Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 1: Das Deutsche Reich
unter Kaiser Wilhelm II. (1890 - 1909) (Forts.)
3. Die Entscheidung des englischen Bündnisproblems
(1898 - 1904). (Forts.)
Indem wir von den Höhen weltgeschichtlicher Betrachtung unsere Blicke
weit über den Augenblick, an dem wir verweilen, haben hinwegschweifen
lassen, erinnern wir uns, daß sich auch die größten
geschichtlichen Wendungen aus unmerkbaren Übergängen
zusammensetzen können. Die
deutsch-englische Bündnisbesprechung hatte einen eigentlichen
geschäftlichen Abschluß nicht gefunden, sondern sie war Ende Mai,
Anfang Juni auf dem Tische liegen geblieben, ebenso wie einst im März
1889 der Antrag, den Bismarck
am Ausgang seiner Staatsleitung an Lord
Salisbury gerichtet hatte.134 In den beiden gescheiterten
Annäherungsversuchen - man wird keinen Zufall darin erblicken
wollen - ist es derselbe englische Premierminister gewesen, der über
das Nein entschied. Gegen seine Stimme konnte Lansdowne schwer eine
Entscheidung treffen, und so hört man denn auch von allen Seiten,
daß Salisbury in den folgenden Monaten der Vater aller Hindernisse
bleibt.135
Um so leichter nahm Lord Lansdowne es, da auch einige äußere
Hindernisse in der Richtung zusammenwirkten, die geschäftlichen
Verhandlungen hinauszuschieben. Die immer schwerere Erkrankung des Grafen
Hatzfeldt unterbrach zunächst den Fortgang; als die neue
Persönlichkeit des Grafen Metternich in die Botschaft vertretungsweise
einzog (16. August), verbot sich die Übereilung nach beiden Seiten; die
parlamentarische Überlastung und die Ferien gaben dem
Außenminister Grund genug, die Sache ruhen zu lassen. Dazu kam,
daß Holstein, der den Entwurf Hatzfeldts ursprünglich gebilligt hatte,
sich entschloß - vermutlich auf die Nachricht von starken
Gegensätzen im Kabinett - die Formel des abgehenden Botschafters
wieder fallen zu lassen; er ließ Lansdowne wissen, Hatzfeldt sei zu weit und
zu rasch in der Sache vorgegangen,136 und es empfehle [524] sich daher, die
Angelegenheit einige Zeit liegen zu lassen und in einem günstigeren
Zeitpunkt wieder aufzunehmen.
Das war auch die Meinung Lansdownes. Er bezweifelte schon bald, ob es
möglich sein werde, etwas aus dem zu machen, "was ich der
Bequemlichkeit halber den Eckardsteinschen Vorschlag nennen
möchte";137 und auch Eckardstein stand unter
dem Eindruck, daß der Minister den Mut in der Bündnisfrage
verloren habe.138 Die Angelegenheit wurde wohl noch
hin und wieder von der einen oder anderen Seite unverbindlich gestreift,139 aber im amtlichen Verkehr war sie
schon fast eingeschlafen. Wenn man die Gesamtheit aller
Aktenäußerungen im Sommer und Herbst 1901 sorgfältig
nachprüft, so sieht man auf deutscher Seite ein Bemühen, den
Bündnisgedanken nicht aufzugeben, auch wenn man ihn etwas vertagen
müßte; auf englischer Seite spürt man aber die Neigung, zwar
die freundliche Unterhaltung über die Sache nicht abzulehnen, aber, wenn
es sich machen lasse, doch auch mit Anstand von ihr loszukommen.
In dieser ungewissen Übergangszeit sollten in dem Verhältnis
zwischen beiden Völkern neue Erregungen auftauchen, um die Aussicht auf
eine erfolgreiche Wiederaufnahme der Verhandlungen zu zerstören. Der
Kleinkrieg, in dem die noch im Felde stehenden Burenkommandos sich gegen den
Untergang ihrer Freiheit zur Wehr setzten, hatte immer wieder zu unangenehmen
Rückschlägen für das englische Heer geführt. Die von
der englischen Heeresleitung dagegen getroffenen Maßnahmen, die
Konzentrationslager, in denen die Burenfrauen und Kinder untergebracht wurden,
riefen in vielen Ländern Europas bittere Kritik und ein aus der Tiefe
kommendes Mitgefühl hervor. Dagegen erhob sich Chamberlain in einer
Rede in Edinburgh am 25. Oktober; einst der Träger des deutschen
Bündnisgedankens, war er in den letzten Monaten davon
zurückgekommen und eher von dem Bedürfnis erfüllt, diese
Erinnerung von seinem politischen Leumund abzustreifen. In seiner Rede suchte
er das englische Heer gegen die Vorwürfe wegen der Behandlung der
Nichtkombattanten zu verteidigen: diese Maßnahmen reichten bei weitem
nicht an das heran, was in Polen und im Kaukasus, in Bosnien, in Tonkin und im
deutsch-französischen Kriege geschehen sei. Das einzige Beispiel aus
einem zivilisierten Kriege war das, welches Deutschland
betraf - Grund genug, daß sich in unserem Vaterlande eine Welle
lauter Empörung erhob. Wenn auch Chamberlain eine Ungeschicklichkeit
untergelaufen sein mochte, so tat er alles, nach der Entgleisung die
"künstliche Erregung" der Deutschen, wie er sie [525] nannte, noch zu
vertiefen; die einige Wochen später nahegelegte Möglichkeit, die
Sache aus der Welt zu schaffen, lehnte er mit der Begründung ab, die
Absicht einer Kränkung habe nicht vorgelegen. Aber es war nicht zu
verkennen, daß er es in diesem Augenblicke schon für politisch
angemessen hielt, die Worte stehen zu lassen.
Für die deutsche Regierung war diese herausfordernde Haltung um so
weniger erwünscht, als sie gerade in jenen Tagen noch einmal ihre
prinzipielle Haltung gegenüber dem Burenkriege behauptete. Als die
russische Regierung ihr am 22. Oktober 1901 ein Promemoria über eine
Eingabe der Buren an den internationalen Schiedsgerichtshof im Haag vorlegte,
den Krieg durch eine unparteiische Entscheidung zu beenden, hielt sie an der
während des ganzen Krieges eingenommenen wohlwollenden Stellung zu
England fest. Holsteins Antwort bezweifelte, daß das gewünschte
Ergebnis in Südafrika durch einen Kollektivschritt zu erreichen sei, da ein
solcher, möge die Haltung der beteiligten Mächte auch noch so
freundlich und versöhnlich sein, doch immer einen bedrohlichen und daher
aufregenden Charakter trage und zur entgegengesetzten Wirkung führe.140
Während die deutsche Politik an ihrer bisherigen Stellung in der
europäischen Mächtegruppierung festhielt,141 sah man in London schon
Kräfte an der Arbeit, die gerade diese Gruppierung grundstürzend
umzugestalten trachteten. Das, was überhaupt von jeher die englische
Politik zu freundlicher Annäherung an Deutschland genötigt hatte,
war die Tatsache des Weltgegensatzes zwischen England und Rußland:
wenn sich der Nachweis führen ließ, daß dieser Gegensatz, statt
endgültig zu sein, von kluger Staatskunst aus der Welt geschafft werden
könne, dann war die längst erschütterte und jetzt von so viel
Haß umtobte Wertschätzung des deutschen Bündnisses
vollends zu Falle gebracht. Diese Aufgabe setzte sich ein Kreis von englischen
Politikern aus verschiedenen Lagern, die sich, unabhängige Männer
von Erfahrung und Gewicht, in der National Review zusammenfanden,
um die öffentliche Meinung zu erobern und das Kabinett durch ein System
von Gegenstößen zur Aufgabe des bisherigen Kurses zu
nötigen. Diese Zeitschrift brachte am 1. November einen Artikel,142 der sich schon äußerlich
als gemeinsame Arbeit einer Reihe von Verfassern gab und seiner prinzipiellen
Bedeutung nach wohl mit dem Artikel Katkows vom Juli 1886 verglichen werden
kann. Er ging davon aus, die bestunterrichteten Staatsmänner beider
Parteien seien sich darüber klar, daß Deutschland in Zukunft der
gefährlichste Rivale
Eng- [526] lands in der Politik, die
Vereinigten Staaten der gefährlichste Rivale im Handel sein würden.
Deutschland sei einst ein positiver Faktor der englischen Außenpolitik
gewesen, und seine Unterstützung sei noch die Ansicht einer Reihe
namhafter Staatsmänner; man könne den Kaiser bewundern, ohne
ihm politische Konzessionen zu machen, denn er werbe ebenso um die Gunst
Rußlands und Frankreichs und habe sich auch schon einmal um eine
antibritische Koalition bemüht. Also sei die Aufgabe jetzt,
Verständigung mit Rußland zu suchen. Dieses Programm
müsse für England freie Hand in Ägypten und im
Jangtsegebiet umfassen, für Rußland freie Hand im Balkan, den
Handelszugang zum persischen Golf, in Persien und der Mandschurei; der Russe
solle auch das Versprechen erhalten, daß man Deutschland nicht mehr in
Kleinasien unterstützen werde. Das Ziel müsse sein, daß in
einem deutsch-russischen Kriege England, in einem
deutsch-englischen Kriege Rußland neutral bleibe. Auch schon weitere
Umrisse der künftigen mitteleuropäischen Politik Englands wurden
sichtbar: es werde sich wieder zum Beschützer jeder unterdrückten
Freiheit auf dem Kontinent machen, sich zunächst der Tschechen
annehmen und die Verdeutschung des italienischen Triest verhindern
müssen.
Das alles klang im Augenblicke noch verfrüht, aber es war der Auftakt
eines langen Kreuzzuges, der die von dem Bismarckschen Reiche
begründete mitteleuropäische Machtstellung zu zerbrechen gewillt
war. Noch waren es Stücke einer Fata Morgana, wenn man den Russen
einen guten Teil des nahen und des mittleren Ostens bot oder schon
verführerisch an den Lebensbestand Österreichs rührte; aber
die öffentliche Meinung war eher geneigt, sich mit solchen Zukunftsbildern
zu befreunden, als mit dem nunmehr versinkenden Bilde des deutschen
Bündnisses.
Lord Lansdowne freilich war weit entfernt, die Verhandlungen mit Deutschland in
einer schroffen Form preiszugeben. Schon die Staatsräson gebot, wenn das
Ziel nicht erreichbar war, die Schuld der anderen Seite zuzuschieben und den
Abbruch der formell noch nicht abgeschlossenen Bündnisbesprechungen in
einer möglichst freundschaftlichen Form herbeizuführen. Ja, er
suchte den Rückzug sogar durch das Dazwischenschieben eines
bescheideneren Sympathievertrages zu erleichtern; wenn auch eine Annahme der
deutschen Eröffnung in der von Graf Hatzfeldt vorgebrachten Form
ausgeschlossen sei, so hielt er es doch für erwägenswert, wie er dem
Ministerpräsidenten am 22. November vortrug, ob man nicht zu einer
"begrenzten Verständigung" mit Deutschland gelangen könne; man
habe das chinesische Abkommen und könne sich überlegen, ob man
nicht einen ähnlichen Austausch von Erklärungen über die
Ziele beider Länder und die darin zu gewährende
Unterstützung anbieten solle. Eine solche Abmachung würde
zweifellos hinter dem deutschen Vorschlag zurückbleiben, aber "als ein
versuchsweise unternommener und vorläufiger Schritt nicht ohne Wert
sein": auf alle Fälle würde man es der deutschen Regierung
unmöglich machen, über
rücksichts- [527] lose Behandlung zu
klagen. Lansdowne bezeichnete auf Salisburys Frage als Grundlage einer solchen
Interessengemeinschaft die Aufrechterhaltung des status quo an den
Küsten des Mittelmeeres, des Adriatischen, Ägäischen und
Schwarzen Meeres, dazu die Freiheit von Handel und Schiffahrt im Persischen
Golf: es sei nicht viel mehr als eine "Erklärung gemeinsamer Politik und
des Wunsches, enge diplomatische Beziehungen miteinander zu unterhalten". Er
selbst setzte voraus, daß man in Berlin etwas viel Bestimmteres und
Weitertragendes wünsche und aus diesem Grunde eine Anregung dieser Art
ablehnen werde.
Doch auch dieser Vorschlag schien Salisbury zu weit zu gehen, "voller Gefahren
zu sein und keinen ausgleichenden Vorteil zu bringen". Danach ging Lansdowne
vor. Bevor Metternich kurz vor Weihnachten nach Berlin reiste, hielt der britische
Außenminister es für angezeigt, bei dem neuen Botschafter, der in
der Bündnisfrage bisher an sich gehalten hatte, den delikaten Gegenstand
wenigstens zu berühren. Er rekapitulierte die Verhandlungen des
Frühjahrs und Sommers und kam zu dem Schlusse: die Hürde sei zu
hoch, sie zu nehmen. Wenn die Engländer den deutschen Vorschlag
gewiß nicht mit unfreundlichen oder gleichgültigen Augen
betrachteten, so glaube er doch nicht, daß sie es sich für den
Augenblick erlauben dürften, ihn aufzugreifen. Nach seiner eigenen
Darstellung will Lansdowne daran die Frage geknüpft haben, ob es nicht
möglich sei, zwischen den beiden Ländern zu einer
Verständigung über die Politik zu gelangen, die sie in bezug auf
besondere Fragen oder besondere Teile der Welt von gleichem gemeinsamen
Interesse zu befolgen hätten. Darauf habe Metternich ohne Zögern
geantwortet, daß kein Vorschlag von dieser Art in Berlin eine
günstige Aufnahme finden
würde - es handle sich um "alles oder nichts". Nach Metternichs
eigenem Bericht ist es weder zu einer so scharf gestellten Frage noch zu einer so
scharfen Beantwortung gekommen, sondern nur die rückblickende Frage
gefallen, ob es sich lediglich um einen Beitritt Englands zum Dreibund gehandelt
habe oder ob auch andere weniger weitgehende Fragen zur Erörterung
kommen könnten.143 Er muß schon einen starken
Eindruck von dem englischen Rücktritt von der Verhandlung erhalten
haben, daß er den Trostvorschlag (für den er keine Instruktion
besaß) überhörte und sich zur sofortigen mündlichen
Berichterstattung in Berlin entschloß. Wenn Lansdowne dem schon fast
eingeschlafenen Gang der Verhandlungen ein formales Ende bereitete, so blieben
auch die blasseren Möglichkeiten, die er bestehen ließ, auf der
anderen Seite ohne Widerhall. Ob im Falle einer freundlichen oder beeiferten
Aufnahme dieser Andeutungen noch wirklich etwas
Halt- [528] bares und Wertvolles
aus dem Austausch der Worte hervorgegangen wäre, darüber kann
man verschiedener Ansicht sein. Bei der sehr erregten Haltung der
öffentlichen Meinung in England, bei der nun schon deutschfeindlicher
werdenden Stimmung des Foreign Office, bei dem unwandelbaren
Mißtrauen Salisburys ist es nicht wahrscheinlich, daß der mehr auf die
Innehaltung der Form bedachte gute Wille Lansdownes wirklich etwas zustande
gebracht haben würde.
Auch König Eduard glaubte persönlich dem Kaiser (der in die
eigentlichen Verhandlungen nicht eingeweiht war) den Abbruch nicht
vorenthalten zu sollen: das war doch wohl der Sinn des Handschreibens, das er
den Botschafter Lascelles am 27. Dezember im Auswärtigen Amte verlesen
ließ: der König wünsche nach wie vor, daß Deutschland
und England in allen Punkten zusammengingen; dieses Zusammengehen aber in
einem formellen Vertrag zu stipulieren, sei schwierig, da ein solcher Vertrag im
House of Commons zweifellos auf große Bedenken und
Weitläufigkeiten stoßen würde. Der König werde aber
nicht nachlassen, in Gemeinschaft mit S. Majestät für die
Wohlfahrt der Welt zu wirken.144
Jedenfalls stand man in Berlin um die Jahreswende unter dem bestimmten
Eindrucke, daß London abgebrochen habe, und empfand das
Bedürfnis, da die englischen Staatsmänner den historischen
Zusammenhang des Bündnisgesprächs mit der Sondierung
Eckardsteins einleiteten, möglichst nicht als der um das Bündnis
Nachsuchende zu erscheinen. Die Vorwürfe Holsteins klingen vor allem
nach Enttäuschung: "Warum hat man die Sache nicht ruhen lassen, da
niemand sie dringlich gemacht hatte? Statt uns in aller Form einen Korb zu geben.
Die Absage, die wir nicht umhin können, als eine willkürliche,
vielleicht vorsätzliche Zurückweisung anzusehen, bessert
natürlich die Aussichten für später nicht."145 Unter diesem Eindruck einer
erlittenen Absage steht bereits die Rede, in der im Reichstage der Reichskanzler
Graf Bülow am 8. Januar doch noch dem Minister Chamberlain auf dessen
Ausfall vom November antwortete. Ihre scharfe Tonart kam der innerdeutschen
Entrüstungsagitation stärker entgegen als dem
außenpolitischen Gebot der Stunde. Doch leitet sie nicht einen Bruch
ein, sie ist eher [529] eine
Begleiterscheinung146 in dem von der anderen Seite
begonnenen Ablösungsvorgang und war in England deshalb nicht
unwillkommen, weil man für den eigenen Kurswechsel eine
öffentlich verwendbare Rechtfertigung in die Hand bekam.
Als einst Salisbury das Bündnisangebot Bismarcks von 1889 auf dem
Tische hatte liegen lassen, geschah es mit dem Vorsatz, einstweilen
möglichst freundschaftliche Fühlung beizubehalten. Wenn jetzt die
Engländer die deutsche Bündnismöglichkeit nicht ergriffen,
waren die Dinge schon dahin gelangt, daß eine negative
Entschließung nach der deutschen Seite eine positive Entschließung
nach der französischen Seite unter dem Herzen trug. Fast unmittelbar nach
den Absagevorgängen wurde eine Verhandlung mit Frankreich auf breiter
Grundlage eingeleitet, von der eine Verschiebung aller europäischen
Beziehungen ausgehen sollte. Je mehr man in London besorgen mußte,
daß Deutschland sich nunmehr auf Rußland und die
Kontinentalbundpläne zurückzuziehen versuchen werde, um so
eifriger setzte man alles daran, den Weg nach Paris einzuschlagen und sich
rechtzeitig dieser Deckung zu bemächtigen.
So vollzogen sich schon im Laufe dieses Januar 1902 zwei Ereignisse, die mit der
englischen Absage an Deutschland im engsten kausalen Zusammenhange stehen:
das englisch-japanische Bündnis, das am 30. Januar in London
unterzeichnet wurde, und die gleichzeitig einsetzende Verhandlung mit Frankreich
über den Ausgleich aller
englisch-französischen Reibungsflächen in der Welt.
Der Abschluß des Bündnisses mit Japan bedeutete zugleich, von dem
englischen Interesse aus gesehen, den Verzicht auf jede
andere - in Ostasien wenigstens entbehrlich
gewordene - Bündnishilfe. Das neue Bündnis wurde zwar, in
Verfolg der früheren Besprechungen, der deutschen Seite zuerst mitgeteilt,
aber das änderte nichts daran, daß es gerade die deutsche
Bündnismöglichkeit entbehrlich machte. Seine eigentliche Spitze
war zwar nicht eindeutig erkennbar, aber wurde von Rußland doch mit
Recht auf sich bezogen. So ließ denn die russische Regierung am 25.
Februar 1902 in Berlin den Vorschlag einer gemeinsamen Stellungnahme
gegenüber der englisch-japanischen Koalition unterbreiten. Damit wurde
nichts Geringeres geboten als eine Sicherung gegen den russischen
Verbündeten, gegen Frankreich. Der Revanchegedanke in Frankreich sei im
Verschwinden; Rußland werde den Franzosen nie erlauben, Deutschland
anzugreifen. Der russische Einfluß in Frankreich sei allmächtig und
werde auch nicht gestatten, daß die französische Regierung
revolutionäre Politik treibe; selbst für den unwahrscheinlichen Fall
des französischen Angriffs auf Deutschland werde seitens Rußlands
keine antideutsche Stellungnahme erfolgen.147 Die Verpflichtungen, [530] die Deutschland
dagegen hätte übernehmen müssen, sind allerdings nicht
erkennbar; und die besonderen Motive, aus denen der Kaiser und Bülow
diesen Antrag, der allerdings ein völliges Abspringen von der seit dem
Frühjahr 1898 innegehaltenen Linie bedeutet haben würde, von
vornherein ablehnten, sind auch nur zu vermuten. Man kann den Gedanken nicht
unterdrücken, daß diese Absage mindestens so schwerwiegend war
wie die angeblich ausweichenden Künste, mit denen die deutsche Politik
den höchst problematischen Bündniswillen Englands bisher
beantwortet hatte. Jedenfalls hat man das Gefühl, hoch oben im Gebirge
sich auf einer Hochebene aufzuhalten, auf der sich die Wasserscheiden zweier
Systeme in nächster Nähe begegnen.
Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man die während des
japanischen Abschlusses einsetzende Parallelaktion hinzunimmt, die allerdings,
wenn auch auf langwierigem Wege, in ein anderes Flußsystem der
englischen Politik hinabführte. Schon am 30. Januar 1902 hatte Metternich
gemeldet, daß seit etwa zehn Tagen Verhandlungen zwischen Chamberlain
und dem französischen Botschafter schwebten, die einerseits die
Gesamtheit der sog. kolonialen Fragen (Neufundland, Niger, Neue Hebriden,
Handelsverträge in Madagaskar, Exterritorialität in Sansibar)
behandelten, anderseits aber auch auf französischen Antrag über das
Schicksal von Marokko entscheiden sollten.148 Es kennzeichnet die
veränderte Konstellation, daß Chamberlain, durch Bülows
Reichstagsrede gereizt, dem deutschen Diplomaten gegenüber alle
Rücksicht fallen ließ: jetzt habe er genug von solcher Behandlung
und von einem Zusammengehen Deutschlands und Englands könne keine
Rede sein (8. Februar). Auch der König soll an diesem Tage gesagt haben,
daß mindestens auf lange Zeit hinaus von einem Zusammengehen,
gleichviel in welchen Fragen, keine Rede sein könne.149 In Wahrheit nannte man von jetzt an
offen bei Namen, was man schon seit Monaten nicht viel anders empfunden hatte,
aber ein wenig höflicher ausgedrückt haben würde.
Schon der Beginn des Gesprächs nach der anderen Seite löste dieses
Signal aus. Aber es war mehr ein erster Stimmungsausbruch als eine
veränderte Tonart in der amtlichen Politik. Man braucht sich nur zu
vergegenwärtigen, daß die
englisch-französischen Verhandlungen durch einen Zeitraum von
über zwei Jahren liefen und inzwischen auch längere
Unterbrechungen und Schwierigkeiten zu überwinden hatten, und
anderseits, daß die Welt in diesem Zeitraum von Ostasien bis
Südafrika von starken Erschütterungen heimgesucht wurde, um
[531] zu verstehen, daß
der so grob angekündigte Umschwung praktisch doch wieder etwas sehr
Allmähliches annahm. Bei dem französischen Partner war schon
durch die Pariser Weltausstellung von 1902 ein Bedürfnis nach einer
friedlichen Atmosphäre erzeugt; und der englischen Politik lag vollends
daran, solange der Burenkrieg nicht ganz abgewickelt war, den Umschwung
möglichst durch korrekte Beziehungen nach der deutschen Seite zu
verdecken. Bald nach Beginn der Verhandlung, im Juli 1902, legte Salisbury das
Amt des Ministerpräsidenten
nieder - der Geist seiner Staatsräson hatte schließlich doch,
von der Konstellation und manchen Zufällen begünstigt, über
seine Gegner triumphiert. Ohne daß die Welt sich dessen bewußt war,
bahnte sich in der Stille eine Umgruppierung der Mächte an, deren
Wirkungsbereich viel unmittelbarer in den Ursprung des Weltkrieges
hineinführt, als der russisch-französische Zusammenschluß zu
Anfang der neunziger Jahre. Um so mehr kam es für die englische Politik
darauf an, die gesamtpolitischen Schicksalswendungen, die noch auf den Knien
der Götter verdeckt lagen, möglichst lange unsichtbar bleiben zu
lassen.
Am schnellsten reagierte das empfängliche Barometer der italienischen
Politik auf den europäischen Wettersturz. Seitdem man sich in Rom von
England nicht mehr so freundlich behandelt fühlte, hatte man
zunächst dem Bedürfnis nachgegeben, die fast zerstörten
Beziehungen zu Frankreich trotz des Dreibundes zu verbessern. Der erste Schritt
war der Handelsvertrag vom November 1898, der die normalen
Handelsbeziehungen wiederherstellte; damit war auch der Weg zu den
üblichen Artigkeiten zwischen den beiden Staaten freigegeben. Nach der
Ermordung des Königs Humbert in Monza (19. Juli 1900) folgte auf den
bedingungslosen Anhänger des Dreibundes ein Erbe, der
überwiegend aus den guten Gründen einer Vernunftehe am Dreibund
festhielt - das konnte das Tempo des Umschwungs nur beschleunigen. So
erfolgte denn auf dem Gebiete der Außenpolitik, auf dem der Dreibund den
ausgreifenden Italienern niemals genug geleistet hatte, der zweite Schritt, der
Notenaustausch vom Dezember 1900,150 in dem Italien und Frankreich sich
wechselseitig ihr Desinteressement an Marokko bzw. an Tripolis aussprachen.
Wie gefährlich es werden konnte, wenn Italien die Zukunft seines
Tripolis-Interesses durch einen konnexen Vertrag mit der französischen
Marokkopolitik verknüpfte,151 war damals noch nicht
vorauszusehen; aber daß der Minister
Visconti-Venosta es für erlaubt hielt, den Vorgang seinen
Bündnispartnern zu verschweigen, gab doch schon zu denken. Zwar
erklärte der junge König sich bereits im Mai 1901 fest entschlossen,
den (im Juni 1902 ablaufenden) Dreibund zu erneuern, und Prinetti gelobte
feierlich, wohl die Freundschaft Frankreichs dem Dreibunde, aber niemals den
[532] Dreibund der
Freundschaft Frankreichs opfern zu wollen, aber als die Frage der Erneuerung des
Dreibundes herannahte, war auch der Schleier von dem
Tripolis-Marokko-Abkommen
hinweggezogen - die Verknüpfung schon stellte die deutsche Politik
vor eine nicht leichte Entschließung.
In demselben Augenblicke, wo zwischen Berlin und Rom zuerst von Erneuerung
und Tripolis gesprochen wurde, im Januar 1902, war in London der große
Umschwung eingeleitet worden, und es lag nahe, daß die im Keimen
begriffene englisch-französische Entente gerade nach der italienischen Seite
über ihren Kreis hinauswirkte. Es geschah dadurch, daß England das
italienisch-französische
Tripolis-Marokko-Abkommen anerkannte152 und dieses italienische
Interesse seinen Plänen einfügte. Für die
Dreibundsverhandlungen, die von Januar bis Mai 1902 dauerten, war es
bedeutsam, daß sie auf diesem (damals noch kaum erkennbaren)
Hintergrunde sich vollzogen. Die Erneuerung des Dreibundes brachte allerdings
keine Änderung;153 die italienischen Versuche, sie mit
dem neuen Handelsverträge zu verknüpfen oder Tripolis und
Balkanfragen in den Vertrag aufzunehmen, hatten keinen Erfolg. Aber gewisse
Begleiterscheinungen waren das Neue. Prinetti hatte dem französischen
Botschafter Barrère versprochen, daß der Vertrag nichts
Aggressives gegen Frankreich enthalten würde, und ging darauf aus, eine
derartige Wendung formell oder sinngemäß in den Vertrag
hineinzubringen oder irgendwie die neue Dreibundsära unter diesem
Zeichen ins Leben treten zu lassen. Er erreichte zwar seine Absicht nicht, aber
verständigte Barrère noch vor Abschluß des
Dreibundvertrages, über die Sache weiter verhandeln zu wollen. Schon die
nächsten Reden, die Prinetti und Delcassé austauschten,
ließen erkennen, daß die Zugehörigkeit Italiens zum Dreibunde
fortan nur nach Maßgabe eines moralischen
Rückversicherungsverhältnisses zu Frankreich zu bewerten sein
würde; in einem Notenaustausch vom 1. November 1902, der vor Berlin
und Wien sorgfältig geheimgehalten wurde, übernahm Italien sogar
eine vertragliche Verpflichtung.154 Schon das erste Jahr der
westmächtlichen Ententeverhandlung löste Italien praktisch halb aus
seinem alten Bundesverhältnis
heraus - so wurde das Unmögliche möglich, daß diese
Dreibundmacht gleichzeitig sich den Dank der Westmächte um das
Zustandekommen der Entente cordiale erwarb.155
Für den mehrfach unterbrochenen Fortgang der
englisch-französischen Verhandlungen gab es keine wirksamere
Ermutigung, als das Auftauchen einer [533] antideutschen
Pressewelle, wie sie nun periodisch mit steigender Wucht einsetzt. Ein
geringfügiger Anlaß konnte von einem Tage zum anderen eine
Explosion hervorrufen. Als im August 1902 die Burengenerale Botha, Dewet und
Delarey in London empfangen worden waren, begaben sie sich zu dem Zwecke
von Sammlungen auch auf den Kontinent; wie sie in Paris vom Präsidenten
der französischen Republik empfangen wurden, gedachten sie auch einen
Empfang durch den deutschen Kaiser zu erwirken.156 Darin aber waren die
Engländer gewillt, selbst wenn der Besuch auf dem amtlichen Wege durch
den englischen Botschafter erbeten werden sollte, eine tödliche Beleidigung
zu erblicken. Um die Deutschen einzuschüchtern, ließ Chamberlain
das gröbste Geschütz auffahren. Einige Tage vor dem 14. September
1902 ließ er dem Baron von Eckardstein gegenüber seinem
Groll gegen Deutschland freien Lauf.157 Es habe lange gedauert, bis er und
seine Kollegen sich darüber klar geworden seien, was diese
ungebändigten Ausbrüche des Hasses gegen England bedeuteten. Im
deutschen Volke habe sich augenscheinlich der Gedanke festgesetzt, daß es
Deutschland im Laufe der Jahre mit Leichtigkeit gelingen könne, England
und sein Kolonialreich zu Fall zu bringen und dessen gesamte Erbschaft
anzutreten. Er selbst sei zwar davon überzeugt, daß derartig
phantastische Ideen undurchführbar seien und jeder Versuch, dieselben in
Taten umzusetzen, verhängnisvolle Konsequenzen zunächst
für Deutschland haben werde. Trotzdem müsse die englische Politik
mit dem Faktum eines anscheinend unüberwindlichen Hasses gegen
England seitens der deutschen Nation in Zukunft rechnen. Gerade er, der einst
für ein englisch-deutsches Zusammengehen eingetreten sei, wolle kein Hehl
daraus machen, wie sich jetzt die Gesinnung Englands geändert habe. "Das
englische Volk in allen seinen Schichten, sowohl im Mutterlande als auch in den
Kolonien, sei jedoch jetzt von einem derartigen Hasse gegen Deutschland
erfüllt, daß jedes Ministerium, selbst das stärkste, auf lange
Zeit mit diesem Faktor würde zu rechnen haben." Einen Krieg mit
Deutschland ohne weiteres vom Zaune zu brechen, daran könne
selbstverständlich kein zurechnungsfähiger englischer Staatsmann
denken. Irgendeine Provokation Deutschlands aber würde John Bull in ein
derartiges "temper" versetzen, daß kein englisches Kabinett in der
Lage wäre, sich demselben zu widersetzen. Zur Zeit des
Krügertelegramms habe es sich in der öffentlichen Meinung um ein
hysterisches Aufflackern gehandelt. Heute stehe die Sache viel ernster. Die
Verstimmung und das Mißtrauen gegen Deutschland seien jetzt derartig
allgemein [534] und tiefgehend,
daß viel geringere Provokationen als diejenigen des Jahres 1896
genügen würden, um alles in Flammen zu setzen. Aber ebenso wie
England damals auf Frankreich mit Bestimmtheit habe rechnen können, so
werde es auch künftighin stets in der Lage sein, einen, wenn nicht mehrere
Bundesgenossen, selbst im letzten Moment zu finden. Als der Deutsche nach
diesen unverhüllten Drohungen daran erinnerte, daß mehrere
Anstrengungen, eine Koalition gegen England zustande zu bringen, lediglich
durch die freundschaftliche Haltung des Kaisers und seiner Regierung vereitelt
worden seien, trumpfte der Engländer vollends auf: untergegangen
würde das englische Weltreich auch dann noch nicht sein, selbst wenn
Deutschland statt einer freundschaftlichen eine feindliche Haltung beobachtet
hätte. Man würde im Notfalle sich mit der einen oder anderen Macht
oder Mächtegruppe auf dem Kompensationswege haben
verständigen können.158 Selbst Rußland hätte
man jeden Augenblick gewinnen können, wenn auch für einen hohen
Preis: "aber wenn es durchaus notwendig gewesen wäre, hätten wir
denselben bezahlt."
Es war als wenn Chamberlain mit brutaler Deutlichkeit die deutschen
Staatsmänner darauf aufmerksam machen wollte, daß das Konto des
Burenkrieges der Vergangenheit angehöre und jede Illusion einer etwaigen
englischen Dankbarkeit aus diesem Zeitabschnitt für immer begraben
werden müsse; ja, er kündigte jetzt, um seine eigene Vergangenheit
vollends abzutun, die Möglichkeit einer englischen Option für die
französisch-russische Seite ohne viel Umschweife an. Dementsprechend
bereitete er darauf vor, der bevorstehende Besuch des Kaisers werde an dem
Tatbestand nichts ändern, man möge aus der Haltung der Presse
keine falschen Schlüsse ziehen, denn die Verstimmung gegen die deutsche
Nation in allen Kreisen der Bevölkerung habe bereits zu tiefe Wurzeln
gefaßt.
So war denn Wilhelm II. bei seinem Besuch in Sandringham (4. bis 10. November
1902) tief betroffen über den Unterschied, der jetzt zwischen "the
Kaiser" und "the German Government" gemacht wurde. Von allen
Illusionen befreit, suchte er die empfangenen Eindrücke getreu
wiederzugeben: "Sie sind politisch unerfreulich und müssen durch viel
Geduld, Takt - auch im Auswärtigen
Amt - und »Maul halten« unserer Presse überwunden
werden. Geschieht das nicht, können sehr ernste Folgen unversehens
heraufbeschworen werden. Also Vorsicht! Hier haben sie
fünfundreißig Panzerschiffe in Dienst, und wir acht!!, und werden um
das Jahre 1905 in England an neuen Panzerschiffen, Kreuzern und
Panzerdeckskreuzern 196 zum Dienst bereit sein gegen 46 bei uns!"159
Unmittelbar darauf sollte in einer denkwürdigen Episode der Nachweis
geliefert werden, daß diese Richtung der öffentlichen Meinung
bereits stärker war als die Regierung und im Ernstfalle die Führung
an sich reißen konnte. Der [535] Verlauf der
Venezuela-Angelegenheit war ein sinnfälliges Zeichen, daß jener
Strom, der die sich allmählich durchsetzende Kursänderung trug,
schon mächtig genug geworden war, um einen Versuch des Kabinetts, auf
einem entlegenen Nebenfluß mit den Deutschen zusammenzugehen,
dergestalt zu durchkreuzen, daß der wohlgemeinte Anlauf nur die
entgegengesetzte Wirkung hatte, die Wucht der deutschfeindlichen Bewegung zu
verdoppeln.
In einem Bürgerkriege in Venezuela hatten deutsche, englische und andere
Ansiedler schwere Schädigungen erlitten. Da die venezolanische Regierung
sich in den Entschädigungsverhandlungen auf das schroffste ablehnend
verhielt, hatte die deutsche Reichsregierung nach vorheriger Fühlungnahme
mit den Vereinigten Staaten gegen Ende 1901 ein Geschwader
hinübergeschickt und die Anwendung einer sog. Friedensblockade
erwogen. Da gab die englische Regierung, die auf dem heißen Boden
Venezuelas schon einmal in einen tiefen Gegensatz zu den Vereinigten Staaten
geraten war, von sich aus in Berlin ihre Bereitschaft zu verstehen, unter
Umständen ein gemeinsames Vorgehen gegen Venezuela zur Befriedigung
der Kriegsreklamationen zu vereinbaren - es war im Januar 1902, als die
Wege sich bereits zu trennen begannen. Immerhin war das Auswärtige Amt
nicht abgeneigt, auf den Gedanken einzugehen, nur entschied der Kaiser, mit
sicherem Blick für die amerikanischen Empfindlichkeiten, daß man
an die Durchführung erst nach der Amerikareise des Prinzen Heinrich
(Februar/März 1902) herantrete, die einer Belebung der Sympathien
zwischen den beiden Völkern zu dienen bestimmt war. So kam der
Reichskanzler Bülow erst im Herbst 1902 auf die Angelegenheit
zurück. Die venezolanische Regierung hatte inzwischen ihr
völkerrechtwidriges Verhalten in herausfordernder Weise fortgesetzt, in der
Erwartung, sich im schlimmsten Falle in den Mantelfalten der Monroedoktrin
verstecken zu können.
Die Reichsregierung wollte den Eindruck nicht aufkommen lassen, daß die
Auslanddeutschen fremder Willkür preisgegeben seien, und
fürchtete, wenn sie ihr gutes Recht nicht wahre, ihr Ansehen in
Mittel- und Südamerika empfindlich zu schädigen. So knüpfte
sie denn an die zu Beginn des Jahres von London gezeigte Bereitwilligkeit an und
fragte an, ob man jetzt zu einer gemeinsamen Aktion bereit sei. Die englische
Regierung, längst entschlossen ihre Ansprüche in Venezuela unter
allen Umständen durchzusetzen, ging ohne Zögern auf die
Sondierung ein. Trotz des in der allgemeinen Politik schon eingeschlagenen
"französischen" Kurses mochte ihr daran liegen, ihren guten Willen in
einem gemeinsamen Vorgehen auf einem Nebenschauplatz zu bezeugen und, da
der Schritt nun einmal unvermeidlich war, wenigstens auf diesem
gefährlichen Boden den Deutschen an der Seite zu haben. Nachdem der
Kaiser das Unternehmen gebilligt hatte, schlug die englische Regierung Anfang
November 1902 eine gemeinsame Aktion in der Weise vor, daß jede
Regierung bei den weiteren diplomatischen Schritten in Caracas auch auf die
gleichartige Beschwerde der anderen Regierung hinweisen [536] würde; für
den Fall der Ablehnung sollte in erster Linie die Beschlagnahme sämtlicher
venezolanischer Kriegsfahrzeuge erfolgen; im weiteren Verlaufe wurde auch die
Blockade der venezolanischen Küste nach gemeinsamen
Grundsätzen in Aussicht genommen. Die näheren Verabredungen
erfolgten während des Besuches, den der Kaiser dem König
Eduard VII. in Sandringham abstattete. Schon am 17. November sprach
eine amtliche Mitteilung der englischen Regierung die Bereitschaft aus,
gemeinschaftlich mit Deutschland für die beiderseitigen Forderungen
einzutreten, dergestalt, daß ein Zurücktreten nur in wechselseitigem
Einverständnis erfolgen dürfe. Die Dinge nahmen einen raschen
Verlauf. Nachdem von Venezuela eine unbefriedigende Erklärung
eingegangen war, wurde das Vorgehen auch in Washington zur Kenntnis
gebracht; der Staatssekretär Hay bedauerte zwar die Einmischung einer
europäischen Macht in die Angelegenheiten einer südamerikanischen
Republik, aber erkannte doch an, daß europäische Mächte das
Recht beanspruchen müßten, ihre Interessen in Südamerika
wahrzunehmen. Nachdem England und Deutschland am 7. Dezember gemeinsam
ein 24stündiges Ultimatum gestellt hatten, wurden am nächsten Tage
die venezolanischen Kriegsschiffe in La Guaira weggenommen und
großenteils versenkt; einige Tage später wurde von einem deutschen
und einem englischen Schiffe ein Fort zerstört.
Die beiden Mächte waren durchaus einmütig in das Unternehmen
hineingegangen. Der ernste Wille Lansdownes zur gemeinsamen Aktion wurde in
Berlin im vollen Umfange erwidert, ein Versuch Venezuelas, die Deutschen durch
Befriedigung ihrer Ansprüche abzuspalten, in loyaler Weise abgelehnt;
auch Bülow hielt es für dringend erwünscht, "den
Engländern die Überzeugung beizubringen, daß wir mit ihnen
rückhaltlos Hand in Hand gehen." Diese durch die ganze Dauer der
Unternehmung aufrechterhaltene Einmütigkeit der Regierungen sollte
durch die öffentliche Meinung auf eine schwere Probe gestellt werden.
Schon gleich nach dem Beginn der Demonstration hatten die Times sich
aus Washington melden lassen, daß die Schuld an dem unnötig
scharfen Vorgehen den Deutschen, nicht den Engländern zuzuschreiben
wäre. Und obgleich man in Berlin keineswegs darauf bedacht war, als
Haupturheber der ganzen Aktion zu erscheinen,160 wurde der Deutsche allerseits in den
Vordergrund gerückt. Überall tauchte in der englischen Presse die
Sorge auf, es möchte das
deutsch-englische Vorgehen zu einer Abkühlung mit den Vereinigten
Staaten führen. Mit einem Schlage trat eine völlige Verschiebung des
Bildes ein, von London bis Washington, und wenn es auf die öffentliche
Meinung angekommen wäre, so hätte es nicht geheißen, in des
Weges Mitte, sondern von dem ersten Schritte an verließen die Begleiter
ihn. Was von der öffentlichen Meinung in England galt, war ebensogut von
der Königlichen Familie, von der Stimmung in beiden Parteien des
Parlamentes, ja bald vom Kabinett selbst zu sagen. In Newyorker Finanzkreisen
war [537] man schon am 16.
Dezember der Ansicht, daß England, besonders mit Rücksicht auf die
Haltung des Parlaments, sich leicht von Deutschland ablösen und den
Amerikanern hinter dem Rücken der Deutschen die Hand reichen
könne. Als die venezolanische Regierung in Washington den Vorschlag der
Einsetzung eines Schiedsgerichtes machte, war drüben nur eine Stimme,
das Schiedsgericht im Prinzip anzunehmen. Lansdowne selbst gestand, daß
eine starke Strömung im Kabinett dazu neige, die ganze Sache durch
Schiedsgericht zum Austrag zu bringen, um dem heftigen Widerspruch im
Parlament und im Lande aus dem Wege zu gehen.
Und nun ergab sich eine Situation, in der die versteckte Neigung der Amerikaner,
den europäischen Mächten doch noch in den Weg zu treten, und die
raffiniert angelegte deutschfeindliche Hetze in der englischen Presse sich von Tag
zu Tage stärker in die Hände arbeiteten. Demgegenüber
erschien das Kabinett Lansdowne einfach ohnmächtig. Metternich urteilte
schon am 16. Dezember: "Wenn die englische Regierung durch Parlament und
Presse gedeckt wäre, brauchte man sich um amerikanische
Anmaßung nicht zu kümmern; gegen das eigene Land und gegen die
Stimmung in den Vereinigten Staaten sei die englische Regierung auf die Dauer
zu schwach, um bei der Stange zu bleiben." In klarer Erfassung dieser Lage
bekannte sich Bülow sofort zu dem Grundsatz, "bei der weiteren
Behandlung der Frage nicht denjenigen Elementen in England Munition zu ihrem
Kriege gegen die Regierung zu liefern, welche das Zusammengehen Englands mit
Deutschland von Haus aus verurteilen". Er nahm die englischen finanziellen
Vorschläge an und riet, den Vereinigten Staaten selber den Schiedsspruch
zuzuleiten.
So nahm denn die amerikanische Regierung, die unter der Hand schon auf baldige
Lösung hindrängte, am 24. Dezember den
Schiedsgerichtsvorschlag an, doch lehnte Präsident Roosevelt die
persönliche Übernahme des Schiedsrichteramtes ab. Venezuela ging
auf die Vorbehalte ein, unter denen die drei Blockademächte England,
Deutschland und Italien den Schiedsgerichtsweg beschritten.
Die seit dem 20. Dezember 1902 bestehende Blockade sollte, bevor sie durch
diese Verhandlungen außer Kraft gesetzt wurde, nicht ohne einen
schärferen Zwischenfall verlaufen. Das an der Blockade beteiligte deutsche
Kanonenboot "Panther" wurde am 17. Januar 1903 von einem venezolanischen
Fort unter Feuer genommen und antwortete, wie es jedes andere Schiff in gleicher
Lage ebenfalls getan haben würde, damit, daß es das Fort
zerstörte. Dieser Vorfall gab, da er sich kurze Zeit vor dem
Verhandlungsabschluß ereignete, sowohl der amerikanischen
Nationalerregung als der deutschfeindlichen Bewegung der englischen Presse
einen willkommenen Anlaß, das stärkste Geschütz gegen den
Störenfried aufzufahren. Der deutsche Botschafter urteilte über diese
neue Hetze am 19. Januar 1903: "Solange ich England kenne, habe ich noch
niemals hier eine solche Erbitterung gegen eine andere Nation wahrgenommen
wie jetzt gegen [538] uns. Es beruht das
nicht in erster Linie auf Handelsrivalität, sondern es ist der
Ausdruck der Stimmung, welche infolge des Verhaltens des deutschen Volkes
während des Burenkrieges jetzt hier ihren Widerhall findet. Es würde
nichts nützen, die Hand zur Versöhnung zu reichen, sie würde
einfach zurückgestoßen werden."161
Damit war, ohne irgendein Verschulden von deutscher Seite, aus einer
Angelegenheit zweiter oder dritter Ordnung eine solche von
höchstpolitischem Gewicht geworden: die ganze Tiefe des
deutsch-englischen Gegensatzes wurde erst während und vermöge
einer (an sich untergeordneten) Aktion sichtbar, in der Deutschland und England
loyal zusammengingen. Es blieb der deutschen Regierung nichts anderes
übrig, als auch die amerikanischen Winke, sie von der englischen Haltung
zu trennen, zu überhören und bei dem Ausgleich die englischen
Wünsche in allen Einzelfragen durch Nachgiebigkeit zu unterstützen.
Schon befürchteten Balfour und Lansdowne im anderen Falle ernste
parlamentarische Schwierigkeiten, wenn nicht gar den Sturz des Ministeriums; sie
besorgten gleichzeitig, daß dann auch die Mißstimmung gegen
Deutschland ganz elementar durchbrechen würde, und baten geradezu in
Berlin, zu vermeiden, daß ein Stachel zurückbleibe. Der König
ging schon so weit, die Erledigung für wichtiger als die Geldforderungen zu
bezeichnen, um derentwillen das Ganze unternommen war. Mit vollem Recht
hielt ihm der deutsche Botschafter vor, "daß die gemeinsame gerechte und
maßvolle Aktion gegen Venezuela nur deshalb einer so
unerwünschten und erregten Beurteilung in der Öffentlichkeit
begegne, weil die englische Presse in blinder Gehässigkeit von Anfang an
die Sache verdreht und der deutschen Regierung alle möglichen unwahren
und phantastischen Motive untergeschoben habe, so daß schließlich
auch die öffentliche Meinung in Amerika dem englischen Beispiel gefolgt
sei".162 Noch hatte die Verhandlung einige
Schwierigkeiten zu überwinden, da Amerika, um den Präzedenzfall
zu vermeiden, nicht die blockierenden Mächte (die Gewalt gebraucht
hatten) vor den anderen in der Zahlung begünstigt sehen wollte. Lansdowne
war auch hier zum Nachgeben bereit, und Bülow hielt, als erneute Versuche
in Washington Deutschland von England zu trennen sich bemühten, an
seinem Partner fest: "Wir sind fest entschlossen, mit England durchaus
zusammenzugehen und uns auf nichts einzulassen, was nicht der mit England
getroffenen Verständigung entspricht."163 Am 13. Februar war die ganze
Angelegenheit erledigt, im letzten Stadium nicht einmal unbefriedigend für
die deutschen Forderungen, aber wer fragte von Washington bis Berlin nach dem
Schadenersatz einer südamerikanischen Räuberrepublik, wo in dieser
Episode ganz andere Unwägbarkeiten in der Seele eines großen
Kulturvolkes wie durch einen Scheinwerfer taghell beleuchtet worden waren!
[539] Die beiden
Regierungen konnten, als sie aus dem ganzen Unternehmen ausschieden,
gegenseitig nur ihr loyales Verhalten anerkennen.164 Aber schon hatte es sich
herausgestellt, daß es zwischen London und Berlin auf andere Dinge
ankomme als die diplomatische Geschäftsführung, auf unterirdische
Kräfte, die unwiderstehlich über den Willen eines Kabinetts
hinwegschritten. Wenn das Ganze unter dem Gesichtspunkt einer
wünschenswerten Gemeinsamkeit des Vorgehens unternommen worden
war, so stand man jetzt vor der Erkenntnis eines Irrtums. Man konnte sich auf
deutscher Seite nicht verhehlen, daß gegen "den amerikanischen Fetisch im
Bunde mit der Abneigung gegen Deutschland eine englische Regierung nicht
aufkommen könne". In den Bündnissondierungen der letzten Jahre
war diese Abneigung von beiden Seiten immer in Rechnung gestellt worden: die
Probe auf das Exempel war noch schlechter ausgefallen, als man hatte erwarten
können. Lag es daran, daß es schon zu spät war? Man mochte
in Berlin nachträglich erwägen, ob die Aktion anders ausgelaufen
sein würde, wenn sie, wie ursprünglich geplant, schon drei
Vierteljahre früher (Januar 1902) begonnen worden wäre. Ich kann
mich dem Glauben nicht entziehen: auch wenn man
damals - anknüpfend an die Erbietungen, die Lansdowne Ende
Dezember 1901 an Metternich gemacht
hatte - in dieses Unternehmen hineingegangen wäre, würde
man die gleiche schwere Enttäuschung davongetragen haben. Das
"Zusammengehen" wäre in diesem Falle vermutlich schon im
Frühjahr 1902 begraben worden.165 Damit rückt dann das kleine
Programm dieses Trostvorschlages, in dem mancher noch heute das letzte Heil
sehen möchte, nachträglich in die richtige Beleuchtung.
So hatten diejenigen politischen Kräfte, die unter allen Umständen
eine deutsche Orientierung Englands vermieden sehen wollten und schon von
verschiedenen Seiten her der entgegengesetzten Orientierung den stärksten
Vorschub leisteten, ihren ersten sichtbaren Sieg davongetragen. Das war im Lande
der public opinion entscheidend. Für jede künftige englische
Staatsleitung enthielt die Venezuela-Episode die Lehre (wenn es ihrer noch
bedurft hätte): vestigia terrent. Das galt nicht nur für die
Regierungspartei. Der deutsche Botschafter war durchaus im Recht, wenn er dem
Führer der Opposition, Lord Rosebery, vorhielt, daß dieser in der
Tiefe wurzelnde und auf die Gesamtrichtung der Politik [540] übergreifende
Deutschenhaß eine viel bedenklichere Sache für das Verhältnis
beider Völker sei als die sentimentale deutsche Anglophobie im
Burenkriege.166 Aber er verfehlte seinen Eindruck,
weil man im anderen Lager überwiegend mit der Tatsache dieser Wendung
einverstanden war.
Schon die bloße Kombination hatte ausgereicht, um einen den Deutschen
ungünstigen Weltwind in der öffentlichen Meinung hervorzurufen, in
den auch die Franzosen tapfer hineinbliesen.167 Zum ersten Male hatte alle Art von
übler Nachrede über die bedrohlichen deutschen Begehrlichkeiten
auf ihrer Reise um den Erdball die systematische Unterstützung des
anglo-amerikanischen Pressedienstes gefunden,168 und im nächsten Jahrzehnt
sollte das liebevolle Bemühen niemals aufhören, den Amerikaner die
Deutschen und ihre frevelhaften Absichten so sehen zu lassen, wie es dem
englischen Interesse entsprach.
Unmittelbar nach dem Ablauf der Venezuela-Episode sollte sich zum zweiten
Male zeigen, daß die deutsch-feindliche Strömung, die soeben mit
Erfolg den Taktstock geführt hatte, stark genug angeschwollen war, um der
Regierung wider ihren Willen den Weg vorzuschreiben: das geschah in der Frage
des Bagdadbahn-Unternehmens. Lord Lansdowne hatte sich im Frühjahr
1902 zugunsten der deutschen Pläne ausgesprochen, vorausgesetzt,
daß das englische Kapital in gleichem Maße beteiligt werde.169 Im November 1902 hatte eine
Konferenz der britischen Admiralität, des Auswärtigen Amtes, des
Ministeriums für Indien und des Kriegsministeriums sich einmütig
gutachtlich dahin geäußert, "daß es ein großer Fehler sei,
das Projekt zu bekämpfen, das wir im Gegenteil nach besten Kräften
fördern sollten; vorausgesetzt, daß wir einen angemessenen Anteil an
der Kontrolle der Bahn und ihres Ausgangs zum Persischen Golf erlangen
können".170 Dementsprechend verhielt sich das
britische Auswärtige Amt wohlwollend, als sich ein englisches
Finanzkonsortium bildete, das mit gleichem Anteil in das Unternehmen eintreten
wollte und von der Regierung gewisse grundsätzliche Garantien erbat
(Beisteuer für indische Postbeförderung, Erhöhung der
türkischen Zolleinnahmen; Endstation in Kueit am Persischen Golf), die
für die [541] Sicherstellung des
Erfolges für erforderlich gehalten wurden. Lansdowne sah keinen Grund,
diese Vorschläge nicht in Betracht zu ziehen.171
Als am 13. April 1903 die Konstituierung der Societé
Impériale Ottomane des chemins de fer de Bagdad in Konstantinopel
erfolgte, schien nach langem Bemühen die Grundlegung des von Kaiser
Wilhelm II. auf seiner Orientreise aus der Taufe gehobenen Unternehmens
sichergestellt zu sein. Freilich mußte es sich, um nur so weit zu kommen,
einer weitergehenden Internationalisierung in der Verwaltung und
Kapitalbeschaffung unterziehen, als die deutschen Urheber und Führer
ursprünglich sie vorgesehen hatten; der Nutzen der englischen
Mitbeteiligung lag darin, daß das Werk rascher gefördert wurde und
daß die deutsche Politik durch die stärkere Betonung der
Internationalität sich den Russen gegenüber, denen das Unternehmen
ein Dorn im Auge blieb, freier fühlte.
In diesem Augenblicke aber hatte in London schon ein leidenschaftliches
Kesseltreiben gegen das "deutsche Unternehmen" eingesetzt. Die National
Review hatte in ihrer Aprilnummer den Ton angegeben, der Spectator
folgte mit einer höchst gehässigen Artikelserie; überall hallte
es wieder, daß die Bagdadbahn eng mit der deutschen Regierung
verknüpft sei und die britischen Interessen schädige; eine Anfrage im
Unterhause erfuhr am 7. April nur eine vorläufige Beantwortung.
Lansdowne blieb trotzdem fest; er sprach sich am selben Tage zu den
Finanzmännern nachdrücklich gegen jede Änderung der
Haltung aus. Er war überzeugt, daß die Bahn schließlich doch
gebaut werden würde und daß es ein nationales Unglück sei,
wenn dieses ohne britische Beteiligung geschähe. Er verhehlte sich nicht im
geringsten: "Ohne das deutschfeindliche Fieber, an dem das Land leidet,
würden wir meiner Überzeugung nach, wenn wir diese Ansichten
vertreten und nach ihnen handeln, allgemeine Unterstützung finden."172 Dementsprechend wäre er
nach seiner eigenen Aussage geneigt gewesen, an seiner Überzeugung
festzuhalten, wenn nicht der immer stärker angewachsene Sturm der
öffentlichen Meinung zuerst die Zuversicht des Londoner Finanzsyndikats
gebrochen hätte.173 Dann aber trat die Regierung den
Rückzug an. Man fand [542] die Formel, daß
auch eine durchgehende Internationalisierung der Anatolischen
Eisenbahngesellschaft zur Bedingung gemacht werden müsse. Am 23.
April 1903 beantwortete Balfour die neue Anfrage im Unterhause dahin,
daß die Regierung die gewünschten Erklärungen nicht geben
könne, da eine zwischen der Türkei und der Anatolischen
Eisenbahngesellschaft geschlossene Konvention das ganze Projekt eines
Eisenbahnnetzes über Kleinasien bis zum Persischen Golf völlig in
den Händen einer unter deutscher Kontrolle stehenden Gesellschaft
belasse.174 Indem die englische Regierung
selbst die Hand von dem kleinasiatischen Unternehmen der Deutschen
zurückzog, zeigte sie bereits den Russen in der Ferne eine
Möglichkeit, sich über ihre gemeinsamen Interessen im nahen Orient
gegen den mitteleuropäischen Rivalen zu verständigen.
Der unrühmliche Rückzug der englischen Regierung vor der
öffentlichen Meinung des Königreichs war der zweite
symptomatische Vorgang von schwerwiegender Bedeutung. Man kann sich nicht
darüber hinwegtäuschen, daß die Frontverschiebung, die durch
den Abbruch der deutsch-englischen Verhandlungen und die Aufnahme der
englisch-französischen Verhandlungen eingeleitet war, eine ausgesprochene
Feindseligkeit in sich barg. Die Regierung hatte im
Dezember-Januar wie im April 1903 die Schroffheit der Wendung verdecken
mögen, sie war ohnmächtig gegenüber den Gewalten, die auf
der ganzen Linie die Konsequenzen gezogen wissen wollten.175
Jetzt schon, lange bevor das englisch-französische Abkommen sich seinem
Abschlusse näherte, war eine vor aller Welt sichtbare Veränderung
eingetreten. Es konnte nicht anders sein, als daß dieser Umschwung, der
durch die Episoden von Venezuela und Bagdad ausgelöst worden war,
einen tiefen Eindruck in Paris machte. Die deutsche Diplomatie stellte fest,
daß nach dem Entgegenkommen des Ausstellungsjahres seit etwa dem
Dezember 1902 ein vollkommener Rückschlag eingetreten sei. Seitdem
lasse sich Herr Delcassé auf politische Unterhaltungen mit dem
Kaiserlichen Botschafter überhaupt nicht mehr ein; während [543] Vertreter anderer
[528a]
Zusammenkunft Kaiser Wilhelms II. und König Eduards
VII.
in Homburg 1903.
|
fremder Mächte stundenlang beim Minister weilten, verabschiede er den
Fürsten Radolin schon nach kaum fünf Minuten,176 so daß die Verkehrsform bei
aller äußeren Korrektheit fast ungezogen sei.177 Um die öffentliche Meinung
Frankreichs, in der noch viel alter Groll gegen England lebte, stärker auf
den neuen Weg herüberzuretten, setzte König Eduard selbst seine
Persönlichkeit ein. Er hatte im April 1903 die Reihe seiner
europäischen Antrittsbesuche begonnen in Lissabon und hatte hier in
herzlichen Worten davon gesprochen, daß die unversehrte Erhaltung der
portugiesischen Länder und Kolonien eines der ihm am meisten am Herzen
liegenden Ziele sei. Der Besuch des Königs in Paris (1. bis 4. Mai 1903)
war sein eigenstes Werk, aus seiner eigenen Initiative
hervorgegangen - der anfangs kühle Empfang wurde durch das mit
Vorbedacht in den Reden des Königs wiederkehrende Wort der
"Freundschaft" in eine ungewöhnlich herzliche Temperatur versetzt, und
die Stimmen aus nationalistischen Kreisen, die, zum Teil aus dem russischen
Lager angefeuert, sich dem englischen Kurse widersetzten, kamen bald zum
Schweigen. Der politische Instinkt der Franzosen lehrte sie, daß nicht ein
Monarchenbesuch stattgefunden habe wie andere auch, sondern daß eine
politisch bedeutungsvolle Annäherung der Völker vorbereitet worden
sei.
Mußte die Summe dieser Ereignisse, zusammengehalten mit dem rapiden
Gange der deutsch-englischen Entfremdung, nicht die höchste
Beunruhigung bei den deutschen Staatsmännern auslösen? Man
sucht sich vorzustellen, wie der von dem Albdruck der Koalitionen gepeinigte
Bismarck
sich mit Sorgen und Gegenmaßregeln erfüllt haben
würde. Noch überwog aber bei Holstein die Vorstellung, daß
jede Koketterie Delcassés mit England auf Kosten des
französisch-russischen Bündnisses gehe und somit automatisch der
deutschen Politik den Weg nach Petersburg wieder eröffne: daß vor
allem das englisch-japanische Bündnis eine unübersteigliche Kluft
zwischen England und Rußland aufgerissen habe. Das war eine nicht ganz
unbegründete Rechnung, aber wie lange und in welchem Umfange sie
zutreffen würde, darin lag das Problem. Auch Bülow war der
Überzeugung, daß die Politik Delcassés erst dann für
Deutschland bedenklich werden würde, wenn es ihr gelinge, auch zwischen
England und Rußland die Annäherung und damit die in den 70er
Jahren von Gambetta angestrebte
französisch-englisch-russische Entente herbeizuführen. Sonst
würde Frankreichs Werben um England die deutsche in allen für
Rußland wichtigen Fragen russenfreundliche Politik in Petersburg in noch
hellerem Lichte erstrahlen lassen und den Grafen Lamsdorff in dem Gedanken
bestärken, daß das alte Dreikaiserbündnis für die
russische [544] Autokratie alles in
allem die beste Kombination sei. So schloß denn Bülow mit dem
fatalen Satze: "Von heute auf morgen werden sich die bestehenden
Gruppierungen aber nicht ändern, und wir können meo voto
die Dinge gar nicht pomadig genug nehmen."178
Diese oberflächliche Stimmung übersah zweierlei. Einmal die
Intensität der politischen Triebkräfte, die von Paris und London
zueinander hindrängten. Diese Annäherung besaß etwas, was
die englisch-deutsche Annäherung, wenn sie zustande gekommen
wäre, niemals besessen haben würde: sie war das Produkt einer
gemeinsamen Abneigung. "Ohne die deutsch-englische Entfremdung würde
eine englandfreundliche Stimmung in Frankreich nicht möglich geworden
sein, und Herr Delcassé hätte bis zur Erfüllung seiner
Wünsche noch lange warten müssen. Ohne die Abneigung gegen
Deutschland hätte die englische Presse nicht seit Monaten an einer
Aussöhnung mit Frankreich arbeiten, noch Herr Cambon
versöhnliche Reden halten können".179 Wenn dem aber so war, so
mußte der gleichgerichtete Wille, sobald er die äußere
Fühlung erreicht hatte, seine Aktivität in Richtung auf das
gemeinsame Ziel immer weiter steigern und schließlich zu einem
Instrument werden, das über die vorsichtige Berechnung der
Staatsmänner, die es geschaffen hatten, weit hinausging und eher den
elementaren Triebkräften entsprach, aus denen es entsprungen war.
Und zweitens: auf beiden Seiten mußte alles daran gesetzt werden, zu
vermeiden, die neue Verbindung den Deutschen dadurch erträglicher zu
machen, daß man sie auf Kosten des
russisch-französischen Bündnisses vertiefte. In London und Paris
mußte man sich sagen, daß die Entente nur lebensfähig sein
würde, wenn es gelänge, das Dreieck zu schließen. In London
erblickte die von der National Review und dem Spectator
vertretene politische Tendenz ihre Aufgabe darin, gerade an dieser Stelle die
Brücke zu schlagen, und sie konnte die
Bagdadbahn-Episode bereits als einen ersten Triumph verzeichnen. Der Gedanke
lag so nahe, daß selbst ein Diplomat von so wenig Sachlichkeit und
Zuverlässigkeit wie der Freiherr von Eckardstein sich damals
verpflichtet fühlte, obwohl er den Dienst schon verlassen hatte, eine ernste
Warnung auszusprechen und vor allem die Auffassung als falsch zu bezeichnen,
daß jede englisch-französische Annäherung einen Keil in das
russisch-französische Bündnis treiben würde.180 Freilich, die Anzeichen, die er zu
sehen glaubte, trafen noch nicht zu. Der neue Dreibund, den er schon sich
zusammenziehen sah, lag noch in weitem Felde. Die Warnung war in ihren
Tatsächlichkeiten verfrüht, aber in ihren dynamischen
Möglichkeiten richtig vorhergesehen, und man ist überrascht,
daß sie innerhalb der deutschen Diplomatie nur [545] auf ihren ersteren
Gehalt hin, nicht aber auf die von ihr angekündigten latenten Gefahren hin
gewürdigt wurde.
Gewisse Symptome, daß die Gefahren eines Tages näher
rücken könnten, waren nicht zu verkennen. Die Arbeit der
englisch-französischen Ausgleichsverhandlungen war gegen Anfang
September 1903 soweit vorgerückt, daß sie einer generellen
Nachprüfung im englischen Kabinett unterworfen wurde: am 1. Oktober
wurde das Ganze dort angenommen. Gleich darauf wurde am 14. Oktober ein
englisch-französischer Schiedsgerichtsvertrag beschlossen, der den
diplomatischen Verabredungen der Kabinette einen populären Unterbau
verschaffte, und es war ein symbolischer Vorgang, daß sogar der Zar diese
Entwicklung, statt sie mit kritischen Augen zu betrachten, eines besonderen
Glückwunschtelegramms würdigte.
Es gehört zu der landläufigen Argumentation der englischen und der
französischen Betrachtungen über die Entente von 1904, daß
sie von Haus aus nur für Friedenszwecke, die Reibungsflächen
beider Machtbereiche in der Welt zu beseitigen, bestimmt gewesen sei und daher
in ihrem Verhandlungsablaufe von Januar 1902 bis zum April 1904, wie ein Blick
in die Akten erweise, auch keinerlei Spitze gegen Deutschland jemals habe sehen
lassen. Daß sich dergleichen Dinge nicht in den Akten finden, liegt in der
Natur der Gegenstände begründet, die in den Akten behandelt
werden, und wird durch die alte englische Tradition erleichtert, die Akten so zu
gestalten, daß sie rein geschäftlich auch für das Parlament und
die Öffentlichkeit sich als ostensibel darstellen: das allein schon hält
vor Betrachtungen zurück, die über den Augenblick hinweg in
künftige Ziele und Möglichkeiten hineinreichen. Die Auffassung von
dem an sich harmlosen Sachcharakter der
englisch-französischen Entente, der erst später durch den
Gegenstoß Deutschlands gegen Frankreich zu etwas ganz anderem gemacht
worden sei, ist sogar in die deutsche Geschichtsbetrachtung
übergegangen.181 Aber schon die
Nebenumstände, unter denen sich in der öffentlichen Meinung
Englands in den Jahren 1902/03 die Ablösung von der einen und die
Hinwendung zu der anderen Seite vollzogen hat, sollte davor warnen, die
politische Idee dieser Umgruppierung in lauter regionalen Einzelheiten zu suchen,
statt in der fundamentalsten Machtverschiebung, die auf dem Erdball seit 1871
sich vollzogen hatte und nur sehr langsam und vorsichtig dem politischen
Bewußtsein der Völker erschlossen wurde.
[546] Die Häupter des
englischen Weltreiches wußten natürlich, was sie taten, wenn sie in
dieser Konstellation die Hände nach Paris hinüberstreckten, und sie
wußten nicht minder, in welchem Geiste sie an dieser Stelle aufgenommen
wurden. Nur an einzelnen Stellen sieht man in ihre Gedankengänge hinein.
Lord Cromer, der weitblickende Prokonsul Ägyptens, der während
der Verhandlung mit dem Auswärtigen Amte in besonders enger
Fühlung stand, schrieb am 27. November 1903 an Lord Lansdowne:182 "Nach den Mitteilungen des
französischen Agenten stelle ich nur vor, daß Delcassé die
Hoffnung hegt, wir würden möglicherweise zu einer Einigung mit
Rußland kommen und auf diese Weise Deutschland isolieren. In der Tat, ich
komme nicht um den Gedanken herum, daß für die
französische Regierung dieses einer der Hauptreize des ganzen Projektes
ist." Die Verhandlung mit Rußland sei schwierig, aber einen Versuch sei es
schon wert. Nachdem er seit 20 Jahren in diesen Geschäften stehe,
könne er sich nicht einer so günstigen Gelegenheit wie der
gegenwärtigen erinnern. Wenn er skeptisch sei, so sei der Grund, daß
voraussichtlich die allzu hohen Forderungen von Militär und Marine und
die Vorliebe für fiskalische Kämpfe die ganze hohe Bedeutung der
gegenwärtigen diplomatischen Verhandlungen herabdrücken
würden. "Inzwischen schien mein französischer Kollege den
Gedanken ganz freundlich aufzunehmen, daß, wenn die Deutschen das
englisch-französische Abkommen nicht annehmen sollten, wir ohne sie
vorangehen sollten. Das ist natürlich genug. Es liegt offensichtlich im
französischen Interesse, daß wir uns mit Deutschland
überwerfen sollen."
Es ist nur ein Bruchstück des Quellenmaterials, das sich nicht
ergänzen läßt, aber es reicht aus, um Zeugnis dafür
abzulegen, daß schon während der schwebenden
englisch-französischen Verhandlung das Endziel der politischen Isolierung
Deutschlands auf der einen Seite heimlich herbeigesehnt und auf der anderen
Seite jedenfalls nicht verworfen wurde.
Als am 12. April 1904 endlich der Inhalt des englisch-französischen
Abkommens veröffentlicht wurde, geschah es in einem Augenblicke, da
durch den Ausbruch des russisch-japanischen Krieges eine Machtfrage von ganz
anderen Dimensionen und unabsehbaren Folgen sich erhoben hatte. Gleichsam in
dem Schatten dieses immerhin vergänglichen Elementarereignisses wagte
sich der zweite, im weltgeschichtlichen Sinne unendlich viel folgenreichere
Vorgang in die Öffentlichkeit, und einen Augenblick mochte es so
scheinen, als ob seine eigentliche Bedeutung nur darin zu sehen sei, daß
nach dem Zusammenprall der russischen und der japanischen Macht sich ihre
beiderseitigen Verbündeten, der Engländer hier und der Franzose
dort, durch ein geschicktes Ausräumen aller gemeinsamen
Reibungsflächen in der Welt dagegen versicherten, in den Brand
hineingezogen [547] zu werden. Es war zu
verstehen, daß die deutsche Reichsregierung in dem Zeitpunkte der
Veröffentlichung des englisch-französischen Abkommens sich
zurückhielt. Bülow wollte sich am 12. April im Reichstage noch
nicht äußern, da die beteiligten Staaten noch keine offizielle
Erklärung abgegeben hätten; er habe aber keinen Grund zu der
Annahme, daß der Vertrag eine Spitze gegen eine dritte Macht habe.
Um so begreiflicher war, daß der Kaiser, der damals auf einer
Mittelmeerreise begriffen war, in der Tiefe beunruhigt in die Zukunft sah: "Das
jüngste englisch-französische Abkommen gibt mir doch nach
mancher Richtung hin zu denken. Ich finde, daß die Franzosen den Vorteil
ihrer augenblicklichen Lage mit bemerkenswertem Geschick ausgenutzt haben.
Sie haben es fertiggebracht, ohne das Band mit Rußland zu lockern, sich
von England ihre Freundschaft teuer bezahlen zu lassen. Die
präponderierende Stellung, die sie nunmehr in Marokko erlangt haben, ist
unstreitig ein großer Gewinn für sie, den sie mit der Aufgabe des
Restes ihrer mehr theoretischen als faktischen Rechte in Ägypten billig
eingeheimst haben. Da unsere Handelsinteressen in Marokko bedeutend sind,
hoffe ich, daß unsererseits für die notwendigen Garantien gesorgt ist,
damit unser Handel dort nicht leidet. England andererseits hat in Ägypten
genug freie Hand erlangt. Die möglichen Reibungspunkte mit Frankreich
sind durch das Abkommen mit England wesentlich eingeschränkt worden,
und letzteres hat an Bewegungsfreiheit auch sonst in der Welt viel gewonnen. Es
ist nur natürlich, daß die zunehmende Freundschaft mit Frankreich
und die sich daraus ergebende Sicherheit, daß von dieser Seite nichts zu
befürchten ist, für England jede Rücksichtnahme auf uns mehr
und mehr in den Hintergrund treten lassen wird."183
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