Bd. 9: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Erster Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 2: Das Deutsche Reich
unter der Staatsleitung Bismarcks 1871 - 1890 (Forts.)
3. Die Begründung des deutschen Bündnissystems
1876 - 1883. (Forts.)
Seit dem Ausgang des Berliner Kongresses hat Bismarck mit der
Möglichkeit gerechnet, daß der überalterte Fürst
Gortschakow, der für die ungeschickte Staatsleitung der letzten Jahre die
Verantwortung trug, sein Amt zugunsten einer sachlicheren
Geschäftsführung aufgeben würde. Er sollte aber erleben,
daß Gortschakow das Vertrauen des Zaren behauptete und seinerseits alle
Schuld an dem unbefriedigenden Kriegsausgang auf die Macht der Mitte schob,
die ihrer Verpflichtung des Dankes nicht nachgekommen wäre. Es war die
wohlbekannte Tonart, unter deren Zeichen das
deutsch-russische Verhältnis schon seit Jahren stand: jetzt wurde sie zu
einer Anklage, mit der die Herrschenden in Rußland die Stimme des Volkes
zu übertönen und abzulenken suchten. Sehr bald schlug der anfangs
zurückhaltende Ton der russischen Presse vollends um,51 um mit Vorliebe das Thema
abzuwandeln, daß die traditionelle Feindschaft der einen und die falsche
Freundschaft der anderen die Russen zu Zugeständnissen genötigt
habe, die ihren kriegerischen Erfolgen nicht entsprächen; selbst ein Organ
der Westler, wie die Westnik Jewropy, zog schon im August 1878 den
Schluß: "Der Dreikaiserbund besteht nicht mehr. Rußland hat durch
den Berliner Vertrag weniger erreicht, als ohne denselben zu erreichen gewesen
wäre. Die daraus für unsere künftige Politik zu ziehende
Schlußfolgerung erscheint außerordentlich einfach: wir müssen
entweder auf die Lösung der orientalischen Frage überhaupt
verzichten, oder wir müssen für diese Lösung andere
Kombinationen ins Auge fassen." Das war zunächst eine einzelne Stimme,
aber der Botschafter meldete schon am 20. Februar 1879, daß viele, die
noch vor sechs Wochen den Gedanken [221] einer
Annäherung an Frankreich von sich gewiesen haben würden, heute
geneigt seien, darauf einzugehen.52
Der Hauptanlaß der Klagen wurde den Arbeiten der gemischten
Grenzkommissionen zur Durchführung des Friedens entnommen.
Spezialfragen, wie die deutschen Sperrmaßregeln wider die Pestgefahr (die
sogar Schweinitz für vexatorisch übertrieben hielt), die zwischen
dem Deutschen Reiche und Österreich-Ungarn vollzogene Aufhebung der
Prager Friedensklausel
über Nordschleswig, die Entwürfe des
deutschen Schutzzolltarifs lieferten dem Pressekampf noch besonderen
Zündstoff und verbitterten die Stimmung.
Als sich zu der Haltung der russischen Presse auch Nachrichten über
militärische Vorgänge gesellten, Reform und Vermehrung des
russischen Heeres, Truppenverschiebungen, namentlich der Kavallerie, an der
deutsch-russischen Grenze gemeldet wurden, wurde Bismarck ernstlicher
besorgt.53 Aus einer großen Denkschrift
von Schweinitz vom 22. März 1879 mögen ihn vor allem die
Nachrichten über die Militärorganisation Miljutins schwerer
beunruhigt haben.54 Wenn Miljutin nun der kommende
Mann statt des in Ungnade gefallenen Schuwalow nach dem Rücktritt
Gortschakows sein würde? Mehrten sich nicht die Anzeichen, daß die
Situation des Winters 1876/77 sich trotz des Berliner Kongresses erneuere? Als
der Botschafter von Schweinitz, der selbst für die russischen Klagen gegen
die deutsche Politik bis zu einem gewissen Grade zugänglich war, Anfang
April den Reichskanzler in Berlin aufsuchte, setzte Bismarck ihm auseinander,
alle diese Erfahrungen der letzten Jahre hätten die Überzeugung in
ihm zur Reife gebracht, daß kein Verlaß mehr auf Rußland sei
und selbst auf dessen Beherrscher nicht mehr in demselben Grade wie
früher; man könne sich also nicht um der unsicheren russischen
Freundschaft willen mit den anderen Mächten verfeinden, und namentlich
nicht mit England und Österreich. Man sieht, der cauchemar des
coalitions begann ihn von neuem zu bedrücken, und so endete er denn
auch diesmal mit der Schlußfolgerung, die sich schon seit mehreren Jahren
in düsteren Stimmungen einstellte: mit Österreich müsse
vielmehr ein engeres Verhältnis angestrebt werden, welches zu einem
organischen, ohne Zustimmung der parlamentarischen Körperschaften nicht
lösbaren Bündnis zu entwickeln sei.55 Der
Botschafter erschrak über diese ganz neuen, entsetzlichen Horizonte, die
ihm eigentlich seit dem Januar 187756 nicht
mehr fremd sein konnten, aber jetzt wie eine drohende Wirklichkeit
nähergerückt waren. Er wäre noch
über- [222] raschter gewesen, wenn
er den Brief gelesen hätte, in dem Bismarck in den nächsten Tagen
dem alten Lord Beaconsfield - neben entgegenkommenden
Maßnahmen in Sachen des
Welfenvermögens - ganz beiläufig und in einem sonst
fremden Tone vertraulichen Scherzes seine Sympathie mit der Politik aussprach,
die er gegen die unruhigen Wespen verfolge, welche den britischen Löwen
belästigten.57 Schon drängt sich die Frage
auf, wie oft noch werden sich diese Eindrücke wiederholen und die
übliche Reaktion in dem politischen Ingenium Bismarcks auslösen?
Da sollte ein noch schrofferes Vorgehen des Zaren plötzlich die Wendung
herbeiführen.
Am 7. August 1879 beklagte sich Zar Alexander dem Botschafter von Schweinitz
gegenüber in ernstem Tone über die Abstimmung der deutschen
Delegierten, die überall die Partei Österreichs ergriffen und gegen
Rußland stimmten. Er schloß mit den Worten: "Wenn Sie wollen,
daß die Freundschaft, welche uns hundert Jahre lang verbunden hat,
fortdauere, dann sollten Sie dies ändern. Es ist ganz natürlich,
daß der Gegenschlag hier nicht ausbleibt; Sie sehen die Sprache, welche die
Zeitungen führen; das wird auf eine sehr ernste Weise ein Ende nehmen.
Ich werde dem Kaiser darüber schreiben." Schweinitz schloß aus den
Wahrnehmungen,58 die er während der
nächsten vierzehn Tage im Lager von
Krasnoje-Selo machte, daß "Kaiser Alexander momentan nicht mehr das ist,
was er uns seit 1862 war, und daß er bei sich bietender Gelegenheit bereit
sein würde, trotz seiner Freundschaft für die Person unseres Kaisers
in Gegensatz zu dessen Politik zu treten". Das von dem Zaren angekündigte
Schreiben an Kaiser Wilhelm I.
vom 15. August 1879, das die Annahme
des Botschafters in vollem Umfange bestätigte, ist dadurch
denkwürdig geworden, daß es einem sich schon seit langer Zeit
entwickelnden Prozesse die endgültige Wendung gab. Das Handschreiben
des Zaren, in einem anderen Tone und in einem anderen Stil verfaßt, die auf
einen anderen Berater deuten, entwickelte in wörtlich anklingenden
Wendungen die Beschwerden: während Franzosen und Italiener sich fast
immer dem russischen Votum anschlössen, schienen die deutschen
Delegierten angewiesen zu sein, immer die der russischen systematisch feindliche
Meinung der Österreicher zu unterstützen. "Ich halte es für
meine Pflicht", erklärte der Zar seinem Oheim, "Ihre Aufmerksamkeit auf
die traurigen Folgen zu lenken, die das in unseren gut nachbarlichen Beziehungen
hervorbringen könnte, indem es unsere beiden Nationen gegeneinander
erbittert, wie die Presse beider Länder es schon zu tun beginnt... Ich
begreife durchaus, daß Sie auf die Pflege Ihrer guten Beziehungen zu
Österreich halten, aber ich begreife nicht das Interesse Deutschlands, das
russische Interesse zu opfern. Ist es eines wahren
Staats- [223] mannes würdig,
einen persönlichen Streit ins Gewicht fallen zu lassen, wenn es sich um das
Interesse zweier großer Staaten handelt, die geschaffen sind im guten
Einverständnis zu leben, und von denen der eine dem anderen im Jahre
1870 einen Dienst geleistet hat, den Sie nach Ihrem eigenen Ausdruck niemals
vergessen zu wollen erklärt haben? Ich würde mir nicht erlaubt
haben, Sie daran zu erinnern, aber die Lage wird zu ernst, als daß ich Ihnen
meine Befürchtungen verbergen dürfte, deren Folgen
verhängnisvoll für unsere beiden Länder werden
können." Schon auf die ersten Meldungen des Botschafters hatte Bismarck
erwidert, daß russische Drohungen ihn nur nötigen könnten,
die bisherige Unparteilichkeit zwischen den beiden Nachbarn aufzugeben, "aber
gewiß nicht zugunsten der drohenden Seite": ohne einen Moment zu
versäumen, hatte er noch von Gastein aus, wo er zur Kur weilte, bei dem
Grafen Andrássy um eine Zusammenkunft anfragen lassen. Als er aber
den strengen Drohbrief des Zaren in Händen hielt, der ihn selbst im
Vertrauen seines kaiserlichen Herrn aus dem Sattel zu heben versuchte, war
unwiderruflich der Entschluß gefaßt, der sich seit Jahren immer
wieder seiner Seele genähert hatte.
In derselben Stunde ging er zur Tat über, mit jener unbeirrbaren Sicherheit,
die ihm in solchen Schicksalsstunden aus dem dunklen Gefühl erwuchs, in
seinem menschlichen Tun den Willen der Vorsehung zu vollstrecken. Am 24.
August meldete er dem Kaiser, der den Feldmarschall von Manteuffel zur
Begrüßung des Zaren nach Warschau entsenden wollte, daß er
selbst in den nächsten Tagen mit dem Grafen Andrássy über
die Möglichkeit eines deutsch-österreichischen Bündnisses
verhandeln und dann den Kaiser vielleicht um die Erlaubnis bitten würde,
seine Rückreise von Gastein über Wien antreten zu dürfen.
Und nun begann in den nächsten Wochen ein Schauspiel, das in der
diplomatischen Geschichte aller Zeiten, und insbesondere für das
Verhältnis von Staatshaupt und oberstem Ratgeber, ewig denkwürdig
bleiben wird. Schon der Ausgangspunkt dieses Ringens setzte mit einem
diametralen Gegensatz ein. Am 27. August hatte Bismarck sich mit dem leitenden
Minister Österreich-Ungarns prinzipiell über den
Bündnisschluß mit höchster Schnelligkeit geeinigt; auf der
anderen Seite hatte sein Monarch durch Manteuffels Vermittlung eine
Zusammenkunft mit dem Zaren in Alexandrowo verabredet, um alles, was ihm als
Mißverständnis erschien, persönlich aus der Welt zu schaffen.
Kaiser Wilhelm suchte seinem Kanzler von vornherein jede Reise nach Wien zu
untersagen: "in keinem Fall, weil Rußland dies sofort als eine
rupture ansehen muß" - entsprechend setzte Bismarck alles
daran, die Reise des alten Kaisers zu dem Zaren nach dem Empfang des
Drohbriefs, als eine seiner kaiserlichen Ehre zuwiderlaufende und politisch
unkluge Handlung, zu verhindern. Jeder der beiden handelte mit dem
höchsten Aufgebot seiner Kräfte, um den Staat auf der von ihm
für richtig gehaltenen Linie seiner Außenpolitik festzuhalten. Seit
dem 7. September verknüpften sich die Entschließungen, die
zwischen Gastein und Wien auf der einen und Danzig und Stettin auf der anderen
Seite hin und [224] her jagten, mit einer
Kanzlerkrisis von einer Dauer und Tiefe, wie sie seit dem September 1862 noch
nicht stattgefunden hatte. Die Berichte Bismarcks wachsen zu ausgedehnten
Staatsschriften bis über 60 Seiten Länge an, und die
Berichterstattung des 82jährigen Kaisers über seine Aussprache mit
dem Zaren ist vielleicht die eindringendste Auseinandersetzung, die wir aus seiner
Feder besitzen. Die Randbemerkungen, mit denen jeder die Gedankengänge
des anderen begleitet, bieten das Bild einer Mensur, in der auf beiden Seiten Hieb
und Parade wechseln. Beide setzen in diesem Ringen alles auf alles. Kaiser
Wilhelm steht eher allein, wenn er mit scharfsinnigen Einwänden und
höchster Energie jede seiner Positionen verteidigt; man sieht wenigstens
nicht, wer - außer Manteuffel - sein Berater sein könnte.
Bismarck
dagegen zieht allmählich zur Verstärkung seiner Person
den Kronprinzen, die militärische Autorität Moltkes, das
preußische Staatsministerium und den Bundesratsausschuß für
auswärtige Angelegenheiten heran, um den Willen des Monarchen
gleichsam einzukreisen. Der Reichskanzler war entschlossen, seine Entlassung zu
nehmen, wenn die Krone über seinen Rat hinwegschreiten würde,
und der Kaiser trug sich vollends mit ernsten Rücktrittsgedanken, um sie
dann doch mit der pflichtgemäßen Erkenntnis zu überwinden:
"Bismarck ist notwendiger als ich." Nur in einer tiefen seelischen
Erschütterung, die von der Treue seines politischen Charakters ein
schönes Zeugnis ablegt, hat er sich schließlich unterworfen: "Seit vier
Wochen kämpfe ich," schrieb er an den Minister von Bülow am
3. Oktober, "gegen eine Stipulierung in Wien, die meinem Ehrgefühl
und meiner Pflicht widerstrebt, und welchem Kampf ich nur nach
Erschöpfung aller Gegenvorstellung gestern nacht nachgegeben habe...
Meine ganze moralische Kraft ist gebrochen! Ich weiß nicht, was aus mir
werden soll! Denn der Kaiser Alexander muß mich für
wortbrüchig halten, nachdem ich ihm schrieb und sagte auf Dictat des
Fürsten Bismarck - »de maintenir le legs centenaire de nos
pères.«"59
Die einzelnen Stadien dieses Ringens seien hier übergangen, ebenso die
Phasen der Entwicklung, die der materielle Inhalt der Bündnisverpflichtung
bis zum endgültigen Wortlaut des Vertrages durchmacht. Das Ergebnis der
Verhandlungen war ein Defensivbündnis, das die beiden Mächte
nicht generell, d. h. gegen den Angriff einer jeden dritten Macht, sondern
ausschließlich, wie es der Entstehung des Bündnisvertrages
entsprach, gegen einen Angriff des im Vertrage ausdrücklich genannten
Rußlands eingingen. Danach könnte es scheinen, als wenn vor allem
Österreich-Ungarn, als die von Rußland unmittelbar bedrohte Macht,
eine Bündnisdeckung gefunden hätte und in erster Linie der
Gewinner gewesen wäre. Die von der Gegenseite zu fordernde
Verpflichtung, daß Österreich-Ungarn eine entsprechende
Hilfsverpflichtung bei einem Angriff Frankreichs auf das Deutsche Reich
übernehme, konnte Bismarck in Wien nicht durchsetzen, und man begreift,
daß Kaiser Wilhelm an dieser sachlichen Ungleichheit den stärksten
[225] Anstoß nahm
und statt dessen die Parität, die generelle Verpflichtung, auch aus dem
Grunde verlangte, weil der kriegerische Ausbruch französischer
Angriffsgelüste eine größere Wahrscheinlichkeit in Zukunft
haben würde als ein russischer Angriff. Wenn Bismarck es trotzdem
über sich gewann, den österreichischen Einwänden
Gehör zu geben, so war entscheidend für ihn die Einsicht, daß
ohne Bundesgenossen ein französischer Angriff auf das Deutsche
Reich außer aller Wahrscheinlichkeit läge und nur in Verbindung mit
einem russischen Angriff zur Wirklichkeit werden könnte: für den
Fall eines Angriffs von zwei Seiten würden dann die weiteren
vertragsmäßigen Hilfsverpflichtungen des Partners doch automatisch
in Kraft treten. Daneben ließ er auch das Wiener Argument gelten,
daß durch eine generelle Verpflichtung die zur Zeit friedliche Staatsleitung
Frankreichs geradezu in die Arme Rußlands getrieben werden würde;
er wußte selber gut genug, daß die Stellung Englands zu dem
deutsch-österreichischen Bündnis dadurch, daß es keine offene
Spitze gegen Frankreich nahm, unter allen Umständen erleichtert wurde.
Auch in die Bestimmungen des deutsch-österreichischen Bündnisses
spielte somit die gesamteuropäische Dynamik hinein. So begnügte
sich eine jede Herausforderung vermeidende Staatskunst, allein gegen die
stärkste friedensgefährliche Kraft, die durch ihr Vorgehen auch
andere latente Kräfte verwandter Art auslösen konnte, in eine
vertragsmäßige Verteidigungsstellung einzurücken.
Wenn man die immer von neuem durchdachte Frage der Motive aufwirft, die
Bismarck
im Herbst 1879 bestimmt haben, seine ganze staatsmännische
Kunst an diese Entscheidung zu setzen, so muß mit Nachdruck bemerkt
werden, daß seine Entschließung nicht das Erzeugnis eines
Augenblickes, die Frucht einer Laune, eine Handlung aus einem bestimmten
Anlaß gewesen ist, sondern daß sie langsam und unwiderstehlich als
eine tiefe Überzeugung in ihm herangereift ist. Es ist die Summe alles
dessen, was er in den Jahren 1875 bis 1879 erlebt und jetzt zu einem politischen
Axiom verdichtet hatte, mit dem zu siegen oder zu fallen er entschlossen war.
Niemals hat ein Staatsmann sich so zögernd von dem losgelöst, was
bis dahin der Kern seines außenpolitischen Glaubens gewesen war. Nur aus
diesem Grunde haben wir uns in die diplomatischen Einzelheiten dieses Prozesses
so sehr vertieft, um an dem unaufhaltsamen Wachstum des Erlebnisses das
Absolute des schließlich durchbrechenden Willensentschlusses zu
erläutern. Weil sich in diesem Jahre ein Stein zum anderen gefügt
hatte, um einen festen Bau der Argumente aufzurichten, stand sogleich beim
Beginn der Krisis für ihn fest, daß er schnell und eindeutig handeln
müsse. Als wenn er auf diese Stunde gewartet hätte, griff er nach
dem Zarenbriefe als nach einer Waffe, um alle Widerstände zu
überwinden. Schon in einem Telegramm vom 1. September war die
Motivierung seines Entschlusses fast im Tone eines Richterspruches, der keine
Appellation duldet, in monumentaler Kürze zusammengedrängt:
"Wir dürfen nicht von dem Wohlwollen und der Ehrlichkeit einer
mißgestimmten Macht [226] abhängig
werden, die so undankbar ist, daß sie nach den großen Diensten, die
wir ihr leisteten, ihr fanatisches Volk gegen uns verhetzt, eine Invasionsarmee an
unserer Grenze bereithält, im Frieden maßlos rüstet, und dann
unter Kriegsdrohung Lehnsfolge von uns fordert. Österreich ist sicherer,
weil das Volk dafür ist, dabei ungefährlich für uns, bringt
England mit und verfällt feindlichen Einflüssen, wenn es den Halt an
uns nicht findet."
Wo aber liegt in diesem an Tatsachen fast überladenen
Motivenzusammenhang der Schwerpunkt? Im Zentrum steht wohl seine
Beurteilung des Panslavismus und seines Einflusses auf die amtliche russische
Politik. Wie es in einer Denkschrift Bismarcks vom 7. September heißt:
"Mit der unberechenbaren Elementargewalt dieser slawischen Revolution ist
für uns keine Verständigung möglich, und es ist nicht denkbar,
daß der Kaiser, und vielleicht ebenso wenig, daß der Thronfolger sich
von diesen Einflüssen wieder hinreichend emanzipieren werde, um dem
von seiner Regierung künstlich erzeugten Deutschenhaß seiner
Untertanen Trotz zu bieten. Das Bewußtsein der deutschen Abstammung
der Dynastie macht ihn schon ängstlich nach der Richtung hin,
während der Mut und das Expansionsbedürfnis nach außen
durch den Krieg krankhaft gesteigert ist, man könnte sagen, zum
slawischen Napoleonismus."
Das dynastische Freundschaftsverhältnis zwischen Preußen und
Rußland, dem Zeitalter der Befreiungskriege entstammend, war eigentlich
an die Epoche gebunden, in der die
preußisch-österreichische Rivalität mehr oder minder
ausgesprochen den Lauf der Dinge bestimmte; es konnte nicht die alte
Intimität bewahren, als diese Rivalität ausgekämpft und
überwunden war. War die Freundschaft schon belastet durch die
Verbindung Preußens mit dem deutschen Nationalismus, der seinerseits
auch dem Hohenzollernstaate die politischen Aufgaben und Ziele wesentlich
bestimmte, so ging sie vollends in Trümmer, als das Zarenhaus sich in das
Gefolge einer neuen nationalistischen Bewegung begab, die noch tiefer als die
Dynastie in dem russischen Volke wurzelte. Jetzt standen Machtstaat und
Machtstaat einander gegenüber: in Rußland hatte sich die Verbindung
vollzogen, die beim Ausbruch des Weltkrieges im Juli 1914 alle politische
Klugheit über den Haufen rennen wird. Bismarck hatte im Herbst 1879 das
Gefühl, diesem Gespenst zum ersten Male in die Augen zu sehen.
Der Eindruck verband sich für Bismarck mit der zweiten Beobachtung,
daß Zar Alexander, nach der Meldung Manteuffels, seine Aversion gegen
die französische Republik überwunden habe. Einst während
des deutsch-französischen Krieges hatte der Kanzler vorhergesagt: Nur die
Gefahr eines russisch-französischen Bündnisses könnte die
Lösung unserer Freundschaft mit Rußland rechtfertigen. Nichts auf
der Welt hatte in den verflossenen Jahren seine mißtrauische
Aufmerksamkeit so sehr erregt, wie alles, was nach Vertraulichkeiten zwischen
Petersburg und Paris aussah. Die Gefahr, die er befürchtete, klopfte zwar
im Herbst 1879 noch nicht vernehmlich an die Tür, aber ihr Schatten fiel
zum ersten- [227] mal, in einer Reihe von
Symptomen erkennbar, auf den Weg der deutschen Politik. Das wichtigste
Symptom hatte den Entschluß Bismarcks noch nicht mit ausgelöst,
sondern wurde ihm erst nach Ablauf der ersten Septemberwoche bekannt: die
Entsendung des gelehrten Generalstäblers General Obrutschew zu den
französischen Manövern, mit dem Auftrage des russischen
Kriegsministeriums, den Bereitschaftsgrad der französischen Armee zu
erforschen. Der französische Minister Waddington war mit einer gewissen
Beflissenheit, mit der Miene einer beleidigten Ehefrau, wie Bismarck scherzte,
darauf aus, nach allen Seiten von russischen Annäherungen und von der
Ablehnung und Neutralität Frankreichs einiges durchsickern zu lassen; vor
allem seinen englischen Freunden versicherte er, daß, wenn Rußland
und Italien sich mit Angriffsplänen gegen Deutschland und
Österreich befaßten, Frankreich an irgendsolchen Plänen
keinen Anteil nehmen werde.60
Auch wenn es noch nicht zu diplomatischen Sondierungen auf amtlichem Wege
gekommen war, so konnte niemand garantieren, daß sie nicht im
nächsten Augenblicke nachfolgten und eines Tages auch eine andere
Aufnahme bei einer anderen französischen Regierung fänden.
Bismarck sah nur ein weiteres Vortasten der Russen auf einem Wege, den er
längst mit Sorge beobachtete, es war nicht seine Aufgabe abzuwarten, bis
es sich zu positiveren Schritten verdichtete. Das französische Argument
hatte in den ersten Wochen der Krisis noch nicht primär mitgewirkt; als es
ihm in die Hände gespielt wurde, war es eine für seinen
Entschluß nicht unwillkommene Verstärkung.61
Unter den Erwägungen, die jetzt für das Bündnis mit
Österreich sprachen, spielte das negative Argument eine Rolle, daß
der Rücktritt Andrássys bevorstand und damit die Unsicherheit
seiner Nachfolge; daß also, wenn man diesen Moment nicht nutzte, mit der
Möglichkeit gerechnet werden mußte, daß Österreich
unter anderer Leitung eine andere Richtung seiner Außenpolitik einschlagen
würde.
Bismarck aber wollte Österreich für alle Zeit auf einer Linie
festhalten, die dem realpolitischen Bedürfnis des deutschen Staates und
dem lebendigen [228] Gefühl der
deutschen Nation in gleicher Weise entsprach. Schon in einem seiner ersten
Berichte hatte er seinem Monarchen den großen historischen
Zusammenhang aufzurollen versucht, in dem er selber sich stehend und handelnd
empfand: "Ich habe schon bei den Friedensverhandlungen in Nikolsburg 1866 der
tausendjährigen Gemeinsamkeit der gesamtdeutschen Geschichte
gegenüber das Gefühl gehabt, daß für die Verbindung,
welche damals zur Reform deutscher Verfassung zerstört werden
mußte, früher oder später ein Ersatz von uns zu beschaffen sein
werde." Damit schlug der Mann, der im Jahre 1866 den Bruderkrieg entfesselt und
die Spaltung des deutschen Gesamtkörpers vollzogen hatte, selbst die
Brücke über die Kluft - in der Tiefe seines Herzens mochte
der Gedanke schlummern, daß er damit erst vor dem höchsten
Richterstuhle der geschichtlichen Vergangenheit seines Volkes die letzte
Rechtfertigung seines Handelns, wenn man will, die endgültige
Lossprechung gewinnen konnte. Er versuchte auch in dem Gemüt des alten
Kaisers den Ton anzuschlagen, der ihm selbst in diesen Wochen in Gastein, und
dann auf der Fahrt nach Wien, wie ein natürliches Erlebnis erscheinen
mochte. Nicht ohne menschliche Wärme vorgetragen, aber zugleich etwas
bürokratisch in der Form wirkend, wird dieses letzte Argument
abgeschossen: "Schließlich gestatte ich mir, mit Bezugnahme auf die
nationalen Empfindungen im gesamten Deutschland noch auf die geschichtliche
Tatsache ehrfurchtsvoll hinzuweisen, daß das deutsche Vaterland nach
tausendjähriger Tradition sich auch au der Donau, in Steiermark und in
Tirol wiederfindet, in Moskau und Petersburg aber nicht. Diese Tatsache bleibt
für die Haltbarkeit und für die Popularität unserer
auswärtigen Beziehungen im Parlamente und im Volke von wesentlicher
Bedeutung."62 Aber es scheint nicht, daß er mit
diesem Appell die Seele des historisch doch anders verwurzelten deutschen
Kaisers zum Schwingen bringen konnte - die politischen Traditionen des
Preußenkönigs, zumal im persönlichen Umgange mit dem
Zaren aufgefrischt, führten in eine andere Welt zurück. Auch der
Lenker der deutschen Geschicke hatte diese preußische Lebensluft mit
Inbrunst geatmet, aber, mit seinem Werke wachsend, tauchte er in dieser
großen Stunde in die deutschen Traditionen der Jahrhunderte ein.
Dazu sagte ihm sein realistisches Empfinden, daß ein
Wiederanknüpfen an den Deutschen Bund und an das Verhältnis, das
damals zwischen Österreich und Preußen fünfzig Jahre lang
bestanden habe, auch vor der Welt die Herstellung als natürlich und
berechtigt erscheinen lassen würde. So entwickelte er schon in der ersten
Eröffnung an Andrássy den überraschenden Gedanken,
für die neue Bindung, die er nach langdauernden Erwägungen
einging, sich nicht mit dem hergebrachten diplomatischen Bündnisstil zu
begnügen.63 Sein
Vor- [229] schlag lief hinaus auf
ein Abkommen publici iuris, welches den beiderseitigen Parlamenten
amtlich mitzuteilen wäre: "Die Öffentlichkeit hatte meiner Ansicht
nach den Vorteil, daß die beiderseitigen Bevölkerungen, namentlich
in Österreich-Ungarn, sich mehr von der Nützlichkeit des
Vertragsverhältnisses durchdringen lassen, sich in das Vertrauen zu
demselben einleben und dadurch beiden Regierungen vorkommendenfalls das
Eintreten füreinander leichter machen würden, als es sein
würde, wenn das Verhältnis den großen Massen erst in dem
Augenblick klar wird, wo Casus foederis vorliegt." Ob dabei
Erinnerungen an die süddeutschen
Schutz- und Trutzbündnisse vom August 1866 mitspielten, die der erste
Ersatz für das aufgehobene Bundesverhältnis waren und nach
anfänglicher Geheimhaltung von Bismarck schon im März 1867
veröffentlicht wurden? Genug, er nahm während seines Aufenthaltes
in Wien einen ernsthaften Anlauf, es nicht bei dem völkerrechtlichen
Charakter des Bündnisvertrages bewenden zu lassen, sondern ihn
staatsrechtlich auf beiden Seiten tiefer zu verankern. Sein Vorschlag enthielt
nichts Geringeres als "ein öffentliches verfassungsmäßiges
Bündnis gegen eine Koalition, das durch Mitwirkung aller konstitutionellen
Faktoren zustande gekommen, auch nur mit Zustimmung in Deutschland des
Kaisers, des Bundesrats und des Reichstags, in Österreich des Kaisers und
der Vertretung von Cis- und Transleithanien auflösbar sein sollte". Ja, er
ging so weit, anzuregen, dieses so gut wie unauflösliche "ewige
Bündnis" durch "pragmatische Einrichtungen, sei es auf Zollgebiet, sei es
auf anderem Gebiet, zu befestigen". Alle diese Gedanken nähern sich der
Gagernschen Idee des engeren und des weiteren Bundes, mit deren Hilfe einst die
Erbkaiserlichen von 1848/49 Österreich mit der kleindeutschen
Lösung zu versöhnen gedacht hatten.64
Diese weitgreifenden Vorschläge wurden jedoch von Andrássy
nicht aufgenommen, der vielleicht befürchtete, daß eine Verhandlung
in den Delegationen der Bündnisidee mehr Schaden als Nutzen bringen
würde. Man hat wohl angenommen, daß Bismarck, der die Episode in
den Gedanken und Erinnerungen nur noch in abgeschwächter, halb
abschiebender Form wiedergegeben hat, bald selbst von einem flüchtigen
Einfall zurückgekommen sei. In Wirklichkeit sehen wir ihn an seiner Idee,
trotz des erfahrenen Widerspruchs, in den nächsten Jahren festhalten. Noch
nach der ersten Verlängerung des Bündnisses sollte er am 28.
Februar 1883 dem Kronprinzen Rudolf von Österreich gegenüber
seine weiteren Wünsche erneuern: in diesem Bündnis liege die
Zukunft Europas, es [230] müsse für
alle Zeiten vor allenfallsigem Unverstand oder vor jedem Zwischenfall gesichert
werden; die Zukunft werde seinen Gedanken eines noch engeren Anschlusses
verwirklichen müssen, der Allianz mit Gesetzeskraft, deren Lösung
nur durch einen gemeinschaftlichen Beschluß beider Monarchen und beider
Parlamente bzw. der Delegationen möglich sei; insbesondere kam er dabei
auf die ebenso notwendige engere handelspolitische Verbindung, mit der man
nicht so rasch fertig werden würde, aber es sei ein Lieblingsgedanke von
ihm, auch in dieser Beziehung die beiden mitteleuropäischen
Großmächte fest aneinanderzuknüpfen.
Man kann aus diesen Teilen seiner Argumentation ersehen, wie tief in der Seele
Bismarcks der Gedanke schlummerte, an der Stelle des Deutschen Bundes, den er
hatte zerstören müssen, gleichsam eine neue weitgreifende und
schlagfertige Organisation Mitteleuropas aufzurichten, und damit die negativen
Seiten, die nun einmal mit seinem schöpferischen Werke verbunden
gewesen waren, auch wieder auf die Dauer auszugleichen. Man könnte
solche Konzeptionen rückwärts bis zum Jahre 1871, in einzelnem
Anklingen bis in die Jahre von
1866 - 1870 verfolgen, ohne sie damit zu einem beherrschenden
Motiv, zu seinem eigentlichen Hintergedanken zu
erheben - der Gang der Dinge in der Welt gehört dazu, diese Keime
zur Blüte und Frucht zu entwickeln. Aber indem es geschah, erscheint Bismarck
doch, so paradox die Gegenüberstellung im ersten Augenblick
wirken mag, als der große Fortsetzer der Metternichschen Politik, der das
Werk des andern zerstörte, dann aber unter Verschiebung seines inneren
Schwergewichts erneuerte und es in eine höhere Ebene der Aktivität
emporgehoben haben würde. In dieser Richtung, nicht auf der Jagd hinter
dem Phantom zielloser Eroberungen, die ihm verlogene Nachrede andichtete,
mögen die letzten Gedanken seines europäischen Ehrgeizes
gewandert sein.
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