorwurf einer
zweideutigen und berechneten Verschleppung schwer verteidigen ließ.
Aber in diesen Monaten verschob sich die Stellung der Gestirne am politischen
Himmel. Die afrikanische Kolonisationsfrage als Ganzes wurde plötzlich
dadurch in den Vordergrund gerückt, daß am 13. März 1884
Frankreich gegen den anglo-portugiesischen Vertrag Protest einlegte, durch
dessen Bestimmungen das Unternehmen König Leopolds von Belgien im
Kongogebiet praktisch lahmgelegt und statt dessen das Englischwerden Afrikas
gesichert zu werden drohte. Auch wenn diese weiteren Perspektiven damals noch
im Dunkeln lagen, so über- [258] wog doch der
Eindruck, daß es sich in diesen Zukunftsfragen um Entscheidungen von
großer Tragweite handele. Für die deutsche Reichsregierung erhob
sich nicht nur die Frage, ob sie sich an dem französischen Proteste
beteiligen solle, sondern für den Fall, daß sie hier aus ihrer
Zurückhaltung heraustrat, ob sie dann nicht recht daran täte, selber in
die afrikanische Arena mit einem eigenen Kampfziele hinabzusteigen. Sie
entschloß sich im Laufe des Monats April, gegenüber der englischen
Verschleppung auf eigene Faust vorzugehen.
Ein Vorspiel, vielleicht bestimmt, die allgemeine Atmosphäre zu
klären, war eine nach London gerichtete Note vom 4. April, in der die
immer noch schwebenden Reklamationen in der Fidjifrage wiederholt wurden,
jetzt aber mit einem politischen Unterton; nach einem mehrjährigen
Entgegenkommen in der ägyptischen Frage, in der England stets der
empfangende Teil gewesen sei, habe man in einer zweifellosen Rechtsfrage eine
andere als die bisherige unfreundliche Haltung erwarten dürfen.
Unmittelbar darauf lassen die Randbemerkungen Bismarcks zu einer Denkschrift
des Herrn von Kusserow über das Lüderitzunternehmen vom 8. April
zum erstenmal einen tieferen persönlichen Anteil erkennen: "Jetzt werden
wir handeln", antwortete er demjenigen seiner Räte, der vor allem die
kolonialen Interessen vertreten hatte.19 Dieser
Entschluß spielt ohne Zweifel in dem Anteil mit, den die Reichsregierung
gleich darauf an dem Kongounternehmen König Leopolds von Belgien
nahm; am 18. April schloß sie sich dem Proteste an, der einige Wochen
vorher von seiten Frankreichs gegen den
anglo-portugiesischen Vertrag eingelegt worden war. Es schien Bismarck
wünschenswert, daß weder England, noch Frankreich, noch Portugal
sich im Herzen Afrikas festsetzten; aus einer Unterredung mit dem
Afrikareisenden Rohlfs scheint hervorzugehen, daß er sich in den
nächsten Wochen (bevor er von dem Vorkaufsrechte Frankreichs
wußte) selbst mit dem Gedanken trug, das Deutsche Reich in die
Internationale Gesellschaft einzuschieben.20 Gleich
darauf trat er auf dem bescheidenen Schauplatze, auf dem das deutsche Vorgehen
eigene Ansprüche erhoben hatte, handelnd hervor. Am 24. April 1884
wurde der deutsche Konsul in Kapstadt benachrichtigt, daß das Deutsche
Reich das Lüderitzgebiet in Südwestafrika unter seinen Schutz
gestellt habe. Damit war der amtliche Eintritt in die Kolonialpolitik in aller Form
vollzogen: so geringfügig und unbekannt zunächst auch das
südwestafrikanische Objekt erschien, der erste Ansatz zu einer
weitausschauenden Wendung in der Außenpolitik überhaupt.
Um so bemerkenswerter ist es, daß Bismarck sein Vorgehen auf dem
unerprobten Boden der Kolonialpolitik schon in dieser ersten Minute mit einer
ganz anderen Angelegenheit verknüpfte. Schon bald nach der
Reichsgründung war die Erwerbung von Helgoland, dieser einst
schleswig-holsteinischen Insel, die im [259] 18. Jahrhundert
an Dänemark gefallen, dann aber von den Engländern im Kampf
gegen die napoleonische Kontinentalsperre den Dänen entrissen und in
ihrer Hand verblieben war, in unverbindlicher Weise zwischen Deutschland und
England besprochen worden. Damals ließ man die Frage wegen
Prestigebedenken der englischen Admiralität wieder fallen.21 Sie tauchte in ernsthafterer Form erst
wieder auf, als der Plan des Baues eines Nordostseekanals festere Gestalt gewann.
Der Staatssekretär des Reichsmarineamtes, General von Caprivi, regte bei
der Beratung des Planes im Staatsministerium im Mai 1884 an, der Erwerbung
Helgolands als einer notwendigen Deckung für den künftigen Kanal
näherzutreten.22
Diesen Anlaß griff Bismarck auf, um am 5. Mai 1884 - zehn Tage nach der
Erklärung des Protektorats über Angra
Pequeña - in London eine Sondierung wegen der Geneigtheit
Englands zur Abtretung Helgolands einzuleiten. Ein Erlaß an den Grafen
Münster ging von der Betrachtung aus, daß Helgoland im englischem
Besitz nichts weiter als ein Stützpunkt für Angriffe auf die
Elbmündung sei, im deutschen Besitz dagegen zu einem Sicherheitshafen
ausgebaut werden könne, der auch im Interesse der englischen Schiffahrt
liege. Ein vertragsmäßiges Abkommen, durch das die Insel
Deutschland überlassen würde, werde auf die öffentliche
Meinung Deutschlands einen sehr günstigen Eindruck machen und die
freundschaftliche Begünstigung der englischen Politik sehr erleichtern:
"Unsere Freundschaft kann der englischen Politik von hohem Nutzen sein. Es ist
für dieselbe nicht gleichgültig, ob die Macht des Deutschen Reiches
ihr wohlwollend und förderlich zur Seite stehe oder sich kühl
zurückhalte." Wie die Note vom 4. April schon Kolonialinteressen und
große Politik zu verknüpfen gesucht hatte, so wurde auch hier der
ganze Horizont der großmächtlichen Beziehungen aufgerollt.
Bismarck gab sich den Anschein, als wenn in seiner Anregung mehr ein
Anerbieten als eine Forderung liege: "denn die Unterstützung, die wir
England leisten können und eventuell leisten werden, ist mehr wert als
Helgoland, samt Fidji und Little Popo". Der Botschafter begrüßte die
Anregung (die ihm viel sympathischer war als alle Kolonialwünsche) um so
mehr, als der Kolonialminister Lord Derby ihm im letzten Winter gelegentlich
davon gesprochen hatte, daß über die Abtretung der Insel, wenn
Deutschland sich zum Bau eines Sicherheitshafens verpflichte, sich noch einmal
werde reden lassen. Darauf kam Bismarck auf seinen Plan zurück, indem er
seinem Botschafter ausdrücklich als das Wesen des vorgeschlagenen
Abkommens, das [260] Anerbieten des
deutschen Beistandes in den politischen Geschäften Englands bezeichnete,
"den wir unter der Bedingung leisten würden, daß wir in der
Südsee und in Afrika einschließlich des
englisch-portugiesischen Vertrages klaglos gestellt werden, und daß
England uns durch Abtretung Helgolands in dem Bestreben unterstützt, die
öffentliche Meinung Deutschlands für eine entsprechende Haltung
der deutschen Politik zu gewinnen".23 Der
Kanzler mochte nicht ohne Hoffnung sein.24 Aber die
ganz persönlich und vertraulich angelegte Besprechung zwischen Granville
und Münster am 17. Mai verlief negativ. Der ausgemalten Wirkung
Helgolands auf die deutsche öffentliche Meinung hielt Granville ironisch
entgegen, daß die Abtretung von Gibraltar auch die guten Beziehungen zu
Spanien verstärken würde; vor allem bezweifelte er den geeigneten
Moment, da England in den Verdacht kommen könnte, sich damit die
deutsche Hilfe für andere Angelegenheiten gewinnen zu wollen; das
entscheidende Motiv, Helgoland als Symbol einer praktischen
Interessengemeinschaft, ging ihm überhaupt nicht ein. Man versteht,
daß Bismarck sofort seinem Botschafter die Weisung gab, Helgoland nicht
mehr zu erwähnen. Mit aller Schärfe erläuterte er sich die
Situation: "Die Helgoländer Wünsche sind ohne Rechtsboden, und
würden unsere berechtigten Forderungen in überseeischen
Verhältnissen auf das gleiche Niveau herabdrücken, wenn das Ganze
zur öffentlichen Kontestation käme".25 Damit
war die Helgolandepisode so schleunig geschlossen, wie sie eröffnet
worden war.
Im weiteren Verlauf haben Gladstone und Granville, immer in der Erwartung,
daß man von deutscher Seite auf die Sache zurückkommen
würde, untereinander wohl einmal die Frage aufgeworfen, ob Helgoland
nicht in dem Kern der ganzen Spannung ruhe, und ob es sich nicht am Ende
lohne, mit einem solchen Kaufpreis aus allen ägyptischen Schwierigkeiten
herauszukommen.26 Wenn wir auch nicht das letzte Wort
sprechen können, so drängt sich doch die Vermutung auf, daß
die deutsche Politik vom Mai 1884 sich aller Wahrscheinlichkeit nach mit
Helgoland und einem sehr bescheidenen Kolonialprogramm begnügt haben
würde. Erst nach dem Ausweichen der Engländer in der einen Sache
ging Bismarck energisch, in kräftigerem Tone und mit erweitertem Ziele in
der anderen Sache vor. Während die Helgolandfrage bis zu einer
günstigeren Gelegenheit vertagt wurde, verstattete er von nun an dem
Kolonialprogramm einen breiteren Raum in seiner Gesamtpolitik. Wie man in der
Staatsleitung [261] Bismarcks seit 1862
immer wieder bemerken kann: seine Ziele beruhen nicht auf der Bindung an ein
feststehendes Programm, sondern sie entwickeln sich erst in Berührung mit
den Schwierigkeiten oder auch den Förderungen, die er auf dem Wege zu
seinem Ziele findet. Und für eine Kämpfernatur seines Schlages
waren Schwierigkeiten immer nur ein Antrieb, sie zu überwinden.
Dazu kamen grobe Ungeschicklichkeiten der englischen Regierung, um Bismarck
auf dem Wege der Kolonialpolitik voranzutreiben. Am 19. Mai 1884 sprach sich
der Kolonialsekretär Lord Derby im Oberhause, in Beantwortung einer
Interpellation - ohne auf den ungeklärten Zustand der Rechtsfrage,
ohne auch auf die am 24. April erfolgte deutsche Übernahme von Angra
Pequeña irgendwie Rücksicht zu
nehmen - in einem Sinne aus, als ob England, wenn es auch nicht formell
den Besitz Angra Pequeñas beanspruche, doch das Recht zu haben glaube,
andere Mächte von dem Besitz auszuschließen. Anscheinend ohne
sich mit Granville verständigt zu haben, nahm er in der seit langem
schwebenden Rechtsfrage eindeutig Stellung; und da ihm immer noch die
vollzogene Tatsache fehlte, ließ er, von Granville an die Erledigung der
endlos liegengebliebenen Angelegenheit gemahnt, unter der Hand nach Kapstadt
die Empfehlung gelangen, die Besitzergreifung Angra Pequeña schleunigst
vorzunehmen. Diesem Drängen gab die Kapkolonie nach und
erklärte sich Anfang Juni bereit, den ganzen Küstenstrich zu
übernehmen. Als diese Absicht dem deutschen Konsul in Kapstadt am 3.
Juni mitgeteilt wurde, antwortete Bismarck andern Tags, er sei nicht in der Lage,
eine solche Besitzergreifung anzuerkennen, und bestritte das Recht. Damit war
das Gewebe von Verschleppung und Unehrlichkeit, das sich nur durch die
Rollenverteilung von Außenamt und Kolonialamt hatte ermöglichen
lassen, zerrissen und dem englischen Anspruch auf Einflußsphäre das
deutsche Recht der vollzogenen Okkupation entgegengesetzt. Ein symbolischer
Vorgang sollte in den nächsten Tagen der ganzen Welt zeigen, daß
man es ernst meine. Es war die Behandlung der Burengesandtschaft, die damals
Europa bereiste und gerade in den Tagen vom 7. bis 9. Juni in Berlin weilte: der
feierliche Empfang des Präsidenten Krüger durch den alten Kaiser im
Schlosse war ein Akt, der höchste Courtoisie mit politischen
Möglichkeiten verknüpfte und ungewohnte Stimmungen in der
deutschen öffentlichen Meinung auslöste.27 Man mußte auch in London
allmählich erkennen, daß die Deutschen ihre kolonialen Ziele mit
England oder aber gegen England zu erreichen gewillt seien.
Die Wendung in diesen Wochen war von einer starken Erregung in der deutschen
Presse begleitet, die in England die Besorgnis erweckte, die deutsche Politik
möchte in der ägyptischen Frage von der englischen nach der
französischen Seite hinüberwechseln. Schon am 24. Mai hatte der
Kronprinz, wohl einem Londoner Winke folgend, sich im Auswärtigen
Amte nach den Ursachen der [262] Erregung, insbesondere
nach der deutschen Stellung zu England in der ägyptischen Frage erkundigt.
Auch der Brief, in dem seine Gemahlin, die Kronprinzessin, anderntags ihre
Mutter, die Königin Victoria, zu beruhigen suchte, ist erhalten:28 er spiegelt die Schwierigkeiten wider,
unter denen der Reichskanzler die politische Parität von der englischen
Denkweise zu erkämpfen hatte. Sie beruhigte die Königin über
Bismarcks ägyptische Politik gegenüber England, aber kam auch
nicht auf den Gedanken, die Gegenleistung eines kolonialen Entgegenkommens
von englischer Seite damit zu verbinden. Im Gegenteil, sie verurteilte, nachdem
sie ihrem Kummer über die arrogante Haltung der deutschen Presse
Ausdruck gegeben hatte, die deutsche Kolonialbewegung so scharf, wie es nur der
deutsche Botschafter in London (in der Stille) getan haben könnte: "ihre
Ideen über Kolonien halte ich für sehr töricht und ich kann mir
nicht denken, daß sie Erfolg haben, aber sie sind auf England so
eifersüchtig wie nur möglich". Sie schloß mit der Bitte an die
liebe Mama, sie möge das bewunderungswürdige Buch des
Professors Seeley, Die Ausdehnung Englands, lesen: es sei wundervoll,
staatsmännisch und weitsichtig, klar und gerecht. Für das im Jahre
vorher erschienene Werk, das die Idee des englischen Imperiums, "dieses
größten Experimentes der Weltgeschichte", in der Seele des
englischen Volkes vertiefte und zum Textbuch des Imperialismus werden sollte,
besaß die Fürstin volles Verständnis; nicht aber dafür,
daß der Deutsche, wie der zu spät gekommene Poet im Gedicht, nun
auch an die Tore einer Welt von Macht und Größe zu klopfen wagte.
Nicht nur persönliches Vorurteil, sondern auch die weltanschauliche
Haltung einer ganzen Generation, die durchbrochen werden mußte, war in
diesem fast symbolischen Vorgange erkennbar.
Bismarck war zum Durchbruch entschlossen. In seinem Erlaß an den
Botschafter vom 1. Juni an schlug er einen veränderten Ton an: "Wenn wir
wirklich Absichten hätten, Kolonien einzurichten, wie kann Lord Granville
unser Recht dazu bestreiten, in dem Augenblick, wo die englische Regierung die
Ausübung desselben Rechtes der Kolonialregierung am Kap nach Belieben
anheimstellt. Es liegt in dieser Naivität des Egoismus eine Verletzung
unseres Nationalgefühls." So drohte er, dem Reichstage den ganzen
Schriftwechsel vorzulegen. Die bevorstehenden Verhandlungen würden den
Ernst der Lage klarstellen, denn keine Regierung sei heute stark genug, um
öffentlich den Vorwurf tragen zu können, daß sie die eigenen
nationalen Interessen aus Gefälligkeit für befreundete
auswärtige Mächte fallen ließe. Wenn für die
Kapkolonie die Möglichkeit bestand, die Souveränität zu
proklamieren, so existierte sie ebenso für jeden anderen. Zugleich aber
ließ er den Botschafter mündlich mitteilen, daß eine
freundliche Haltung in Ägypten nicht zu erwarten sein werde, wenn die
unfreundliche Haltung Englands in den Kolonien fortgesetzt würde. Noch
deutlicher nannte er durch seinen Sohn Herbert, dem jetzt ein Teil der
Geschäftsführung in London [263] zufiel, die Dinge beim
Namen: er wünsche über Ägypten einerseits und die Kolonien
anderseits einen Handel mit England zu machen, und wenn es nicht wolle, werde
man ihn mit Frankreich machen müssen.
Unter diesem wohlberechneten Drucke lenkte Lord Granville ein. Er nahm die
Schuld der Verschleppung auf sich und schob die Mißverständnisse
auf seine Unkenntnis der kolonialen Materie; er wollte bis jetzt nicht den
Eindruck gewonnen haben, daß die deutsche Regierung Kolonialpolitik
treiben wolle. So ließ der Abschluß nicht mehr lange auf sich warten.
Am 21. Juni faßte das englische Kabinett, das damals der Londoner
Konferenz über die ägyptischen Finanzen entgegenging, den
Beschluß, keinen Widerspruch gegen die deutsche Besitznahme von
Südwestafrika zu erheben.29 In den
nächsten Tagen erfolgte die Preisgabe des
englisch-portugiesischen Vertrages gegenüber den Protesten von Frankreich
und Deutschland sowie die Einsetzung einer gemischten Kommission in der
Fidjifrage. Damit war die erste Krisis zwischen England und Deutschland, so
schnell, wie sie sich erhoben hatte, überwunden.
Bevor wir uns dem Fortgang der kolonialen Aktion Bismarcks zuwenden, ist es
von Bedeutung, einen Blick auf die Gestaltung der großmächtlichen
Beziehungen im Sommer 1884 zu werfen, insbesondere auf die Sicherungen, die
man in Berlin einerseits nach Petersburg und anderseits nach Paris einschalten
konnte.
Schon bald nach der Erneuerung des Dreikaiserverhältnisses am 17.
März 1884 sollte sich Bismarck eine Gelegenheit bieten, die Wärme
der neugefestigten Beziehungen zu Rußland zu erhöhen. Er hatte
immer, zumal den Österreichern gegenüber, darauf gehalten,
daß das Fürstentum Bulgarien, gemäß dem Sinn der
Bestimmungen des Berliner Kongresses, als eine russische
Einflußsphäre behandelt wurde. Fürst Alexander von
Bulgarien, der als Neffe des Zaren und russischer Vertrauensmann in Sofia
eingesetzt worden war, hatte aber seit Jahren den steigenden Unwillen des Zaren
erregt, weil er sich nicht nur (was sich aus der Natur der Dinge ergab) auf die
wachsende nationalbulgarische Stimmung im Innern stützte, sondern auch
mehr und mehr auf seine dynastischen Beziehungen im Auslande rechnete. Statt
die russischen Interessen zu vertreten, begann der ehrgeizige
Fürst - ein typisches sujet mixte, preußischer Offizier
von Hause aus, daneben sich als Russe fühlend und zugleich nach seiner
englischen Verwandtschaft ausblickend - seine eigenen Wege zu gehen.
Seit dem Herbst 1883 trat er als Bewerber um die zweite Tochter des
Kronprinzenpaares in Berlin auf, von der Mutter leidenschaftlich willkommen
geheißen, von der Königin Victoria in einer sentimentalen Mischung
von familienhaften und politischen Interessen auf das wärmste
begrüßt. Sobald aber die bloße Möglichkeit
auf- [264] tauchte, warf Bismarck
sich ihr mit ungewöhnlicher Energie in den Weg. Es handelte sich um einen
zentralen Punkt seines Bündnisgebäudes, denn an keiner Stelle war
Rußland so empfindlich wie in der Aufrechterhaltung seiner vorwaltenden
Einflußstellung in Bulgarien; es stand damals in einem laufenden
diplomatischen Kleinkrieg mit Wien, um die dortigen Neigungen zum
Mitsprechen in Sofia einzudämmen. Wenn es nun gelang, den in Petersburg
längst in Ungnade gefallenen Battenberger in die kaiserliche Familie
aufzunehmen, und ihm damit einen dynastischen, sich auch nach London
verzweigenden Rückhalt für künftige Verwicklungen zu
schaffen, so würde das nichts anderes bedeutet haben, als um einer
prinzlichen Liebesgeschichte willen das kunstvolle Gewebe der
europäischen Politik an der delikatesten Stelle aufzulösen. So ging
der Kanzler mit seiner durch Persönliches nicht berührten
furchtbaren Sachlichkeit gegen den
Fürsten - hinter dem er die Königin Victoria zu erblicken
vermeinte, die einen Keil in die deutsch-russische Freundschaft zu treiben
suche - zum Angriff vor, mit dem unerschütterlichen Willen, ihm
"entweder die Braut oder das Fürstentum oder beides zu nehmen". Er
veranlaßte Kaiser Wilhelm I.,
den Wünschen des
Fürsten Alexander am 10. Mai eine unbedingte Absage zu erteilen,30 und setzte gleichzeitig durch,
daß der junge fünfundzwanzigjährige Prinz Wilhelm, der auch
zu den Gegnern der Heirat gehörte, nach Petersburg zur
Großjährigkeitserklärung des Thronfolgers entsandt wurde, um
dem Zaren die erfolgte Ablehnung, als einen Beweis
korrekt-bündnisgemäßer Haltung der deutschen Politik,
vertraulich mitzuteilen. Daß der Prinz bei diesem seinem ersten politischen
Hervortreten eine besonders freundliche Aufnahme in Petersburg fand, war zu
erwarten. Der politischen Taktik Bismarcks entsprach es, in diesen Tagen, in
denen die erste koloniale Auseinandersetzung mit England eingeleitet wurde, alle
Sonne über Rußland scheinen zu lassen.31
[256a]
Prinz Wilhelm als Abgesandter des Kaisers bei Zar Alexander
III. in Petersburg 1884.
|
Sobald er dann den Kreis der kolonialen Unternehmungen erweiterte, ging er dazu
über, die dafür erforderliche weltpolitische Rückendeckung
noch weiter auszudehnen. Wenn England seine Anregung, ein politisches
Geschäft auf der Grundlage der Gleichberechtigung abzuschließen,
eigenwillig überhörte, dann mußte man versuchen, mit dem
Gegenspieler Englands, mit dem Franzosen, der damals mit starkem Tatendrang
in den großen Wettbewerb um die Aufteilung der Welt eintrat, eine
koloniale Entente herbeizuführen. So entschloß sich Bismarck,
unmittelbar nach dem Scheitern der Londoner Konferenz, in Paris vertraulich den
gemeinsamen Entwurf eines Abkommens vorzuschlagen, vermöge dessen
die Freiheit des Handels mit den bisher unter keiner Jurisdiktion stehenden
Küstenstrichen in Westafrika für die Vertragsteilnehmer (und im
Einigungsfalle für alle weiterhin Beitretenden) gewährleistet
würde. Der [265] französische
Botschafter würde diesen "recht weit abseits" gelegenen
Anknüpfungspunkt lieber nach Ägypten verlegt haben. Bismarck
aber gab zu erwägen,32 die "von
ihm seit Jahren gesuchte Annäherung" an Frankreich nicht durch
Mißtrauen zu erschweren; dazu seien die Deutschen mit mehr Grund
berechtigt, da die Kontinuität der französischen Regierungen
geringer sei, was immer die Befürchtung offenlasse, daß Frankreich,
"nachdem wir im Verein mit ihm bis zum Bruche mit England oder nahe daran
gelangt sein würden", plötzlich die Situation benutzen werde, um
sich auf die andere Seite zu stellen. Der französische
Ministerpräsident Jules Ferry nahm nach anfänglichem Zögern
in den Verhandlungen mit dem Fürsten Hohenlohe und dem Baron Courcel
das Prinzip der Verständigung an. Daß er dabei die Voraussetzung
betonte, es solle sich eben "nur um ein rapprochement, um gemeinsame
Schritte in bestimmten Angelegenheiten, nicht um eine förmliche Allianz"
handeln, verstand sich ebenso von selbst, wie daß die Franzosen eine
vorsichtige Behandlung gegenüber der leicht erregbaren öffentlichen
Meinung erbaten. Nachdem die einzelnen Verhandlungsgegenstände
(Handelsfreiheit im Kongogebiet, Grundsatz der Effektivität für
Okkupationen, Einberufung einer europäischen Konferenz nach Berlin,
freie Schiffahrt auf dem Niger) zwischen Hatzfeldt und Courcel am 25. August in
Berlin vereinbart worden waren, brachte Bismarck, jetzt persönlich
hervortretend, die Verhandlung mit dem französischen Botschafter in
Friedrichsruh zum Abschluß. Während man übereinkam, ein
Vorgehen in der ägyptischen
Angelegenheit - abgesehen von dem Eintritt Rußlands und
Deutschlands in die internationale
Schuldenkommission - zunächst zurückzustellen, wurden in
der westafrikanischen Sache alle Einzelheiten des gemeinsamen Vorgehens
durchgesprochen. Auf dieser Grundlage stellte dann ein Notenaustausch zwischen
Berlin und Paris das grundsätzliche Einverständnis fest, und danach
ergingen Anfang Oktober die Einladungen der beiden Mächte an die
übrigen beteiligten Regierungen, einschließlich der Vereinigten
Staaten, zu einer Konferenz in Berlin.
Die getroffene Vereinbarung war weniger dadurch bedeutsam, daß sie einen
bestimmten Kreis von westafrikanischen Fragen einträchtig regelte, als
dadurch, daß sie grundsätzlich zwischen diesen beiden Staaten
möglich geworden war. Mit dieser Eventualität hatten die
übrigen Glieder der europäischen Staatengesellschaft
überhaupt noch nicht gerechnet. So mochte denn die öffentliche
Meinung, immer geneigt, den Moment und das Neue zu
überschätzen, auf beiden Seiten ihre Hoffnungen allzu weit spannen.
Man konnte im August 1884 im Figaro die gewiß nicht auf die
Goldwaage zu legenden Sätze lesen, daß heute die Allianz mit
Deutschland derjenigen mit England hundertmal vorzuziehen sei; Frankreich
werde niemals vergessen, daß überall, wo ein Engländer lebe,
dieser ein Feind seiner kolonialen Ausdehnung sei; man brauche nur an Tunis,
Ägypten, Tonking, Madagaskar zu erinnern, um zu erkennen, daß
zwischen [266] England und
Frankreich ein weit erbitterterer Kampf bestehe als der einstige mit Deutschland.
Daß überhaupt in Paris eine solche Sprache geführt werden
konnte, zeigt die Hitzigkeit der Umstellung an. Es gab manche Franzosen, die sich
mit übergroßer Lebhaftigkeit in die ungewohnte Situation fanden und
verwegene Schlüsse nach ihrer Art daraus zu ziehen suchten. Der
französische Gesandte in Kairo, Mr. Barrère, sprach in
diesen Wochen zu Herbert Bismarck von der Tatsache, daß das
stärkste Bündnis auf der Welt das
deutsch-französische sein würde; sei dieses einmal etabliert, so habe
niemand sonst etwas zu sagen. Auch der französische Kriegsminister
Campenon gestand dem zu den Herbstmanövern entsandten deutschen
General einen angeblich seit Jahren genährten Gedanken: "wenn diese
Allianz zustande käme, würde Frankreich mit einem Schlage seine
frühere Stellung in der Welt wieder einnehmen. Frankreich und
Deutschland vereint, würden die Welt beherrschen". Solche Stimmen mit
hegemonischem Unterton pflegen nicht von Dauer zu sein, aber sie liefern
immerhin die Begleitmusik zu dem in Westafrika begonnenen praktischen
Zusammengehen.
Schon nach einigen Wochen schlug die französische Regierung auch ein
gemeinsames Vorgehen in Sachen des ägyptischen Liquidationsgesetzes
vor und deutete an, daß man diesen Weg weiter verfolgen würde,
wenn man sicher wäre, dafür bei Deutschland moralische und
politische Anlehnung zu finden. Bismarck griff die Anregung auf und entsandte
seinen Sohn Herbert nach Paris zu unmittelbarer Aussprache mit dem
Ministerpräsidenten. Sie verlief durchaus befriedigend. Ferry erkannte
dankbar an, daß die deutsche Regierung niemals der jetzt vollzogenen
Befestigung der republikanischen Staatsform Schwierigkeiten bereitet hätte,
und gestand, daß er seinerseits seit der Tunisfrage das vollste Vertrauen zu
der deutschen Politik gewonnen habe. Seine letzten Bedenken wurden dadurch
überwunden, daß Bismarck - weit entfernt, den
englisch-französischen Gegensatz vertiefen zu
wollen, - ihm ausdrücklich sagen ließ, daß er das gleiche
Interesse wie Frankreich daran habe, einen Bruch mit England zu vermeiden,
daher auch einen englisch-französischen Krieg vermieden zu sehen
wünsche und ehrlich bemüht sein werde, die ägyptische Frage
friedlich zu
lösen - an dieser Stelle saß in Paris der letzte Kern des
Mißtrauens. Daraufhin erklärte Ferry, in Zukunft keinen Schritt in der
ägyptischen Frage tun zu wollen, ohne sich mit Bismarck ins Einvernehmen
zu setzen. Baron Courcel zog nicht mit Unrecht den Schluß:
"Voilà donc l'entente établie!" Es war ein verbindliches
doppelseitiges Vertrauensverhältnis, über den Kreis konkreter und
begrenzter Verabredungen hinaus, alle peripherischen Interessen der beiden
Mächte umfassend, ohne den zentralen Gegensatz zu berühren.
Daß diese Entente sehr leicht der Wiederkehr mißtrauischer Schatten
ausgesetzt war, lag auf der Hand. Wie auf der einen Seite die Regierung Ferrys
von der Opposition auf das schärfste überwacht wurde, so blieb auf
der anderen Seite auch Bismarcks ägyptische Politik an die
Beständigkeit der französischen Haltung gebunden. Er durfte keinen
Moment aus [267] dem Auge verlieren,
daß sein Experiment auf dem Flugsand der öffentlichen Meinung in
Frankreich aufgebaut war. Der Ministerpräsident selbst, wie er auch im
Innern gesinnt sein mochte,33 hielt an
seiner Linie fest. Sein Vertrauen in die Absichten Bismarcks, glaubte der deutsche
Botschafter am 27. Januar 1885 feststellen zu können, sei
unerschüttert, und er sei weit entfernt von dem landläufigen
Mißtrauen, das bei den Franzosen gewöhnlichen Schlages
überall hinterlistige Pläne und Fallen der deutschen Politik wittern
lasse.
Für die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen im
Menschenalter nach dem Kriege ist es von bleibender Bedeutung, daß
Bismarck in der Zeit vom Sommer 1884 bis zum Frühjahr 1885 die
Möglichkeit eines auf Vertrauen und Freundschaft beruhenden
Zusammenlebens mit Frankreich durch die Tat erwiesen hat. Das Programm des
Zusammengehens auf allen "anderen" Schauplätzen, das ihm von Anfang
an vorgeschwebt hatte,34 ist während der Dauer dieser
Entente auf der ganzen Linie mit Erfolg verwirklicht worden. Es geschah
gewiß im Zusammenhang mit einer Kolonialpolitik, die mit einer Front
gegen England sich Luft und Licht erkämpfen mußte und dafür
auch die französische Verstärkung brauchte; aber diese Politik war
doch tiefer begründet, als in den Bedürfnissen einer politischen
Konjunktur, die nicht ewig dauern konnte. Auf der Höhe der Macht hat
Bismarck nicht, wie später wieder die völlig politisierte
Geschichtschreibung der Franzosen zu behaupten pflegte, die Macht dazu benutzt,
die berechtigten Interessen Frankreichs zu verkürzen, sondern das volle
Gewicht seiner Autorität dafür eingesetzt, diese französischen
Interessen in der Welt zu fördern und damit einem letzten, jenseits der
engeren Machtpolitik liegenden Ziele, der Befestigung des Weltfriedens, zu
dienen.
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