Bd. 9: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Erster Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 2: Das Deutsche Reich
unter der Staatsleitung Bismarcks 1871 - 1890 (Forts.)
3. Die Begründung des deutschen Bündnissystems
1876 - 1883. (Forts.)
Indem sich das deutsch-österreichische Bündnis zusammenfand,
ergab sich unmittelbar die weitere Frage, ob die Mittelstellung, an der die
deutsche Politik bisher zwischen den beiden großen Gegenspielern
Rußland und England festhielt, in der bisherigen Art fortbestehen oder auch
zugunsten einer formellen Neuorientierung nach der einen Seite hin verlassen
werden sollte.
Noch von Gastein aus hatte Bismarck auf amtlichem Wege am 14. September
eine vertrauliche und unmißverständliche Sondierung bei dem Leiter
der englischen Politik angeordnet. Sie erfolgte erst am 26. September,
gleich nachdem Bismarck in Wien den Entwurf des Bündnisvertrages
unterzeichnet hatte, durch den Grafen Münster auf dem Landsitze Lord
Beaconsfields.65 Bismarck ließ die präzise
Anfrage stellen, welches die Politik Englands sein würde, wenn das
[231] Deutsche Reich, ohne
eigene zwingende Interessen, aus Rücksicht auf seine Freundschaft mit
England und Österreich fortfahre, sich den russischen Zumutungen zu
versagen, und darüber mit Rußland in Zerwürfnis geraten
sollte. Die Anfrage wurde in aller Form in einem Augenblick gestellt, wo die
diplomatische Welt wegen der Wiener Vorgänge in starke Bewegung
geraten war. Lord Beaconsfield, der seit langem einem
deutsch-englischen Bündnis geneigt war und das Scheitern der
früheren Annäherung nachträglich bedauerte, hörte
jetzt, über die konkrete Anfrage und ihren weitreichenden Sinn hinweg, vor
allem das heraus, was er hören wollte und was ihm der eindeutige Sinn des
Schrittes zu sein schien: ein Bündnisantrag, Zuziehung Englands zu dem im
Entstehen begriffenen deutsch-österreichischen Bündnis. Und diesen
Schritt nahm er mit herzlicher Zustimmung, wenn auch mit dem Vorbehalte auf,
daß das englische Interesse mit einem solchen Bündnis keinerlei
Spitze gegen Frankreich verbinden könnte. Es steht außer Frage,
daß die englischen Staatsmänner, sehr erfreut über die
Annäherung, zu ernstlicher Verhandlung, auch über ein
Spezialabkommen, bereit und später überzeugt waren, weit
entgegengekommen zu sein. Sie waren hernach überrascht, daß
Bismarck in dem Fortgang der Besprechungen offensichtlich den Eindruck
erweckte, die Sache vorläufig unter den Tisch fallen lassen zu wollen. Und
tatsächlich war Bismarck mit der englischen Antwort auf seine Erkundung
ihrer letzten Absichten nicht zufrieden. Auf den französischen Vorbehalt
war er gefaßt; auch Königin Viktoria band es hernach ihrem
Premierminister auf die Seele, daß die öffentliche Meinung Englands
ein Bündnis mit dieser Spitze nicht ertragen würde.66 Es genügte dem Reichskanzler
aber nicht, wenn man auf englischer Seite Frankreich und Italien in der
Neutralität halten oder keinen französischen Angriff durch Belgien
zulassen wollte, sondern er stand auf dem Standpunkt, schon ein russischer
Angriff allein sei für Deutschland so unerwünscht, daß man
wissen müsse, ob man in diesem Falle auf sofortige materielle
Unterstützung Englands rechnen
könne - darauf aber blieben die Engländer die Antwort
schuldig oder ihre Antwort schien ihm "nicht so unumwunden zureichend,
daß er es daraufhin hätte wagen mögen, wenn die Gefahr
näher rückte".
Oder sollte der Reichskanzler noch aus einem anderen Anlaß die kaum
eingeleitete Sondierung wieder abgestellt haben? Als er Ende September den
Bericht des Grafen Münster erhielt, war die Spannung infolge des
Widerstandes des alten Kaisers auf den Höhepunkt gestiegen; am 5.
Oktober reichte der Kanzler in aller Form sein Entlassungsgesuch ein. Es
könnte sehr wohl sein, daß er die ganze englische Aktion, die er dem
Kaiser bisher vorenthalten hatte, auch aus dem Grunde nicht weiter verfolgte, weil
er den seelischen Widerstand Wilhelms nicht noch weiter verschärfen
wollte; auch die Mitteilung eines Memorandums [232] über den
Bündnisabschluß an Rußland, die der Kaiser bei Bismarck
durchsetzte, mochte es wünschenswert erscheinen lassen, die englische
Karte zunächst ruhen zu lassen. So wie er in derartigen Krisen immer
wieder die Tragweite des nächsten Bültens vorsichtig ausprobte,
bevor er einen Schritt weiterging, mochte er es vorziehen, die Wirkung der
Mitteilung des Memorandums zunächst einmal abzuwarten. Gerade weil
das englische Entgegenkommen in der exakten Frage seinen Wünschen
nicht ganz entsprach und weil er kein Interesse daran hatte, in London ohne
zwingenden Grund allzu bündnisbedürftig zu erscheinen, konnte er
sich damit bescheiden, einen späteren Augenblick abzuwarten, um die
englische Karte - über deren Wert er sich für die zur Zeit in
der Herrschaft befindliche Partei überzeugt
hatte - aufzunehmen.
Es lag in seiner Natur, die Trümpfe bis zum letzten Augenblick der
Entscheidung womöglich in der Hand zu halten. Die auffallende
Wärme, mit welcher der jetzt völlig bekehrte Salisbury am 17.
Oktober die frohe Botschaft des
deutsch-österreichischen Bündnisabschlusses öffentlich
begrüßte, war eher dazu angetan, den deutschen Staatsmann zur
Vorsicht zu mahnen; er hatte schon in diesen Wochen bei dem Nachfolger
Andrássys eine unsachlich drängende Bewegung nach dem
englischen Flügel hin zu korrigieren. An einem allzu intimen
Zusammenspiel beider Lager konnte ihm kaum gelegen sein. So blieb die Frage
des deutsch-englischen Verhältnisses, in der England in den letzten vier
Jahren einen langen Weg zurückgelegt hatte, zunächst noch
ungeklärt. Wenn es an allen Anlässen fehlte, gegeneinander zu
gehen,67 so waren doch auch der
Reibungsflächen so wenige, daß man nicht unter allen
Umständen miteinander gehen mußte. Das Nahen der
Parlamentswahlen sollte schon nach einiger Zeit die Aufnahme der Verhandlung
verbieten, und das Ergebnis der Wahlen zu Anfang April 1880, ein
durchgreifender Sieg der Liberalen, machte ihr fürs erste ein Ende. Die
veränderliche Parteiengrundlage der englischen Außenpolitik ist dem
Reichskanzler niemals so stark zum Bewußtsein gebracht worden, wie in
diesem Augenblicke. Dieser Umschwung war so recht ein Beispiel für sein
Axiom, daß man auf lange Fristen hinaus die Wege der Vorsehung nicht
bestimmen könne. Er vertrat sowieso die Überzeugung, daß
England im Falle eines Konflikts niemals um seine Existenz zu kämpfen
haben werde, so groß auch die Interessen sein möchten, die es
verteidige, und die Gewinne, die es bei einem glücklichen Ausgang mache;
eben darum konnte es bei einem inneren Parteiwechsel wagen, in der ganzen
Front seiner Außenbeziehungen das Steuer herumzuwerfen. Es war daher
natürlich, daß Bismarck in ebendemselben Momente die
Beziehungen vor allem zu Rußland und Frankreich einer
Nachprüfung unterzog.
Vielleicht ist diese leichte Umstellung schon im Frühjahr 1880 bei der
Be- [233] handlung einer
rumänischen Annäherung zu beobachten. Fürst Karl von
Rumänien,68 mit schwerer Enttäuschung von
dem Berliner Kongreß heimgekehrt, hatte das
deutsch-österreichische Bündnis mit freudiger Zustimmung
begrüßt und suchte jetzt, in seiner Mittelstellung zwischen
Rußland und der russischen Gründung Bulgarien, einen
Anschluß an das neue Bündnissystem. Der Bescheid, auf Umwegen
in gewundener Form gegeben, besagte: Rumänien habe nur zu wollen, um
in einem gegebenen Augenblick der dritte im Bunde zu sein; es habe nur in
geeigneter Weise zu erklären, daß es entschlossen sei, für den
Fall, daß es angegriffen würde, seine natürliche Anlehnung an
die beiden Reiche zu vollziehen; eine solche, wenn auch nur einseitig
ausgesprochene, Erklärung würde die beiden anderen Staaten
moralisch binden. Da nun die Gefahr von 1879 heute nicht mehr vorliege, so
würde eine Fortsetzung der Bündnispolitik durch die formelle
Hinzuziehung eines dritten Staates als eine offensive Bedrohung Rußlands
aufgefaßt werden können, die beiden Teilen fern liege; rücke
aber die Möglichkeit einer solchen Gefahr wieder näher, so
naturgemäß auch die Fortsetzung des Begonnenen. Das hieß,
den rumänischen Antrag vorläufig zurücklegen, bis zu einem
geeigneten Augenblick, wo sich die Annahme empfahl. In diesem Sinn war auch
das persönliche Schreiben Bismarcks an den Fürsten Karl vom 20.
Mai 1880 abgefaßt. In welchem Maße etwa der Widerstand des alten
Kaisers damals ein näheres Eingehen verhindert hat, in welchem
Maße auch die allgemeine Lage, der gleichzeitige englische Umschwung
und die erneuten russischen Bemühungen im Sinne der Vertagung gewirkt
haben, läßt sich mit Sicherheit nicht nachweisen.
Es verdient jedenfalls Beachtung, daß die russische Politik - was ihr durch
die amtliche Mitteilung des Memorandums über das
deutsch-österreichische Bündnis immerhin erleichtert
wurde - in diesem Moment schon den Rückweg nach Berlin
gefunden hatte. Der neue Botschafter in Berlin, Herr von Sabourow, hatte schon
zu Anfang 1880 eine neue Verständigung zu dritt auf der Grundlage des
Berliner Vertrages angeregt.69 Da
Bismarck diesen Schritt wohlwollend aufnahm und seit dem englischen
Umschwung sogar Grund hatte, den Russen
ent- [234] gegenzukommen,
wurden die Verhandlungen seit dem August 1880 fortgesetzt. Vor allem gelang es
ihm nunmehr, die Zustimmung des neuen
österreichisch-ungarischen Außenministers Baron Haymerle zu dem
Fortgang der Verhandlungen zu gewinnen. Während aber der
Österreicher ohne viel Vertrauen und Eifer sich auf eine Sache
einließ, die ihm beinahe eines Zurücklenkens zu dem
Dreikaiserverhältnis verdächtig war, hielt Bismarck es unter allen
Umständen für geboten, die friedliche Stimmung in Rußland
zu benutzen: "Die Früchte unserer Annäherung an Österreich
sind unverkennbar. Die Russen haben viel Wasser in ihren Wein gegossen." Von
jeder Überschätzung frei, sagte er sich selbst, daß die
Rivalität bestehen bleibe und auch ein Vertrag dagegen nicht helfen
könne; wohl aber helfe ein Vertrag gegen kontrollierbare Handlungen. In
dem Entwurfe des neuen "Bündnisses" war ein erster Artikel vorgesehen,
daß im Falle einer der Partner mit einer vierten Großmacht in Krieg
gerate, die beiden andern zu wohlwollender Neutralität und zur
Bemühung um die Lokalisation des Konflikts verpflichtet seien. In dieser
Garantie konnte vom deutschen Standpunkt aus doch ein realer Wert erblickt
werden. Wenn weiterhin die deutsche Neutralität in einem
russisch-englischen Konflikt (etwa in Sachen der Dardanellen) vorgesehen war, so
war auf der anderen Seite für den Fall eines
deutsch-französischen Konflikts die russische Neutralität
gewährleistet.
Die Zustimmung des Zaren war von dem neuen russischen Minister, Herrn von
Giers, der an die Stelle Gortschakows getreten war, im Januar 1881
herbeigeführt worden. Wenn sich der Abschluß noch länger
hinzog, so geschah es, weil die unstaatsmännische Hand des innerlich
widerstrebenden österreichischen Ministers immer neue Schwierigkeiten
machte.70 Es bedurfte, wie der deutsche
Botschafter an Bismarck berichtete, "der vollen Wucht des Einflusses, den Euer
Durchlaucht auf den Geist des Ministers sowohl wie auf den seines Kaisers
ausüben, und des unbegrenzten Vertrauens in die guten und ehrlichen
Absichten des deutschen Bundesgenossen", um die nichtendenwollenden
Bedenken der anderen Seite zu ersticken. Dem österreichischen
Mißtrauen begegnete der Reichskanzler mit dem unwiderleglichen
Argument: wenn die russische Politik gegenwärtig bedenkliche Absichten
hätte, so würde sie vermeiden, sich die Verwirklichung derselben
durch die Herstellung der Barriere zu erschweren, welche durch ein kaiserliches,
zwei benachbarten Monarchen gegebenes Wort neu errichtet werden solle.
Zwischen Wien und Berlin lag jetzt vor allem die Frage: in welches
Verhältnis das neue "Bündnis" zu dem
deutsch-österreichischen Bündnis von 1879 zu treten habe. Bismarck
ließ keinen Zweifel darüber, daß er dieses letztere als das
Primäre und Weitergreifende ansähe; er betonte, daß der
Dreiervertrag, ein diplomatisches Mittel zur Sicherung des Friedens, nicht so weit
gehe wie das deutsch-österreichische Bündnis (das er selbst ja
für immer und öffentlich gewollt [235] habe!), da dieses
eventuell militärische Mittel im defensiven Sinne in Aussicht nehme;
dagegen nehme das neue Abkommen eine kriegerische Leistung in keinem Fall in
Anspruch, sondern nur gegenseitige kaiserliche Versprechungen, Frieden
miteinander zu halten und auf Beteiligung an kriegerischen Koalitionen
gegeneinander verzichten zu wollen: darin sah er einen "sehr erfreulichen
Zuwachs zu den Bürgschaften des allgemeinen Friedens".
Und an diesem Kernpunkt sollte der Wert des neuen Bündnisses durch ein
unvorhergesehenes Ereignis sich bewähren. Während die
Verhandlungen noch schwebten, wurde Zar Alexander II. im März
1881 das Opfer eines Bombenattentats. Der neue Zar, Alexander III., der
bis dahin dem slawophilen Lager näherstand, trat, wie nicht anders zu
erwarten, in die Verhandlungen ein und bestätigte sie "nicht nur als
Vermächtnis, sondern als Ausdruck eigener Überzeugung". So
gewann das neue am 18. Juni 1881 abgeschlossene Vertragsverhältnis
gerade durch den Thronwechsel, der an sich es hatte gefährden
können, noch erhöhte Bedeutung. Insofern war Bismarck in vollem
Rechte, wenn er seinem tiefbefriedigten Monarchen den realen Gewinn des
Abschlusses erläuterte: "Da der Kaiser Alexander für einen
Monarchen gilt, auf dessen Wort sicher gebaut werden kann, so dürfen wir
den Frieden unserer beiden Nachbarn auf Jahre hinaus als gesichert ansehen.
Außerdem aber wird für Deutschland die Gefahr einer
französisch-russischen Koalition vollständig beseitigt und dadurch
das friedliche Verhalten Frankreichs gegen uns so gut wie verbürgt; ebenso
wird den Versuchen der deutschfeindlichen Kriegspartei in Rußland,
Einfluß auf die Entschließungen des Kaisers zu gewinnen, durch das
gegebene Wort des letzteren der Boden entzogen." Er bezweifelte nicht, daß
nach Ablauf der drei Jahre der Gültigkeitsdauer eine weitere
Verlängerung zu erreichen sein werde. Sie ist im März 1884 nicht
ausgeblieben.
In der wohlabgewogenen Reihenfolge der Vorteile des Vertrages für die
deutsche Seite vermied Bismarck jede Erinnerung an das
Dreikaiserverhältnis von 1872, das scheinbar so viel weniger,
tatsächlich aber so viel mehr gewesen war. Denn hatte der alte Bund auf
dem Gefühl der traditionellen Freundschaft, auf allen jenen
Imponderabilien geruht, die selbst ein gewisses Maß von ehelichem Streit
ertragen können, so war die Grundlage der neuen Ordnung eher eine
sachlich kühle und zeitlich befristete Erwägung, bei der die
Staatsräson auf beiden Seiten den Ausschlag gab. Das eigentliche
Imponderabile war die schwere Seele des neuen Autokraten und der Zugang, den
der Geist des russischen Nationalismus zu ihr finden sollte.71 Das neue Bündnis wurde
damals so streng geheimgehalten, daß es zunächst in der
europäischen Diplomatie ziemlich unbemerkt blieb. Der Franzose
Hanotaux, der von ihm noch keine nähere Kunde hat, glaubt sogar in der
Thronbesteigung des Zaren einen tiefen Abschnitt in [236] den
großmächtlichen Beziehungen zu erblicken, und in der
deutschfeindlichen Rede des Generals Skobelew in Paris (Januar 1882) das erste
Symptom für den veränderten Geist der Zeit. Und daß diese
Rede schon in dem ersten Jahre des neuen Vertragsverhältnisses
möglich war, gehört allerdings auch zur Kennzeichnung der neuen
Lage: die deutschfeindliche Kriegspartei, deren Erwartungen durch den Vertrag
zunächst zum Schweigen gebracht waren, durfte immerhin die Franzosen
daran erinnern, daß sie noch am Leben sei. Sie wurde amtlich verleugnet
und getadelt, und Bismarck blieb entschlossen, den Vorfall hinzunehmen, um die
wiederhergestellten amtlichen Beziehungen nicht zu gefährden. Aber er
blieb sich bewußt, daß er hinfort mit einem zweiten Rußland
werde zu rechnen haben, und daß andere Mächte in der Welt eben auf
dieses Rußland ihre Hoffnungen setzten. Wenn Skobelew vor serbischen
Studenten die Parole ausgab: "Der Kampf zwischen Slawen und Teutonen ist
unvermeidlich, und er wird lang, blutig und fürchterlich sein, aber die
Slawen werden siegen", so dachte er vor allem an die weitere Resonanz seiner
Worte in der französischen öffentlichen Meinung, der ihre Hoffnung
erhalten werden sollte.72
Bismarck hätte von vornherein gewünscht, auch die Absichten
Frankreichs irgendwie in der Peripherie der orientalischen Frage zu befriedigen.
Er stimmte durchaus der englischen Anregung in der Zeit des Berliner Kongresses
zu, den Franzosen eine Kompensation in Tunis in Aussicht zu stellen; er war im
nächsten Jahre auch bereit, England und Frankreich ein europäisches
Mandat in Ägypten zu erteilen, hauptsächlich, um "hierbei
Frankreich eine kleine Satisfaktion zu verschaffen"; auf der Madrider Konferenz
im Jahre 1880 wies er seinen Vertreter an, aus allgemeinen politischen
Gründen Hand in Hand mit Frankreich zu gehen, das seiner benachbarten
algerischen Besitzungen wegen in Marokko berechtigte Interessen zu vertreten
habe. Eben im Hinblick auf derartige Interessen formulierte er im April 1880
einen immer wieder auftauchenden Lieblingsgedanken: "Unser
Verständigungsgebiet mit Frankreich erstreckt sich von Guinea bis nach
Belgien hinan und deckt alle romanischen Lande; nur auf deutsche Eroberungen
braucht Frankreich zu verzichten, um uns befreundet zu bleiben." Und so vollzog
sich die Festsetzung von Frankreich in Tunis durch den Bardovertrag im Mai
1881 unter wohlwollender Unterstützung der deutschen Politik. An dieser
Haltung änderte sich auch dann nichts, als Gambetta, der noch in seiner
berühmten Rede vom 10. August 1880 der Idee der Revanche einen
mächtigen [237] oratorischen Auftrieb
gegeben hatte, im November 1881 die Leitung der Geschäfte
übernahm.
Eben der sehr peripherische Vorgang in Tunis sollte Nachwirkungen
auslösen, die für die europäische Staatengesellschaft für
lange Zeit hinaus bestimmend waren: die Abwendung Italiens von Frankreich und
seine Hinwendung zum deutsch-österreichischen Bündnis. Seit der
schweren Enttäuschung des Bardovertrages sah Italien sich durch eine tiefe
Kluft von der französischen Politik getrennt; die Monarchie war schon
längst durch die Gefahren beunruhigt, die ihr von Frankreich und seiner
republikanischen Propaganda drohten. Auf der anderen Seite erkannte man in
Rom, daß eine Spekulation auf einen
russisch-österreichischen Zusammenstoß, für den man sich im
Stillen in der Reserve gehalten hatte, sehr lange auf ihre Stunde werde zu warten
haben, und ertrug es in der Zeit des Bardovertrages schwer, daß man keine
Politik und keine Freunde hatte. So begann man sich notgedrungen Deutschland
zu nähern. Bismarck, der früher wohl mit dem italienischen
Machtfaktor gerechnet hatte, dann aber zweifelhafter geworden war, hielt
zunächst zurück, da ihm die italienischen Ministerien zu schwach
schienen, um selbst eine vertragsmäßig zugesagte Politik gegen die
öffentliche Meinung mit Erfolg durchzuführen. Als dann, nachdem
König Humbert Ende Oktober 1881 einen Besuch in Wien abgestattet hatte,
die italienische Regierung von neuem den Wunsch aussprach, dem angestrebten
freundschaftlichen Verhältnis zwischen den drei Mächten auch
festere Formen zu geben, glaubte Bismarck die herübergestreckte Hand
ergreifen zu sollen. Während Graf Kálnoky, der Nachfolger
Haymerles, dem italienischen Antrag eher auszuweichen geneigt war,
erklärte er es sofort für angezeigt, alles, was von den Italienern ohne
Anspruch auf Gegenleistung geboten würde, anzunehmen und soviel wie
möglich zu verwerten. Für die behutsame Taktik, die Bismarck in
solchen Fällen anzuwenden pflegte, sind die verschiedenen Stufen des
Verfahrens kennzeichnend, das er auf dem schwierigen
österreichisch-italienischen Terrain einschlug. Er verwies den italienischen
Botschafter, der ihm unaufgefordert versicherte, daß von einer Italia
irredenta keine Rede mehr sei, zunächst auf die Tatsache, daß
innerhalb der Friedensgemeinschaft der drei Kaisermächte (deren Existenz
er nicht verschwieg) zwischen Deutschland und
Österreich-Ungarn eine Art von politischer Ehe bestünde, die ihm die
Pflicht auferlege, in einer so wichtigen
Frage - angesichts der vielfältigen
österreichisch-italienischen
Berührungen - der befreundeten österreichischen Regierung
nicht vorzugreifen. Indem er die Schwierigkeiten, die einer
vertragsmäßigen Formulierung der Verständigung
entgegenständen, nicht verhehlte, stellte er die Vorbedingung, daß
Italien sich zunächst mit Österreich über ihre beiderseitigen
Interessen verständigen müsse: was Italien für
Österreich tun werde, würden wir als uns erwiesen betrachten. Der
Schlüssel der Tür, die zu uns führe, sei für Italien in
Wien zu finden. Dann aber suchte er auf den Gang der Wiener Verhandlungen, als
ein versöhnlicher und
prak- [238] tischer Berater, in dem
Sinne des ehrlichen Maklers, der das Geschäft zustande gebracht sehen
will, nach Bedarf einzuwirken. Als Kálnoky, für den die
ursprünglich in Rom gewünschte Form eines
Garantievertrages - schon der römischen Frage
wegen - überhaupt nicht in Betracht kam, sich mit der Form eines
Neutralitätsvertrages begnügen wollte, wies Bismarck mit Nachdruck
darauf hin, daß man weitergehen müsse, da den Italienern ihre Sorge
vor Frankreich durch einen bloßen Neutralitätsvertrag nicht
erleichtert werden würde. Er schlug statt dessen vor, die beiden
Kaisermächte möchten, um die italienische Regierung auf ihrer Linie
festzuhalten, ihr den Beistand gegen einen unprovozierten Angriff von seiten
Frankreichs in Aussicht stellen; die Form der Gegenseitigkeit bringe dann mit
sich, daß Italien die entsprechende Verpflichtung auf sich nehme, deren
praktisch zu erwartende Leistung zwar nicht hoch einzuschätzen sei, aber
immerhin im Falle eines russisch-französischen Angriffes gewisse
Truppenmengen der Mittelmächte frei machen werde. Daß Bismarck
überhaupt solche Möglichkeiten trotz des vor einem Jahre
abgeschlossenen Dreikaiserbündnisses in Betracht ziehen konnte,
müßte an sich überraschen, wenn er nicht durch die
panslawistischen Reden des General Skobelew in Paris 1882 daran erinnert
worden wäre, daß in dem ewig flüssigen Element der Politik
auch so feste Tatsachen wie das Wort des absoluten Zaren nicht mehr ihren alten
Wert besaßen; er war sogar in diesen Wochen der italienischen
Verhandlung geneigt, Rußland auf dem abschüssigen Wege zum
Kriege selbst Frankreich voran zu sehen. Um so mehr fuhr er fort, an dem
großen Netze der Friedenssicherung weiterzuknüpfen, auch wenn er
ein neues Werkstück von vornherein als nicht sehr widerstandsfähig
einschätzte. Gerade bei dem Dreibundvertrage, dessen einzelne
Bestimmungen in diesem Zusammenhange keiner Erläuterung
bedürfen, nahm er wohl absichtlich eine Haltung ein, die man sonst in
seiner Geschäftsführung kaum bemerkt. Er betonte während
der Verhandlungen wiederholt, daß man Italien gegenüber auf die
Wahl der Ausdrücke in dem Vertrage ein so großes Gewicht nicht zu
legen brauche; er warnte sowohl vor jeder allzu feinen Zuspitzung als auch vor
jedem auf Annehmen oder Ablehnen gestellten Druck; er war frei von jeder
Illusion, aber doch gewillt, das neue Werkstück bei aller Relativität
nicht aus der Hand zu geben. Für seine Beurteilung des neuen Partners und
des Vertrages war es charakteristisch, daß er sogar für einen Vermerk
in den Akten sorgte, der die deutsche Diplomatie für die Redaktion der
Aktenstücke nach Form und Inhalt von jeder Verantwortung entlastete: "Es
kam für uns lediglich darauf an, dem uns verbündeten
Österreich für den Kriegsfall die Sorge der Deckung seiner
italienischen Grenze nach Möglichkeit abzunehmen." Es war eine
Entlastung der großmächtlichen Stellung Österreichs, die
dessen Bündniswert für Deutschland vermehrte, insofern eine
Hilfskonstruktion, deren Entwicklung zu einem selbständigen Element der
Politik abgewartet werden mußte. Indem aber sowohl Rußland als
auch Frankreich in jeder gegen die [239] Mittelmächte
gerichteten Aktion eines möglichen Partners beraubt wurden, wurden sie in
ihrem diplomatischen Wirkungskreise eingeengt, während das Deutsche
Reich die Sicherung seines Bestandes und des europäischen
Friedens - denn immer mehr begannen beide Ziele sich zu einem einzigen
zu vereinen - in einem nach und nach sich erweiternden Radius
durchführte.
Die Wirkung erhöhte sich noch, als im Herbst 1883 auch der
Anschluß Rumäniens, der im Frühjahr 1880 hatte vertagt
werden müssen, zustande kam. Formell vollzog er sich in der Weise,
daß Österreich-Ungarn und Rumänien einen
Friedens- und Freundschaftsvertrag abschlossen und sich verpflichteten, im Fall
eines Krieges von dritter Seite einander Hilfe zu leisten und im Falle der
Bedrohung über die militärisch notwendigen Schritte eine
Militärkonvention abzuschließen. Diesem Vertrage trat das Deutsche
Reich am 30. Oktober 1883 bei.
Der Beitritt Italiens wie Rumäniens übte eine ähnliche
dynamische Funktion aus. Sowohl die Politiker in Rom wie die in Bukarest
mußten, so schwer es ihnen fiel, die
Irredenta-Ansprüche, die sie, die einen vornehmlich gegen
Österreich, die anderen vornehmlich gegen Ungarn, verborgen im Herzen
trugen, fortan einsargen; allein durch diesen Verzicht konnten sie den
Anschluß an das Bündnissystem Mitteleuropas und die damit
verbundene Lebensversicherung, die ihnen eine unabhängige Politik
verbürgte, überhaupt erlangen. Bismarck aber vermochte erst durch
die beiden Anschlüsse von 1882 und 1883 das Bündnis mit
Österreich-Ungarn - das am 22. März 1883 erneut auf
fünf Jahre, vom 21. Oktober 1884 gerechnet, verlängert
wurde - so wertvoll und risikofrei zu gestalten, wie er es im Interesse des
Deutschen Reiches wünschen mußte. Indem er die italienische wie
die rumänische Hypothek für eine absehbare Zeit von dem Hause der
Doppelmonarchie herunterholte, wurden aus den inneren Grenzlinien des
mitteleuropäischen Blockes die Reibungsflächen entfernt, die dem
Frieden Europas und der Erhaltung des status quo gefährlich
werden konnten. Je weiter diese Politik sich ausdehnte, desto stärker war
der Eindruck, daß sie zwar vom deutschen Interesse geleitet war, aber
zugleich dem allgemeinen Frieden zugute kam. So sollte jede der Nachwirkungen,
in denen die Periode des Berliner Kongresses abläuft, doch dazu dienen, die
gesicherte Mittelstellung des Deutschen Reiches zu befestigen.
Wer die Bündnispolitik Bismarcks, die in diesen Jahren im wesentlichen ihr
Gebiet absteckte, auf ihre ausgesprochenen und unausgesprochenen Motive hin
untersucht, wird ihr nicht den Vorwurf machen können, daß sie etwas
anderes als die Befestigung des Friedens erstrebt habe. Auch die neuere
außerdeutsche Forschung, die sich auf den deutschen Aktenpublikationen
aufbaut, ist so gut wie einmütig zu dem Ergebnis gekommen, ihren
unbedingten Friedenscharakter anzuerkennen.73 Jeder
einzelne Schritt bei dem Ausbau des Bündnissystems wird von diesem
Motiv gelenkt; in jeder Lage wird die bloße Möglichkeit eines
Krieges, [240] selbst eines
siegreichen, als eine Kalamität bezeichnet, die man zu vermeiden habe;
noch in den Bündnisverhandlungen hatte Bismarck seinen Partnern auf die
Finger zu passen und selbst dem König von Rumänien
gegenüber die defensive Erhaltung des Friedens als den eigentlichen
Bündniszweck auf das schärfste zu betonen. Aber könnte man
nicht trotzdem den Einwand machen, daß diese Sicherheitspolitik des
Deutschen Reiches immerhin von dem egoistischen Gedanken geleitet war, einem
unversöhnlichen Gegner alle und jede Koalitionsmöglichkeit zu
versperren? Solange in Frankreich der Geist der Revanche die öffentliche
Meinung beherrschte und die Kabinette beeinflußte, hat Bismarck aus seiner
Politik der Isolierung kein Hehl gemacht. Sobald aber eine versöhnlichere
Richtung emporkam und, zumal seit Beginn der Orientkrisis, einen modus
vivendi suchte, hatte er diesen realpolitischen Verständniswillen
ehrlich und nicht nur mit Worten begrüßt.
Und so führen wir denn, zum Abschluß dieser Periode des deutschen
Bündnisaufbaus, ein Urteil des ehemaligen französischen
Ministerpräsidenten Waddington an, das er im August 1883 als Botschafter
in London dem Grafen Herbert Bismarck über die weise und friedliche
Politik des Reichskanzlers aussprach, in der er die größte
Friedensgarantie sehe. Er habe die Stellung eines Schiedsrichters in Europa und
kein anderer nach ihm werde eine ähnliche Position haben: "Meine feste
Überzeugung ist, daß, solange Bismarck am Ruder bleibt, wir uns
unbedingt auf die Loyalität Deutschlands verlassen können. Wenn
der Kanzler aber einst sein Amt niederlegt, werden stürmische Zeiten
für Europa kommen. Dann wird man erst erkennen, von welchem
unschätzbaren Wert für den Frieden und das Gedeihen der
Völker die jetzige deutsche Politik ist."
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