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Bd. 9: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Erster Teil


Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin

Kapitel 2: Das Deutsche Reich
unter der Staatsleitung Bismarcks 1871 - 1890
  (Forts.)

3. Die Begründung des deutschen Bündnissystems 1876 - 1883.   (Forts.)

Indem sich das deutsch-österreichische Bündnis zusammenfand, ergab sich unmittelbar die weitere Frage, ob die Mittelstellung, an der die deutsche Politik bisher zwischen den beiden großen Gegenspielern Rußland und England festhielt, in der bisherigen Art fortbestehen oder auch zugunsten einer formellen Neuorientierung nach der einen Seite hin verlassen werden sollte.

Noch von Gastein aus hatte Bismarck auf amtlichem Wege am 14. September eine vertrauliche und unmißverständliche Sondierung bei dem Leiter der englischen Politik angeordnet. Sie erfolgte erst am 26. September, gleich nachdem Bismarck in Wien den Entwurf des Bündnisvertrages unterzeichnet hatte, durch den Grafen Münster auf dem Landsitze Lord Beaconsfields.65 Bismarck ließ die präzise Anfrage stellen, welches die Politik Englands sein würde, wenn das [231] Deutsche Reich, ohne eigene zwingende Interessen, aus Rücksicht auf seine Freundschaft mit England und Österreich fortfahre, sich den russischen Zumutungen zu versagen, und darüber mit Rußland in Zerwürfnis geraten sollte. Die Anfrage wurde in aller Form in einem Augenblick gestellt, wo die diplomatische Welt wegen der Wiener Vorgänge in starke Bewegung geraten war. Lord Beaconsfield, der seit langem einem deutsch-englischen Bündnis geneigt war und das Scheitern der früheren Annäherung nachträglich bedauerte, hörte jetzt, über die konkrete Anfrage und ihren weitreichenden Sinn hinweg, vor allem das heraus, was er hören wollte und was ihm der eindeutige Sinn des Schrittes zu sein schien: ein Bündnisantrag, Zuziehung Englands zu dem im Entstehen begriffenen deutsch-österreichischen Bündnis. Und diesen Schritt nahm er mit herzlicher Zustimmung, wenn auch mit dem Vorbehalte auf, daß das englische Interesse mit einem solchen Bündnis keinerlei Spitze gegen Frankreich verbinden könnte. Es steht außer Frage, daß die englischen Staatsmänner, sehr erfreut über die Annäherung, zu ernstlicher Verhandlung, auch über ein Spezialabkommen, bereit und später überzeugt waren, weit entgegengekommen zu sein. Sie waren hernach überrascht, daß Bismarck in dem Fortgang der Besprechungen offensichtlich den Eindruck erweckte, die Sache vorläufig unter den Tisch fallen lassen zu wollen. Und tatsächlich war Bismarck mit der englischen Antwort auf seine Erkundung ihrer letzten Absichten nicht zufrieden. Auf den französischen Vorbehalt war er gefaßt; auch Königin Viktoria band es hernach ihrem Premierminister auf die Seele, daß die öffentliche Meinung Englands ein Bündnis mit dieser Spitze nicht ertragen würde.66 Es genügte dem Reichskanzler aber nicht, wenn man auf englischer Seite Frankreich und Italien in der Neutralität halten oder keinen französischen Angriff durch Belgien zulassen wollte, sondern er stand auf dem Standpunkt, schon ein russischer Angriff allein sei für Deutschland so unerwünscht, daß man wissen müsse, ob man in diesem Falle auf sofortige materielle Unterstützung Englands rechnen könne - darauf aber blieben die Engländer die Antwort schuldig oder ihre Antwort schien ihm "nicht so unumwunden zureichend, daß er es daraufhin hätte wagen mögen, wenn die Gefahr näher rückte".

Oder sollte der Reichskanzler noch aus einem anderen Anlaß die kaum eingeleitete Sondierung wieder abgestellt haben? Als er Ende September den Bericht des Grafen Münster erhielt, war die Spannung infolge des Widerstandes des alten Kaisers auf den Höhepunkt gestiegen; am 5. Oktober reichte der Kanzler in aller Form sein Entlassungsgesuch ein. Es könnte sehr wohl sein, daß er die ganze englische Aktion, die er dem Kaiser bisher vorenthalten hatte, auch aus dem Grunde nicht weiter verfolgte, weil er den seelischen Widerstand Wilhelms nicht noch weiter verschärfen wollte; auch die Mitteilung eines Memorandums [232] über den Bündnisabschluß an Rußland, die der Kaiser bei Bismarck durchsetzte, mochte es wünschenswert erscheinen lassen, die englische Karte zunächst ruhen zu lassen. So wie er in derartigen Krisen immer wieder die Tragweite des nächsten Bültens vorsichtig ausprobte, bevor er einen Schritt weiterging, mochte er es vorziehen, die Wirkung der Mitteilung des Memorandums zunächst einmal abzuwarten. Gerade weil das englische Entgegenkommen in der exakten Frage seinen Wünschen nicht ganz entsprach und weil er kein Interesse daran hatte, in London ohne zwingenden Grund allzu bündnisbedürftig zu erscheinen, konnte er sich damit bescheiden, einen späteren Augenblick abzuwarten, um die englische Karte - über deren Wert er sich für die zur Zeit in der Herrschaft befindliche Partei überzeugt hatte - aufzunehmen.

Es lag in seiner Natur, die Trümpfe bis zum letzten Augenblick der Entscheidung womöglich in der Hand zu halten. Die auffallende Wärme, mit welcher der jetzt völlig bekehrte Salisbury am 17. Oktober die frohe Botschaft des deutsch-österreichischen Bündnisabschlusses öffentlich begrüßte, war eher dazu angetan, den deutschen Staatsmann zur Vorsicht zu mahnen; er hatte schon in diesen Wochen bei dem Nachfolger Andrássys eine unsachlich drängende Bewegung nach dem englischen Flügel hin zu korrigieren. An einem allzu intimen Zusammenspiel beider Lager konnte ihm kaum gelegen sein. So blieb die Frage des deutsch-englischen Verhältnisses, in der England in den letzten vier Jahren einen langen Weg zurückgelegt hatte, zunächst noch ungeklärt. Wenn es an allen Anlässen fehlte, gegeneinander zu gehen,67 so waren doch auch der Reibungsflächen so wenige, daß man nicht unter allen Umständen miteinander gehen mußte. Das Nahen der Parlamentswahlen sollte schon nach einiger Zeit die Aufnahme der Verhandlung verbieten, und das Ergebnis der Wahlen zu Anfang April 1880, ein durchgreifender Sieg der Liberalen, machte ihr fürs erste ein Ende. Die veränderliche Parteiengrundlage der englischen Außenpolitik ist dem Reichskanzler niemals so stark zum Bewußtsein gebracht worden, wie in diesem Augenblicke. Dieser Umschwung war so recht ein Beispiel für sein Axiom, daß man auf lange Fristen hinaus die Wege der Vorsehung nicht bestimmen könne. Er vertrat sowieso die Überzeugung, daß England im Falle eines Konflikts niemals um seine Existenz zu kämpfen haben werde, so groß auch die Interessen sein möchten, die es verteidige, und die Gewinne, die es bei einem glücklichen Ausgang mache; eben darum konnte es bei einem inneren Parteiwechsel wagen, in der ganzen Front seiner Außenbeziehungen das Steuer herumzuwerfen. Es war daher natürlich, daß Bismarck in ebendemselben Momente die Beziehungen vor allem zu Rußland und Frankreich einer Nachprüfung unterzog.

Vielleicht ist diese leichte Umstellung schon im Frühjahr 1880 bei der Be- [233] handlung einer rumänischen Annäherung zu beobachten. Fürst Karl von Rumänien,68 mit schwerer Enttäuschung von dem Berliner Kongreß heimgekehrt, hatte das deutsch-österreichische Bündnis mit freudiger Zustimmung begrüßt und suchte jetzt, in seiner Mittelstellung zwischen Rußland und der russischen Gründung Bulgarien, einen Anschluß an das neue Bündnissystem. Der Bescheid, auf Umwegen in gewundener Form gegeben, besagte: Rumänien habe nur zu wollen, um in einem gegebenen Augenblick der dritte im Bunde zu sein; es habe nur in geeigneter Weise zu erklären, daß es entschlossen sei, für den Fall, daß es angegriffen würde, seine natürliche Anlehnung an die beiden Reiche zu vollziehen; eine solche, wenn auch nur einseitig ausgesprochene, Erklärung würde die beiden anderen Staaten moralisch binden. Da nun die Gefahr von 1879 heute nicht mehr vorliege, so würde eine Fortsetzung der Bündnispolitik durch die formelle Hinzuziehung eines dritten Staates als eine offensive Bedrohung Rußlands aufgefaßt werden können, die beiden Teilen fern liege; rücke aber die Möglichkeit einer solchen Gefahr wieder näher, so naturgemäß auch die Fortsetzung des Begonnenen. Das hieß, den rumänischen Antrag vorläufig zurücklegen, bis zu einem geeigneten Augenblick, wo sich die Annahme empfahl. In diesem Sinn war auch das persönliche Schreiben Bismarcks an den Fürsten Karl vom 20. Mai 1880 abgefaßt. In welchem Maße etwa der Widerstand des alten Kaisers damals ein näheres Eingehen verhindert hat, in welchem Maße auch die allgemeine Lage, der gleichzeitige englische Umschwung und die erneuten russischen Bemühungen im Sinne der Vertagung gewirkt haben, läßt sich mit Sicherheit nicht nachweisen.

Es verdient jedenfalls Beachtung, daß die russische Politik - was ihr durch die amtliche Mitteilung des Memorandums über das deutsch-österreichische Bündnis immerhin erleichtert wurde - in diesem Moment schon den Rückweg nach Berlin gefunden hatte. Der neue Botschafter in Berlin, Herr von Sabourow, hatte schon zu Anfang 1880 eine neue Verständigung zu dritt auf der Grundlage des Berliner Vertrages angeregt.69 Da Bismarck diesen Schritt wohlwollend aufnahm und seit dem englischen Umschwung sogar Grund hatte, den Russen ent- [234] gegenzukommen, wurden die Verhandlungen seit dem August 1880 fortgesetzt. Vor allem gelang es ihm nunmehr, die Zustimmung des neuen österreichisch-ungarischen Außenministers Baron Haymerle zu dem Fortgang der Verhandlungen zu gewinnen. Während aber der Österreicher ohne viel Vertrauen und Eifer sich auf eine Sache einließ, die ihm beinahe eines Zurücklenkens zu dem Dreikaiserverhältnis verdächtig war, hielt Bismarck es unter allen Umständen für geboten, die friedliche Stimmung in Rußland zu benutzen: "Die Früchte unserer Annäherung an Österreich sind unverkennbar. Die Russen haben viel Wasser in ihren Wein gegossen." Von jeder Überschätzung frei, sagte er sich selbst, daß die Rivalität bestehen bleibe und auch ein Vertrag dagegen nicht helfen könne; wohl aber helfe ein Vertrag gegen kontrollierbare Handlungen. In dem Entwurfe des neuen "Bündnisses" war ein erster Artikel vorgesehen, daß im Falle einer der Partner mit einer vierten Großmacht in Krieg gerate, die beiden andern zu wohlwollender Neutralität und zur Bemühung um die Lokalisation des Konflikts verpflichtet seien. In dieser Garantie konnte vom deutschen Standpunkt aus doch ein realer Wert erblickt werden. Wenn weiterhin die deutsche Neutralität in einem russisch-englischen Konflikt (etwa in Sachen der Dardanellen) vorgesehen war, so war auf der anderen Seite für den Fall eines deutsch-französischen Konflikts die russische Neutralität gewährleistet.

Die Zustimmung des Zaren war von dem neuen russischen Minister, Herrn von Giers, der an die Stelle Gortschakows getreten war, im Januar 1881 herbeigeführt worden. Wenn sich der Abschluß noch länger hinzog, so geschah es, weil die unstaatsmännische Hand des innerlich widerstrebenden österreichischen Ministers immer neue Schwierigkeiten machte.70 Es bedurfte, wie der deutsche Botschafter an Bismarck berichtete, "der vollen Wucht des Einflusses, den Euer Durchlaucht auf den Geist des Ministers sowohl wie auf den seines Kaisers ausüben, und des unbegrenzten Vertrauens in die guten und ehrlichen Absichten des deutschen Bundesgenossen", um die nichtendenwollenden Bedenken der anderen Seite zu ersticken. Dem österreichischen Mißtrauen begegnete der Reichskanzler mit dem unwiderleglichen Argument: wenn die russische Politik gegenwärtig bedenkliche Absichten hätte, so würde sie vermeiden, sich die Verwirklichung derselben durch die Herstellung der Barriere zu erschweren, welche durch ein kaiserliches, zwei benachbarten Monarchen gegebenes Wort neu errichtet werden solle. Zwischen Wien und Berlin lag jetzt vor allem die Frage: in welches Verhältnis das neue "Bündnis" zu dem deutsch-österreichischen Bündnis von 1879 zu treten habe. Bismarck ließ keinen Zweifel darüber, daß er dieses letztere als das Primäre und Weitergreifende ansähe; er betonte, daß der Dreiervertrag, ein diplomatisches Mittel zur Sicherung des Friedens, nicht so weit gehe wie das deutsch-österreichische Bündnis (das er selbst ja für immer und öffentlich gewollt [235] habe!), da dieses eventuell militärische Mittel im defensiven Sinne in Aussicht nehme; dagegen nehme das neue Abkommen eine kriegerische Leistung in keinem Fall in Anspruch, sondern nur gegenseitige kaiserliche Versprechungen, Frieden miteinander zu halten und auf Beteiligung an kriegerischen Koalitionen gegeneinander verzichten zu wollen: darin sah er einen "sehr erfreulichen Zuwachs zu den Bürgschaften des allgemeinen Friedens".

Und an diesem Kernpunkt sollte der Wert des neuen Bündnisses durch ein unvorhergesehenes Ereignis sich bewähren. Während die Verhandlungen noch schwebten, wurde Zar Alexander II. im März 1881 das Opfer eines Bombenattentats. Der neue Zar, Alexander III., der bis dahin dem slawophilen Lager näherstand, trat, wie nicht anders zu erwarten, in die Verhandlungen ein und bestätigte sie "nicht nur als Vermächtnis, sondern als Ausdruck eigener Überzeugung". So gewann das neue am 18. Juni 1881 abgeschlossene Vertragsverhältnis gerade durch den Thronwechsel, der an sich es hatte gefährden können, noch erhöhte Bedeutung. Insofern war Bismarck in vollem Rechte, wenn er seinem tiefbefriedigten Monarchen den realen Gewinn des Abschlusses erläuterte: "Da der Kaiser Alexander für einen Monarchen gilt, auf dessen Wort sicher gebaut werden kann, so dürfen wir den Frieden unserer beiden Nachbarn auf Jahre hinaus als gesichert ansehen. Außerdem aber wird für Deutschland die Gefahr einer französisch-russischen Koalition vollständig beseitigt und dadurch das friedliche Verhalten Frankreichs gegen uns so gut wie verbürgt; ebenso wird den Versuchen der deutschfeindlichen Kriegspartei in Rußland, Einfluß auf die Entschließungen des Kaisers zu gewinnen, durch das gegebene Wort des letzteren der Boden entzogen." Er bezweifelte nicht, daß nach Ablauf der drei Jahre der Gültigkeitsdauer eine weitere Verlängerung zu erreichen sein werde. Sie ist im März 1884 nicht ausgeblieben.

In der wohlabgewogenen Reihenfolge der Vorteile des Vertrages für die deutsche Seite vermied Bismarck jede Erinnerung an das Dreikaiserverhältnis von 1872, das scheinbar so viel weniger, tatsächlich aber so viel mehr gewesen war. Denn hatte der alte Bund auf dem Gefühl der traditionellen Freundschaft, auf allen jenen Imponderabilien geruht, die selbst ein gewisses Maß von ehelichem Streit ertragen können, so war die Grundlage der neuen Ordnung eher eine sachlich kühle und zeitlich befristete Erwägung, bei der die Staatsräson auf beiden Seiten den Ausschlag gab. Das eigentliche Imponderabile war die schwere Seele des neuen Autokraten und der Zugang, den der Geist des russischen Nationalismus zu ihr finden sollte.71 Das neue Bündnis wurde damals so streng geheimgehalten, daß es zunächst in der europäischen Diplomatie ziemlich unbemerkt blieb. Der Franzose Hanotaux, der von ihm noch keine nähere Kunde hat, glaubt sogar in der Thronbesteigung des Zaren einen tiefen Abschnitt in [236] den großmächtlichen Beziehungen zu erblicken, und in der deutschfeindlichen Rede des Generals Skobelew in Paris (Januar 1882) das erste Symptom für den veränderten Geist der Zeit. Und daß diese Rede schon in dem ersten Jahre des neuen Vertragsverhältnisses möglich war, gehört allerdings auch zur Kennzeichnung der neuen Lage: die deutschfeindliche Kriegspartei, deren Erwartungen durch den Vertrag zunächst zum Schweigen gebracht waren, durfte immerhin die Franzosen daran erinnern, daß sie noch am Leben sei. Sie wurde amtlich verleugnet und getadelt, und Bismarck blieb entschlossen, den Vorfall hinzunehmen, um die wiederhergestellten amtlichen Beziehungen nicht zu gefährden. Aber er blieb sich bewußt, daß er hinfort mit einem zweiten Rußland werde zu rechnen haben, und daß andere Mächte in der Welt eben auf dieses Rußland ihre Hoffnungen setzten. Wenn Skobelew vor serbischen Studenten die Parole ausgab: "Der Kampf zwischen Slawen und Teutonen ist unvermeidlich, und er wird lang, blutig und fürchterlich sein, aber die Slawen werden siegen", so dachte er vor allem an die weitere Resonanz seiner Worte in der französischen öffentlichen Meinung, der ihre Hoffnung erhalten werden sollte.72

Bismarck hätte von vornherein gewünscht, auch die Absichten Frankreichs irgendwie in der Peripherie der orientalischen Frage zu befriedigen. Er stimmte durchaus der englischen Anregung in der Zeit des Berliner Kongresses zu, den Franzosen eine Kompensation in Tunis in Aussicht zu stellen; er war im nächsten Jahre auch bereit, England und Frankreich ein europäisches Mandat in Ägypten zu erteilen, hauptsächlich, um "hierbei Frankreich eine kleine Satisfaktion zu verschaffen"; auf der Madrider Konferenz im Jahre 1880 wies er seinen Vertreter an, aus allgemeinen politischen Gründen Hand in Hand mit Frankreich zu gehen, das seiner benachbarten algerischen Besitzungen wegen in Marokko berechtigte Interessen zu vertreten habe. Eben im Hinblick auf derartige Interessen formulierte er im April 1880 einen immer wieder auftauchenden Lieblingsgedanken: "Unser Verständigungsgebiet mit Frankreich erstreckt sich von Guinea bis nach Belgien hinan und deckt alle romanischen Lande; nur auf deutsche Eroberungen braucht Frankreich zu verzichten, um uns befreundet zu bleiben." Und so vollzog sich die Festsetzung von Frankreich in Tunis durch den Bardovertrag im Mai 1881 unter wohlwollender Unterstützung der deutschen Politik. An dieser Haltung änderte sich auch dann nichts, als Gambetta, der noch in seiner berühmten Rede vom 10. August 1880 der Idee der Revanche einen mächtigen [237] oratorischen Auftrieb gegeben hatte, im November 1881 die Leitung der Geschäfte übernahm.

Eben der sehr peripherische Vorgang in Tunis sollte Nachwirkungen auslösen, die für die europäische Staatengesellschaft für lange Zeit hinaus bestimmend waren: die Abwendung Italiens von Frankreich und seine Hinwendung zum deutsch-österreichischen Bündnis. Seit der schweren Enttäuschung des Bardovertrages sah Italien sich durch eine tiefe Kluft von der französischen Politik getrennt; die Monarchie war schon längst durch die Gefahren beunruhigt, die ihr von Frankreich und seiner republikanischen Propaganda drohten. Auf der anderen Seite erkannte man in Rom, daß eine Spekulation auf einen russisch-österreichischen Zusammenstoß, für den man sich im Stillen in der Reserve gehalten hatte, sehr lange auf ihre Stunde werde zu warten haben, und ertrug es in der Zeit des Bardovertrages schwer, daß man keine Politik und keine Freunde hatte. So begann man sich notgedrungen Deutschland zu nähern. Bismarck, der früher wohl mit dem italienischen Machtfaktor gerechnet hatte, dann aber zweifelhafter geworden war, hielt zunächst zurück, da ihm die italienischen Ministerien zu schwach schienen, um selbst eine vertragsmäßig zugesagte Politik gegen die öffentliche Meinung mit Erfolg durchzuführen. Als dann, nachdem König Humbert Ende Oktober 1881 einen Besuch in Wien abgestattet hatte, die italienische Regierung von neuem den Wunsch aussprach, dem angestrebten freundschaftlichen Verhältnis zwischen den drei Mächten auch festere Formen zu geben, glaubte Bismarck die herübergestreckte Hand ergreifen zu sollen. Während Graf Kálnoky, der Nachfolger Haymerles, dem italienischen Antrag eher auszuweichen geneigt war, erklärte er es sofort für angezeigt, alles, was von den Italienern ohne Anspruch auf Gegenleistung geboten würde, anzunehmen und soviel wie möglich zu verwerten. Für die behutsame Taktik, die Bismarck in solchen Fällen anzuwenden pflegte, sind die verschiedenen Stufen des Verfahrens kennzeichnend, das er auf dem schwierigen österreichisch-italienischen Terrain einschlug. Er verwies den italienischen Botschafter, der ihm unaufgefordert versicherte, daß von einer Italia irredenta keine Rede mehr sei, zunächst auf die Tatsache, daß innerhalb der Friedensgemeinschaft der drei Kaisermächte (deren Existenz er nicht verschwieg) zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn eine Art von politischer Ehe bestünde, die ihm die Pflicht auferlege, in einer so wichtigen Frage - angesichts der vielfältigen österreichisch-italienischen Berührungen - der befreundeten österreichischen Regierung nicht vorzugreifen. Indem er die Schwierigkeiten, die einer vertragsmäßigen Formulierung der Verständigung entgegenständen, nicht verhehlte, stellte er die Vorbedingung, daß Italien sich zunächst mit Österreich über ihre beiderseitigen Interessen verständigen müsse: was Italien für Österreich tun werde, würden wir als uns erwiesen betrachten. Der Schlüssel der Tür, die zu uns führe, sei für Italien in Wien zu finden. Dann aber suchte er auf den Gang der Wiener Verhandlungen, als ein versöhnlicher und prak- [238] tischer Berater, in dem Sinne des ehrlichen Maklers, der das Geschäft zustande gebracht sehen will, nach Bedarf einzuwirken. Als Kálnoky, für den die ursprünglich in Rom gewünschte Form eines Garantievertrages - schon der römischen Frage wegen - überhaupt nicht in Betracht kam, sich mit der Form eines Neutralitätsvertrages begnügen wollte, wies Bismarck mit Nachdruck darauf hin, daß man weitergehen müsse, da den Italienern ihre Sorge vor Frankreich durch einen bloßen Neutralitätsvertrag nicht erleichtert werden würde. Er schlug statt dessen vor, die beiden Kaisermächte möchten, um die italienische Regierung auf ihrer Linie festzuhalten, ihr den Beistand gegen einen unprovozierten Angriff von seiten Frankreichs in Aussicht stellen; die Form der Gegenseitigkeit bringe dann mit sich, daß Italien die entsprechende Verpflichtung auf sich nehme, deren praktisch zu erwartende Leistung zwar nicht hoch einzuschätzen sei, aber immerhin im Falle eines russisch-französischen Angriffes gewisse Truppenmengen der Mittelmächte frei machen werde. Daß Bismarck überhaupt solche Möglichkeiten trotz des vor einem Jahre abgeschlossenen Dreikaiserbündnisses in Betracht ziehen konnte, müßte an sich überraschen, wenn er nicht durch die panslawistischen Reden des General Skobelew in Paris 1882 daran erinnert worden wäre, daß in dem ewig flüssigen Element der Politik auch so feste Tatsachen wie das Wort des absoluten Zaren nicht mehr ihren alten Wert besaßen; er war sogar in diesen Wochen der italienischen Verhandlung geneigt, Rußland auf dem abschüssigen Wege zum Kriege selbst Frankreich voran zu sehen. Um so mehr fuhr er fort, an dem großen Netze der Friedenssicherung weiterzuknüpfen, auch wenn er ein neues Werkstück von vornherein als nicht sehr widerstandsfähig einschätzte. Gerade bei dem Dreibundvertrage, dessen einzelne Bestimmungen in diesem Zusammenhange keiner Erläuterung bedürfen, nahm er wohl absichtlich eine Haltung ein, die man sonst in seiner Geschäftsführung kaum bemerkt. Er betonte während der Verhandlungen wiederholt, daß man Italien gegenüber auf die Wahl der Ausdrücke in dem Vertrage ein so großes Gewicht nicht zu legen brauche; er warnte sowohl vor jeder allzu feinen Zuspitzung als auch vor jedem auf Annehmen oder Ablehnen gestellten Druck; er war frei von jeder Illusion, aber doch gewillt, das neue Werkstück bei aller Relativität nicht aus der Hand zu geben. Für seine Beurteilung des neuen Partners und des Vertrages war es charakteristisch, daß er sogar für einen Vermerk in den Akten sorgte, der die deutsche Diplomatie für die Redaktion der Aktenstücke nach Form und Inhalt von jeder Verantwortung entlastete: "Es kam für uns lediglich darauf an, dem uns verbündeten Österreich für den Kriegsfall die Sorge der Deckung seiner italienischen Grenze nach Möglichkeit abzunehmen." Es war eine Entlastung der großmächtlichen Stellung Österreichs, die dessen Bündniswert für Deutschland vermehrte, insofern eine Hilfskonstruktion, deren Entwicklung zu einem selbständigen Element der Politik abgewartet werden mußte. Indem aber sowohl Rußland als auch Frankreich in jeder gegen die [239] Mittelmächte gerichteten Aktion eines möglichen Partners beraubt wurden, wurden sie in ihrem diplomatischen Wirkungskreise eingeengt, während das Deutsche Reich die Sicherung seines Bestandes und des europäischen Friedens - denn immer mehr begannen beide Ziele sich zu einem einzigen zu vereinen - in einem nach und nach sich erweiternden Radius durchführte.

Die Wirkung erhöhte sich noch, als im Herbst 1883 auch der Anschluß Rumäniens, der im Frühjahr 1880 hatte vertagt werden müssen, zustande kam. Formell vollzog er sich in der Weise, daß Österreich-Ungarn und Rumänien einen Friedens- und Freundschaftsvertrag abschlossen und sich verpflichteten, im Fall eines Krieges von dritter Seite einander Hilfe zu leisten und im Falle der Bedrohung über die militärisch notwendigen Schritte eine Militärkonvention abzuschließen. Diesem Vertrage trat das Deutsche Reich am 30. Oktober 1883 bei.

Der Beitritt Italiens wie Rumäniens übte eine ähnliche dynamische Funktion aus. Sowohl die Politiker in Rom wie die in Bukarest mußten, so schwer es ihnen fiel, die Irredenta-Ansprüche, die sie, die einen vornehmlich gegen Österreich, die anderen vornehmlich gegen Ungarn, verborgen im Herzen trugen, fortan einsargen; allein durch diesen Verzicht konnten sie den Anschluß an das Bündnissystem Mitteleuropas und die damit verbundene Lebensversicherung, die ihnen eine unabhängige Politik verbürgte, überhaupt erlangen. Bismarck aber vermochte erst durch die beiden Anschlüsse von 1882 und 1883 das Bündnis mit Österreich-Ungarn - das am 22. März 1883 erneut auf fünf Jahre, vom 21. Oktober 1884 gerechnet, verlängert wurde - so wertvoll und risikofrei zu gestalten, wie er es im Interesse des Deutschen Reiches wünschen mußte. Indem er die italienische wie die rumänische Hypothek für eine absehbare Zeit von dem Hause der Doppelmonarchie herunterholte, wurden aus den inneren Grenzlinien des mitteleuropäischen Blockes die Reibungsflächen entfernt, die dem Frieden Europas und der Erhaltung des status quo gefährlich werden konnten. Je weiter diese Politik sich ausdehnte, desto stärker war der Eindruck, daß sie zwar vom deutschen Interesse geleitet war, aber zugleich dem allgemeinen Frieden zugute kam. So sollte jede der Nachwirkungen, in denen die Periode des Berliner Kongresses abläuft, doch dazu dienen, die gesicherte Mittelstellung des Deutschen Reiches zu befestigen.

Wer die Bündnispolitik Bismarcks, die in diesen Jahren im wesentlichen ihr Gebiet absteckte, auf ihre ausgesprochenen und unausgesprochenen Motive hin untersucht, wird ihr nicht den Vorwurf machen können, daß sie etwas anderes als die Befestigung des Friedens erstrebt habe. Auch die neuere außerdeutsche Forschung, die sich auf den deutschen Aktenpublikationen aufbaut, ist so gut wie einmütig zu dem Ergebnis gekommen, ihren unbedingten Friedenscharakter anzuerkennen.73 Jeder einzelne Schritt bei dem Ausbau des Bündnissystems wird von diesem Motiv gelenkt; in jeder Lage wird die bloße Möglichkeit eines Krieges, [240] selbst eines siegreichen, als eine Kalamität bezeichnet, die man zu vermeiden habe; noch in den Bündnisverhandlungen hatte Bismarck seinen Partnern auf die Finger zu passen und selbst dem König von Rumänien gegenüber die defensive Erhaltung des Friedens als den eigentlichen Bündniszweck auf das schärfste zu betonen. Aber könnte man nicht trotzdem den Einwand machen, daß diese Sicherheitspolitik des Deutschen Reiches immerhin von dem egoistischen Gedanken geleitet war, einem unversöhnlichen Gegner alle und jede Koalitionsmöglichkeit zu versperren? Solange in Frankreich der Geist der Revanche die öffentliche Meinung beherrschte und die Kabinette beeinflußte, hat Bismarck aus seiner Politik der Isolierung kein Hehl gemacht. Sobald aber eine versöhnlichere Richtung emporkam und, zumal seit Beginn der Orientkrisis, einen modus vivendi suchte, hatte er diesen realpolitischen Verständniswillen ehrlich und nicht nur mit Worten begrüßt.

Und so führen wir denn, zum Abschluß dieser Periode des deutschen Bündnisaufbaus, ein Urteil des ehemaligen französischen Ministerpräsidenten Waddington an, das er im August 1883 als Botschafter in London dem Grafen Herbert Bismarck über die weise und friedliche Politik des Reichskanzlers aussprach, in der er die größte Friedensgarantie sehe. Er habe die Stellung eines Schiedsrichters in Europa und kein anderer nach ihm werde eine ähnliche Position haben: "Meine feste Überzeugung ist, daß, solange Bismarck am Ruder bleibt, wir uns unbedingt auf die Loyalität Deutschlands verlassen können. Wenn der Kanzler aber einst sein Amt niederlegt, werden stürmische Zeiten für Europa kommen. Dann wird man erst erkennen, von welchem unschätzbaren Wert für den Frieden und das Gedeihen der Völker die jetzige deutsche Politik ist."


65 [1/230]Inhalt und Ziel dieser Episode erscheinen in den Akten der beiden Seiten nicht ganz in derselben Beleuchtung. Für die deutsche Seite: Gr. Politik 4, 3 -  12 (1922); dazu auch 3, 130 f. Für die englische Seite: Buckle, Life of Benjamin Disraeli 6, 486 - 491 (1920). Gw. Cecil, Life of Salisbury 2, 367. ...zurück...

66 [1/231]Königin Victoria 3. November 1879: "The value of such an alliance, however, would be greatly diminished in my eyes if it gave umbrage to France... I am certain that any league against France would never be tolerated by this country." Ponsonby 187 f. ...zurück...

67 [1/232]Vgl. Salisbury an Russell 14. Januar 80: "Nach der gesunden Regel, daß man am meisten liebt, mit denen man am wenigsten rivalisiert, ist Deutschland klärlich auserlesen dazu, unser Verbündeter zu sein." ...zurück...

68 [1/233]Aus dem Leben Fürst Karls von Rumänien 4, 301 ff. Es ist sehr merkwürdig, wie vorsichtig man in Berlin und Wien den nicht unwillkommenen Schritt behandelt hat. Das Merkwürdigste ist, daß Andrássy, der seit dem Herbst 1879 sein ministerielles Amt aufgegeben hatte, in die Lage kam, dem Fürsten von Rumänien als Privatmann, im Einverständnis mit seinem Nachfolger, Baron Haymerle, gleichsam im Namen beider Großmächte, zu antworten. Dieses Schreiben vom 21. April 1880 - a. a. O. 4, 317 ff. - trägt in auffallender Weise den Stil Bismarcks! Fürst Karl Anton von Hohenzollern bringt das Rücktrittsgesuch des Reichskanzlers vom 6. April 1880 in Zusammenhang mit seinen Bemühungen, den Kaiser so weit von der alten Tradition loszulösen, daß er freie Hand bekomme und der österreichischen Aktion zu größerem Nachdruck verhelfe. ...zurück...

69 [2/233]Vgl. J. J. Simpson, "Russo-german Relations and Sabouroff Memoirs." Nineteenth Century Nr. 82, 83. (1917). ...zurück...

70 [1/234]Übrigens ist auch von dem Grafen Andrássy aus dem Jahre 1885 bezeugt, er habe sich an das Dreikaiserverhältnis von 1881 anfangs gar nicht gewöhnen können. ...zurück...

71 [1/235]Wie sehr Bismarck innerlich beunruhigt blieb, zeigt seine Kriegsbesorgnis im Oktober 1881, als das neue Bündnis "noch nicht viel über ein Vierteljahr alt war". (Schweinitz a. a. O. S. 180.) ...zurück...

72 [1/236]Zur Aufnahme der Rede in Rußland vgl. das Schreiben des Fürsten N. Mestscherski an Pobiedonostsew vom 10. 3. 1887: "Mais voici qu'à la suite d'une démarche hardie de Skobélev, la Russie et la France se découverent des intérêts communs, à la grande stupéfaction et au grand effroi de Bismarck. A partir de ce jour ni la France ni la Russie ne sont plus isolées. Skobélev est mort victime de ses convictions, c'est ce dont pas un vrai Russe ne doute". Constantin Pobiédonostsew, Mémoires politiques, S. 425. (Paris 1927.) ...zurück...

73 [1/239]So der Holländer Japikse, Europa und Bismarcks Friedenspolitik (1927). ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte